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Nach dem Tod seines Onkels ist Lev am Boden zerstört. Die Person, die ihn am besten kannte, die ihn am meisten prägte, ist einfach fort. Der Junge fällt in ein Loch, aus dem er allein nicht mehr herauskommen kann, doch das muss er auch nicht. Denn wie aus dem Nichts erscheint ihm Edward, die Hauptfigur eines Fantasy-Buches, das sein Onkel ihm einst geschenkt hat. Er folgt Lev auf Schritt und Tritt und ist für andere Menschen unsichtbar. Fragen über Fragen stellen sich. Wie kommt der Wildling aus seinem Buch? Warum ist er überhaupt da? Und weshalb zum Teufel bringt er Lev immer wieder in solche Schwierigkeiten? »Ein Buch, in dem die Grenze zwischen Fantasie und Realität verschwimmt.«
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Veröffentlichungsjahr: 2024
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Weil du zu mehr fähig bist, als du glaubst.
ZU PERFEKT, UM WAHR ZU SEIN
DIE STEINTREPPEN
SCHLECHTE NACHRICHTEN
EIN UNSICHTBARER FREUND
STEILER AUFSTIEG
AUF DER SPITZE
SICH FALLEN LASSEN
EINE NORMALE KINDHEIT
NEID
ZWEI TOP-AGENTEN
VON DER GEMEINEN ELSTER
GLEICHGEWICHT
GEGEN DEN STURM
VON HELDEN UND GEISTERN
BRUDER
NACHWORT DES AUTORS
Dunkle, verlassene Straßen, kilometerweite Stille und völlige Einsamkeit – für Neustrelitz war dies nichts Ungewöhnliches. Die Menschen, die hier lebten, verspürten nicht den Drang, nachts die Straßen unsicher zu machen, nein, sie verbrachten den Abend sicher und wohlbehütet bei ihren Familien. Es waren Menschen, deren kleine Welten in Ordnung waren und deren Glück sich normalerweise durch kaum etwas erschüttern ließ.
Die heutige Nacht über Neustrelitz war deswegen etwas ganz Besonderes. Sie wurde nämlich nicht von Dunkelheit, Stille und Einsamkeit beherrscht, ganz im Gegenteil: Fröhliche Lichter flackerten an jeder Ecke auf, hingen von allen Dächern, Fassaden und Zäunen. Manche blinkten so schnell wie in der Disco, andere wechselten ihre Farben sacht und ohne Eile. Ihre Gewohnheit brechend, strömten die Menschen für einen nächtlichen Spaziergang nach draußen, fachsimpelten über die besten Rezepte und genossen dabei ihre farbenfrohe Stadt.
Weihnachten.
Ein rundum fröhliches Fest voller guter Absichten und Frieden. Aber auch, und das stand für den jungen Lev an erster Stelle, mit Geschenken. Seit Tagen war er bereits unruhig gewesen und hatte beim Einschlafen gerätselt, was sich seine Eltern dieses Jahr wohl für ihn ausgedacht hatten. In dieser Nacht saß er in der wohlig warmen Stube und konnte vor Aufregung und Neugierde kaum an sich halten. Wie die Straßen draußen war auch das Zimmer wie von Lichtern ausgekleidet. Den großen Weihnachtsbaum hatte er mit seiner Mutter drei Tage zuvor mit Weihnachtskugeln und Lametta bestückt, und das Essen, das gleich nach der Bescherung verspeist werden sollte, duftete schon aus der Küche herüber. Die Geschenke lagen unter dem Weihnachtsbaum und warteten darauf, in der Familie verteilt zu werden.
»Freust du dich schon?«, fragte Levs Mutter, wohl wissend, dass die Frage überflüssig war, denn der Junge saß wie auf heißen Kohlen.
»Können wir sie endlich aufmachen?« Lev schielte mit einem Auge auf die Tanne, mit dem anderen zu seiner Mutter.
»Warte noch, bis dein Vater reinkommt. Wir wollen sie alle gemeinsam öffnen.«
Auf der roten Couch neben Lev hatten seine Großeltern Platz genommen. Sie saßen so eng beieinander, dass sie wie ein zusammengewachsener Klumpen aus Erde und Stein aussahen, mit ihren grauen Haaren und ihren vielen Falten. Sie waren genau das, was Lev sich unter alten Menschen vorstellte.
»Wo ist Richard überhaupt?«, fragte die Oma. In ihrer Stimme versteckte sich leise Ungeduld; und dies keineswegs, weil sie die Geschenke aufmachen wollte. Opa pflichtete ihr bei: »Es wird immer später, wir können auch nicht ewig bleiben.«
»Der Hund füttert sich zu Hause nicht von allein!«, setzte Oma hinzu.
»Genau, genau«, nickte Opa.
Zuletzt hatte Lev seinen Vater im Kinderzimmer gesehen. Er hatte plötzlich ein großes Interesse an seiner Spiderman-Sammlung gezeigt und wollte alles darüber wissen. Natürlich hatte er ihn nur ablenken und beschäftigen wollen, aber Lev nutzte die Situation gerne aus, um ihm alles zu erzählen. Nach wenigen Minuten schwebten seinem Vater schon Fragezeichen über dem Kopf. Der plötzliche Anruf, der ihn nach draußen bat, kam ihm daher sehr gelegen.
»Jetzt macht doch keinen Stress«, bremste die Mutter ihre Eltern. »Entspannt euch, es ist Weihnachten.«
Die Mutter sagte das absichtlich. Sie wusste sehr wohl, dass es ihnen nicht wirklich um den Hund ging.
»Entspannt euch«, äffte Opa sie verärgert nach. »Du bist doch diejenige, die zu Weihnachten allen Stress macht. ›Seid nicht später als um drei da‹, ›Bringt auch was zum Essen mit‹ – Wir wollen in dieser Zeit auch mal ausspannen.«
»Ihr seid Rentner. Bitte lasst uns diese Diskussion nicht schon wieder führen«, seufzte Levs Mutter. »Wo ist denn jetzt Richard?«
Sie ahnte, dass sie von niemandem eine Antwort erhalten würde. Spannung lag in der Luft. Großeltern, die schnellstmöglich nach Hause wollten, eine von ihren Eltern genervte Mutter und ein zappelnder, aufgeregter Sohn. Sich die Hände reibend stellte Lev sich vor, wie er das Geschenkpapier des großen gelben Würfels in tausend Stücke zerfetzen würde …
Von hinten aus dem Flur kam ein dezentes Klacken. Jeder im Zimmer kannte das Geräusch der ins Schloss fallenden Haustür. Sie warteten auf den Vater, der mit nasser Stirn in die Stube kam.
»Wo warst du denn?«, fragte ihn die Mutter genervt, und ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, setzte sie hinzu: »Wir warten schon ewig auf dich, wir wollen endlich mit der Bescherung anfangen!«
»Tut mir leid, Liebes. Es ging nicht anders.«
Ungeschickt zog er den schwarzen Mantel aus, warf ihn über die Couchlehne und schob die Brille auf der Nase hoch.
»Du weißt doch, wie wichtig das für uns ist!«
Die Mutter ignorierte das Räuspern des Großvaters.
»Was sollte ich denn machen? Christian stand vor dem Tor«, erklärte Levs Vater. »Er hat mich mit dem Handy rausgerufen. Er ist kurz vorbeigekommen und wollte uns frohe Weihnachten wünschen.«
»Warum tut der Bursche es dann nicht persönlich?«, fragte die Großmutter naserümpfend.
»Er musste schnell weiter, hat noch andere Angelegenheiten zu erledigen. Ich habe ihn gefragt, was denn an Heiligabend so dringend wäre, aber er ging nicht darauf ein.«
»Ist ja auch egal«, unterbrach die Mutter. »Jetzt lass deinen Sohn nicht länger warten. Wir wollen die Geschenke aufmachen.«
»Da habe ich gleich das erste für ihn.«
Der Vater hielt ein kleines Päckchen in der Hand. Es war weder in buntes Papier gewickelt, noch sah es in anderer Weise weihnachtlich aus. In dieser Form hätte es genauso gut vom Paketdienst gebracht worden sein können.
»Das hat mir Onkel Christian für dich gegeben.«
»Hat der ohne Job überhaupt das Geld dafür?«, meckerte der Opa leise vor sich hin, jedoch laut genug, dass jeder es hörte.
Lev sah sich das Päckchen genau an, denn er hatte wie die anderen nicht damit gerechnet. Das quaderförmige Geschenk war in braunes, dünnes Papier gehüllt und trug lediglich seinen mit schwarzem Filzstift geschriebenen Namen.
Es brauchte keine drei Sekunden, bis Lev das Papier zerfetzt hatte und ein Buch in den Händen hielt.
»Die Abenteuer des Wildlings«, las er laut vor. Die offenen Ecken auf der Deckseite wellten sich, über das Titelbild zogen sich Risse. Auf dem Cover war ein Junge mit dem Rücken zum Betrachter abgebildet, der ein schwarzes, im Wind wehendes Gewand trug. Ein heftiger Schneesturm wütete um ihn her. Der muss doch frieren, dachte Lev sofort, denn viel mehr als einen braunen Poncho besaß der Junge nicht gegen die Kälte.
»Hat sich ja keine große Mühe gegeben«, murmelte der Opa.
Lev wendete das Buch, um den Klappentext zu lesen.
»Das kannst du später machen«, forderte die Mutter ihn auf und nahm ihm das Buch aus den Händen. Sie erinnerte ihn an all die anderen Geschenke, die unter dem Weihnachtsbaum auf ihre Befreiung warteten.
Angesichts dieser Konkurrenz hatte Lev Christians Buch schnell vergessen. Es musste Platz machen für ein paar, wie sollte es anders sein, Spiderman-Actionfiguren, für neue Klamotten und ganz viele Süßigkeiten, die Lev niemals allein würde wegessen können.
Nachdem die Bescherung beendet war, machten sich Oma und Opa wie angekündigt schnell auf den Heimweg. Auch wenn Mutter gern mehr Zeit mit ihren Eltern verbracht hätte, akzeptierte sie deren Eigenheiten – und liebte sie trotzdem.
Der Tag endete mit dem Festessen: saftiger Ente, selbst gemachtem Rotkohl und Kartoffeln, und alle drei aßen, bis ihnen fast die Bäuche platzten. Ja, es war das Bild einer wirklich glücklichen Familie. Eine, wie es sie an Orten wie diesem häufig gab. Nicht alles lief immer nach Plan, doch abgesehen von Kleinigkeiten und gelegentlichen Problemen sah ein glückliches Leben genau so aus. Man mochte kaum glauben, dass dieses tägliche Glück so zerbrechlich sein würde; am allerwenigsten ahnte das Lev.
Die Lichter auf den Straßen erloschen allmählich, Spaziergänger gab es keine mehr. Lev hatte lange aufbleiben dürfen, aber jetzt putzte er sich die Zähne und wusch sich das Gesicht. Der Spiegel im Badezimmer zeigte das Antlitz eines durch und durch glücklichen Jungen, vollends zufrieden mit der Ausbeute des heutigen Tages. Nur eines betrübte ihn, und zwar, dass es nun wieder ein Jahr dauerte, bis er die Heimlichkeiten und Überraschungen erneut genießen konnte.
Er trocknete sich gerade das Gesicht mit dem Handtuch ab, da öffnete seine Mutter die Tür mit einem leichten Klack. Er sah ihr sofort an, dass der Tag sie sehr geschafft hatte, die Augenringe sprachen mehr als Worte.
»Papa und ich gehen jetzt schlafen«, gähnte sie, »hast du alles fertig?«
Der Junge ging die übliche Abfolge des Abends durch. Den Tisch für morgen früh gedeckt, die Geschenke halbwegs ordentlich in seinem Zimmer verstaut, sein Bett aufgeschlagen, Zähne geputzt und sich gewaschen. Es fehlte nur noch, sich schlafen zu legen.
Lev nickte seiner Mutter eifrig zu.
»Gut. Denk daran, morgen Nachmittag wollen wir zu Loretta fahren. Nicht, dass du wieder völlig überrascht bist und so tust, als hättest du nichts davon gewusst.«
»Ja, ich vergesse es nicht«, seufzte Lev, denn er wusste, dass der Besuch bei Mamas Cousine höllisch langweilig werden würde. Er wischte sich die Hände am Handtuch ab und spazierte geradewegs zur Badtür. »Gute Nacht dann.«
»Lev«, mahnte sie ihn bedrohlich, »mach nicht so lange.«
»Nur das erste Kapitel.«
»Du bist morgen wieder total fertig.«
»Nicht, wenn ich nur ein Kapitel lese.«
Diesmal seufzte sie. »Wirklich nur eins.«
»Versprochen.«
Natürlich würde er sich nicht daran halten. Lev hatte mittlerweile so viele Wälzer verschlungen, da war so ein dünnes Buch ein Snack für zwischendurch. Dass Onkel Christian ihm ein Buch geschenkt hatte, überraschte ihn gar nicht allzu sehr, denn er war es erst gewesen, der ihn zum Lesen gebracht hatte. Und nach dem Klappentext zu urteilen, schien er mit diesem Buch wieder genau seinen Geschmack getroffen zu haben:
Es herrschen schlechte Zeiten auf dem Kontinent Aradil. Die Menschen wurden vom bösen Volk der Krayt vertrieben und streifen nur noch in kleinen Gruppen durch die Lande. Eine davon ist die Familie des jungen Edward, die sich gegen allerlei widrige Umstände behaupten muss. Als seine Mutter schwer erkrankt, wird ihre Lage noch ernster. Wird Edward einen Weg finden, seine Mutter zu heilen?
Lev schloss die Zimmertür, schaltete das große Licht aus und knipste die Nachttischlampe an. Dann begab er sich im Bett in eine möglichst bequeme Position, öffnete das Buch und ließ die Worte lebendig werden. Das Licht seiner kleinen Nachttischlampe indes brannte weiter. Es war der letzte Schein in den sonst dunklen Straßen von Neustrelitz.
… laut knurrte sein Magen, schrie wie die gefährlichen Löwen aus Astabul, die seinen Bruder und ihn einst verfolgt hatten. Ein mächtiger Sandsturm hatte die beiden damals von ihren Eltern getrennt, woraufhin sie stundenlang durch die Wüste geirrt waren. An einer kleinen Wasserstelle, wo sie auf Hilfe hofften, waren sie auf die Löwen getroffen. Die Erinnerung daran jagte Edward noch immer einen kalten Schauer über den Rücken, doch die beiden Brüder waren flink gewesen und konnten sich auf einen Baum retten. Nach langem Gebrüll ließen die gefährlichen Tiere von ihnen ab.
Jetzt steckten sie nicht in der heißen Savanne fest. Jetzt wurden sie nicht von wilden Löwen gejagt, sondern vom Hunger. Nicht mehr als ein Kaninchen hatten sie in den letzten Tagen erlegen können.
Und das war zu wenig. Besonders für ihre Mutter.
Edward stieg auf einen Baum, hockte sich aufs Geäst, legte den Pfeil in den Bogen und wartete. »Geduld und Konzentration, das sind die wichtigsten Fähigkeiten eines erfolgreichen Jägers«, pflegte sein Vater zu sagen, während Edward zu ihm aufschaute und eifrig nickte. Heute wünschte er sich, sein Vater hätte wenigstens am Rande erwähnt, dass Geduld und Konzentration zu den langweiligsten Sachen gehörten, die es auf dieser Welt gab. Stundenlang hockte er auf dem Ast, lugte durch das kahle Geäst, in der Hoffnung, ein Tier auszumachen, das größer war als ein Insekt. Er wartete auf ein sanftes Rascheln im Gebüsch oder ein Knacken dürrer Äste am Boden. Als lange Zeit nichts davon eintraf, flogen seine Gedanken an Orte, an denen sie momentan nicht sein sollten. Zu seiner ständig hustenden Mutter oder seinem kleinen Bruder, der sich in einem anderen Bezirk des Waldes befand, um dort sein Glück zu versuchen. Hoffentlich kam er allein zurecht, immerhin war Wolter drei Jahre jünger als er und alles andere als perfekt dafür ausgebildet.
Knack.
Edward riss die Augen auf. Unten am Boden hatte sich etwas bewegt, ganz leise, doch seinen geübten Ohren entging nichts. Er streckte den Kopf vorsichtig durch die Äste. Und wollte es kaum glauben.
Da stand ein mächtiger Hirsch unter ihm. Er stolzierte auf und ab, wobei er seine Nase immer wieder zum Boden senkte. Das Geweih trug er majestätisch wie eine Krone. Etwas in Edward wollte ihn nicht erlegen, wollte das stolze Tier stolz sein und weiterleben lassen.
Aber sein Magen knurrte zu laut.
Edward musste nicht mehr tun, als den Pfeil in seinem Bogen nach hinten zu ziehen und die Sehne zu spannen. In Gedanken an das heutige Abendessen lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
Dann, in weniger als einer Sekunde, wandte das Tier sein Haupt in Edwards Richtung – und rannte davon.
Verdammt! Blitzschnell warf Edward seine Jagdwaffe über die Schulter, suchte das Gleichgewicht auf dem wackeligen Ast und sprang zum nächsten. Er konnte sich nicht erklären, wie der Hirsch ihn so weit oben hatte erspähen können. Wenn es schon wieder kein Essen gab, würde …
Edward beeilte sich noch mehr. Das Risiko beachtete er dabei kaum; unter seinem Gewicht jaulten die Äste auf, Zweige zerkratzten ihm das Gesicht und erschwerten die Sicht. Ein gesunder Menschenverstand würde die Jagd aufgeben. Ein verzweifelter nicht. Im ersten Moment schien sich sein Ehrgeiz sogar auszuzahlen. Der Hirsch wähnte sich in Sicherheit und drosselte seine Geschwindigkeit. Edward ließ sich keine Zeit zum Durchatmen. Mit einem kräftigen Tritt gegen die Bewegungsrichtung stoppte er seine Verfolgungsjagd, kaum zwei Sekunden später hielt er Bogen und Pfeil wieder in der Hand.
Er konzentrierte sich – nun noch mehr als zuvor –, spannte den Bogen leise, spürte, wie die Sehne in seine Fingerkuppe schnitt. Ein Auge schloss er, für ein Maximum an Präzision. Der Hirsch stand ahnungslos vor ihm, seinem Schicksal unausweichlich ausgeliefert.
Knarz.
Der Ast, auf dem Edward bis eben gestanden hatte, brach. Er stürzte metertief ins Weiß des schneebedeckten Waldbodens. Im Fallen noch verfluchte er seine Dummheit und die Chance, die ihm gerade durch die Finger glitt. Er rauschte wie ein Stein nach unten, bis er mit einem lauten, dumpfen Geräusch in den Schnee knallte. Bevor ihn der Schmerz ereilte, hatte er das Bewusstsein verloren.
Und der Hirsch machte sich schnellen Schrittes davon. …
Wir haben noch genügend Zeit, du brauchst dir keinen Kopf darum zu machen, wann die Stunde zu Ende ist.«
Frau Berle blickte Lev böse an, der gar nicht mitbekam, dass sie zu ihm sprach. Erst als sie sich genau vor ihn stellte und ihr stechend roter Rock vor seiner Nase hing, wurde er aus seinen Träumen gerissen.
»Hallo, bist du überhaupt da?«
»J-ja«, stotterte Lev, etwas perplex über die unangenehme Situation, in der er sich plötzlich wiederfand. Bis eben war ihm alles egal gewesen, was in diesem Klassenzimmer geschah, doch nun spürte er, wie sich die Blicke seiner Mitschüler und seiner Lehrerin in ihn hineinbohrten. Unangenehm.
»Wenn du aufpassen und mitmachen würdest, würde die Zeit für dich schneller vergehen. Vielleicht solltest du es damit mal probieren, anstatt ständig auf die Uhr zu starren.«
Einige in der Klasse kicherten.
Lev war gar nicht aufgefallen, dass er die Uhr über der Tafel angestarrt hatte. Weder schritt die Zeit langsam für ihn voran, noch wünschte er sich, dass sie schneller vorbeigehen würde. Es passierte ihm einfach manchmal, dass er in irgendwelche Gedanken verfiel, sich ihnen völlig hingab und ihm der Sinn für die Wirklichkeit um ihn herum verloren ging. Dieses Mal hatte er noch intensiv ans Weihnachtsessen und die Kochkünste seiner Mutter gedacht, deren herrliche Düfte vor einer Woche bis ins Wohnzimmer geschwebt waren. Das lenkte ihn ab von dem nach nasser Kreide riechenden Raum, in dem er gerade festsaß.
Lev hatte wenig Lust, dies Frau Berle zu erklären. Er würde sich dann sicher wieder einen Vortrag über mangelnde Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit anhören müssen. Also entschuldigte er sich, versprach, ab sofort nicht mehr auf die Uhr zu starren und sich voll und ganz dem Unterricht zu widmen. Das stellte die Lehrerin fürs Erste zufrieden.
Lev bemerkte jedoch, wie im Hintergrund weiter über ihn getuschelt und gekichert wurde. Die Aktion schien größere Aufmerksamkeit geweckt zu haben, vor allem bei den Jungs in der vorderen Reihe. Da er ihnen nicht weiter Anlass dazu geben wollte, entschloss er sich, dem Deutschunterricht zu folgen. Wenigstens dieses eine Mal.
Frau Berle brabbelte irgendetwas von Groß- und Kleinschreibung, von Substantiven, Adverbien, Eigennamen. Wann man was machte, wann man etwas nicht machte, Ausnahmen, Regeln … oh Mann. Nicht gerade das interessanteste Thema, und vor allem nicht mal sonderlich schwer. Alles mit Artikel groß, der Rest klein. Verben und Adjektive kann man substantivieren, was gab es da so viel zu erklären? Warum musste er sich das alles anhören?
Nach ein paar Minuten langen Erzählens wandte sich Frau Berle der Tafel zu und begann mit der Tafelanschrift. Wie auf Kommando ertönte das Zischen von Dutzenden Heftern, die aus den Schulmappen gezogen wurden, und das Klappern der auf die Tische fallenden Füllerkapseln. Die Schüler senkten die Köpfe zum Tisch und kopierten brav die Wörter, die Frau Berle an die Tafel schrieb.
Na ja, nicht alle. Lev beobachtete, wie links von ihm in der Fensterreihe Max und Lukas miteinander tuschelten und etwas auf ein Blatt schrieben, das, so war er sich sicher, nichts mit dem Tafelbild zu tun hatte. Er hätte gerne verstanden, worum es ging, denn ihre Heimlichtuerei ließ darauf schließen, dass es höchstinteressant war.
Auf der anderen Seite schoben die Mädchen Elli und Therese ein Blatt zwischen sich hin und her und zeichneten abwechselnd etwas darauf. War das Tic-Tac-Toe? Vater hatte ihm das Spiel mal beigebracht, erinnerte er sich, auf einer langen Autofahrt zu seinen Großeltern, doch er hatte es schnell als furchtbar öde abgetan. Vielleicht etwas vorschnell. In Anbetracht des langweiligen Unterrichts bekam er Lust darauf. Sein früherer Banknachbar Kiong war Ende letzten Schuljahres weggezogen. Zu Beginn ihrer Zeit hier waren sie zufällig zusammengesetzt worden, weswegen keiner den anderen kannte. Aufgrund ihrer geteilten Schüchternheit dauerte es ziemlich lange, bis sie das erste Wort miteinander wechselten, das ausnahmsweise nicht mit Schule zu tun hatte, doch irgendwann fing Kiong einfach an, von den Filmen zu erzählen, die er nachts heimlich im Wohnzimmer schaute und die meist von blutigen Schlachten und Weltraumreisen handelten. Filme, die Lev niemals würde schauen dürfen. In seinen Nacherzählungen äffte Kiong oft Zombies oder Pistolengeräusche nach, was Lev immer zum Lachen brachte. Die Zeit schweißte die beiden zusammen.
Doch nun war er fort.
Als Lev aus dem Sumpf der Erinnerung wiederauftauchte, war die ganze Tafel von weißen Buchstaben übersät. Er stöhnte leise vor sich hin, schlug genervt seinen Hefter auf und brachte die Kreidewörter mit Tinte aufs Papier, so wie immer, fünf Tage die Woche.
»Ey, und dann hab’ ich dieses megafette Geschenk einfach aufgemacht … hier, so groß ungefähr … und wisst ihr, was drin war?«
»Bestimmt ’n Baukasten von LEGO!«
»Nein, so groß sind nur die von Sony. War bestimmt ’ne Playstation.«
Levs Mitschüler standen in einer großen Traube zusammen, alle um Paul herum, der seine weihnachtliche Ausbeute kundtat. Lev wusste nicht, warum man ihm dabei zuhören sollte, doch überraschte ihn die Aufmerksamkeit der anderen auch nicht. Paul war sehr beliebt in der Klasse; kein Wunder, wenn man nur gute Noten schrieb, toll Fußball spielte und auch noch mit den teuren Geschenken seiner Eltern angeben konnte. Auch Lev stellte sich in die Traube. Aus Neugier.
»Jetzt sag schon!«, rief ihm Lukas zu und sprach Lev dabei voll aus der Seele. Dann war das Ganze hier nämlich vorbei.
»Es waren einfach nur Klamotten. Eine fette Box, nur mit Klamotten drin.«
Die Menge stöhnte.
»Man, ich dachte, es wäre irgendwas Krasses.«
»Schon irgendwie langweilig.«
»Sehen sie denn wenigstens gut aus?«
»Nein, passt auf«, bremste Paul die Menge. »Ich dachte auch erst, dass da nur Klamotten drin sind. Ich war sofort mies gelaunt und hatte erst recht keine Lust, irgendwas davon anzuprobieren. Meine Mama bestand aber darauf, und als ich einen Weihnachtspulli anprobieren sollte …«
Paul öffnete seine Jacke und zog zwei Stück Papier aus der Jackentasche. »VIP-Karten fürs Elviso-Konzert!«
Das Stöhnen der Gruppe verwandelte sich schlagartig in ein einziges Jubelgeschrei. Die Traube rückte noch näher an Paul heran, als würden sie von den Karten magisch angezogen.
»Elviso?«
»Ist das nicht sau teuer?«
»Wie geil ist das denn?«
Das waren die einzigen Wörter, die die Menge herausbrachte. Lev langweilte sich. Weder interessierte er sich für Paul noch für den Rapper, den Paul bald live sehen würde. Langsam und so unauffällig wie möglich glitt er durch seine Mitschüler hindurch nach hinten, bis er sich außerhalb des Ansturms befand, und nutzte die Gelegenheit zum Verschwinden.
Er steuerte die alte Steintreppe an, die er immer besuchte, wenn er seine Ruhe haben wollte. Der Ort lag versteckt hinter ein paar Büschen und war der Zugang zur Schule, den Eltern benutzten, um ihre Kinder abzuholen. In der großen Pause gab es dafür aber noch keinen Grund.
Um zu der Treppe zu gelangen, musste Lev quer über den betonierten Schulhof spazieren, der außer ein paar Fußballtoren und Basketballkörben nichts besaß, was ihn sehenswert machte. Es gab keine Spielplätze und Sandkästen wie in der Grundschule und nicht einmal Roller oder Seile; nichts also, was ihm seinerzeit so viel Spaß bereitet hatte. Und seitdem Kiong auch noch weg war, freute sich Lev nur noch darauf, diese Schule bald wieder zu verlassen. Nach der sechsten Klasse sollte es für ihn weiter aufs Gymnasium gehen. Ein ganz neuer Lebensabschnitt würde dann beginnen, pries Frau Berle immer an. Ihr Ton deutete auf große Wichtigkeit hin, doch dies einem Kind erklären zu wollen, brachte genauso viel, wie einem jungen Vogel die Flugtechnik zu erklären, wenn er noch gar kein Gefieder besaß. Lev befürchtete einzig und allein, dass es an diesem Ort genauso langweilig sein würde.
Der Junge setzte sich auf die Steintreppe, atmete einmal tief durch und lehnte sich nach hinten. Hier wimmelte es nicht von Schülern, die schrien, tobten, nervten oder einem aus Versehen den einzigen Fußball ins Gesicht schossen, den es an der Schule gab. Das war ihm letztes Jahr erst passiert, und manchmal glaubte er, den Schmerz in der Nase noch immer zu spüren.
Lev überlegte, was er machen konnte, um sich die Zeit zu vertreiben. Der harte Stein ließ seinen Po schnell kalt werden; der auffrischende Wind machte es nicht besser. Lev kuschelte sich tief in seine warme Jacke und schob die Hände in die Taschen. Er schloss die Augen und hoffte auf den erlösenden Klang der Klingel …
»Was machst du denn hier?«, hörte er plötzlich eine helle Stimme sagen.
Elli stand vor ihm; die Elli, die sich im Unterricht mit ihrer Banknachbarin so ausgiebig unterhalten hatte. Sie setzte sich einfach neben ihn.
»Ist ja voll langweilig. Warum bist du hier? Willst du nicht lieber was spielen?«
Aus irgendeinem Grund raste Levs Herz. Er vermied es, Elli in die Augen zu sehen.
»Ich mag’s hier halt«, sagte er schnell.
Elli legte die Arme auf die Knie. »Ich spiele in den Pausen immer mit meinen Freundinnen. Dort hinten, bei den Fußballtoren. Nur heute tut mir der Fuß weh, deswegen spiel’ ich nicht mit.«
»Und warum tut der Fuß dir weh?«
»Hab’ ihn mir am Wochenende verknackst. Bin auf der dämlichen Treppe zu Hause weggerutscht, als ich den Müll rausbringen wollte. Normalerweise macht das mein Bruder, aber der war wieder mal zu faul.«
Lev fragte sich, warum sie ihm das erzählte. Sie hatten zuvor nie miteinander zu tun gehabt. Er fühlte sich unwohl.
»Ist dir nicht viel zu kalt? Du zitterst ja«, bemerkte Elli dann, als sie ihn genauer ansah.
Warum stellst du denn so viele Fragen, erwiderte Lev in Gedanken, sagte aber: »Was die anderen machen, ist doch auch irgendwie langweilig.«
»Hm ja, da hast du recht. Wen interessiert schon, was Paul zu Weihnachten bekommen hat? Dass die da alle drauf abfahren … und dabei beschwert er sich auch noch, dass er so viele Klamotten gekriegt hat. Du musst dir mal vorstellen, manche bekommen gar nichts zu Weihnachten.«
»Hast du nicht auch um ihn herumgestanden, wie all die anderen?«
»Na ja, ich habe gedacht, er haut wirklich was Spannendes raus. Am Ende waren es Konzerttickets von einem Typen, den ich nicht kenne. Weiß nicht, warum die so eine Welle um ihn machen.«
»Ich finde das auch voll übertrieben.«
Sie lächelte.
»Was hast du eigentlich bekommen?«
»Ich?«
Irritiert sah sie ihn an. »Ja, du.«
»Ähm, auch ein paar Klamotten. Und ein Buch.«
»Ah, du liest?«
Lev errötete. »Ja, na ja, manchmal.«
»Was denn?«
»Das findest du bestimmt doof. Nichts, was Mädchen lesen würden.«
Elli hob eine Augenbraue. »Ach ja? Was lesen Mädchen denn?«
»Na ja, irgendwas mit Pferden … oder Einhörnern.«
»Und du glaubst, auf so was stehe ich?«
»Du bist doch ein Mä…« Aus dem Nichts bekam er einen Schlag auf die Schulter.
»Hey! Aua!«
»Ich hasse Pferde!«
»Warum haust du mich dann?«
»Weil du dachtest, ich würde auf Pferde stehen. Dass alle Mädchen auf Pferde stehen. Hast du überhaupt mal mit einem Mädchen gesprochen?«
»Na klar. Mit meiner Mutter oder …«
»Das zählt ja wohl nicht.«
Lev wurde wieder etwas röter. »Aber klar zählt das!«
»Dann würdest du so was aber nicht sagen. Schon gar nicht vor einem Mädchen.« Sie streckte ihm die Zunge heraus. »Aber vergessen wir das. Wahrscheinlich wäre es sogar mal ganz schön, ein Pferde-Buch zu lesen. Dann würde ich wenigstens irgendwas lesen.«
»Hm … dann tu’ es doch einfach. Mach’ ich ja auch.«
»Das ist nicht so einfach. Ich hatte schon einige Bücher in der Hand. Mein Vater hat ein paar Bände im Regal stehen, aber na ja … ich kann nicht behaupten, dass sie mich wirklich … angesprochen haben.«
»Was meinst du?«
»Ich bin beim Lesen eingeschlafen.« Sie kratzte sich etwas beschämt den Hinterkopf und lachte dabei. Aus irgendeinem Grund fand Lev das süß.
»Oh, dann hast du bestimmt nur die falschen Bücher gehabt. Du solltest welche lesen, die dich wirklich interessieren.«
»Und wie finde ich die?«
»Also ich gehe immer in die Buchhandlung direkt am Markt, wo der Springbrunnen ist.«
»Hm … ist vielleicht eine Idee. Würdest …«
Im Hintergrund läutete die Glocke. Elli unterbrach ihren Satz und erhob sich plötzlich. Lev war überrascht, irgendwie fühlte es sich an, als hätte die Pause gerade erst begonnen. Kalt war ihm auch nicht mehr.
»Gehen wir zum Unterricht?«, fragte Elli.
»Ähm …«
Sie ließ ihm gar keine Zeit zum Antworten. Als Lev auf den Beinen war und ihr hinterhersah, stand sie schon auf der obersten Stufe.
»Kommst du?«
Er wusste nicht, warum er ihr hinterhereilte, sie kannten einander eigentlich kein bisschen. Das ganze bisherige Schuljahr war Lev nach der großen Pause allein in den Klassenraum zurückgegangen.
Er grübelte noch den ganzen Tag, warum sich Elli zu ihm gesellt hatte. Vielleicht hatte sie eine Wette mit ihren Freundinnen verloren? Irgendetwas daran musste doch faul sein, dachte Lev, denn normalerweise kamen die Leute aus seiner Klasse nicht einfach zu ihm spaziert, um sich mit ihm zu unterhalten. Die meisten fanden ihn nicht sonderlich interessant. Er sie normalerweise auch nicht.
Am nächsten Tag, als er das ganze Thema verdrängt hatte und erneut frierend auf der Steintreppe saß, tauchte Elli wieder auf. Sie begrüßte ihn mit einem freundlichen »Hallo« und setzte sich neben ihn. »Mein Fuß tut immer noch weh«, gab sie als Begründung an. Lev glaubte es nicht so richtig, doch wegschicken wollte er sie auch nicht.
»Ist wohl dein Lieblingsort hier, was?«, fragte sie und sah sich dabei einmal komplett um.
»Ist schön ruhig hier.«
»Ist ruhig nicht öde?«
»Ja, schon. Aber mir gefällt’s.« Mehr fiel ihm dazu nicht ein. Er wollte ihr nicht sagen, dass er nur hierherkam, weil er keine Freunde hatte, die mit ihm woanders hätten hingehen können.
Sie unterhielten sich wieder, bis die Glocke zum Pausenende ertönte. Und erneut war die Zeit viel schneller vergangen als an all den Tagen, an denen Lev hier allein herumgesessen hatte.
Das war auch am Folgetag so. Lev setzte sich allein hin und Elli kam ein paar Minuten später dazu, um mit ihm über alles Mögliche zu reden. Diesmal ging es um das schlechte Essen in der Schulkantine und die Theorie, ob sie wohl tote Ratten und giftige Heuschrecken in die Suppe taten, denn nach nichts anderem schmeckte sie.
»Du musst morgen nicht mehr so alleine hier rumsitzen, kannst ruhig mit zu uns kommen«, schlug Elli ihm vor, als sie sich am vierten Tag trafen.
»Wer ist denn uns?«, fragte Lev.
»Ich und meine Freundinnen. Ich habe doch mal erzählt, dass wir Fangen spielen. Ticke ist das Tor. Heute tut mir der Fuß nicht mehr weh, ich glaube, morgen kann ich wieder mitspielen.«
»Hmm, mal schauen.«
Lev konnte nicht bestreiten, dass er schon irgendwie Lust hatte, andererseits löste die Vorstellung, mit Mädchen Fangen zu spielen, leichtes Unbehagen bei ihm aus. Er kannte die Freundinnen nicht mal. Was, wenn sie sich über ihn lustig machten, weil er total versagte? Wenn sie merkten, dass er in Sport eine Niete war? Es wäre doch viel besser, wenn sie einfach zum Reden hierherkamen. Lev gab keine richtige Antwort auf Ellis Vorschlag, sagte, er müsse sich das noch überlegen. Ellis Gesichtsausdruck zeigte, dass sie nicht verstand, was es da zu überlegen gab, aber sie gewährte ihm die Zeit.
Lev begriff einfach nicht, warum sie sich so gut verstanden. Und warum lernten sie sich erst jetzt wirklich kennen?
Darüber dachte er auf dem ganzen Heimweg nach. Sie war letztes Jahr neu in die Klasse gekommen. Ihre Leistungen in der Schule waren so gut, dass sie eine Klasse überspringen konnte. Außer bei Gruppenarbeiten oder einigen peinlichen Momenten im Sportunterricht hatten sie nie ein Wort miteinander gewechselt. Nicht, dass es bei anderen Mitschülern nicht genauso war. Nie hatte sich auch nur der Ansatz einer Freundschaft gezeigt … und selbst wenn – war er überhaupt in der Lage, eine Freundschaft zu führen? Und das auch noch mit einem Mädchen? In der Klasse machte der vermehrte Kontakt zwischen den beiden mittlerweile die Runde – vor allem bei einer ganz bestimmten Gruppe von Jungs.
Lev öffnete die Haustür mit einem leisen Klack. Die beiden Autos seiner Eltern standen nicht da, also waren sie nicht zu Hause. Beste Voraussetzung, um einen Fertig-Burger in der Mikrowelle warm zu machen, sich auf die Couch zu werfen und den Fernseher einzuschalten. Er schleuderte seine Mappe in die Ecke, ersetzte seine enge Hose durch eine bequemere, stürmte ins Wohnzimmer – und entdeckte dort Keramikteilchen, die über den halben Boden verstreut waren. Gestern waren die doch noch eine ganze Vase gewesen! Sie hatte auf dem Fensterbrett hinter der Couch gestanden. Lev hatte sie nie sonderlich gemocht, aber eine heile Vase war ihm lieber als eine zerbrochene, vor allem, weil er die Scherben nun wegmachen musste.
Bis alles in Ordnung gebracht war, war der Burger kalt, was Lev aber nicht davon abhielt, ihn sich – nun noch wohlverdienter – reinzustopfen und Animes zu schauen. Über die kaputte Vase dachte er nicht weiter nach.
Seine Eltern ließen sich den ganzen Nachmittag über zu Hause nicht blicken. Er verbrachte Stunden allein und um die Abendzeit herum knurrte ihm wieder der Magen. Wahrscheinlich hatte seine Mutter Stress in der Arbeit, und dass Vater selten vor Mitternacht heimkehrte, war mittlerweile schon normal. Der Junge war es gewöhnt, ganze Abende allein zu verbringen.
Am nächsten Tag warf Elli ihm ein zusammengeknülltes Stück Papier mitten ins Gesicht und holte ihn aus seinen Tagträumen. Erst wollte er sich lautstark beschweren, dann merkte er, dass er ja im Unterricht saß. Elli kicherte und gab ihm ein Handzeichen. Lev entfaltete den Zettel.
Spielst du heute mit? Darunter waren die drei Auswahlmöglichkeiten angegeben: Ja, Nein, Vielleicht (Ja).
Noch immer war er sich unsicher. Die andere Wahl war, wieder allein zu den Steintreppen … am liebsten hätte er »Vielleicht« angekreuzt, das entsprach seiner Einstellung am ehesten. Nur hätte sie dann wahrscheinlich noch mehr Papierbälle auf ihn abgefeuert.
Die Sache wäre damit getan, wenn er einfach Nein sagen würde, aber irgendwie … konnte er nicht.
Er setzte sein Kreuz, knüllte das Papier wieder zusammen und beförderte es mit einem unglücklichen Wurf zurück. Elli hob das Bällchen neben dem Tisch auf, öffnete es. Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht, was auch Lev irgendwie glücklich stimmte. Sie flüsterte die neue Information gleich ihrer Nachbarin zu, die leise kicherte und den Zettel ebenfalls durchlas.
Versuche dich auf den Unterricht zu konzentrieren, ermahnte sich Lev, um nicht weiter über seine Entscheidung nachdenken zu müssen. Sehr entspannend, die Buchstaben abzuschreiben, wie sie da an der Tafel standen. Den Füller in die Hand, einfach aufs Papier schreiben … verdammt, er dachte wieder daran. Bis zur Pause war es noch eine halbe Stunde, dreißig lange Minuten. Wie sollte er die Zeit nur rumkriegen? Ständig dieses Herzklopfen, der heiße Kopf, sein Gesicht, das immer mehr errötete …
Plötzlich wurde es still im Klassenzimmer. Frau Berle stand mitten im Raum, beide Hände zu einer Raute geformt. Wenn sie nicht monoton ihren Text herunterleierte oder gerade etwas schrieb, bedeutete das etwas.
»Alles klar? Dann Hefter zurück in die Tasche, wir schreiben das Diktat.«
»Mann, ich hab’s voll verhauen«, beschwerte sich Elli, als sie nach dem Test über den Schulhof gingen, auf dem Weg zu Ellis Freundinnen.
»So schwer war es doch gar nicht.«
Sie schaute ihn ungläubig an. »Ja, du wieder. Aber ich fand das Diktat voll dämlich, wer benutzt denn noch das Wort Heiterkeit? Und woher soll ich dann wissen, wie das geschrieben wird?«
»Wenn du die Regeln kannst, ist es doch gar nicht so schwer.«
»Streber.«
»Ich bin kein Streber! Ich lese nur viel.«
»Ah, stimmt ja. Du bist der Einzige, den ich kenne, der Bücher liest. Was eigentlich? Was mit Pferden?«
»Nein« – er versuchte das so cool wie möglich auszusprechen – »Fantasy und so … das gefährliche Zeug.«
»Ah ja. Dann bist du bestimmt auch richtig mutig.« Sie streckte ihm die Zunge raus. Er tat so, als würde er es nicht sehen. »Was für eines denn?«
»Öhm, schwer zu erklären … über einen Wildling.«
»Was ist denn ein Wildling?«
»Na einer, der in der Wildnis draußen umherstreift und eben nicht so wie wir in der Stadt wohnt. Er hat kein Essen, kein richtiges Zuhause … nur seine Familie.«
»Das klingt ziemlich hart.«
»Oh ja, ist es auch. Sie haben sich mitten im Winter in einem kleinen Haus im Wald versteckt. Die Mutter ist schwer krank, deshalb muss er allein auf seinen kleinen Bruder aufpassen, Tiere jagen, Feuerholz holen. All so was eben.«
»Hm. Also meine Brüder gucken nur Filme oder zocken an der Konsole. Ich glaube, die können nicht mal ein Feuer machen.«
»Müssen sie ja auch nicht. Immerhin habt ihr eine Heizung. Also hoffe ich zumindest.«
»Klar haben wir Heizung! Aber die Geschichte klingt ziemlich gut. Woher bekommst du solche Bücher? Wir haben zu Hause nur diese dicken Wälzer, die Papa immer liest, aber da stehen keine Geschichten drin. Nur das, was er für seine Arbeit braucht.«
»Dann ist es kein Wunder, dass du nicht oft liest … das Wildling-Buch hat mein …«
»Lev!«, hörten die beiden plötzlich die Stimme von Frau Berle rufen. Überrascht drehten sie sich um und sahen die aufgeregte Lehrerin zu ihnen aufschließen.
»Deine Mutter hat eben im Sekretariat angerufen. Du sollst nach Hause kommen.«
Lev war zu perplex, um etwas zu sagen. Elli übernahm: »Warum denn das?«
»Das weiß ich nicht. Es scheint etwas Wichtiges zu sein, deswegen sollst du dich beeilen. Du bist für heute entschuldigt. Ich schließe dir den Klassenraum auf, dann kannst du deine Sachen holen.«
Lev ging das viel zu schnell. Er schaute zu Elli, die nicht mehr tun konnte, als mit den Achseln zu zucken. »Wir müssen Fange wohl auf einen anderen Tag verschieben.«
»Wir holen das nach«, versprach Lev, lächelte ihr optimistisch zu und folgte Frau Berle. Noch nie hatten ihn seine Eltern nach Hause bestellt. Es sah ihnen auch nicht ähnlich, Derartiges zu tun, ohne einen Grund anzugeben. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als diesen Grund selbst herauszufinden.
Im Nachhinein hätte er lieber Fange gespielt.
… Edward hörte Mutters Gehuste bis nach draußen. Jedes Mal, wenn er es vernahm, musste er seine Arbeit unterbrechen. Er konnte einfach nicht ertragen, dass sie so hilflos auf dem Bett lag, unter qualvollen Schmerzen litt und er absolut nichts tun konnte, um ihr zu helfen.
Holz hacken. Mehr war ihm und seinem Bruder nicht eingefallen. Immerhin konnten sie so für Wärme sorgen und für gebratenes Fleisch. Edward legte einen Holzblock auf den Stamm, holte weit mit der Axt aus, dachte kurz an alles, was ihn bedrückte, und zerschlug das Ding mit einem Hieb. Frustabbau.
»Überanstreng dich nicht, großer Bruder«, sprach ihm Wolter zu, der hinter ihm auf dem Boden saß und zuschaute. »Denk an deinen Kopf. Die Wunde ist noch nicht ganz verheilt, nicht dass sie wieder aufreißt.«
Edward fasste an die Stelle, mit der er vor ein paar Tagen mit voller Wucht gegen einen Ast gedonnert war. Er schämte sich dafür, dass sein Bruder ihn bewusstlos auf dem Waldboden gefunden hatte und nach Hause tragen musste. Gerade vor seinem kleinen Bruder durfte er doch keine Schwäche zeigen.
»Mach dir mal keine Sorgen, die Wunde ist schon gut verheilt und tut auch überhaupt nicht mehr weh. Außerdem brauchen wir das Feuerholz, das weißt du doch.«
»Wenn du willst, kann ich das auch machen.«
»Nein, nein. Holzhacken ist gefährlich. Du könntest danebenhauen und dir ins Bein hacken, oder ein Splitter könnte dir ins Auge fliegen.«
»Aber das kann dir doch auch passieren.«
»Nein, Vater hat es lange mit mir geübt, und er sähe es bestimmt nicht gerne, wenn ich dich das machen ließe. Außerdem ist die Axt noch viel zu schwer für dich. Schau lieber zu und lerne.«
Edward legte ein neues Holzscheit auf den Stamm, konzentrierte sich und holte zum nächsten Schlag aus.
Das Husten der Mutter drang erneut nach draußen.
»Ach, verdammt«, fluchte er und ließ das Beil wieder sinken.
Er seufzte. Dann ballte er die Fäuste. »Wann kommt Vater denn endlich zurück? Ich hatte gehofft, er würde nur ein paar Tage fort sein. Wir brauchen doch die Kräuter, um Mama heilen zu können. Das Warten regt mich auf.«
»Vielleicht ist ja was Schlimmes passiert.«
Edward drehte sich zu seinem Bruder um und sofort tat ihm leid, dass er so wütend geworden war. Wolters Augen glitzerten im Sonnenlicht, sein verängstigter Blick bohrte ein tiefes Loch in Edwards Brust.
»Ach was, er wird sicher bald wieder da sein. Dann können wir ihn ja fragen, warum er so lange gebraucht hat. Wahrscheinlich ist er in einen Schneesturm geraten, oder …«
Er merkte, dass seine Worte nichts brachten. Er konnte erahnen, was in seinem Bruder vorging, doch er wagte nicht, es auszusprechen. Er hatte eine bessere Idee.
Er ließ das Beil in den Schnee fallen, griff mit beiden Händen zum Boden und knüllte den Schnee zu einem festen Ball. Wolter, der mutlos auf den Boden starrte, rechnete nicht damit. So traf ihn der Schneeball mit voller Wucht und er fiel auf den Rücken. »Hey! Was soll das?«
»Deine Schuld, wenn du nicht aufpasst.«
»Du hast ja nicht gesagt, dass du nach mir werfen willst!«
»Wir sind doch Wildlinge. Reisen von Ort zu Ort, müssen gegen jede Gefahr jederzeit gewappnet sein. Hast du das schon vergessen?«
Noch während er das sagte, formte Edward einen weiteren Schneeball in seinen Händen. Nun griff Wolter ebenfalls in den Schnee.
»Wir können machen, was wir wollen, können tun, was wir wollen. Doch es gibt drei Grundprinzipien, an die wir uns immer zu halten haben. Erstens ...«
»Bleib immer du selbst.«
Wolter warf seine Kugel ab, doch Edward wich gekonnt aus.
»Genau. Wir lassen uns von nichts und niemandem sagen, wer wir zu sein haben. Wir bestimmen selbst über unser Leben.«
Edward konterte sofort mit seiner Kugel, verfehlte jedoch ebenso. Er suchte Schutz hinter dem Stamm, vor dem er das Holz geschlagen hatte. Wolter wich ein paar Meter zurück.
»Zweitens: Sei niemals arrogant.«
»Wer das nämlich ist, erhebt sich über andere. Doch der erste Schein kann trügen, jeder Mensch ist in der Lage, alles zu lernen und alles und jeden zu besiegen, auch wenn man es ihm nicht ansieht. Wer hoch steht, dem werden die Füße leicht weggerissen.«
Wieder lieferten sie sich ein kurzes Wurfgefecht, blieben beide aber erfolglos und mussten ihre Vorräte aufstocken.
»Und, Wolter? Fällt dir noch der letzte Punkt ein?«