Der Kinder Sünde, der Väter Fluch - Paul Heyse - E-Book

Der Kinder Sünde, der Väter Fluch E-Book

Paul Heyse

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Paul Johann Ludwig von Heyse (15.03.1830–02.04.1914) war ein deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Neben vielen Gedichten schuf er rund 180 Novellen, acht Romane und 68 Dramen. Heyse ist bekannt für die "Breite seiner Produktion". Der einflussreiche Münchner "Dichterfürst" unterhielt zahlreiche – nicht nur literarische – Freundschaften und war auch als Gastgeber über die Grenzen seiner Münchner Heimat hinaus berühmt. 1890 glaubte Theodor Fontane, dass Heyse seiner Ära den Namen "geben würde und ein Heysesches Zeitalter" dem Goethes folgen würde. Als erster deutscher Belletristikautor erhielt Heyse 1910 den Nobelpreis für Literatur. Null Papier Verlag

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Paul Heyse

Der Kinder Sünde, der Väter Fluch

Novelle

Paul Heyse

Der Kinder Sünde, der Väter Fluch

Novelle

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962811-28-0

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Der Kinder Sünde, der Väter Fluch

Vom I­fin­ger, der in grau­er Vor­zeit mit ei­nem ge­wal­ti­gen Erd­sturz die alte Ma­ja ver­schüt­tet und den Ab­hang ge­grün­det hat, auf dem jetzt die Häu­ser und Wein­gär­ten von O­ber­mais ste­hen, geht eine tie­fe Schlucht öst­lich von Meran in das Etsch­tal hin­ab. Der Wild­bach, der sie durch­strömt, ist den größ­ten Teil des Jah­res hin­durch eine küm­mer­li­ches Was­ser, das im Hoch­som­mer zwi­schen Ge­stein und gel­bem Sand vollends ver­siegt, so­dass sein tie­fes Bett so ge­fahr­los zu be­tre­ten ist, wie dro­ben die hoch­ge­schwun­ge­nen höl­zer­nen Brücken. Wenn im Früh­ling der Schnee jäh­lings ins Tau­en kommt, füllt sich auch die Rin­ne der Naif mit ei­nem trü­ben Schwall, in dem kei­ne Fi­sche at­men mö­gen. Wei­ter ins Jahr hin­ein aber, bei star­kem Un­ge­wit­ter, Ha­gel­schlag und Or­kan, scheint sich alle Wut der Ele­men­te in die­ser ein­sa­men Schlucht zu sam­meln. Dann lö­sen sich die zä­hen Erb­mas­sen, mit de­nen das Gra­nit­ge­rip­pe des Ifin­ger um­klei­det ist, in einen dun­kel­brau­nen Schlamm, den die Quel­le der Naif mit Un­ge­stüm fort­wälzt; große Fels­blö­cke, Bäu­me und Ra­sen­stücke fol­gen dem Sturz, mit im­mer wach­sen­dem Ge­tö­se stürmt der Höl­len­brei aus der Enge ins be­wohn­te Tal hin­aus, und über eine Stun­de weit hört man den don­nern­den Fall und spürt das Be­ben der Erde. Wenn es Nachts ge­schieht, wa­chen die Bau­ern weit und breit da­von auf und hor­chen ängst­lich hin­aus. Die Naif kommt! sa­gen sie und be­ten. Die aber zu­nächst woh­nen las­sen es nicht beim Be­ten be­wen­den, stür­zen aus den Bet­ten ins Freie, trei­ben das Vieh aus den Stäl­len und la­den ihre wert­volls­te Habe auf Wa­gen, lan­ge be­vor die zähe Mas­se zum Rand der Ufer hin­auf­ge­schwol­len ist. Denn so­bald nur ein grö­ße­rer Fel­sen oder ein aus­ge­ris­se­ner Baum sich in den Weg schiebt, so staut der Schlamm und wächst als­bald zu ei­nem Ber­ge in die Höhe, hin­ter dem dann die nach­stür­zen­den Mas­sen links und rechts über­flie­ßen und Wein­pflan­zun­gen, Obst­hal­den, Häu­ser und Ge­höf­te un­wi­der­steh­lich ver­wüs­ten.

Von sol­chen Schre­cken muss­te dem ein­sa­men Man­ne, der am schöns­ten Ju­ni­mor­gen die Schlucht hin­un­ter­wan­der­te, et­was zu Ohren ge­kom­men sein. We­nigs­tens war auf sei­nem fins­te­ren al­ten Ge­sicht von dem Frie­den, der ihn um­gab, so we­nig zu ent­de­cken, als ma­che er sich, wäh­rend er in dem halb aus­ge­trock­ne­ten Bett von Stein zu Stein klet­ter­te, je­den Au­gen­blick auf einen tücki­schen Über­fall der Ele­men­te ge­fasst. Auch die Nach­ti­gal­len, die er tiefer in der Schlucht vor Ta­ge­s­an­bruch so süß hat­te schla­gen hö­ren, schie­nen sein In­ne­res nicht be­sänf­tigt zu ha­ben. Er war ganz in gro­be graue Lein­wand ge­klei­det; das tief ge­furch­te Ge­sicht, von weißem, kurz ge­scho­re­nem Haar und Bart um­starrt, be­schat­te­te ein al­ter Stroh­hut, eine klei­ne gel­be Le­der­ta­sche hat­te er um­ge­hängt, in die er dann und wann ein Mi­ne­ral oder eine Ver­stei­ne­rung steck­te, wie sie von der Naif zahl­reich zu Tage ge­spült wer­den. So heiß die Son­ne her­ab­schi­en, war ihm doch kei­ne Er­mü­dung an­zu­mer­ken. Er ging mit ei­nem stra­cken mi­li­tä­ri­schen An­stand, nur den Kopf auf die Brust ge­senkt, und stütz­te sich kaum auf den Ham­mer­stock, mit dem er hie und da an die Fel­sen schlug. Et­was Ver­stei­ner­tes, Ver­wit­ter­tes hat­ten sei­ne Züge; der Blick der ver­bli­che­nen grau­en Au­gen glänz­te wun­der­lich, gleich dem Erz, das man im Ge­stein ver­sprengt fin­det. Nir­gends stand er, um zu ru­hen, oder sich an der stil­len Schön­heit des Tals, dem pracht­vol­len Wuchs der ed­len Kas­ta­ni­en und Nuss­bäu­me zu er­freu­en, oder den Hir­ten­bu­ben nach­zu­se­hen, die ihre Zie­gen und Scha­fe zwi­schen dem üp­pi­gen Gras und Far­ren­kraut die Ab­hän­ge hin­auf wei­den lie­ßen.

Als er jetzt her­austrat, wo sich die Schlucht öff­net und man von der ho­hen Brücke über die Wip­fel fort nach Meran hin­un­ter sieht, schi­en er un­schlüs­sig, wel­chen Weg er ein­schla­gen sol­le. Da sah er zur Lin­ken, wo eine Al­lee von Maul­beer­bäu­men zu al­ter­tüm­li­chen Zin­nen­mau­ern und dem of­fe­nen Hof­tor ei­nes der vie­len Her­ren­sch­lös­ser führt, die über die­se Ab­hän­ge ver­streut sind, einen klei­nen ele­gant ge­klei­de­ten jun­gen Mann ge­ra­de­wegs sich ihm nä­hern, und un­will­kür­lich mach­te er Rechtsum und schritt, als habe er we­der Zeit noch Lust, den Kom­men­den zu er­war­ten, die ge­pflas­ter­te Stra­ße hin­un­ter, un­mu­tig zwi­schen den Zäh­nen mur­rend. Als er den An­dern hin­ter sich ru­fen hör­te, bog er ei­lig in einen Sei­ten­weg, durch den die Bau­ern eine Quel­le zur Wie­sen­wäs­se­rung ge­lei­tet hat­ten. Hier wird er mich wohl in Ruhe las­sen, brumm­te er, in­dem er mit den schwe­ren Na­gel­schu­hen mit­ten durch das hel­le Was­ser schritt. Aber er täusch­te sich. – Sie lau­fen vor mir da­von, aber es hilft Ih­nen nichts, Herr Oberst, rief der Klei­ne ihm nach. Ich ken­ne Sie ja schon und neh­me Ih­nen nichts übel. Dies­mal müs­sen Sie mich hö­ren, denn Ei­nen Men­schen muss ich ha­ben, ge­gen den ich mich aus­spre­chen kann, und soll­te ich ihm bis in die Etsch nach­lau­fen. Wis­sen Sie, von wem ich kom­me? Nun, das kön­nen Sie sich al­len­falls den­ken, da Sie mich aus dem Schloss­hof tre­ten sa­hen. Aber dass ich die­se Schwel­le zum letz­ten Mal be­schrit­ten habe, das wis­sen Sie noch nicht, und wes­halb ich mir das zu­ge­schwo­ren habe, muss ich Ih­nen jetzt sa­gen, oder ich er­sti­cke dar­an.

Es schi­en al­ler­dings Ge­fahr im Ver­zu­ge zu sein. Das run­de men­schen­freund­li­che Ge­sicht des klei­nen Herrn war über und über rot und zit­ter­te in al­len Fi­bern; er lüf­te­te den schwar­zen Hut und trock­ne­te mit ei­nem fei­nen wei­ßen Ba­tist­tuch die Stirn, ein­mal über das an­de­re seuf­zend, wäh­rend er mit den rund­li­chen, wohl­ge­pfleg­ten Händ­chen Hut und Tuch vor Auf­re­gung kaum zu hal­ten wuss­te. Da­bei merk­te er es gar nicht, dass er mit­ten im Was­ser stand, bis ihm der An­de­re – der ihn wohl um zwei Köp­fe über­rag­te – mit ei­nem kur­z­en rau­en Ton sag­te: Sie wer­den sich den Schnup­fen ho­len, Herr Graf. Auf Tanz­stie­fel sind die­se Bau­ern­we­ge nicht ein­ge­rich­tet.

Sie ha­ben Recht, Ver­ehr­tes­ter. Ge­hen wir eine Stre­cke wei­ter, bis es noch ein­sa­mer wird, dass ich Ih­nen un­ge­stört er­zäh­len kann.

Bin gar nicht be­gie­rig, gab der Alte zur Ant­wort. Die Un­ga­rin wird Ih­nen einen Korb ge­ge­ben ha­ben. Nun gut, so wis­sen Sie, wor­an Sie sind; sie hat­ten es schon längst wis­sen kön­nen. Dan­ken Sie Ihrem Schick­sal, dass Sie die Hexe los ge­wor­den sind, eh es zu spät war.

Lie­ber Freund, er­wi­der­te der Klei­ne in ei­nem stil­len, weh­mü­ti­gen Ton, Sie sind ein Men­schen­ken­ner, Sie ha­ben die ge­fähr­li­che Frau nur ein­mal und nur von Fer­ne ge­se­hen und sie gleich durch­schaut. Aber Sie soll­ten mit den Schwä­chen der Men­schen Nach­sicht ha­ben, je mehr Sie sie er­ken­nen. Die­ses Weib, das Ih­nen im­mer an­ti­pa­thisch war, hat­te eine Macht über mich –

Ich bit­te Sie, un­ter­brach ihn der Alte, ver­scho­nen Sie mich mit Ihren Ge­füh­len, von de­nen Sie mich schon mehr als hin­rei­chend un­ter­hal­ten ha­ben. Sie wis­sen, dass ich bei ge­wis­sen Ge­sprä­chen leicht die Ge­duld ver­lie­re.

Kann ich es Ih­nen ver­den­ken? rief der Klei­ne. Ist mir nicht selbst, so lang ich in die­sen Fes­seln lag, mehr als ein­mal zu Mut ge­we­sen, als müs­se ich aus der Haut fah­ren? Heu­te Hoff­nung, mor­gen die hel­le De­s­pe­ra­ti­on; heu­te ein Lamm ge­gen mich, ein sanf­tes, lenk­sa­mes, in­ni­ges Ge­schöpf, mor­gen die zün­geln­de Schlan­ge des Pa­ra­die­ses. Ich bin ein arg­lo­ser Mensch, das wis­sen Sie. Ich konn­te Ihre Ma­xi­me, im­mer das Schlimms­te zu den­ken, nie­mals ver­ste­hen. Aber so viel war denn auch mir klar ge­wor­den, dass sie ein Spiel mit mir trieb, und ich war­te­te nur auf eine herz­haf­te Stun­de, um ein für alle Mal ein Ende zu ma­chen und da­von zu lau­fen. Da kommt sie – den­ken Sie sich – ges­tern auf ih­rem schön ge­schirr­ten Maul­tier vor mei­nem Hau­se vor­bei­ge­rit­ten, ih­ren Be­dien­ten hin­ter sich, der in ei­nem Korb am Sat­tel eine große Men­ge Al­pen­ro­sen ver­wahrt. Ich sit­ze eben auf mei­ner Al­ta­ne vorm Haus, rau­che und den­ke an nichts Ar­ges. Und sie, so­bald sie mich er­blickt, Halt ge­macht, vom Tier her­un­ter, dem La­kai­en ge­winkt, dass er die Blu­men ihr nach­brin­gen soll, und nun mit dem hol­des­ten Lä­cheln die Trep­pe her­auf zu mir, dass Al­les drü­ben ans Fens­ter stürzt und ich selbst wie eine Bild­säu­le ste­he. Sie aber, schön wie eine Al­pen­fee, et­was er­hitzt vom Rei­ten, die Lo­cken halb lose un­term Hut, gibt mir mit ei­ner spitz­bü­bi­schen Ver­trau­lich­keit die Hand, nimmt Platz mir ge­gen­über, schüt­tet die Ro­sen auf mei­nen Tisch und macht mir nun halb la­chend, halb böse die zärt­lichs­ten Vor­wür­fe, dass ich sie so lan­ge ver­nach­läs­sigt hät­te. – Wer­den Sie mich aus­la­chen, wenn ich Ih­nen sage, dass ich Narr ge­nug war zu glau­ben, ich sei es ihr schon der Leu­te we­gen schul­dig, nach die­ser Sze­ne heu­te förm­lich um ihre Hand zu wer­ben? Aber Sie la­chen ja gar nicht! O, wenn ich nur Ihre Ge­duld er­mü­den und Ih­nen die gan­ze Ko­mö­die von heu­te Mor­gen, von der schmun­zeln­den Kam­mer­kat­ze an bis zu ih­rem Vet­ter, dem Baron, der plötz­lich so ganz wie be­stellt dazu kam, er­zäh­len woll­te, Sie wür­den schon la­chen, dass Ih­nen die Trä­nen in den Bart lau­fen soll­ten.

Der Alte sah mit ei­nem ver­bis­se­nen Schwei­gen vor sich nie­der, und eine Wei­le gin­gen sie durch die schö­nen stil­len Kas­ta­ni­en­schat­ten ne­ben ein­an­der hin, Je­der in sei­nen Ge­dan­ken. Der Klei­ne aber, der trotz sei­ner be­hag­li­chen Fi­gur in be­stän­di­ger Leb­haf­tig­keit sich bald links bald rechts wand­te, den Hut ab­nahm und wie­der auf­setz­te und mit dem Ta­schen­tuch von sei­nem fei­nen schwar­zen Rock je­des Stäub­chen ab­wisch­te, hielt es of­fen­bar nicht län­ger aus vor in­ne­rer Un­ru­he und sag­te:

Ja, mein Ver­ehr­ter, es ist ein Wink des Him­mels, dass ich hier Ihre Be­kannt­schaft ge­macht und mich durch Ihre schrof­fe, ab­weh­ren­de Art nicht habe ein­schüch­tern las­sen, Sie im­mer wie­der aus Ih­rer men­schen­feind­li­chen Ver­ein­sa­mung auf­zu­stö­ren. Sie sol­len mich jetzt in Ihre Zucht neh­men, mir die un­se­li­ge Emp­find­sam­keit und Gut­her­zig­keit sys­te­ma­tisch aus­trei­ben, die mich trotz so vie­ler Er­fah­run­gen im­mer von neu­em den bit­ters­ten Täu­schun­gen aus­setzt. Ich habe nun lan­ge ge­nug ge­dacht, die ideals­te An­sicht der Welt und der Ge­sell­schaft, wenn sie auch nicht die rich­tigs­te wäre, sei doch die wohl­tä­tigs­te zu un­se­rer See­len­ru­he. Nun neh­men Sie mich zum Schü­ler an in Ih­rer Kunst, das Schwar­ze im­mer vor dem Wei­ßen, in je­der Son­ne die Fle­cken, in je­dem Lä­cheln die alte Gleiß­ne­rei der Höl­le zu se­hen. Ma­chen Sie einen wet­ter­hal­ti­gen, hieb- und stich­fes­ten Men­schen­has­ser aus mir, und ich will es Ih­nen ewig dan­ken.

Der Alte gab einen Ton von sich zwi­schen Hus­ten und La­chen. Er stand einen Au­gen­blick still, sah den Klei­nen von oben bis un­ten an und sag­te dann tro­cken: Und das Lehr­geld, Herr Graf? Den­ken Sie, das sei schon be­zahlt? Die paar Trop­fen Schweiß, die Sie um eine Ko­ket­te ver­gos­sen ha­ben? Sie wis­sen nicht, was Sie re­den.

Oh, stöhn­te der An­de­re, trei­ben Sie nur Ihren Spott mit mir; das kann mich nur in mei­ner Über­zeu­gung be­stär­ken, dass ich bei den Men­schen hin­fort nichts zu su­chen habe, da selbst Sie mich nicht ver­ste­hen. Auch das wer­de ich ent­beh­ren ler­nen und in Zu­kunft mei­nen Frie­den nur da su­chen, wo er ein­zig und al­lein un­term Mon­de zu fin­den ist, und wo auch Sie ihn ge­fun­den ha­ben: in der Na­tur!

Er warf sich mit die­sen Wor­ten am Wege nie­der, auf ei­nem Gras­fleck, hin­ter dem ein klei­nes Mäu­er­chen von roh auf­ge­schich­te­ten Stei­nen einen Re­ben­gar­ten be­grenz­te. Ge­gen­über am Wege stan­den hohe Nuss­bäu­me, durch de­ren Laub man aus eine alte, in Efeu ganz ver­steck­te Schloss­mau­er sah, die einen brei­ten Schat­ten warf und die küh­le, trau­li­che Ab­ge­schie­den­heit des Or­tes noch ein­la­den­der mach­te.

Der Alte blieb vor dem Gra­fen ste­hen und sah mit ei­nem un­heim­li­chen Zug von bit­te­rem Mit­lei­den zu ihm her­nie­der, wie ein hung­ri­ger Bett­ler zu ei­nem ge­putz­ten Kin­de, das ihm klagt, es habe sein Spiel­zeug zer­bro­chen.

Frie­den? wie­der­hol­te er, Frie­den? und in der Na­tur wol­len Sie ihn su­chen? Su­chen Sie ihn, wo Sie wol­len, in Ta­ge­löh­ner-Ar­beit, im Beicht­stuhl, in der Fla­sche – nur nicht in der Na­tur. Sie müss­ten sich denn gleich zu An­fang da­hin wen­den, wo­hin ich erst ge­kom­men bin, nach­dem ich bei al­lem Le­ben­di­gen ver­ge­bens an­ge­klopft habe, zu den Stei­nen. Aber das mei­nen Sie ja gar nicht. Ihre »Na­tur«, die Sie ein­schlä­fern und über Ihre klei­nen Mi­se­ren be­täu­ben soll, ist ja nichts wei­ter als eine Opern­de­ko­ra­ti­on, ein paar Stroh­dä­cher im Grü­nen, die un­ter­ge­hen­de Son­ne im Hin­ter­grund und dazu Hir­ten­flö­ten und blö­ken­de Läm­mer und das Rau­schen ei­nes Ba­ches, in dem Sie Fo­rel­len für Ihre Ta­fel fi­schen mö­gen. Und wenn Sie mit Ku­lis­sen und Or­che­s­ter im Rei­nen sind, se­hen Sie sich doch wie­der ei­lig nach ei­ner Pri­ma­don­na um, die Ih­nen Ihren viel­be­lob­ten Frie­den, will sa­gen die Lan­ge­wei­le, ver­trei­ben möch­te. Sie sind noch in den Drei­ßi­gern, reich, ver­wöhnt, und von viel zu fet­ter Con­sti­tu­ti­on, um den Frie­den da zu su­chen, wo er al­lein zu fin­den ist, und wo ihn hei­li­ge Män­ner wirk­lich ge­fun­den ha­ben sol­len.

Das wäre?

In der Wüs­te.

In der Wüs­te? Fast möch­te ich la­chen, wenn mir sonst da­nach zu Mut wäre. Nein, Ver­ehr­tes­ter, das ist nicht Ihr Ernst. Wä­ren Sie sonst nicht längst da­hin auf­ge­bro­chen, um den Scha­kals und Ka­me­len Ihr Evan­ge­li­um vom Men­schen­hass zu pre­di­gen, statt dass Sie sich noch im­mer in die­sen leid­lich kul­ti­vier­ten Ge­gen­den auf­hal­ten?

Sie spre­chen, wie Sie’s ver­ste­hen, sag­te der Alte fins­ter. Wo ich lebe, Jahr aus, Jahr ein zwi­schen Fel­sen und Glet­schern, nur ein­mal ei­nem Senn­hir­ten die Zeit bie­tend, wenn mich hun­gert, und im Win­ter in ei­nem Holz­sta­del ein­ge­schneit, möch­te es Ih­nen Wüs­te ge­nug dün­ken. Auch bin ich in die­se Tä­ler nur hin­ab­ge­stie­gen, um zu se­hen, ob die wei­che­re Luft mir etwa die Rheu­ma­tis­men aus den Glie­dern zie­hen will, mit de­nen man dro­ben im Hoch­ge­bir­ge übel dar­an ist. Sonst hät­te mich nichts hier her­un­ter ge­lockt. Es ist mir zu voll hier, al­ler­lei ga­lo­nier­ter Men­schen­pö­bel verdirbt die Luft, auch ist man Wel­sch­land schon nä­her, als mir lieb ist, und lan­ge treib’ ich’s hier nicht mehr; nur die große Stein­samm­lung in der Naifschlucht ist al­len­falls der Mühe wert.

Der Graf hat­te nur noch zer­streut zu­ge­hört und sei­nen eig­nen Plä­nen nach­ge­son­nen. Las­sen Sie mich nur ma­chen, sag­te er jetzt. Ich wer­de mich in Lein­wand ste­cken, wie Sie, und mei­ne Tage un­ter Pflan­zen, In­sek­ten und Stei­nen hin­brin­gen, hier in die­ser pracht­vol­len Wild­nis, un­ter gu­ten, zu­frie­de­nen, ehr­li­chen Men­schen, die ihr Herz in der Hand tra­gen und als bie­de­re Nach­barn ein­an­der hel­fen. Oder wär’ es denn so un­ge­reimt, wenn ich mir einen Bau­ern­hof mit Wein­berg und Mais­feld kauf­te, ein paar hohe Kas­ta­ni­en über mei­nem Dach, im Stall schö­ne Rin­der, in mei­nem Gar­ten Ro­sen, Pfir­si­che und Man­del­bäu­me? Nur dass ich nie eine Hand mehr zu drücken brau­che, die sich mit köl­ni­schem Was­ser wäscht, und –

Ste­hen Sie auf, Graf, ste­hen Sie auf! Se­hen Sie die Tie­re denn nicht, die an Ih­nen hin­auf­krie­chen? rief der Oberst mit ei­nem has­ti­gen ver­stör­ten Blick.

Der Graf sprang auf, lach­te aber, als er sich den Rock ab­schüt­tel­te. Nun wahr­lich, sag­te er, ich dach­te, ich hät­te mich in ein Skor­pi­ons­nest ge­setzt, und es sind nur Amei­sen. Für einen Na­tur­for­scher sind Sie ängst­li­cher, als ich dach­te, mein Lie­ber.

Der Alte hat­te sich ab­ge­wandt, um die Röte zu ver­ber­gen, die sei­ne ver­wit­ter­ten Züge plötz­lich über­flog. Ich has­se sie! mur­mel­te er. Sonst bin ich so ziem­lich auf Du und Du mit Al­lem, was da kriecht und schleicht. Kom­men Sie weg von hier; es wird heiß.

In­dem er dies sag­te, schüt­tel­te er sich, als ob ihn ein fros­ti­ger Schau­der pack­te, und der Graf folg­te ihm, ach­sel­zu­ckend, da er jetzt einen schma­len Weg be­trat, der dicht an der ho­hen Schloss­mau­er un­ter Fei­gen­ge­strüpp und ein­zel­nen Weinre­ben hin­lief. Ein klei­ner Gra­ben trenn­te die Wan­de­rer von der brei­te­ren Stra­ße. Da stand der wun­der­li­che Alte plötz­lich wie­der still und sah in das kla­re, ge­räusch­lo­se Was­ser hin­ab, das trä­ge un­ter den Brom­beer­ran­ken und wil­dem Hop­fen ab­floss.

Was ha­ben Sie ent­deckt? frag­te der An­de­re.

Ein Stück Frie­den in der Na­tur, sag­te der Alte ernst­haft. Se­hen Sie dort den schwar­zen Wurm am Grun­de? Eine elen­de nack­te Schne­cke ist hin­ein­ge­fal­len, und der lau­ern­de Bursch, der Pfer­de-Igel dort, hat sie be­hän­de um­klam­mert und wühlt sich in ih­ren hilflo­sen feis­ten Rücken ein. Se­hen Sie doch, wie das ge­mar­ter­te Tier sich win­det!

Ab­scheu­lich! Ge­ben Sie mir Ihren Stock, dass ich sie aus ein­an­der brin­ge. Noch wird das Op­fer zu ret­ten sein.

Mei­nen Stock? Dass ich ein Narr wäre, ihn zu ei­nem Nar­ren­streich her­zu­lei­hen!

Herr Oberst!

Sind Sie be­lei­digt? Nach Be­lie­ben. Aber den­ken Sie erst nach, ob Sie auch ein Recht ha­ben, hier den Groß­mü­ti­gen zu spie­len auf frem­de Kos­ten. Wenn ein Erz­en­gel bei ei­ner Fleisch­hau­er­bu­de vor­bei­gin­ge und dem Metz­ger, der eben einen Och­sen schla­gen will, aus ed­ler Em­pö­rung mit sei­nem Flam­menschwert die Hand zer­schmet­ter­te, was wür­den Sie dazu sa­gen? Oder wol­len Sie es über­neh­men, alle Pfer­de-Igel in die­sen Grä­ben aus eig­nem Blut mit Früh­stück zu ver­sor­gen, da­mit Sie nur das We­ge­la­gern las­sen und lie­ber eine Ret­tungs­an­stalt für ver­un­glück­te Schne­cken stif­ten?

Er lach­te hei­ser auf, wäh­rend der An­de­re den Kopf noch ge­senkt hat­te und ins Was­ser starr­te. Ich gebe es Ih­nen zu, sag­te er klein­laut: den ewi­gen Kriegs­zu­stand Al­ler ge­gen Alle in der Na­tur kön­nen wir nicht ab­stel­len, und der Blick in das stil­le Mord­ge­wühl da un­ten – denn ich sehe jetzt noch mehr Wür­ger und Op­fer – macht ei­nem das Herz schau­dern, das einen Au­gen­blick hier aus­zu­ru­hen dach­te. Fast be­wun­de­re ich nun die Leu­te, die den Mut ha­ben, sich in die­se un­heim­li­chen Rei­che ein Le­ben lang zu ver­sen­ken. Aber die Rebe ächzt nicht, wenn man sie be­schnei­det, noch das Korn, wenn man es drischt, und die Leu­te, die Tag für Tag die zu­frie­de­ne, üp­pi­ge, stil­le Frucht um sich her­um rei­fen se­hen, müs­sen end­lich einen Frie­den ge­win­nen, von dem man in der so­ge­nann­ten großen Welt, die die klei­ne hei­ßen soll­te, nichts ahnt. Ha­ben Sie sich die Ge­sich­ter des Vol­kes in die­ser Ge­gend an­ge­se­hen? Aber nein, Sie se­hen ja weg, wenn Ih­nen ein Men­schen­ge­sicht be­geg­net.

Ich habe ein Recht dazu, sag­te der Alte dumpf. Dann ging er so rasch vor­wärts, dass der Klei­ne ihm mit Mühe fol­gen konn­te und das Ge­spräch fal­len ließ. Nicht lan­ge, so bo­gen sie um einen run­den Turm, der aus der ver­fal­le­nen Mau­er vor­sprang, und sa­hen nun, dass die hohe Schloss­rui­ne im Vier­eck auf­rag­te; denn eine neue Mau­er mit ver­fal­le­nen Fens­tern führ­te zu ei­nem drit­ten Turm, der noch üp­pi­ger vom Efeu um­klei­det war. In viel ge­teil­ten, hand­brei­ten Stäm­men hat­te er sich hin­auf­ge­zo­gen und sei­ne Klam­mern tief in die Stein­fu­gen ein­ge­drängt, im­mer dich­ter nach oben zu sich be­lau­bend, bis er das spit­ze Dach wie eine di­cke grü­ne Hau­be ganz um­wu­chert und an der einen Sei­te so­gar, ei­nem Helm­busch ähn­lich, einen bu­schi­gen frei­en Trieb hin­aus­ge­schickt hat­te. Nicht min­der reich be­deck­te er Mau­ern und Fens­ter, und hie und da sah der Bau wie eine rie­si­ge, wohl­be­schnit­te­ne Efeu­he­cke aus, in de­ren sechs Schuh di­cken Wän­den man re­gel­mä­ßi­ge vier­e­cki­ge Öff­nun­gen an­ge­bracht hät­te. Der Ort war ge­gen Wind und Son­nen­brand treff­lich ge­schützt, die Nuss­bäu­me stan­den wie Wäch­ter rings um das un­ge­heu­re Vier­eck, über­all rie­sel­ten die Was­ser von den hö­her ge­le­ge­nen Wie­sen her­ab nahe ge­nug vor­bei, um die Luft zu durch­feuch­ten. Nun erst, als die Wan­de­rer um den drit­ten Turm bo­gen, sa­hen sie ein Tor in dem öden Bau sich öff­nen, von grau­en Qua­dern über­wölbt, aber mit Bret­tern ver­schla­gen, in de­nen eine manns­ho­he Öff­nung ge­las­sen war, ohne Tür und Git­ter. Ein paar große schwar­ze Schwei­ne stürz­ten, als sie sich nä­her­ten, aus dem Turm her­aus und lie­fen grun­zend an den Stein­wall vor, mit dem ihr Re­vier un­ter den Nuss­bäu­men ab­ge­grenzt war. An die­ser Sei­te war auch der Efeu völ­lig er­stor­ben, da die Tie­re alle Wur­zeln um­wühlt und zer­nagt hat­ten. Jen­seits aber, wo ein Re­ben­gar­ten an die Mau­er stieß, dun­kel­te der grü­ne Um­hang de­sto dich­ter über die gan­ze Brei­te hin. Ein paar ver­wil­der­te Hüh­ner ent­flo­hen, als die bei­den Män­ner auf das Por­tal zu­schrit­ten. Vor den Re­ben aber, hoch un­ter ei­nem wind­schie­fen Schirm­dach, hing ein höl­zer­nes Chris­tus­bild mit er­lo­sche­ner Tün­che und neig­te sich auf die Sei­te, als dro­he es vom Kreuz her­ab­zu­stür­zen und wer­de von den Wein­ran­ken ge­hal­ten, die hoch hin­auf­ge­klet­tert wa­ren und die dürf­ti­gen Glie­der und das trau­ri­ge Haupt um­schlan­gen.