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Nächtliche Schüsse der Taliban und der Tod seiner Eltern machen den afghanischen Jungen Yasin zum Waisenkind. Er nimmt sein Leben in die eigenen Hände und macht sich auf die Suche nach seinem älteren Bruder. In einer gefahrvollen Wanderung durchquert er im beginnenden Winter zu Fuß halb Afghanistan. Dabei trifft er auf das Mädchen Mehria, das mit seinem kleinen Brüderchen Isah ein ähnliches Schicksal erleiden musste. Die zufällig in der Wildnis aufgefundene Kamelstute Gül erleichtert den Flüchtenden ihre gefahrvolle Wanderung durch ein wildes Land in Armut und Krieg. Die Geschichte gibt einen sachlich recherchierten und erzählerisch spannend gestalteten Einblick in das Leben von Kindern auf der Flucht vor kriegerischen Handlungen. Durch geschickt in die Handlung eingeflochtene Bezüge zwischen Christentum und Islam trägt es zu Toleranz und Verständigung zwischen den beiden großen Weltreligionen bei.
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Seitenzahl: 470
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Dieses Buch ist allen Kindern gewidmet, die in der Folge kriegerischerEreignisse ihre Heimat verlassen mussten.
Afghanistankarte
Der Überfall
Gefangen?
Höllenlärm
Das Geschenk
Die Teppichhändler
Der Kältetod
Frieden für Afghanistan
Wer ist Allah?
Wolfsgeheul
Der Führer
Dollargeld
Blaues Wasser und goldenes Land
Tränen Buddhas
Buzkashi
Gefährliche Begegnung
Isah
Zweifel
Muttermilch
Warmes Wasser
Mehria
Die Schutzhütte
Personenminen
Gül
Nächtliches Gefecht
… und Friede auf Erden
Hercules
Kamel
Yasin schreckt aus einem tiefen Schlaf auf. Ein lauter Ruf hat ihn geweckt. Oder hat er nur geträumt? Nein – da ist sie wieder, die Stimme, die ihn aus den Träumen gerissen hat. In der Gasse vor der Haustür hört er schnelle Schritte. Eine verängstigte Frau schreit: «Die Taliban! Sie sind im Dorf!» Eine schrille Männerstimme ruft: «Abhauen! Wer sein Leben liebt, flieht!» Ein Kind beginnt zu weinen. Yasin hört eine Tür zuknallen. Wieder das Geräusch von Schritten! Schnell setzt er sich auf, schlägt die Schaffelldecke zurück, die ihn vor der herbstlichen Kälte der Nacht geschützt hat. Fahles Mondlicht fällt durch die Fensteröffnung. Kalte Luft streicht an der zerbrochenen Scheibe vorbei, fliesst über die Wand zu Boden und umspült seinen Oberkörper. Ein Hund bellt. Mehrere kurze Salven einer Kalaschnikow zerreissen die Stille. Schreie…
Im Nebenraum regt sich der Vater. Yasin hört ihn husten. Der Lärm hat ihn geweckt. Die Mutter ist schon auf den Beinen, tritt in die Küche, wo Yasin gewöhnlich schläft, scheucht mit dem Fuss ein Huhn zur Seite. Gackernd flüchtet es in die Ecke hinter dem Herd. Sie öffnet das in die Hauswand eingelassene kleine Schränklein, ergreift die Schatulle mit dem Geld und dem Schmuck. «Yasin, steh auf! Nimm die Jacke! Wir müssen weg!», drängt sie, und zum Vater im Nebenraum ruft sie: «Mach schon! Wir haben keine Zeit mehr.»
Der Vater tritt in den Küchenraum. Yasin kann seine gebeugte Gestalt als Schatten in der Dunkelheit erkennen, wie er zur Haustür eilt. Er trägt eine Flinte, prüft ihren Verschluss im Gehen. Seine Hand greift nach dem Türriegel, will ihn öffnen. Da überschlägt sich das Geschehen! In der Gasse vor dem Haus hämmert wieder die Kalaschnikow. Erneut Schreie! Harte Schritte verharren vor der Tür. Plötzlich zerfetzen Kugeln die Türfüllung. Mit einem seltsam gurgelnden Laut stösst der Vater die Arme in die Luft. Die Flinte entgleitet seinen Händen, fällt zu Boden, ein Schuss löst sich, die Kugel schlägt in die Decke. Während Yasin sieht, wie sein Vater grotesk verkrümmt in sich zusammensackt, zersplittert das Türschloss unter dem Ansturm eines Mannes. Die Tür platzt auf, und kurz kann Yasin schemenhaft einen dunklen Körper und ein Gesicht im Mondlicht erkennen: eine finstere, bärtige Fratze, ein zu einem teuflischen Schrei aufgerissener Mund, stechende Augen unter einem wirren Turban, schwarze Augenbrauen – das wahrhaft Böse.
Der kräftige Körper steckt in einem weiten Mantel. Er bläht sich im Sprung auf, der den Mann in den Raum trägt. Die Kalaschnikow speit Flammen und Donner. Yasin erkennt im Licht des Mündungsfeuers seine Mutter. Plötzlich verschwindet ihr Gesicht in einer roten, breiartigen Masse. Die Waffe dreht sich rasend schnell in seine Richtung, reisst das Licht mit sich. Im Halbdunkel sieht er die Mutter zusammenbrechen. Da hüpfen schon Feuerblitze auf ihn zu. Von den Mauern spritzt Kalk, hämmert in sein Gesicht, füllt die Augen mit feinem Staub. Ein harter Schlag trifft Yasin seitlich am Kopf. Er wird auf sein Strohlager zurückgeschleudert, und sein letzter Gedanke ist: «Jetzt bin ich tot!» Dann wird es schwarz und still in ihm.
Das Krähen eines Hahns weckt Yasin. Er fröstelt. Sein Körper liegt ungeschützt auf der Strohmatte, die sein Nachtlager gegen die Kälte des Bodens abschirmt. Sein Kopf schmerzt. Auf dem gestampften Lehmboden neben seiner Bettstatt liegt das Schaffell, darüber verstreut Splitter eines irdenen Topfes, vermischt mit Getreidekörnern, die sich wohl einst darin befunden haben. Zwei Hühner picken sie auf. Ausser ihrem gelegentlichen Scharren herrscht gespenstische Stille.
Dumpf erinnert er sich. Die Nacht, der Lärm, die Schreie, die Schritte, das Mündungsfeuer! Es wurde geschossen! Da war doch ein Mann! Wo sind seine Eltern? Wollte nicht der Vater…?! Abrupt richtet sich Yasin auf. Im Morgenlicht kann er zwei Körper erkennen, einen bei der Tür, den anderen in der Nähe der Herdstelle. Sie liegen in seltsamen Stellungen am Boden. Ruhig und bewegungslos. Erstarrt in der Kälte des anbrechenden Tages. Langsam kehren die nächtlichen Bilder in Yasins Kopf zurück. Der Vater wollte die Tür öffnen. Draussen wurde geschossen. Dann schlug ein Mann die Türe ein, feuerte im Raum weiter um sich, traf die Mutter mitten ins Gesicht!
Yasin stützt sich auf seinen linken Arm. Ein stechender Schmerz durchzuckt ihn. Sein Hemd ist zerfetzt und voller Blut. Schnell entlastet er den Arm wieder und verlagert sein Gewicht auf die rechte Seite. Langsam richtet er sich auf. Ein hämmerndes Pochen im Schädel lässt ihn verharren. Er fasst sich an den Hinterkopf, ertastet eine riesige, schmerzende Beule, verklebtes Haar, Feuchtigkeit. Seine Hand ist rot von halb getrocknetem Blut, als er sie zurückzieht.
Mühsam steht er auf, geht hinüber zum leblosen Körper seiner Mutter. Sie liegt auf dem Bauch. Er wischt die Blutspuren, welche seine gesunde Hand rot gefärbt haben, an seiner Hose ab. Dann versucht er, die Mutter auf den Rücken zu drehen, was ihm nur schwer gelingt. Ihr Körper ist kalt und steif. Der Kopf hängt, will sich nicht mitdrehen. Yasin greift unter die Stirn, fasst in kalte Flüssigkeit, in eine körnige, weiche Masse. Erschrocken zieht er seine Hand zurück - mit einem Ruck fällt der Kopf in die veränderte Körperstellung zurück.
Dort, wo einst die aufmunternden Augen der Mutter leuchteten, wo die kecke Nase, der lächelnde Mund waren, ist nichts mehr. Nur ein grauweisser Brei, durchzogen von Blutspritzern, gespickt mit Knochensplittern. Schaudernd erhebt sich Yasin wieder. In seiner Kehle würgt es. Tränen schiessen in seine Augen. Er wendet sich ab, blickt zum Vater, der in der Nähe der Tür liegt. Dessen Gesicht ist vor Schmerz verzerrt, sein Hemd von Kugeln zerfetzt und von rotbraunen Flecken verschmiert. Kleine, ausgefranste Löcher mit verkrustetem Blut erzählen von seinem nächtlichen Tod.
Yasin stützt sich an der Hauswand ab. Um ihn beginnt sich alles zu drehen. Ein angst- und trauergeladener Schrei entwindet sich seiner Kehle. Er bricht zusammen, weint, brüllt, schlägt sich mit der gesunden Hand auf die Brust, presst den Kopf gegen die kalte Wand. Ein unbe-schreibbarer seelischer Schmerz durchzieht seinen Körper, schüttelt ihn, reisst ihn hin und her. Tränen stürzen über seine Wangen, Rotz fliesst ihm aus der Nase, vor den Lippen formt sich der Speichel zu Blasen. So kauert er, gegen die Mauer gelehnt, wohl über eine Stunde in tiefster Verzweiflung, bis er erschöpft zusammenbricht.
Stunden später weiss Yasin, dass in Shakhalmand einzig er das Massaker überlebt hat, welches die Taliban veranstaltet haben. Das Dorf ist verlassen, und wem die Flucht nach Chaghcharan, wo sich eine kleine Polizeistation befindet, nicht gelungen ist, hat die Nacht nicht überlebt. Ein Schuss musste den Getreidetopf auf dem Regal über seinem Nachtlager getroffen haben, dessen Bruchstücke ihn bewusstlos schlugen. Ausser einem Streifschuss am linken Arm, einer Beule und einem Hautriss am Hinterkopf, der trotz seiner geringen Tiefe stark geblutet hat, ist Yasin aber unverletzt geblieben.
Im Laufe des Morgens hatte er sich erst Körper und Haare im eisig kalten Brunnenwasser gewaschen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Dann inspizierte er das ganze Dorf, ob er irgendwo Überlebende finden würde. Aber ausser einigen Hühnern, Katzen, den Hunden, Ziegen und Schafen, welche den Taliban wohl wertlos erschienen waren, war alles Lebendige aus Shakhalmand verschwunden. Die zwei Kamele des Dorfes und alle Esel waren weggeführt worden. In einigen Häusern lagen ganze Familien erschossen auf ihren Lagerstätten oder in den Räumen, in denen sie Flucht- oder Verteidigungsvorbereitungen getroffen hatten. Andere Häuser standen menschenleer. In einer Gasse waren mehrere Gebäude nur noch ausgebrannte Ruinen, die noch immer rauchten oder mit heissem Schutt angefüllt waren, sodass Yasin nicht feststellen konnte, ob die Bewohner überlebt hatten und geflohen waren oder ermordet unter den Trümmern lagen.
Den Nachmittag verbrachte Yasin damit, auf der Aue nahe dem Dorfbach zwischen einigen Pappeln zwei Gruben auszuheben und grosse, schwere Steinplatten aus den Überresten zerstörter Häuser herbeizuschleppen. Dann wickelte er seine Eltern in zwei raue Decken und zog sie, weil sie ihm zu schwer zum Tragen waren, zur Grabstätte hinunter. Er legte ihre Körper in die Gruben, schaufelte den Aushub zurück und schichtete mehrere Steinlagen über den flachen Erdhügeln auf. Am Kopfende jedes Grabes setzte er einen flachen Stein senkrecht in die Erde. Dann kniete er am Ende der beiden Grabstätten zu Boden und betete, so wie er es vom Vorbeter in der Moschee gelernt hatte. Langsam nur kamen die Worte, wanden sich aus seinem Inneren, vermischten sich mit Tränen der Trauer und des Abschieds. Yasin verstand nicht, weshalb Allah es zugelassen hatte, dass ihm seine Eltern genommen worden waren. Aber er wusste: Allahs Ratschluss war weise und unergründlich, und es blieb den Menschen nichts anderes übrig, als sich darin zu schicken. «Inshallah», - wie Gott es will -, war ein Wort, das er schon oft gehört hatte, wenn Unglück über die Familie oder das Dorf gekommen war.
Seit in Afghanistan Krieg herrschte, seit Menschengedenken, war es oftmals gefallen, dieses tröstliche und doch bedrohliche Wort: «Inshal-lah». Aber bis zum heutigen Tag hatte es nie den Schrecken in sich getragen, der nun in Yasins Herz und in sein Denken eingezogen war. Nun musste er seine ganze, tiefe Bedeutung erfahren, und er wusste, dass damit ein neuer Abschnitt in seinem Leben begonnen hatte.
Yasin kehrt ins Haus zurück. Zwar schaudert ihn vor den Blutlachen bei Türe und Herd, aber er muss sich für sein Vorhaben rüsten. In Bamiyan lebt sein grosser Bruder. Er ist dorthin gezogen, nachdem die Eltern ihn nicht mehr ernähren konnten, um eine Arbeit zu finden. Zu ihm will er nun gehen; er muss Shakhalmand verlassen, denn allein und nach der Zerstörung des Dorfes kann er hier nicht länger bleiben. Dort, in Bamiyan, wird für ihn sein Leben weitergehen, dort kann er neue Hoffnung schöpfen. Das kleine, in die Wand eingelassene Schränklein steht offen, das Türchen hängt nur noch schräg an einem Scharnier. Die Schatulle, welche die Mutter herausgenommen hatte, liegt am Boden. Weil sie ihren Händen entglitten und ihr Körper darüber gestürzt war, hatten die Taliban sie nicht bemerkt. Das Wandschränklein aber war ausgeraubt worden und ist leer - beinahe, denn Yasin ertastet den Schlüssel zur Schatulle, den die Eltern in einer Mauerritze gut versteckt gehalten hatten.
Er stellt die Schatulle auf den Herd und öffnet sie. Sie enthält ein Schmuckhalsband aus alten Münzen, wie es fast alle Familien als Notgroschen besitzen. Darunter kommen einige mit einer Klammer gebündelte Banknoten zum Vorschein. Yasin zählt sie schnell: Viel ist es nicht, aber für sein Vorhaben muss es reichen. Er steckt alles in einen kleinen Lederbeutel, den er im Zimmer seiner Eltern an der Wand hängend gefunden hat. Zwei vergilbte, zusammengefaltete Papiere, von denen der Vater ihm einst gesagt hatte, sie seien wichtig, da sie den Familienbesitz und den Namen bestätigen würden, packt er ebenfalls dazu. An der Wand hängt ein Bild seines Bruders. Er löst es von der Mauer und dreht es um. Auf der Rückseite steht ungelenk in lateinischen Buchstaben geschrieben die Anschrift. Yasin kann sie kaum entziffern, denn der Mullah in der Koranschule hat ihnen nur die arabische Schrift beigebracht. Yasin hat die lateinische Schrift aus persönlicher Neugierde aus einem Buch abgeschrieben und die Lautung der Buchstaben selber erlernt. Jetzt ist er froh, dass er das damals gemacht hat, obwohl ihn einige seiner Freunde ausgelacht haben: «Ha, ha, Yasin ist ein Streber! Er will der Gescheiteste werden. Er lernt die Schrift der Ungläubigen.» Jetzt ist er froh darüber, dass er die fremde Schrift entziffern kann.
Eine Stunde später ist er zum Abmarsch bereit. Er hat seine wenigen Kleidungsstücke in eine gewebte Teppichtasche, die er am Handwebstuhl im Zimmer der Eltern hängend gefunden hat, gepackt, sich nochmals gewaschen und sich dann warm angezogen. Seine einzigen Schuhe und die Mukloks, warme dicke Socken, stecken ebenfalls in der Tasche. Er wird sie erst anziehen, wenn es zu schneien beginnen wird, denn er will sie schonen. Jetzt geht er noch barfuss, obwohl das Wasser in den Pfützen bereits seit Tagen gefroren ist und an der Leitung des Dorfbrunnens Eiszapfen wachsen. Auch Proviant hat er in zwei alte Plastiksäcke verpackt: gepökeltes Hammelfleisch, ein hartes halbes Fladenbrot, ein paar Handvoll Nüsse, Sonnenblumenkerne, getrocknete Aprikosen und einen buntfarbigen Kürbis. Einen kleinen Lederschlauch hat er mit der Schafmilch gefüllt, die auf der Herdstelle für das Frühstück bereitstand. Das alte Fahrtenmesser, ein Geschenk seines Grossvaters aus dessen Militärdienstzeit, Pyrit, Feuerstein und einen Reibstahl, Zunder und die Schaffelldecke runden seine Ausrüstung für die grosse Wanderung ab. Über zehn Tage wird er unterwegs sein, bis er Bamiyan erreicht, schätzt er. Zehn Tage voller Ungewissheit, voller neuer Erfahrungen und unbekannter Gefahren.
Zuletzt treibt Yasin die Hühner ins Freie und streut ihnen noch einige Handvoll Körner als Futter auf den Boden. Dann macht er sich an die Reparatur des Türschlosses. Er kann es nur notdürftig instand setzen, aber es funktioniert wieder. Gewissenhaft verschliesst er die Haustüre und schiebt mit dem Schlüssel, den er anschliessend in einer seitlichen Mauerritze versteckt, den inneren Riegel vor. «Dass kein Unberechtigter eindringen kann», denkt er und fragt sich, ob er wohl je wieder nach Shakhalmand zurückkehren wird. «Inshallah!», sagt er halblaut und muss ein wenig lachen, obwohl ihm eigentlich weh zumute ist. «Das ist das erste Mal, bei dass ich in diesem Wort auch ein bisschen Hoffnung spüre», denkt er.
Schnellen Schrittes geht Yasin durch die Gassen des Dorfes zum Bachlauf hinunter und folgt dann dem Weg nach Chaghcharan. Seine nackten Füsse klatschen auf die Kopfsteine, mit denen der Pfad zwischen den Häusern gepflastert ist. Es ist das einzige Geräusch, das die Stille des toten Ortes durchbricht. Die Tasche schlenkert hin und her und schlägt in gleichmässigem Takt an seine Hüfte. Bei den drei Weiden, wo der Weg zu sinken beginnt, dreht er sich nochmals um und wirft einen letzten Blick auf das Dorf zurück, das ihm über elf Jahre lang Heimat gewesen ist. «Leb wohl, Shakhalmand!», ruft er ihm zu und spürt, wie die Tränen wieder in seine Augen steigen und sich sein Magen verkrampft. «Leb wohl, und Gott sei mit dir!»
Yasins Weg nach Chaghcharan führt ihn über abschüssiges, teilweise steiles Gelände talwärts. Nur wenige Bäume und Büsche säumen den schmalen Pfad. Ein Stück tiefer springt der Dorfbach munter über Felsblöcke und windet sich gurgelnd und rauschend zwischen Steinen hindurch, wie wenn er ihm zurufen wollte: «Sei nicht traurig! Schau, auch ich muss immer weiter an neue Orte. Ich freue mich auf neue Erlebnisse. Ich freue mich auf die Zukunft.» Doch Yasin hat weder Augen noch Ohren für das Murmeln und Raunen des Baches. Nur manchmal schaut er auf, wenn eine kleine Siedlung oder ein einzelnes Gehöft unweit des Weges liegen.
Alle Siedlungen entlang des Weges machen einen verlassenen Eindruck, und an einigen Orten sieht er, dass die Häuser erst vor kurzem gebrannt haben müssen. «Auch hier sind sie also vorbeigekommen, die Tod bringenden Taliban!», denkt Yasin betrübt. Er eilt weiter, denn im Osten kündet sich bereits die kommende Nacht durch die zunehmend dunklere Färbung des Himmels an. Am gegenüberliegenden Talhang kriechen langsam, wie goldene Feuerzungen, die letzten Sonnenstrahlen über die kargen Grasflächen hügelan und tauchen die fernen Bergketten mit ihren bereits weiss verzuckerten Felsspitzen in ein flammendes, gelboranges Licht. Erst jetzt bemerkt Yasin, dass der Schreckenstag ein strahlender Sonnentag gewesen sein muss. Und er weiss: Es wird eine kalte Nacht werden, sternenklar im fast ungeschützten Hochland der westlichsten Pamir-Ausläufer… Er muss Chaghcharan erreichen; in der nächtlichen Kälte im Freien würde er sonst erfrieren.
Die Dunkelheit umhüllt bereits den Ort, als Yasin die ersten Gebäude von Chaghcharan erblickt. Einige schummerige Lampen entlang der Fahrstrasse tauchen die Häuser in ein unwirkliches, nebelhaftes Licht. Die Strassen sind menschenleer. Vor der Provinzverwaltung stehen zwei gepanzerte Militärfahrzeuge und ein Mannschaftstransporter. Einige Männer in der Uniform der Zentralregierung in Kabul, Maschinenpistolen im Anschlag, stehen Wache. Die Mauer des Verwaltungsgebäudes sieht aus wie ein Sieb. Überall liegen abgeplatzter Kalkschutt und Glasscherben der Fenster, die jetzt wie leere, schwarze Augenhöhlen aus dem Gebäude starren. Mit einem grünen Farbspray hat jemand begonnen, auf die Mauer zu schreiben: «Allah hasst die Ungläu…» Dort, wo der Schriftzug plötzlich abbricht, künden eine Blutlache am Boden, rote Flecken und Spritzer auf der Wand, vom jähen Ende des Verfassers.
Yasin starrt benommen auf die blutige Stelle im Strassenstaub. Hier waren die Taliban also auch! In diesem Augenblick treten zwei Männer aus der Tür der Provinzverwaltung. Einer kramt ein Zigarettenpäckchen aus der Jackentasche. Mit spitzen Fingern klaubt er eine Zigarette heraus und entzündet sie. Einen kurzen Moment lang leuchtet sein Gesicht im Licht des Feuerzeugs, ein gutmütiges Gesicht mit wachen, ernst blickenden Augen. Sekunden später ist es wieder ein schemenhaftes Oval in der Dunkelheit mit einem manchmal schwächer, manchmal stärker glühenden Punkt in der Mitte. «Wie ein Glühwürmchen im Sommer», denkt Yasin.
Die beiden Männer unterhalten sich. Yasin beobachtet sie und strengt sich an, etwas vom Gespräch zu verstehen, indem er versucht, ihnen vom Mund abzulesen. Hin und wieder trägt der schwache Wind einige Wortfetzen zu ihm hinüber. Die beiden Männer scheinen Offiziere zu sein, denn sie beraten, wie sie weiter vorgehen wollen. «… über Nacht hier bleiben…», «… sicherer in Gebäuden als…», «… nur noch wenige, aber trotzdem gefährlich…», «… bei Tageslicht Helikopter zur Verfolgung…», «… die Bevölkerung schützen…» - «He! Junge!» Und etwas lauter: «Hallo, junger Mann!» Yasin erschrickt, erwacht aus den Bildern, die beim Zuhören in seinem Innern aufgestiegen sind. «He! Du dort! Dich meine ich! Was machst du da, mitten auf der Strasse?», ruft der Raucher. «Komm mal her!» Er winkt, und Yasin setzt sich zögernd in Bewegung. «Schneller!», ruft ihm der zweite Mann zu, und Yasin erkennt aus den Augenwinkeln, wie sich die MPs der Wachsoldaten auf ihn richten. Seine Nackenhaare sträuben sich, ein heisser Schauer durchläuft seinen Körper, der Magen zieht sich zusammen. Ist das sein Ende? «So, jetzt bleib stehen!», befiehlt der Raucher, als sich Yasin bis auf etwa zehn Schritte den Männern genähert hat.
«Sie zwei!» Der Offizier winkt zwei Soldaten heran, die eben aus einem Mannschaftstransporter ausgestiegen sind, der vor der Provinzverwaltung parkt. «Kontrollieren Sie den Jungen auf Waffen!» Die Angesprochenen blicken sich kurz an. Der eine der beiden nickt, stellt sein Gewehr an das Fahrzeug und geht auf Yasin zu, während der andere seine Waffe in Anschlag bringt und sich hinter den Lastwagen zurückzieht.
Der Soldat bleibt vor Yasin stehen.
«Tasche fallen lassen!», sagt er. «Hinknien! Hände hinter dem Kopf verschränken!»
Dann tastet er Yasin ab. Zuerst die Arme, dann Brust und Rücken. Yasin spürt seinen Atem im Gesicht. Es riecht nach Schnaps. Darauf hebt der Soldat die Jacke an. Die Hände umgreifen die Taille, gleiten über Gesäss und Oberschenkel, während der Mann sich bückt.
«Gut, steh auf!», befiehlt der Soldat.
Yasin erhebt sich, und die Hände eilen die Unterschenkel hinunter.
«Ganz schön kalt, um barfuss zu gehen», meint der Mann und zeigt auf Yasins nackte Füsse. «Geh zwei Schritte zur Seite! Die Hände kannst du runternehmen.»
Dann bückt er sich und ergreift die Tasche. Er geht zum Lastwagen zurück, stellt sie auf den Rammschutz und beginnt, sie zu durchsuchen.
«Eine Lederbörse mit Geld und Ausweisen, einige Kleidungsstücke, ein Paar kaputte Schuhe, Esswaren, ein Trinkschlauch, ein Messer, Feuerstein und ein Reibeisen, ein Schaffell», verkündet er.
«Ist das alles?», fragt der zweite Offizier.
«Ja, alles, Herr Oberleutnant», erwidert der Soldat.
«Bringen Sie mir das Messer!», befiehlt der Raucher und schnippt den Zigarettenstummel auf den Boden. Dann winkt er Yasin mit einem Kopfnicken zu sich her und klopft mit dem Messer in seine Handfläche.
«Was willst du damit?» Er zieht das Fahrtenmesser aus der Lederscheide, hält es ins Licht und pfeift leise durch die Zähne. «Englisch», sagt er. «Mindestens vierzig Jahre alt.» Seine Finger fahren über die Schneide. «Und stumpf!»
Er blickt Yasin aufmerksam an. «Na!? Sag was!»
Yasin wird es wind und weh. Das Messer hat er ganz vergessen! Er hat ja eine Waffe bei sich! Was soll er dazu sagen? Jetzt werden sie glauben, dass er zu den Taliban gehört. Dass er die Soldaten im Schlaf überfallen und töten wollte. Er beginnt zu zittern, und Tränen rollen ihm über die Wangen.
Ohne Yasins Antwort abzuwarten, fährt der Offizier fort: «Weisst du denn nicht, dass in Chaghcharan eine nächtliche Ausgangssperre herrscht? Dass niemand auf den Strassen sein darf? Dass die Soldaten Befehl haben, auf alles zu schiessen, was sich bewegt?»
«Du hast Glück, dass du noch lebst!», ergänzt der Oberleutnant. «Wo bist du denn zuhause?»
«Ich… ich bin… ich komme… aus Shakhalmand», stottert Yasin.
«Shakhalmand? Das ist doch hier irgendwo in den Hügeln. Wie sieht es denn dort aus?»
«Die… die Taliban waren dort. Sie haben alle getötet, die nicht geflohen sind. Die Tiere gestohlen. Und Häuser angezündet.»
«Verdammt! Diese Schweine!», entfährt es dem Raucher. «Weisst du, wohin sie weitergezogen sind?»
«Nein. Ich habe nur einen gesehen, mit Turban und Bart. Er schoss auf mich und meine Eltern. Ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, waren die Taliban fort. Ich habe meine toten Eltern bestattet. Und dann bin ich nach Chaghcharan gelaufen.»
Der Offizier klopft sich mit dem Messer wieder in die Handfläche. «Dann bist du jetzt allein? Eine Waise?! Na ja – dann hätten wir mit dir also ein weiteres Problem.»
Und zu den Soldaten gewandt fährt er fort: «Bringen Sie den Jungen in ein gesichertes Quartier und schliessen Sie ihn dort ein!»
«Komm!» Der andere Soldat löst sich vom Lastwagen, packt Yasin an der Jacke und zieht ihn mit sich. Yasin stolpert neben ihm her in die Provinzverwaltung und im Innern eine Treppe hinauf.
«Da hinein!» sagt der Mann und stösst ihn in einen Raum mit einem vergitterten Fenster. «Ich bin gleich zurück!», sagt er, verlässt das Zimmer und schliesst die Türe hinter sich ab.
Yasin steht im Dunkeln. Schliesslich geht er zum Fenster und blickt hinaus. Er sieht in einen vom Mond schwach erhellten Hinterhof, wo sich Schrott und alte Möbelstücke zu einem Berg auftürmen. Dann lässt er sich zu Boden sinken und lehnt gegen die Wand. Im Raum ist es wärmer als draussen, und mit der Zeit beginnen seine Füsse und Hände zu stechen, wie wenn Tausende kleiner Nadeln in die Haut dringen würden: Es kuhnagelt unter der Haut.
Er reibt die Füsse mit den Händen, und das Stechen hört allmählich auf. Seine Gedanken jagen sich. Was werden die Soldaten mit ihm machen? Glauben sie immer noch, er sei ein Taliban? Wird er vor ein Gericht, die Scharia, gestellt und dann gesteinigt, so, wie der Mullah es in einer Koranschulstunde von Verrätern am Islam erzählt hat? Soll – ja, kann er fliehen? Oder lässt man ihn am Leben?
Die Tür öffnet sich wieder. Die Lichtbahn einer Taschenlampe dringt aus dem Treppenhaus in den Raum.
«Da!» Zwei Decken werden hineingeworfen.
«Komm her!», hört Yasin die Stimme des Soldaten. Er steht auf und geht zur Tür.
«Ich hab dir was zu essen mitgebracht. Leider nichts zu trinken. Meine Schnapsflasche gebe ich dir nicht. Und ausserdem, du bist doch sicher ein guter Muslim…?»
Der Mann lacht und reicht ihm den angebrochenen Laib eines Fladenbrotes und ein Cellophansäcklein mit getrockneten Rosinen. Dann verriegelt er die Tür wieder, und Yasin steht erneut im Dunkeln. Mit dem Fuss schiebt er die Decken an die Wand. Er setzt sich darauf und beginnt zu essen. Gierig beisst er ins Brot. Erst jetzt spürt er den Heisshunger, der sich während des langen und anstrengenden Tages in ihm aufgestaut hat. Er hört erst auf zu essen, als die letzten Brotkrümel, die letzten Rosinen, verschwunden sind. Hin und wieder hört er im Treppenhaus Schritte und Stimmen. Einmal will jemand in den Raum, rüttelt an der Tür. Dann ist es wieder still.
Yasin geht zum Fenster, öffnet es, reisst an den Gitterstäben. Sie bewegen sich nicht, sind fest in der Mauer verankert. Keine Möglichkeit zu fliehen! Er sitzt gefangen wie die Maus in der Falle. Waren der Brotlaib und die Rosinen seine Henkersmahlzeit? Er hat einmal einen amerikanischen Comic gesehen, den sein Freund auf einer Schafweide gefunden hatte. Die Amerikaner hatten vor zwei Jahren aus Flugzeugen Kaugummis, Zigaretten, Lebensmittel und Zeitschriften abgeworfen. So kam auch der Comic nach Shakhalmand. Sie verstanden den Text mit den lateinischen Buchstaben nicht. «Das ist Englisch», hatte ein Nachbar erklärt, der schon einmal in Kabul gewesen war. Aber die Bilder des Comics waren leicht zu verstehen: Ein Verbrecher war eingesperrt worden und sass im Gefängnis. Die Zelle sah viel schöner aus als das Zuhause von Yasin, und er wünschte sich, so angenehm wohnen zu können. Der Verbrecher bekam so viel zu essen, wie er wollte, weil er am nächsten Morgen hingerichtet wurde. Man schnallte ihn auf einen Stuhl mit Strom, und dann war es aus mit ihm. «Das letzte Essen nennen die Ungläubigen Henkersmahlzeit», erklärte damals der Nachbar.
«Henkersmahlzeit. Ein seltsames Wort! Wie wenn der Henker etwas zu essen bekäme. Dabei bekam ja der Verurteilte seine letzte Mahlzeit. Eigentlich müsste sie ‚Verurteiltenmahlzeit’ heissen, oder ‚Todesurteilmahlzeit’, oder ‚Todesstrommahlzeit’. Ja! Und weshalb hiess der Henker ‚Henker’? Es wurde ja gar niemand gehängt. Der Verbrecher war mit Strom getötet worden, auf einem elektrischen Stuhl…!
Yasin vergisst seine Angst und beginnt, mit Wörtern zu spielen. Die Begriffe tanzen durch seinen Kopf, bilden neue Bedeutungen, verändern sich, reizen zum Lachen, zum Nachdenken, zum traurig sein. ‚Traurig sein’ ist für Yasin heute mit einer neuen Bedeutung gefüllt worden: Tod und Einsamkeit. Aber die Wortspiele lassen seine Traurigkeit und die Angst ein wenig in den Hintergrund treten. Die Zeit verrinnt, die Dunkelheit legt sich immer schwerer auf den Jungen. Trauer und Anstrengung fordern ihren Tribut. Der junge Körper erschlafft. Yasin fällt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Yasin erwacht. Er spürt aber sofort, dass er nicht allein im Raum ist. Neben seinem Lager sieht er hochgeschnürte, blank geputzte Stiefel. Darüber Beine in einer Vierfruchthose.
«Steh auf, Junge! Der Hauptmann will dich sehen.»
Yasin richtet sich schlaftrunken auf, beginnt sich zu erinnern. Der Soldat, der ihn gestern im Obergeschoss der Provinzverwaltung eingesperrt hat, steht neben ihm, rüttelt ihn an der Schulter.
«Aufstehen! Es ist Morgen. Du musst zum Hauptmann.»
Yasin durchzuckt der Schreck der Erinnerung. Kommt jetzt seine Hinrichtung?
«Nein, ich will nicht!» stöhnt er und schützt seinen Kopf mit erhobenen Händen. Der Soldat greift zwischen seinen Armen hindurch, packt ihn an der Schulter, zieht ihn an der Jacke hoch und stellt ihn auf die Füsse.
«Hier gibt’s kein ‚Will nicht!’», sagt der Mann und schleppt den widerstrebenden Jungen hinter sich her.
«Du wirst schon nicht gefressen», meint er, während er Yasin die Treppe hinunterführt.
Sie verlassen die Provinzverwaltung. Draussen ist es noch dunkel, und die Kälte überfällt Yasin wie ein wildes Tier. Der Mannschaftswagen ist verschwunden; zwei gepanzerte Fahrzeuge haben links und rechts des Gebäudes Stellung bezogen. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite steht eine Haustür offen. Ein schwacher Lichtschein fällt aus einem Fenster auf den Vorplatz. Zwei Wachen sichern den Eingang.
Sie betreten das Haus. Ein dunkler Flur führt zu einer Treppe. Links davon ist eine Tür. Der Soldat klopft. «Der Junge ist da», meldet er.
«Kommen Sie rein!», tönt eine feste Stimme von drinnen.
Der Soldat öffnet die Tür und zieht Yasin hinter sich her. Wärme flutet ihnen entgegen. Das Licht im Raum blendet, und Yasin muss für einige Augenblicke die Lider schliessen, denn die Helligkeit blendet ihn so, dass es in den Augen schmerzt.
«Probleme?», fragte die Stimme.
«Nein, Herr Hauptmann, nichts. Er hat bis jetzt geschlafen.»
«Ist gut. Danke. Lassen Sie uns allein!»
Yasin merkt, wie sich der Griff an seiner Jacke löst. Er hört den Soldaten salutieren und den Raum verlassen. Langsam öffnet er die Augen, um sich ans Licht zu gewöhnen.
Hinter einem Tisch steht der Offizier, der am Vorabend die Zigarette geraucht hat. Yasin erkennt die Stimme wieder und erinnert sich an das Gesicht mit den gutmütigen Augen.
«Komm her, mein Junge. Wie heisst du?»
«Yasin, Herr. Yasin Naim Mir Batcha», antwortet Yasin zögernd. Er nähert sich zitternd dem Tisch.
«Du musst keine Angst haben. Niemand tut dir was», sagt der Hauptmann, der das Zögern und Zittern von Yasin bemerkt hat. «Wir sind hier, um die Menschen vor den Taliban zu schützen.»
Auf dem Tisch steht ein dampfender Krug, daneben einige Gläser. Pfefferminzduft füllt den Raum. Yasins Augen gleiten vom Offizier weg zum Krug.
«Durst?», fragt der Offizier. Er ergreift ein Glas, füllt es mit goldbraun leuchtendem Tee, schüttet zwei Löffel Zucker dazu, rührt um. «Da, nimm!»
Gierig trinkt Yasin. Seit gestern Nachmittag, als er Shakhalmand verlassen hat, hat er nichts mehr ausser dem bisschen Schafmilch getrunken, die er in den ledernen Trinkschlauch abgefüllt hatte.
«Nochmals?», fragt der Hauptmann.
Yasin hält ihm wortlos das Glas hin, wartet, bis es wieder gefüllt ist. Der Offizier schiebt das Schälchen mit dem Zucker über den Tisch. «Süssen kannst du ihn selber. Setz dich auf den Stuhl!»
Yasin gehorcht. Wortlos trinkt er den erfrischenden Tee. Seine Hände umfassen das heisse Glas, seine Blicke gleiten durch den Raum. Ein Glutbecken in der Mitte des Raumes verströmt Wärme. An der Wand hängt eine Landkarte, über die eine Plastikfolie gespannt ist. Sie ist mit Strichen, Pfeilen und Farbkreisen bedeckt, an einigen Stellen kleben Zettelchen, stecken Nadeln mit bunten Fähnchen oder sind Wörter geschrieben. Eine elektrische Lampe leuchtet die Karte aus, eine Deckenlampe erhellt den Raum. Yasin ist zum ersten Mal in einem Haus mit elektrischer Beleuchtung. Fasziniert starrt er die hell leuchtende Glühbirne an, bis farbige Ringe vor seinen Augen tanzen. Als er wegblickt, kann er einen Augenblick lang nichts sehen. Erst allmählich erholen sich die Augen vom gleissenden Licht. Fast so hell wie die Sonne; so etwas Helles hat er sonst noch nie gesehen. Der Offizier wartet still und geduldig.
Als Yasin das Glas leer getrunken hat, stellt er es auf den Tisch.
«Danke!», sagt er höflich. «Allah wird es Ihnen danken, Herr.»
Der Hauptmann lächelt. «Du bist ein gut erzogener Junge», meint er wohlwollend. «Du hast gestern berichtet, dass Shakhalmand von den Taliban überfallen worden ist. Die sogenannten Gotteskrieger sind anschliessend nach Chaghcharan gekommen, aber wir konnten sie zurückschlagen. Sie haben sich über den Harirud nach Norden ins Parapo-misus-Hügelland zurückgezogen.»
Der Hauptmann geht zur Karte hinüber und studiert sie einen Moment lang. «Vermutlich sind die Menschen aus Shakhalmand südwärts in die Berge geflohen, und du bist deshalb auf niemanden aus deinem Dorf gestossen; jedenfalls kamen ausser dir keine Flüchtlinge aus den Hügeln hierher.»
Yasin hört aufmerksam zu. Der Offizier will gerade weiterfahren, da klopft es an der Tür.
«Frühstück ist bereit, Herr Hauptmann, in der Offizierskantine», sagt eine Stimme. «In einer halben Stunde ist Sonnenaufgang.»
«Ach ja, Ramadan!», seufzt der Hauptmann, und zu Yasin gewandt fährt er fort: «Komm, Junge, du kannst mit uns das Morgenessen einnehmen.»
Während des Frühstücks erzählt Yasin den Offizieren vom Überfall auf sein Dorf und vom Tod seiner Eltern. Zum Hauptmann und Oberleutnant sind noch drei jüngere Offiziere und ein älterer Mann in Uniform, aber ohne Rangabzeichen, gestossen, die ihm aufmerksam zuhören.
«Und jetzt willst du zu deinem Bruder nach Bamiyan? Du bist aber ganz schön mutig. Das ist weit und sicher nicht ungefährlich», meint einer von ihnen. «Die Taliban sind überall, und ihnen zu begegnen, ist keine angenehme Sache!»
«Ich habe keine andere Wahl», antwortet Yasin. «Es gibt sonst niemanden mehr, den ich kenne. Mein Bruder kann mir weiterhelfen. Er hat eine Arbeit. Er verdient Geld. Vielleicht kann er mir den Schulbesuch bezahlen. Ich möchte mit dem Schulunterricht weiterfahren. Ich will viel lernen, denn ich will Arzt werden.»
Der Oberleutnant klopft ihm anerkennend auf die Schulter. «Ganz schön selbstbewusst, der junge Mann.»
Yasin fährt mit einem Schmerzenslaut zurück.
«Was ist? Schmerzen?», fragt der Hauptmann.
«Ach, es ist nichts. Ein Streifschuss am linken Arm. Es schmerzt nur, wenn man die Stelle anfasst.»
«Lass mich mal sehen!», sagt der ältere Mann und steht auf. Obwohl sich Yasin wehren will, besteht der Mann darauf, dass er Jacke und Hemd auszieht. Rund um die sauber gewaschene Schussverletzung hat sich eine Schwellung gebildet, das Fleisch ist entzündet und von einem rötlich gefärbten Hof umrahmt. «Das sieht aber gar nicht gut aus. Schwer zu glauben, dass es nicht dauernd schmerzt.»
«Nur ein bisschen. Es pocht wie der Herzschlag, aber es tut nicht eigentlich weh», erklärt Yasin.
«Muss man da was machen, Doktor?», fragt der Hauptmann.
«Reinigen, sterilisieren, gegen Starrkrampf impfen und Antibiotika gegen die Infektion verabreichen», sagt der Mann. «Ein Tag Ruhe kann auch nicht schaden, sonst wird der junge Mann wegen einer tödlichen Blutvergiftung plötzlich doch nicht mehr Arzt.»
«Veranlassen Sie das Nötige, Doktor!», sagt der Hauptmann. «Und bringen Sie Yasin nach der Wundversorgung auf mein Quartier.»
«Jawohl, Herr Hauptmann.» Und zu Yasin gewandt sagt er: «Nimm deine Kleider und komm mit!»
Eine halbe Stunde später sind sowohl der Streifschuss als auch der Schnitt an der Kopfhaut verarztet. «Ich werde die Armverletzung nicht klammern. Wir haben von den Deutschen in Kabul neuartige Klebeverbände erhalten. Damit werde ich die Wunde kleben und dir weitere Klebeverbände und Desinfektionslösung abgeben. So kannst du sie später selber weiter versorgen, wenn du allein unterwegs nach Bamiyan bist», erklärt der Arzt.
Dann kramt er in einer Militärkiste und reicht Yasin eine Blisterpa-ckung mit zehn Tabletten.
«Von diesen Antibiotika-Tabletten musst du morgens und abends während fünf Tagen je eine mit etwas Wasser schlucken, vergiss das nicht, es ist wichtig. Sie stoppen die Entzündung, verhindern eine Blutvergiftung und senken allfälliges Fieber. Nimm jetzt gleich die Erste!» Er füllt ein Glas Wasser und stellt es Yasin hin. Dieser dreht hilflos die Blisterpackung in seinen Händen.
«Ach ja! Du hast wohl noch nie solche Verpackungen gesehen. Schau!»
Er nimmt Yasin die Packung aus den Händen und drückt eine Tablette durch die Alufolie.
«Du musst von der durchsichtigen Seite her drücken - mit beiden Daumen - so: zwischen den Zeigefingern hindurch.» Er reicht dem Jungen die rötliche Tablette, die durch die Folie gesprungen ist. «Nimm sie in den Mund und spül sie mit Wasser runter!» erklärt er.
Nachdem Yasin die Tablette geschluckt hat, fährt er fort: «Jetzt noch die Starrkrampfimpfung. Bist du schon einmal geimpft worden?»
Yasin schüttelt den Kopf.
«Doch, doch. Schau, hier am Schultermuskel hast du eine kleine Narbe. Die stammt von einer Pockenimpfung. Wahrscheinlich bekamst du diese vor vielen Jahren, als du noch ganz klein warst. Es wird kurz stechen und dann ein bisschen brennen. Das Gefühl verschwindet aber bald wieder.»
Der Arzt nimmt eine Spritze und ein Fläschchen aus der Militärkiste. Mit der Spritze saugt er Flüssigkeit aus dem Fläschchen. Dann hält er die Spritze mit der Nadel nach oben gegen das Licht und klopft mit dem Finger dagegen. «Damit keine Luft drin ist», erklärt er, als er bemerkt, dass Yasin ihm aufmerksam zuschaut.
Der Arzt nimmt einen Gazetupfer und reinigt die Haut mit einer Flüssigkeit, die stark kühlt. «Alkohol», erklärt der Arzt. «Jetzt piekst es», fährt er fort, und Yasin spürt einen kurzen Stich im Arm. Gleich darauf brennt es fürchterlich. Aber schon ist die Spritze wieder draussen, und die Einstichstelle wird mit dem alkoholgetränkten Tupfer nochmals gereinigt.
«Das war’s. Und jetzt ab und nochmals ins Bett!»
Der Arzt führt Yasin eine Treppe höher, klopft an eine Zimmertür, und als sich niemand meldet, öffnet er die Tür. Er schiebt Yasin in den Raum. Vier Betten füllen ihn fast ganz aus. Zwei sind belegt. Am Boden stehen grünbraun gemusterte Rucksäcke. Der Arzt deutet auf ein freies Bett.
«Hier kannst du nochmals ein paar Stunden schlafen. Der Hauptmann wird irgendwann kommen. Zieh dich aus! Mit Bettdecke und Kopfkissen schläft man nicht angezogen.»
Yasin dreht sich um und streift sich die Hose ab, ist jetzt völlig unbekleidet. Schnell legt er sich seitlich auf die Decke, damit der Arzt sein Geschlecht nicht sehen kann. Er schämt sich, nackt vor einem Fremden dazuliegen. Das Bett ist ungewohnt weich, und Yasin sinkt in den Stoff ein.
«Unter die Decke, nicht drauf!» lacht der Arzt, zieht sie unter dem Jungen hervor und deckt ihn zu. «Schlaf gut, erhol dich und sammle Kräfte für dein Vorhaben», sagt er und verlässt den Raum.
Yasin liegt zum ersten Mal in seinem Leben in einem richtigen Bett. Bisher hat er nur von den Betten der Reichen gehört. Er hat sich nicht vorstellen können, dass es so weich und so warm sein kann. Langsam lässt er seine kreisenden Gedanken los, ergibt sich einem tiefen Schlaf: Seine Angst war umsonst. Er wird nicht hingerichtet. Er wird seinen Bruder finden. Er wird in Bamiyan zur Schule gehen. Er wird…
Ein Donnern und Pfeifen weckt Yasin. Es scheint, als wolle die Hölle über der Erde zusammenbrechen. Die Fenster rütteln, die Scheiben klirren leise, und die Türe des Schlafraumes fibriert, als ob eine Herde Kamele vor dem Haus vorbeigaloppieren würde. Yasin setzt sich im Bett auf. Erst jetzt merkt er, dass er nicht allein im Raum ist. Der Oberleutnant sitzt auf einem der anderen Betten und ist anscheinend auch durch den Lärm aufgewacht.
«Gut geschlafen?», fragt er freundlich und greift nach seinem Hemd. «Ein Riesenkrach da draussen, nicht wahr? Das sind Helikopter, die zu unserer Verstärkung kommen.»
Helikopter! Yasin hat sie schon oft von ferne gesehen, wenn sie hoch am Himmel über sein Dorf hinweg geflogen sind. Schon damals hat ihn der Lärm beeindruckt, den sie erzeugten, das rhythmisch dumpfe Schlagen und Heulen, das man schon lange vernahm, bevor man sie sah. Dass sie jedoch einen solch infernalischen Lärm machen, wenn sie in der Nähe sind, hätte er nie vermutet.
Das Heulen schwillt ab und weicht einem gleichmässigen, hohen Summton.
«Willst du mitkommen und dir die Maschinen ansehen?»
Yasins Herz hüpft. Er darf Helikopter anschauen! Wie oft hatte er mit seinen Freunden im Dorf darüber diskutiert, wie die Fluggeräte wohl aussahen? Hatte sich gefragt, wie sie fliegen konnten. Wie oft hatte er sich gewünscht, einmal eine der Maschinen genauer zu sehen, ja, in ihrer Nähe stehen zu können? Nur unklar war das Bild, das er sich aus den fernen, undeutlichen Formen am Himmel bisher hatte machen können.
«Sicher! Gerne! Darf ich wirklich mitkommen?». Seine Stimme überschlägt sich beinahe.
«Zieh dich an! Ich warte», sagt der Oberleutnant.
Kurze Zeit später schreiten sie zu dem freien, ebenen Feld hinter der zentralen Häusergruppe, auf welchem die Helikopter gelandet sind. Das Feld ist der Flugplatz von Chaghcharan. Hier können nur Helikopter oder STOL-Flugzeuge1 landen. Eine der Maschinen schwebt noch unruhig über dem Platz, schaukelt hin und her, dreht sich im Kreis, verursacht einen Höllenlärm und einen wahren Orkan, der Staub, Blätter, Gräser, kleine Steinchen und herumliegende Abfälle durch die Luft wirbelt. Die halbe Bevölkerung von Chaghcharan hat sich voller Neugier rund um die Landestelle versammelt, und Yasin kann die gelandeten Maschinen noch nicht gut betrachten. Soldaten haben einen Schutzkordon um den Landeplatz gezogen und halten allzu Neugierige zurück. Kinder rennen aufgeregt herum und suchen eine Stelle, wo sie möglichst nahe an die Helikopter herangehen können.
Der Oberleutnant ergreift Yasin an der Schulter und schiebt ihn durch die Menschenmenge. Einer der Soldaten tritt beiseite und lässt sie passieren. Jetzt kann Yasin die Helikopter in ihrer vollen Grösse sehen. Es sind drei Stück: einer ein riesiger, plumper Koloss auf drei weit auseinander liegenden Stützrädern und zwei kleinere, die aussehen wie angriffige Hornissen. Der Grosse ist gewaltig, länger und höher als ein Gebäude, grösser als alles, was Yasin bisher gesehen hat - ausser vielleicht der Moschee in Chaghcharan. Sein mächtiger Rotor dreht sich noch langsam. Von ihm geht das gleichmässige Summen aus. Aber auch die kleinen Helikopter sind beeindruckend. Die runden Glaskanzeln blitzen in der Sonne. Yasin fällt die Bemalung der Rümpfe auf: grosse Flecken und Formen in helloliven, beigen und ockerfarbigen Tönen, die Bauchseite grauweiss; Farben fast wie in der Wüste. Auf der Rumpfseite tragen alle vier den gleichen Schriftzug in grossen, lateinischen Buchstaben: US Marines. Und eine Nummer.
Eben schwingt eine Tür des grossen Helikopters auf. Der Helikopterbauch speit Männer aus, alle in Kampfanzügen von gleicher Farbe und Musterung wie die Helikopterbemalung, mit hohen, graubraun gefärbten Schnürstiefeln, voll bepackt mit kleinen Taschen, Geräten, Antennen, einem kleinen, mit Tarnstoff überzogenen Helm auf dem Kopf, einer dunklen Sonnenbrille vor den Augen, und bewaffnet bis an die Zähne. Mit Sicherheit sind es keine Afghanen, wie Yasin an der helleren Haut der Männer erkennt.
Sofort beziehen sie Stellung um die Fluggeräte und verstärken den Sicherungsring der afghanischen Soldaten. Erst jetzt setzt auch der letzte Helikopter zur Landung an.
Der Oberleutnant bückt sich und brüllt durch den Lärm in Yasins Ohr. «Er hat die Landung überwacht. Falls etwas Unvorhergesehenes passiert, kann er sofort eingreifen, solange er in der Luft ist. Am Boden sind die Helis wehrlos.»
Der Sturm, den die landende Maschine verursacht, wird zusehends stärker. Yasin muss sich gegen den Orkan stemmen, seine Kleider werden aufgeblasen wie Luftsäcke in den Winterstürmen. Seine Haare fliegen, die Augen - voller Staub – hält er nur noch zu einem winzigen Spalt geöffnet, die Ohren schmerzen, und er öffnet den Mund, um den Druck etwas zu verringern. Dann setzt die Maschine auf ihren beiden Kufen auf, und augenblicklich nimmt der Lärm ab.
Aus dem grossen Helikopter steigen jetzt mehrere Männer, die keine MPs, sondern Pistolenhalfter tragen. Ihre Helme sind am Gurt festgemacht, und man sieht ihre beinahe kahl geschorenen Schädel in der Sonne glänzen. Sie beraten kurz und kommen dann auf Yasin und den Oberleutnant zu, zu denen sich inzwischen auch der Hauptmann gesellt hat.
«Hi! I’m Captain McGuire. I hope, we’re still in time», sagt der Vorderste in einem breiten, gequetschten Tonfall und reicht dem Hauptmann die Hand.
«Good morning, Sir! Yes, everyting‘s o.k.», antwortet dieser.
Dann begrüsst der Amerikaner den Oberleutnant und stellt die anderen Männer vor. Zuletzt wendet er sich Yasin zu.
«Hello, boy! You’re a new young soldier?», fragt er und lacht.
Yasin versteht kein Wort und lächelt gequält zurück, weil er nicht weiss, wie er reagieren soll.
In holprigem Englisch erklärt der Oberleutnant dem Captain etwas, was sich ganz offensichtlich auf ihn bezieht. Schliesslich wendet sich der Amerikaner an einen der Männer aus seiner Gruppe und sagt erklärend zu Yasin: «He’s an interpreter. He’ll show you the planes.»
Der Mann ergreift Yasins Jacke und zieht ihn von der Gruppe weg. Yasins Herz fällt in die Magengrube. Schweiss tritt ihm auf die Stirn. Was wird jetzt mit ihm gemacht? Er blickt zum Hauptmann zurück. Dieser lächelt ihn aufmunternd an. «Vielleicht wird es doch nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe», denkt Yasin.
Der Mann stellt sich vor. «Ich bin Captain O’Braney», sagt er in einem seltsam betonten Farsi. «Ich bin der Übersetzer. Wir werden miteinander die Helikopter besichtigen. Eure Offiziere können Amerikanisch. Da braucht es mich nicht. Wie heisst du denn? Und wie alt bist du?»
«Yasin», antwortet der Junge. «Ich bin elf gewesen - im Sommer.»
«So alt wie mein Junge zuhause wäre, wenn er noch leben würde», lächelt O’Braney. «Er hiess Steven. Kam bei einem Fahrradunfall ums Leben.»
Yasin schaut ihn an. Irgendwie scheint der Mann traurig zu sein. «Woher können Sie meine Sprache?», erkundigt er sich, um das Thema zu wechseln.
«Ich bin Sprachwissenschaftler und Professor für Sprachen des Hindukusch an der Universität von Wisconsin. Ich habe vor vielen Jahren, als noch Frieden war, in Kabul Farsi, eine der Sprachen Afghanistans, erlernt. Jetzt hat man mich in diesen unsinnigen Krieg aufgeboten, als Übersetzer. Man bezeichnet meine Aufgabe in der Armee als ‚Verbindungsoffizier’. Ja, und da bin ich eben…»
Unsinniger Krieg? Das sagt ein Amerikaner! Die wollten doch den Krieg, hatte der Mullah ihnen in der Koranschule erklärt. Die wollten doch die Al Kaida vernichten, Osama Bin Laden fangen, die Taliban davonjagen. Die Ungläubigen seien nach Afghanistan gekommen, um den Islam zu vernichten. Ihretwegen kommen jetzt die Taliban in die Dörfer und richten überall ein Blutbad an! Yasins Gedanken jagen sich. Stimmt doch nicht alles, was der Lehrer ihnen erzählt hat? Er hat nicht den Eindruck, als ob der nette Amerikaner lügen würde.
«Schau, der Grosse da. Das ist ein ‚Sikorsky’. Ein Truppentransporter. Er kann rund fünf Tonnen Material befördern. Oder vierzig Mann mit voller Ausrüstung. Aber er ist nur schwach bewaffnet. Bloss einige Maschinengewehre. Deshalb benötigt er Geleitschutz. Diesen bilden die Kleinen. Sie tragen den Namen ‚Cobra’. Wie die Giftschlange – die Brillenschlange. Kennst du sie?»
«Ja. Sie ist sehr giftig. Aber sie ist bei uns selten», sagt Yasin. «Mein Dorf liegt zu hoch, und es ist dort oft kalt für Schlangen. Ich hab erst einmal eine gesehen. Letzten Sommer, beim Schlangenbeschwörer, auf dem grossen Kamelmarkt hier in Chaghcharan.»
«Beim Schlangenbeschwörer, ah ja? – Also: ein paar Cobras fliegen als Geleitschutz mit», fährt der Amerikaner fort. «Sie haben Maschinengewehre, eine Bordkanone und Fernlenkwaffen als Ausrüstung an Bord. Sie sind extrem wendig und schnell. Eine gefährliche Waffe. Zwei Mann können sie fliegen und gleichzeitig die Waffensysteme bedienen.»
Yasin hat Mühe, den Facherklärungen zu folgen. Die vielen neuen Begriffe, die er nicht kennt, deren Bedeutung er sich nebst dem Zuhören überlegen muss, verwirren ihn. Auch kommt er zum Staunen nicht mehr heraus ob all der Eindrücke, die auf ihn einstürmen.
«Komm! Versuchen wir’s mal bei der Sikorsky!»
Sie gehen zum grossen Helikopter hinüber. Was will O’Braney versuchen? Er steckt seinen Kopf in die Türöffnung und ruft hinein: «Hey, Jack! May we come in? There’s an Afghan boy here who’s interested to have a look at your cockpit.»
«It’s against the orders, Sir!» Kurze Pause. «O.k.! Wait! A boy, you say? You may show him the eggbeater, as an exception, to say it clearly. But in case of emergency he has to be out within a heartbeat», vernimmt Yasin eine Stimme aus dem Inneren.
«Also, du hast Glück. Komm! Du kannst den Heli von innen kennen lernen», sagt Captain O’Braney.
Yasins Herz hüpft vor Erregung. Erst ein paar Minuten ist es her, dass er seinen ersten Helikopter aus der Nähe betrachten konnte, und schon darf er ihn von innen besichtigen! Wenn er doch das seinen Freunden erzählen könnte! «Leben sie wohl noch? », fragt er sich. Seit er Shakhalmand verlassen hatte, hat er keinen von ihnen mehr getroffen.
Der Verbindungsoffizier will ihn vor sich die Metalltreppe hinauf in den Helikopterrumpf schieben, aber Yasin ist schon drinnen, schneller als ein Blitz.
Kurz nach Mittag startet eine Cobra und kehrt nach etwa einer Stunde wieder nach Chaghcharan zurück. Die beiden Piloten eilen zu den Gebäuden hinüber und verschwinden im Offiziershaus im Raum mit der Landkarte. Yasin sitzt vor der Haustür und geniesst die warme Sonne, welche die Hauswand aufgeheizt hat. Er hat einen aufregenden Morgen erlebt und in der kurzen Zeit mehr Neues gelernt als manchmal während einer ganzen Schulwoche in Shakhalmand. Er weiss jetzt, wie der Helikopter fliegt, wie er gesteuert wird, wozu der Stator – der hintere Propeller – dient, wie die Piloten in der Nacht sehen können, wie es in einem Cockpit aussieht, dass es einen künstlichen Horizont gibt, dass es am Himmel unsichtbare Luftstrassen gibt, dass eine Leitstelle den Einsatz und die Sicherheit aller sich über Afghanistan in der Luft befindlichen Maschinen überwacht…
Die vielen Eindrücke haben seine Trauer verdrängt. Doch als er so allein dasitzt, überfällt sie ihn plötzlich wieder. Er hat ganz vergessen, weshalb er nach Chaghcharan gekommen ist. Jetzt wird es ihm umso schmerzlicher wieder bewusst. Irgendwo müssen seine Sachen sein, und er will sich auf den Weg nach Bamiyan begeben. Yasin steht auf und macht sich auf die Suche nach dem Hauptmann. Er kann ihn aber nicht finden. Schliesslich trifft er auf den Soldaten, der ihn am Vorabend abgetastet hat.
«Du musst warten», sagt dieser. «Der Hauptmann ist an einer wichtigen Besprechung mit den Amerikanern. Da drin!» Er zeigt auf das Offiziershaus.
Also setzt sich Yasin wieder neben den Hauseingang. Nach einiger Zeit verlässt ein Leutnant in Begleitung eines amerikanischen Offiziers den Kartenraum. Sie versammeln einige Soldaten. Aufregung macht sich bemerkbar. Einige eilen in ihre Quartiere und tauchen dann mit ihrer Ausrüstung und der Waffe wieder auf. Auch einige der amerikanischen Marines scheinen sich für etwas bereit zu machen. Plötzlich sammeln sie sich und eilen auf einen lauten Zuruf des Offiziers zur Sikorsky hinüber.
Da verlassen schon alle restlichen Offiziere den Kartenraum. Der Hauptmann trägt Yasins Tasche. Yasin erhebt sich und will ihm sagen, dass er sich auf den Weg zu seinem Bruder machen möchte. Doch der Hauptmann fragt: «Du willst doch nach Bamiyan?»
«Ja, Herr. Zu meinem Bruder.»
Der Hauptmann greift in die Tasche. Er nimmt das Fahrtenmesser heraus. «Wir haben es für dich geschliffen», sagt er. «So stumpf, wie es war, nützt es dir nichts. Und wir haben einige Verpflegungsrationen eingepackt.»
Er hält Yasin die Tasche hin. Einige Plastiksäcklein sind neu darin. Yasin erkennt die Klebeverbände, die Antibiotika-Tabletten und ein paar viereckige, silbern leuchtende Päckchen.
«Danke, Herr, Sie sind so gütig. Allah sei mit Ihnen.»
«Viel Glück, mein Junge», sagt der Hauptmann. «Ich bete für dich, dass du Bamiyan erreichst. Gott sei mit dir.»
«Come on, boy!», sagt der amerikanische Captain. «You are with the team. Say ‚Good-bye’ to your friends.»
O’Braney tritt hinter Yasin und legt ihm die Hände auf beide Schultern. «Wir verlegen mit dem Helikopter je eine Einheit Soldaten und Marines nach Alayar. Die Taliban sind auf einem Umweg durch die Berge dorthin unterwegs, wie uns ein Aufklärungsflug gemeldet hat. Wir werden sie vor Alayar aufhalten. Du fliegst mit uns. Alayar liegt an der Strasse nach Bamiyan. So sparst du zwei Tage Fussmarsch und bist ausserhalb des Gefechtsbereichs, bevor dir etwas passieren kann.»
Kurz darauf steht Yasin in der Sikorsky.
«Get the jump-seat und fasten your belt!» sagt der Co-Pilot und deutet auf einen erhöhten Mittelsitz im hinteren Teil des Cockpits. «So you’ll have a remarkable view over the ground area.» - «Setz dich hier auf den Notsitz! So hast du die beste Aussicht auf den Boden», übersetzt O’Braney und schnallt Yasin mit der Hosenträgergurte am Sitz fest. «Löse den Gurt während des Fluges nicht!», warnt er ihn.
Die beiden Piloten haben ihre Helme aufgesetzt, studieren Handbücher, Flugkarten und Wetterberichte, kippen Schalter und drücken Knöpfe, sprechen in ein vor dem Mund fixiertes Mikrophon. Aus dem ständigen Summen wird ein immer lauteres Pfeifen, und ein Zittern läuft durch den Helikopter. Farbige Lichter eilen über die Anzeigen, Zeiger schnellen hoch oder steigen langsam auf höhere Werte. Yasin sieht durch die Glaskanzel, wie sich der Rotor langsam zu drehen beginnt. Immer schneller gleiten die fünf Rotorarme an der Kanzel vorbei, bis sie so schnell sind, dass Yasin sie nur noch als huschende Schatten erkennen kann. Immer lauter brüllen die Motoren, immer heftiger rüttelt die Maschine. Ein Soldat am Boden gibt ein Zeichen mit der Hand. Der Pilot bestätigt es mit hoch gestrecktem Daumen und nickt dem Co-Piloten zu. Dieser schiebt mit der linken Hand zwei Hebel, die zwischen den Pilotensitzen angeordnet sind, nach vorne.
Der Lärm nimmt nochmals zu, und dann, ganz langsam, hebt der Riesenvogel ab. Erst zögernd, dann immer schneller steigt er senkrecht in die Höhe. Der Boden verschwindet, und schon blickt Yasin auf die Dächer der Gebäude rund um die Provinzverwaltung. Er schaut kurz zur Seite und sieht die Kuppel und die beiden Minarette der Moschee von Chaghcharan. Schon sind sie höher als die Spitzen der zwei Türme! Plötzlich taucht im Seitenfenster eine der Cobras auf. Sie steigt neben der Sikorsky in die Höhe und legt schnell an Geschwindigkeit zu. Yasin zeigt aufgeregt auf den Kampfhelikopter, doch niemand scheint den Jungen zu beachten.
Jetzt kippt die Sikorsky leicht nach vorne. Ein seltsames Kribbeln durchläuft Yasins Bauch. Er wird in den Sitz gepresst, und am immer schneller dahin ziehenden Boden erkennt er, dass der Helikopter in den Vorwärtsflug gewechselt hat. Die Bäume am Boden sehen wie geschrumpft aus. Die über das Tal verstreuten Gebäude gleichen Spielzeughäuschen. Menschen und Tiere sind nur noch als dunkle Punkte und Striche zu erkennen. Die Strasse schlängelt sich als helles Band durch die herbstlich olivgelb gefärbten Wiesen. Brachliegende Äcker und Felder mit aufkeimender Wintersaat bilden zwischen ihren Mäuerchen einen erdfarbenen und hellgrünen Flickenteppich. Der Harirud glitzert silbern aus seinem Flussbett zu Yasin empor, weiss leuchten seine Stromschnellen.
Lange Schatten künden vom anbrechenden Abend. Im Osten hat sich der schummerige Himmel bereits leicht violettgrau verfärbt. Die Farben der Hügel leuchten in warmen Braun- und Gelbtönen. Manchmal, wenn der Helikopter Flugbewegungen macht, huschen goldene Sonnenstrahlen von hinten durch die Seitenfenster, brechen sich in den Instrumentengläsern und strecken blitzende Lichtfinger ins Cockpit. Einige kleine Orte an den seitlichen Hügelflanken des Tales huschen vorbei. Ein Bach mündet von rechts her aus einer Talenge in den Harirud.
Der Co-Pilot dreht sich zu Yasin um und deutet aus dem Cockpit auf eine grössere Siedlung, die im Sichtbereich aufgetaucht ist. «That’s Badgah. You know Badgah?»
Yasin versteht den Namen und nickt eifrig. Badgah liegt einen Tagesmarsch flussaufwärts von Chaghcharan entfernt. Er kann es nicht recht glauben, dass sie so schnell vorankommen. Und schon ist Badgah unter dem Helikopter verschwunden. Links ziehen die schneebedeckten Gipfel des westlichen Hindukusch an ihnen vorüber, rechts leuchten die Berge des afghanischen Mittelgebirges in der untergehenden Sonne.
In der Ferne taucht voraus eine Flussbiegung auf. Der Helikopter verlangsamt das Tempo. Zwei Cobras schiessen an ihm vorbei, stechen tiefer hinunter, verschwinden hinter der Biegung. Nach wenigen Augenblicken taucht eine Cobra wieder auf, wackelt lustig in der Luft, dreht ab und fliegt erneut hinter die Hügelkuppe. Die Sikorsky nimmt wieder Tempo auf, biegt elegant um die Bergnase, taucht in den Hügelschatten und beginnt gleichzeitig mit dem Sinkflug. Von rechts mündet ein breites Tal, das seinen Schotterfächer bis an die Ufer des Harirud vorgeschoben hat. Kleine Dörfer liegen an den aufsteigenden Talhängen. Im dunklen Schattenbereich erkennt Yasin einen Ort. Sie halten darauf zu. Der Helikopter verlangsamt den Flug beinahe bis zum Stillstand. Rüttelnd hängt er über dem Dorf, beginnt zu sinken. Die Gebäude wachsen, der Boden eilt Yasin entgegen. Schon kann er die einzelnen Steine und dann die Gräser unterscheiden. Sanft setzt die Maschine auf.
Die Ohren sausen Yasin noch immer, als sich die Marines und die Soldaten der afghanischen Armee von ihm verabschieden. Die Wärme des Tages hat sich zurückgezogen und einer schneidenden Kälte Platz gemacht. Ihn friert nach der angenehm aufgeheizten Luft im Helikopter.
Captain O’Braney tritt zu ihm. «Ich wünsche dir alles Gute für dein Vorhaben. Der Ort hier heisst Alayar. Lass ihn noch heute hinter dir. Morgen könnten in der Gegend Taliban auftauchen, und dann wird es zu Kämpfen kommen.» Er greift hinter sich und bringt ein Stoffpaket, das im Türrahmen des Helikopters liegt, zum Vorschein. «Das ist für dich. Du wirst es brauchen können. Jetzt hau ab, Junge!»
Yasin spürt plötzlich ein Würgen im Hals. Feuchtigkeit steigt ihm in die Augen. Hastig sagt er: «Danke, Herr. Danke für alles. Allah wird es Ihnen danken. Gott mit Ihnen!»
Dann dreht er sich um, damit Captain O’Braney seine Tränen nicht sehen kann. Schnell läuft er weg und blickt erst zurück, als er sicher ist, dass man seine nassen Wangen im Abendlicht nicht mehr erkennen kann. Er winkt und ruft: «Sallam – Friede sei mit dir! Gott möge dich schützen.» Der Captain fährt sich mit einer Hand über die Augen und winkt mit der anderen zurück. «Ob er wohl auch weinen muss?», fragt sich Yasin. Wie durch einen Schleier vernimmt er die Antwort: «Good luck, boy! Viel Glück!»
Yasin wandert in die zunehmende Dunkelheit hinein. Seine Tasche hat er umgehängt, das Stoffpaket wie einen Rucksack mit den zwei Tragriemen auf den Rücken geschnallt. Was wohl in der Stoffrolle ist? Sie fühlt sich weich an. Dennoch hat man den Eindruck, dass sie randvoll ausgefüllt ist. Auf der dunkeloliven Hülle mit der plastikartigen Beschichtung ist in schwarzen Buchstaben ‚US Marines – Rescue Sleeping Bag/-10o F – 25-QA-42335’ aufgedruckt. Yasin hat die Worte und Zahlen im Halbdunkel entziffert, aber sie sagen ihm nichts.
Die Nacht umfängt Yasin immer stärker. Erste Sterne leuchten am Firmament. Der Mond steht tief im Osten, eine goldgelbe Riesenkugel, die so stark leuchtet, dass sie sogar in der Nacht Schatten zu werfen vermag. Bäume und Büsche entlang der Strasse verwandeln sich in seltsam verkrümmte Lebewesen, wirken dämonisch und bedrohlich.
Yasin pfeift ein Kinderlied vor sich hin, um sich Mut zu machen. Ausser dem Rauschen des Harirud sind seine Melodien das einzige Geräusch in der Einsamkeit. Es ist das erste Mal, dass er allein so weit von zuhause weg ist.