Der Junge, der mit den Wölfen spricht - Sam Thompson - E-Book

Der Junge, der mit den Wölfen spricht E-Book

Sam Thompson

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Beschreibung

Emotionale Abenteuergeschichte, die Mut macht, zu sich zu stehen. Für Kinder ab 10 Jahren.

Silas wird in der Schule gemobbt, weil er nicht spricht. Eines Tages hilft er einem verletzten Wolf – und darf zum Dank eine verborgene Welt sprechender Tiere betreten, eine Welt, in der Sprache Macht bedeutet. Denn tief im Wald leben Füchse in einer unterirdischen Stadt. Sie manipulieren die Wölfe und unterdrücken sie. Silas möchte seinen Wolfsfreunden helfen, sich von den schlauen Füchsen zu befreien. Aber das geht nur, wenn es ihm gelingt, seine Stimme zu finden.

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Das Buch

Silas lebt in seiner eigenen Welt, denn er traut sich nicht zu sprechen. Eines Tages hilft er einem verletzten Wolf, der ihn mitnimmt – in einen geheimen Wald, in dem Füchse sprechen können. Sie herrschen über die Wölfe. Denn auch in dieser Welt bedeutet Sprache Macht. Silas fühlt mit den Wölfen und möchte seinen Freunden helfen, sich zu befreien. Aber dafür muss er über sich hinauswachsen. Wird es ihm gelingen, seine Stimme zu finden?

Der Autor

© Chris O'Neill

Sam Thompson wurde 1978 in London geboren. Sein erstes Buch wurde 2012 veröffentlicht und für den Man Booker Prize nominiert. Er hat für die Times Literary Supplement, die London Review of Books und andere Zeitschriften geschrieben und in Oxford und in Belfast Englische Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet. Der Junge, der mit den Wölfen spricht ist sein erstes Buch für Kinder. Thompson lebt heute in Belfast.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Für Odhrán

Für Sadhbh

Für Oisín

Ihr guten Wölfe

Tief unten im Lehm lagern Träume von vor langer Zeit.

Der Lehm gehört zu einer Welt weit vor den Lebewesen. Doch seit je träumt der Lehm vom Leben.

Er träumt vom Laufen und Jagen. Er träumt, dass er singen, Geschichten erzählen und tanzen wird. Der Lehm träumt davon, sich zu Lebewesen zu formen, die leben und sterben und davon träumen werden, dass sie einst Lehm waren.

Lehm, in dem Träume lagern von vor langer Zeit.

1

Auf dem Radweg stand ein Wolf.

Silas ging jeden Tag nach der Schule diesen Weg. Er führte an einem Wäldchen entlang. Es war nicht der direkteste Heimweg, aber Silas nahm ihn, weil er gern für sich war, und der Radweg war immer leer.

Bis heute. Der Wolf stand mitten auf dem Weg und beobachtete ihn. Sein Kopf war auf Höhe von Silas’ Brust. Noch nie war er einem wilden Tier so nahe gekommen.

Er wusste nicht, was er tun sollte. Einmal hatte er Wölfe in einem Wildpark gesehen: blasse, stumme Gestalten, die durch die Bäume glitten, zu weit weg, um gefährlich oder auch nur echt zu wirken. Doch dieser Wolf war real. Er hörte ihn hecheln. Er sah seine feuchte rote Zunge und seine langen weißen Zähne. Bei diesem Anblick kroch ihm Kälte von den Schultern bis hinunter zum Steißbein, und Gänsehaut kribbelte an seinen Armen. Sein Herz schlug heftig.

Er sagte sich, er sollte vorsichtig zurückweichen. Er sollte wegrennen.

Aber wenn ich wegrenne, dachte er, verfolgt der Wolf mich womöglich. Vielleicht sollte ich brüllen und mit den Armen wedeln, damit er wegläuft. Wildtiere scheuen doch normalerweise Menschen, oder?

Aber dieser Wolf sah nicht scheu aus. Sondern hungrig. Seine grauen Augen waren auf Silas gerichtet und warteten nur darauf, dass er loslief. Der schmale Pfad war wie eine Falle, auf einer Seite eine Backsteinmauer, auf der anderen ein Zaun aus Maschendraht.

Er hielt den Atem an. Er blieb reglos stehen. Dann machte der Wolf einen Schritt auf ihn zu.

Beinahe wäre Silas weggerannt, hätte er vor Angst aufgeschrien und wäre hintenübergefallen. Doch das tat er nicht, denn er hatte etwas bemerkt. Der Wolf ging komisch. Er humpelte und berührte mit einer Vorderpfote kaum den Boden. Als er fast in Silas’ Reichweite war, hob er die Pfote, als wollte er ihm die Hand schütteln.

Silas kniete sich neben den Wolf. Die Pfote war größer als seine beiden Hände zusammen. Dichtes graues Fell wuchs darauf, aus dem harte schwarze Krallen ragten, unten waren große raue Ballen. Er roch stark, aber nicht schlecht: erdig und nach Moschus, und der Geruch erinnerte Silas an irgendwas. Zuerst wusste er nicht, an was, aber dann fiel es ihm ein. Der Wolf roch wie die trockene Erde am Ende eines heißen Tages, wenn der Regen einsetzt.

Silas zog die Ballen auseinander und der Wolf knurrte leise tief in der Kehle. Silas ließ rasch wieder los, doch der Wolf jaulte leise und hielt ihm wieder die Pfote hin. So sachte und vorsichtig, wie er konnte, griff er danach und versuchte zu erkennen, was los war. Ja, dachte er, da steckte etwas. Etwas Metallisches glitzerte tief zwischen den Ballen. Der Wolf fletschte die Zähne, als Silas die Pfote dehnte, doch er ließ zu, dass er den Fremdkörper herauszog. Es war eine alte Messing-Reißzwecke, zerdrückt und blutig. Sie musste sich bei jedem Schritt tiefer in die Pfote gebohrt haben.

Der Wolf machte kehrt und lief ein paar Schritte den Weg entlang, ohne zu humpeln.

Dann wurde er plötzlich wachsam, hob den Kopf und stellte die Ohren auf, als spürte er Gefahr. Er schnürte am Zaun entlang bis zu einer Stelle, wo der Maschendraht unten aufgerissen war – ein Zugang in das Wäldchen. Die grauen Augen trafen einen Moment Silas’ Blick, dann wand der Wolf sich durch das Loch.

Das Waldstück bestand aus vielleicht zwanzig Bäumen, durch die Zweige sah man die Rückseiten anderer Häuser. Ein so großes Tier konnte sich dort nirgends verstecken. Aber noch während Silas hinsah, duckte sich der Wolf ins Unterholz und verschwand aus seinem Blickfeld.

Silas blieb am Zaun stehen und fragte sich, ob noch etwas passieren würde. Doch unter den Bäumen regte sich nichts. Als wäre der Wolf nie da gewesen. Das muss das Ende sein, dachte er sich. Es war eine kurze, seltsame Begegnung gewesen, und jetzt wurde es Zeit, nach Hause zu gehen.

Dann hörte er eine Stimme hinter sich.

»Guten Tag«, sagte die Stimme. »Was für ein glückliches Zusammentreffen.«

Ein Fuchs saß auf dem Weg: ein gepflegtes Wesen mit scharfen Gesichtszügen und dunkelrotem Fell. Er schaute zu ihm auf. Neben ihm saß ein zweiter Fuchs, größer und blasser, mit dicht zusammenstehenden grünen Augen. Während Silas sie betrachtete, erschienen weitere Füchse hinter dem kleinen dunklen und dem großen blassen Fuchs auf dem Weg. Bald saßen zwanzig Füchse dort und schauten ihn an.

Der dunkle Fuchs sprach.

»Mein Name ist Reynard«, sagte er. »Dies ist meine Schwester Saffron, dies sind unsere Brüder und Schwestern, und du, junger Mann, hast großes Glück. Denn ein gefährliches Tier läuft frei herum. Wir suchen es gerade, damit niemand verletzt wird.«

Der dunkle Fuchs hatte große goldglänzende Augen. Seine Stimme klang freundlich und ruhig: die Art Stimme, der man vertrauen will.

»Ich habe das Gefühl, du hast das Tier gesehen, das wir suchen«, sagte Reynard. »Und ich glaube, du wirst uns helfen.«

Silas antwortete nicht. Er war ein wenig überrascht, dass der Fuchs sprach, aber nicht so sehr, wie ihr vielleicht denkt. Ein sprechender Fuchs wirkte gar nicht so seltsam, wenn er direkt vor einem saß und einen aus freundlichen goldenen Augen anschaute. Worte aus dem Maul eines Fuchses zu hören war auch nicht seltsamer als aus dem Mund eines Menschen.

Silas wollte antworten, doch er brachte kein Wort heraus. Das passierte oft, vor allem in der Schule. Leute sprachen ihn an und warteten auf eine Antwort, doch die Wörter, die er sagen wollte, steckten fest. Das war ihm heute erst passiert.

Die ganze Pause war Richard Long aus seiner Klasse ihm über den Schulhof gefolgt und hatte ihn laut nach seinem Namen gefragt. Mehrere andere Kinder hatten sich angeschlossen. Sie wussten natürlich, wie er hieß, aber sie fanden es witzig, ihn zum Sprechen zu bringen. Am Ende hatte er ihnen sagen wollen, sie sollten ihn in Ruhe lassen, aber irgendwas in seinem Inneren hatte sich verkrampft und die Wörter kamen nicht heraus. Richie Long und die anderen hatten gelacht und ihn mit den Namen verspottet, die sie ihm immer gaben: »S-S-S-S-S-Silas« und »Stil-las« oder bloß »Stiller«.

Stiller, dachte er. Es ließ sich nicht leugnen, dass der Name zu ihm passte. Er versuchte nie, zu reden, wenn er stattdessen still sein konnte. Und als er jetzt Reynard dem Fuchs gegenüberstand, versagte ihm wieder die Sprache, und er sagte nichts. Die blasse Füchsin mit den grünen Augen knurrte und kauerte sich hin, als wollte sie ihn anspringen.

»Ganz ruhig, Saffron«, sagte Reynard. »Der junge Mann hier wird uns sicher nur zu gern helfen, sobald er die Lage erkennt. Du musst wissen, junger Herr, dass wir einen Wolf suchen. Er gehört nicht hierher. Er ist viel zu groß und wild. Er hat sich verirrt und wir wollen ihm nur helfen. Also bitte: Willst du uns nicht zeigen, wo er ist?«

Reynard schaute in Richtung Waldstück, als wüsste er schon, wo der Wolf hin war. Silas fragte sich, wieso die Füchse sich nicht unter dem Zaun hindurchdrängten, um unter den Bäumen zu suchen. Sie schienen seine Hilfe zu wollen. Sie wollten ihn an dem, was sie tun würden, teilnehmen lassen.

Aber er wollte ihnen nicht helfen, den müden alten Wolf zu finden. Er verstand nicht, was zwischen diesen Tieren vorging, aber er wusste, dass er nicht sehen wollte, wie die Füchse ihr Opfer fingen. Er versuchte, nicht zu dem Riss im Zaun zu schauen. Vielleicht konnte er sie hereinlegen. Er konnte ihnen erzählen, er habe einen Wolf auf die andere Seite der Stadt rennen sehen.

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es hatte keinen Zweck. Die Worte kamen nicht und er brachte nur ein paar dämlich klingende Geräusche heraus. Die bleiche Füchsin namens Saffron bleckte die Zähne. Die anderen Füchse sahen einander an, als wollten sie sagen: Was ist denn mit dem los? Sogar Reynard wirkte ungeduldig.

»Ich erwarte nicht, dass du es vollständig verstehst«, sagte er. »Aber glaub mir, wenn du klug bist, dann tust du, was ich dir vorschlage. Ich bitte dich also ein letztes Mal: Liefere mir den Wolf aus.«

Silas holte tief Luft und versuchte erneut, zu antworten: Ich weiß nicht, wo er ist, und wenn ich es wüsste, würde ich es euch nicht sagen. Das wollte er sagen. Doch kein Wort kam über seine Lippen. Ein paar Füchse kicherten.

Reynards Schwanz zuckte.

»Dieses Kind nutzt uns nichts«, sagte er.

Er hob die Nase und alle Füchse erhoben sich.

»Jedenfalls noch nicht«, fügte Reynard hinzu, während seine Gefolgschaft sich auf dem Radweg entfernte.

Als Letzte ging die Füchsin namens Saffron. Doch ehe sie abzog, kam sie zu Silas, wie ein Haustier, das an seinem Knie schnüffeln will. Er schaute hinab, was sie wollte.

Das Nächste, was Silas merkte, war Schmerz: schneidender, scheußlicher, schreckerregender Schmerz. Er begann im linken Knöchel und strahlte durch den ganzen Körper. Die Füchsin hatte ihn gebissen. Er war zu verblüfft, um zu reagieren. Die dünnen Klingen ihrer Zähne waren immer noch in die Sehne über seiner Ferse gegraben. Sie biss tiefer zu und warf dabei den Kopf hin und her. Die ganze Zeit sah sie hoch in sein Gesicht, als wollte sie wissen, wie weh es tat.

»Saffron!«, rief Reynard. Er stand ein Stück weiter auf dem Weg. »Komm jetzt.«

Die bleiche Füchsin verdrehte die Augen und ließ ab. Sie folgte Reynard und leckte sich die Lefzen.

Silas war allein. Weinend und vor Schmerz zitternd sank er zu Boden und griff nach seinem Knöchel. Seine Hände waren voller Blut.

2

Silas zog seinen Schuh aus und rollte vorsichtig den blutigen Socken vom verletzten Knöchel. Der Schmerz war ganz anders als bei einem Kratzer oder Schnitt: Er pochte sein ganzes Bein hinauf, als hätte man etwas Brennendes in seine Adern gespült. Der Schmerz sagte ihm, dass wirklich etwas beschädigt war, dass tief drinnen etwas kaputt war und nicht so leicht wieder heil werden würde.

Er zwang sich hinzuschauen und sah das Blut aus einem schartigen Riss in seiner Haut quellen. Sein Knöchel und sein Fuß verfärbten sich zu einem ekligen Dunkelviolett und schwollen bereits an, die Haut spannte sich darüber wie ein Luftballon.

Silas biss auf die Zähne und versuchte, sein Taschentuch um den Knöchel zu wickeln. Das stillte die Blutung kaum, und es tat so weh, dass er es nicht aushielt. Er versuchte aufzustehen, doch der Schmerz ließ ihn aufschluchzen und wieder zu Boden sinken.

Etwas bewegte sich im Unterholz. Er sah eine graue Schnauze. Langsam schob sich der Wolf aus dem Gebüsch: ein knochiger Schatten, der es verstand, sich lautlos zu bewegen. Der Wolf zwängte sich unter dem Maschendraht hindurch, tappte auf ihn zu und schnüffelte an seinem Knöchel.

Dann sprach der Wolf.

»Das ist ein schlimmer Biss«, sagte er. »Kannst du laufen?«

Silas starrte den Wolf verblüfft an. Inzwischen machte es ihm große Angst, dass die Wunde nicht aufhörte zu bluten: Das Taschentuch war schon dunkelrot und klatschnass.

»Wenn du nicht laufen kannst, dann kannst du reiten«, sagte der Wolf. »Es ist nicht weit, aber wir müssen uns beeilen. Die Füchse werden zurückkommen.«

Silas versuchte, etwas zu sagen, und Tränen brannten in seinen Augen, als er wieder scheiterte. Der Wolf betrachtete ihn. Silas grub seine Fingernägel in die Handflächen und zwang schließlich die Wörter heraus, eins nach dem anderen.

»Du . . . sprichst?«

Der Wolf knurrte und wandte sich ab. Silas verstand es nicht, hatte aber das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben oder unabsichtlich unhöflich gewesen zu sein. Er war sicher, der Wolf würde umdrehen und für immer verschwinden.

Aber der Wolf ging nicht. Er hielt inne, ließ den Kopf tief hängen, aber schließlich redete er wieder.

»Ich heiße Isengrim«, sagte er.

»Silas«, sagte Silas. Diesmal ging es etwas leichter.

Isengrim kauerte sich nieder, presste den Bauch an die Erde.

»Also gut, Silas«, sagte er. »Kannst du dich festhalten?«

Wenige Augenblicke später krallte Silas seine Finger in Isengrims Fell, als der Wolf den Pfad entlangtrabte. Das Gewicht des Jungen auf seinem Rücken schien ihn nicht zu bremsen, und bald bewegten sie sich viel schneller, als Silas rennen konnte. Beton, Zaun und Hecken sausten vorbei, dann die Rückseiten von Schrebergärten mit ihren Mauern. Silas klammerte sich fest.

Vor ihnen lag das Ende des Radwegs, wo er auf dem Heimweg normalerweise eine Reihe Poller durchschritt. Doch jetzt erreichten sie die Poller gar nicht, denn Isengrim warf sich seitwärts, als wollte er die Backsteinmauer rammen, die sich neben ihnen hinzog.

Silas zuckte zusammen, weil er mit einem Aufprall rechnete, doch es kam keiner. Als er die Augen öffnete, galoppierten sie einen schmalen Gang entlang, mit moosigen Mauern auf beiden Seiten. Diese Abzweigung hatte er noch nie bemerkt.

Welkes Laub wirbelte um sie her, und mehrmals sprang der Wolf über trockene Äste, die im Weg lagen. Die Wände rückten näher und das Moos wurde dichter, bis kein Backstein mehr zu sehen war. Isengrim wurde nicht langsamer. Silas versuchte, nicht aufzuschreien wegen der zuckenden Schmerzen in seinem Knöchel.

Dann verließen sie plötzlich den schmalen Gang und waren anderswo.

Umgeben von Bäumen. Aber nicht so kümmerliche Bäume wie die neben dem Radweg. Überall ragten dicke, knorrige, moosbewachsene Stämme empor und verschränkten ihre Arme zu einem Baldachin. Herabgefallene Äste hingen in Schlingpflanzennetzen. Der Boden war von Wurzeln durchzogen. Blätter tropften. Silas schaute über die Schulter, versuchte zu erkennen, wie weit sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, doch er sah nur grünes Zwielicht, große Farne und vorbeirasende Stämme. Es kam ihm vor, als würden sie durch ein unterirdisches Tunnellabyrinth rennen.

Isengrim wurde langsamer, fiel in Trab. Die übliche Stadtatmosphäre – die abgestandene, aufgewärmte Luft, das leise Verkehrsgrummeln, das schwache, verschleierte Licht – war wie weggeblasen. Silas’ Sinne vibrierten bei der Entdeckung, dass Licht, Klang und Geruch sich zu einem großen Leuchten vereinigen konnten. Um ihn herum wand sich der Duft, den die Bäume ausdünsteten, wie Nebelstreifen durch die Luft. Schwankende Blätter ließen Sonnenlicht hereintröpfeln und sorgten für ein endloses Flüstern, das sich mit dem Zwitschern der Vögel zu einem mächtigen Säuseln verband, einem Klang, größer und tiefer als Stille. Die reine und frische Luft war wie ein Versprechen, dass gleich etwas geschehen würde; und dieses Etwas würde allumfassend sein.

Die Bäume lichteten sich. Der Wolf blieb stehen und sie schauten ins Land hinaus. Vor ihnen senkte sich ein felsiger Abhang, an dessen Fuß loses Geröll lag. Dahinter begannen wieder die Bäume. Die Landschaft, die sich unter ihnen ausbreitete, war ein ungeheurer Wald, der bis zum Horizont reichte. Das Grün wurde nur von Felszacken hier und dort oder einem glitzernden Wasserlauf unterbrochen.

Silas hatte nur einen Gedanken: Sie waren in eine andere Welt gelangt.

Isengrim witterte.

»Es gibt nur eine Welt«, sagte er wie nebenbei.

Der Wolf wurde wieder schneller, rannte auf dem Bergkamm entlang, Zentimeter vom Abgrund, mit sicherem Tritt. Silas war verwirrt und krallte sich noch fester ins warme Fell. Er musste wohl laut geredet haben, ohne es zu merken, dachte er.

»Das ist der WALD«, sagte Isengrim im Laufen. »Deine Leute leben auch hier in der Nähe. Aber wie nah, das bekommen sie meistens nicht mit.«

Dann sprang er über die Kante. Eine unterbrochene Reihe von Felsbrocken führte den Steilhang hinab. Silas wäre allein niemals einen so steilen und zerklüfteten Hang hinuntergekommen, doch Isengrim sprang locker von Felsen zu Felsen.

Nachdem sie unten ein Stückchen in den Wald hineingegangen waren, kamen sie an eine Stelle, wo vor langer Zeit ein riesiger alter Baum umgestürzt war. Der Stamm lag auf dem Waldboden, der Wurzelballen hing entblößt über dem Loch, aus dem er gerissen worden war.

»Das ist mein Heim«, sagte der Wolf.

Sie drängten sich durch herabhängenden Efeu in den Hohlraum unter den Wurzeln.