Der Klang der Erinnerung - Anna Smaill - E-Book

Der Klang der Erinnerung E-Book

Anna Smaill

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Beschreibung

Nach dem Ende eines brutalen Bürgerkriegs ist London geteilt: Es gibt Slums und eine "Stadt der Eliten". Durch tägliche Klangspiele wird den Bewohnern die Erinnerung daran, wie es einmal war, genommen. Die Vögel haben aufgehört zu singen und jeder neue Tag fühlt sich an wie der vorherige. Ein junger Mann namens Simon kommt in die Stadt und findet eine neue "Familie" – eine Bande, die hier im Untergrund lebt. Nach und nach gelingt es Simon, seine Erinnerungen wachzurufen, und Lucien, der blinde Anführer der Bande, spürt bald die Gefahr, die von Simons Vergangenheit ausgeht. Es beginnt ein Kampf um Gerechtigkeit und Freiheit, um Gegenwart und Vergangenheit, um Leben und Tod.

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Seitenzahl: 453

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Anna Smaill

Der Klang der Erinnerung

Roman

Aus dem Englischen von Katharina Hinderer

Für meine Eltern

Der Musik, dem Mosaik der Lüfte, es gelang,

Daraus zu zaubern einen feierlichen Klang,

Mit dem sie gewann die Herrschaft sogleich

Über jedes Ohr zwischen Erde und Himmelreich.

ANDREW MARVELL

Die Ankunft in London

Ein Regenmantel

Seit einer Ewigkeit stehe ich hier. Arme und Beine, mein Kopf, sogar meine Knochen sind schwer vor Müdigkeit. Die Kleider schwer vom Regen, der nicht aufhören will. Die Schuhe schwer vom Schlamm. Über der Schulter hängt mein Beutel aus grobem Stoff und schlägt mir gegen die Beine, während ich von einem Fuß auf den anderen trete, um mich warm zu halten. Auch der Beutel ist schwer, von den Objekterinnerungen, die ich mitgenommen habe.

Tief im Schlamm der Felder hinter mir liegen unsere Zwiebeln, die wir gesetzt haben, eingehüllt in ihre brüchige Haut, unter der ihre zukünftigen Farben schlummern. Blaue Iris, gelber Krokus, Tulpen in allen Schattierungen. Ich werde nicht da sein, wenn sie sich öffnen. Langer Kelch, zwei Trompeten. Narzissen mit zarten Blütenbüscheln und pfeffrigem Geruch, wie die Luft kurz vor dem Klingen.

Am Horizont sieht man die Felder als graue Linien, die zum Himmel hin dunkler werden. Ich starre sie an, um dieses Bild festzuhalten, aber am Ende kann man nur den Objekterinnerungen trauen. Und die schleppe ich schon im Beutel. Auch sie lassen sich nicht zum Aufblühen zwingen. Wie die Zwiebeln geben sie ihre Geheimnisse erst preis, wenn sie bereit dafür sind.

 

Ein Händler reitet vorüber. Ein paar Feldarbeiter laufen über die Felder zum Nachbarhof. Ein Wanderarbeiter singt das Hin-und-Zurück seiner Tagesreise, die Kadenz seines Liedes endet an unserem Dorfplatz. Alle Wanderer leuchten sich auch die kurzen Wege mit einem Lied. Kaum jemand wagt sich weiter als eine Tagesreise von zu Hause und den dort verwahrten Erinnerungen fort. Schließlich könnte man die Melodie für den Rückweg vergessen.

Endlich hält ein Pferd mit einem Wagen. »Ho!«, sagt der Kutscher. Das Pferd atmet aus. Der Wagen ist mit einer großen Plane bedeckt, der Kutscher bleibt stumm vorn sitzen und zuckt nur mit dem Kopf, was heißen soll: »Steig auf«. Er wartet, während das Pferd mit den Hufen stampft.

Als ich hinten zwischen den Wollballen sitze, nimmt er den alten Regenmantel von seinen Schultern und gibt ihn mir. Völlig durchgeweicht, ziehe ich mir den Regenmantel über die Schultern, und um Worte zu sparen, mache ich die Handzeichen für »Danke« in Solfège. Er zuckt mit den Schultern, was so viel heißen soll wie »Keine Ursache«. Dann zuckt er noch zwei Mal mit den Schultern, nicht willentlich, wie mir klar wird, sondern weil seine Muskeln tanzen. Ich schaue weg. Das Wollfett stinkt und ich vergrabe meine Nase im Ärmel des Regenmantels.

»Wie weit willst du mitkommen?«, fragt er.

»Bis in die Stadt«, antworte ich. »Oder so weit, wie Sie fahren.«

»Willst du dort in die Leere gehen?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich will auf den Markt.«

Er betrachtet meine Bauernkleider und meinen einzigen Beutel aus grobem Stoff und ist eine Weile tacet. »Und die Rückfahrt?«, fragt er. »Du wirst eine brauchen, nehme ich an?«

Unsere Blicke treffen sich und meine Augen verraten nichts. Ich brauche keine Rückfahrt. Ich suche einen Namen und ein Lied, folge einer Spur. Doch damit geht man nicht hausieren. Mit herausforderndem Blick warte ich, ob er noch einmal fragt. Aber er dreht sich wieder nach vorn und hängt die Zügel ein. Wir fahren los und ich werde durchgeschüttelt.

»Ich fahre nach Leadenhall. Ich kann dich absetzen, wo du willst. Aber halt dich an meinen Rat und geh so schnell wie möglich in die Leere. Die Instrumentenbauer sind immer auf der Suche nach jungen Fingern.« Er dehnt seine eigenen Hände und lässt die Knöchel knacken. Wieder zuckt sein Kopf heftig. »Warte nicht zu lange«, ermahnt er mich.

Ich halte den Blick starr auf die Straße gerichtet.

 

Ungefähr ein Läuten nach der Sext machen wir Rast in Romford, wo der Kutscher Käse, Brot und getrocknete Blutwürste zum Mittag kauft. Er spießt eine auf und reicht sie mir. Ich esse presto, als könnte ich mich nicht mehr an meine letzte Mahlzeit erinnern. Dann sind wir wieder auf der Bundesstraße, schnurgerade unter dem Himmel gespannt wie eine Violensaite. Je weiter wir kommen, desto breiter wird die Straße und desto dichter werden die Menschentrauben. Und mit jedem weiteren Schritt schwillt die Musik der Stadt an.

Zuerst ertönen nur die Rufe und Lieder der Händler. Dann stoßen die kraftvoll aufwallenden Klänge von Highboy, Viole, Klarinetto hinzu. Wir trotten weiter, vorbei an Gebäuden mit leeren Gesichtern und hohlen Fenstern, verformtem Mettal und schmalen, kopfsteingepflasterten Straßen. Musik dringt aus den Wohnungen über den Geschäften, steigt über in den Hauseingängen stehenden Grüppchen von Musikern empor. Trumpeten schießen ihr blechernes Kampfgeschrei die Dachreiter entlang. Violen sprechen mit hohen, sehnsuchtsvollen, schmerzerfüllten Stimmen, fast wie menschlicher Gesang. Und unter allem liegt der harte Schlag der Tambore. Er schwillt zu einem gigantischen Crescendo an.

Der Kutscher sieht meinen offenen Mund. Ich bin baff. Ich blicke hoch und lausche gebannt vor … Freude? Staunen? Ich weiß, dass ich schon in London auf dem Markt gewesen bin. Aber ich hatte das alles vergessen.

Die ganze Stadt spricht Musik.

Wir bewegen uns durch die überfüllten Straßen. Ich drehe mich von einer Seite zur anderen, als könnte ich so alles hören, aber die Melodien fließen presto, und was immer sie an Bedeutung enthalten, gleitet schnell vorbei. Zu Hause steht diese kurze Tonfolge für etwas Bestimmtes, aber hier verdrehen die Worte zum Lied den Sinn, arbeiten gegen die Töne, sodass sie etwas ganz anderes sagen.

Nach einer Weile gelingt es meinem Ohr, die Lieder so lang in meinem Kopf festzuhalten, dass ich sie entwirren kann. Die offiziellen Verlautbarungen erklingen am kräftigsten – Aufrufe zu Chor- und Orkesterproben, Warnungen der Polizzei, die Ankündigung einer Trauermesse. Darunter liegen die ausschreitenden öffentlichen Wortmeldungen – neue Leerlinge werden gesucht, Essen und Bier feilgeboten. Weniger raumgreifend sind die Melodien dazwischen. Lieder, die man für seine Lieben singt, mit denen man ihnen das behagliche Zuhause ins Gedächtnis ruft und sie an die Straßen erinnert, die sie dorthin führen. Eine Frauenstimme lässt mich aufhorchen. Sie singt ein Lied für ein Kind, ein einfaches, dahingeträllertes Wiegenlied, und seine Lieblichkeit trifft mich mit einer solchen Wucht, dass ich mich für eine Weile nicht mehr rühren kann. Ich merke, wie der Kutscher mich wieder ansieht, wie ich dasitze und mit feuchten Augen zum Himmel blicke. Also ziehe ich den Regenmantel hoch und wende mich ab.

Und in diesem Moment höre ich noch etwas. Tief unten im Klanggewebe der Stadt, irgendwo im Süden kündigt sich eine silberne Stimme an. Wie ein mit Stille angefülltes Loch in der Tiefe, ein Riss in dem ganzen Getöse. Ich verstehe nicht, was das bedeutet. »Stimme« ist auch nicht das richtige Wort dafür, denn Stimme ist Klang. Was ich höre, ist die Abwesenheit von Klang, sein Gegenteil. Der Kutscher aber verliert kein Wort darüber, also frage ich nicht nach.

Die None ist schon lange vorüber, als das Pferd anhält und der Kutscher sich zu mir umdreht und sagt, dass er in eine der kleinen Straßen geht, um vor dem morgigen Markttag seine Tochter zu besuchen, ob ich absteigen möchte? Dort, wo er hinzeigt, rücken die Häuser enger zusammen. Rote Schindeln bedecken die Dächer. Ich nicke, bleibe aber tacet.

»Denk dran. Such dir eine Leerstelle«, mahnt er. »Warte nicht zu lange.«

Als ich ihm den Regenmantel zurückgeben will, schüttelt er den Kopf. »Behalt ihn«, sagt er. Er schreibt die formale Solfège-Abfolge für »Lebe wohl« in die Luft. »Halte deine Erinnerungen fest.«

Ich verstehe die Redensart so, wie sie gemeint ist: als Warnung.

 

Nur mit meinem Beutel voller Erinnerungen und dem Regenmantel schlängele ich mich durch die Massen von Händlern und Leerlingen. Am nördlichen Ende der Straße komme ich an einem riesigen weißen Kreuzhaus vorbei, dessen zerstörte Mettalkuppel wie ein Mund zum Himmel geöffnet ist. Ich wiederhole die zwei Dinge, die meine Mutter mir gegeben hat und an die ich mich halten kann. Ein Name und eine schlichte Melodie. Der Name einer Fremden – Netty. Eine Melodie, in der Geräusche von kochendem Essen und brodelndem Wasser anklingen.

Läden und Leute, Geschäfte und Geheimnisse. Ein Lied für alles. Blaues Leinentuch heute zum Sonderpreis. Klarinetto-Rohrblätter von höchster Qualität. Abdeckplanen gegen den Regen. Blechflöten. Apfelsinen. Und ich habe nichts als den Namen und das Lied. Keine Adresse, keine Wegbeschreibung. Und keine Ahnung, wie ich inmitten dieses Lärms eine einzelne Melodie ausmachen soll.

Also tue ich das Einzige, was mir einfällt. Ich folge meinem Magen.

Eine Tafel Schokolade

Aus der ersten Straße, an der ich vorbeikomme, wehen mir Gerüche und Lieder von karamellisierten Erdnüssen und Grillwürstchen entgegen. Ich bleibe auf der Hauptstraße, wo die Bäcker Hefebrot singen. Heißen Kaffee. Bier. Allerdings nichts, was irgendeine Ähnlichkeit mit dem Lied meiner Mutter hat.

Rechter Hand eine kurze Straße voller Getümmel und an ihrem Ende ein ausladendes Gebäude mit hohem Deckengewölbe, unter dem sich die Gerüche sammeln, gehaltvoll, dicht und schwer. Vertraute Marktgeräusche, nur der Akzent und die Lieder klingen fremd.

Ich gehe zwischen kaputten Säulen hindurch und Treppen hinunter, finde auf dem riesigen Marktplatz eine Ecke, wo ich das Treiben beobachten und meine Marken zählen kann. Ich fühle mich so einsam und fremd, dass mir fast übel wird. Die Menschen wuseln um mich herum und ich bin unsichtbar für sie. Aber ich sauge die Gerüche auf, die Geräusche.

Ein nachdenklicher Ruf, drei Töne lang, von einem Süßkartoffel-Verkäufer, der beim Singen einen Blasebalg tritt. Eine Melodie über goldbraune Fleischpasteten, gesungen von einer dicken Frau, die mit den Augen zwinkert. Man hört Lieder über Sandwiches und in Gänsefett gebratene Kartoffeln, ein Lied vom wogenden Meer, gesungen von einem dunkelhaarigen Jungen mit einem Austernmesser. Eine Melodie, schimmernd wie eine Perle. Seine Austern kommen aus Essex, singt er. So wie ich.

Und dann erhebt sich der Ton einer Melodie über die anderen. Etwas davon bleibt hängen. Eine Solostimme singt, weniger eine Melodie, als ein schnelles, geflüstertes Geplapper, passend zum Rhythmus von kochendem Wasser und zischender Butter.

Vier Takte weiter steht der kleine Verkaufswagen, seine blaue Plane ist gerade breit genug, um eine winzige Bank mit drei Platten eines Spirituskochers und zwei verwitterte Mettalstühle zu überdachen. Hinter dem Herd ist eine Frau mit zu einem Dutt hochgestecktem, graumeliertem Haar am Werk. Sie trägt eine Schürze und huscht presto zwischen zwei riesigen Töpfen und einer kleinen gusseisernen Pfanne hin und her. In den Töpfen köchelt es und sie singt sanft »Brodelt und zischt, Rübchen und Kartöffelchen.«

In meinem Kopf kommt die zweite Stimme dazu: die meiner Mutter. Es ist die Melodie, die sie mir gegeben hat.

Mein Hals brennt vor Erleichterung bis unter die Ohren.

»Netty?«

Ich gebe mir Mühe, nicht zu hoffnungsvoll zu klingen. All meine Fragen nicht durchscheinen zu lassen.

Sie blickt lento hoch, als hätte sie gewusst, dass ich dastehen würde. Ihre gefleckten Augen funkeln.

»Netty«, sage ich noch einmal.

Mit einem gehauchten Psst bedeutet sie mir zu schweigen. »Setz dich«, zischt sie. Und bevor ich noch ein Wort sagen kann, stellt sie mir einen vollen Teller vor die Nase.

Das Essen bringt mich sofort zum Verstummen, schneller als ihre Warnung. Solang es vor mir steht, haue ich rein, als könnte ich mich nicht mehr an meine letzte Mahlzeit erinnern.

Während ich esse, räumt Netty ihren Stand auf. Sie stapelt ein paar in goldene Folie eingewickelte Tafeln ordentlich auf. Wischt die Bank und den Herd ab. Schrubbt die Pfanne mit Stahlwolle. Die ganze Zeit über hält sie den Kopf gesenkt und bewegt sich hastig. Schließlich geht sie an der Bank vorbei und schaut presto nach links und rechts, dann lässt sie die aufgerollte Plane herunter und schirmt uns so vom Markttreiben ab. Das schwächer werdende Tageslicht dringt durch die Plane und taucht alles in ein alt und traurig wirkendes Blassblau.

Dann sieht sie mich an. Ihr Blick ist fest, aber ich sehe, dass sie Angst hat.

»Was willst du?«

»Meine Mutter hat mir Ihren Namen gegeben«, sage ich. »Sie hat mir Ihr Marktlied vorgesungen. Ich bin den ganzen Weg von unserem Hof in Essex zu Ihnen gekommen.« Diesmal gelingt es mir nicht, den verzweifelten Ton aus meiner Stimme herauszuhalten.

»Sprich leiser, Junge«, entgegnet sie. Ein Blick, presto, zur Plane. Dann fängt sie wieder an zu scheuern. »In Essex lebt niemand mehr«, sagt sie. In ihrer Stimme liegt eine säuerliche Genugtuung und einen Moment lang sehe ich unsere volle Dorfhalle während des Klingens. Ihre Worte ergeben keinen Sinn.

»Sie haben mich nicht verstanden«, beharre ich. »Meine Mutter hat mir gesagt, ich soll Sie suchen. Sie wollte, dass Sie mir helfen.«

Netty seufzt und lässt das Kinn sinken. Sie sieht mich durchdringend an.

»Wie nennt ihr denn deine Mutter zu Hause?«

»Sie hieß Sarah Wythern.«

Sie sagt nichts, aber sie hört zu.

»Was hat sie dir sonst noch erzählt?«, will sie wissen.

Ich versuche, mich zu erinnern. Durchforste die letzten seltsamen Tage voller Trauer, aber ich kann nichts finden. Mein Kopf ist fest versiegelt, er enthält nichts außer dem Regen auf der Straße und dem Rumpeln des Wagens und dem Lärm der Stadt. Ein grauenhaftes Gefühl macht sich in mir breit.

»Nichts.«

»Dann muss sie dir etwas gegeben haben. Etwas, was beweist, wer du bist?«

Ich schüttle den Kopf.

Sie zischt kaum hörbar, wie die Kartoffeln im Fett. »Ein Lied? Keine andere Nachricht?«

»Nein«, erwidere ich. »Nur Ihr Marktlied.«

Netty schweigt eine Weile. Ihr Gesicht ist leer und verschlossen, als wäre alles in ihr, was einmal warm war, schon lange ausgekühlt.

»Jeder Idiot und sein Leerling kennt mein Marktlied, Junge. Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir keinen Beweis bringst.«

Zuerst weiß ich nicht genau, was sie mir sagen will. Dann spricht sie weiter. »Ich kenne keine Sarah Wythern«, sagt sie. »Hier kannst du nicht bleiben.«

Ich schüttle den Kopf und starre auf die Bank, bleibe stehen, als würde sie ihre Meinung vielleicht noch ändern. Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen soll. Vor mir liegt der Stapel mit den in Goldfolie eingeschlagenen Tafeln, jede mit einem violetten Papierstreifen umwickelt, auf den derselbe Jingle eingeprägt ist. Der endgültige, ablehnende Ton in ihrer Stimme hallt in meinem Kopf wider, wie eine sich schließende Tür. Und als würde sie nicht zu mir gehören, bewegt sich meine Hand auf die Tafeln zu und ich nehme eine, wiege sie in der Hand und höre die Melodie auf dem Papier, süß und satt. In ihrer Stimme lag auch noch irgendetwas anderes, glaube ich: Sie lügt.

»Das war keine Frage«, sagt Netty, ohne mit der Wimper zu zucken. »Nimm deine Erinnerungen und verschwinde von meinem Stand.«

 

Ich verlasse den Markt an der Oper, schiebe mich mit der Schulter voran durch die Massen, um ins Freie zu kommen. Mein Herz schlägt vor Wut hart und laut unter den Rippen wie ein Tambor. In einer Hand halte ich die Schokoladentafel, die ich mir an Nettys Stand geschnappt habe.

Die dicht gedrängten Menschen folgen ihren eigenen Wegen durch die Straßen, ein Schubsen und Zerren um mich herum, keiner achtet auf mich. Nur die Leerlinge blicken auf, wenn ich vorbeigehe, und machen mir einen übertrieben breiten Weg frei. Verachtung liegt in ihren verschlossenen Gesichtern. Aus einem offenen Fenster hört man einen Mann eine Melodie geradezu kreischen und auf einmal wird der Lärm zu viel. Zu viele Geschichten zugleich, zu viele Melodien, die gehört werden wollen. Ich bleibe mitten auf der Straße stehen, als könnte ich dort innehalten und den einzigen Ruhepol in dem ganzen Trubel bilden.

Dann drängelt sich jemand an mir vorbei, meine Füße rutschen weg und ich liege auf dem Kopfsteinpflaster. Der Beutel mit meinen Erinnerungen schliddert über den Boden, gleitet mir aus der Hand und subito verstummen alle um mich herum, als hätte sie ein Taktstock zum Schweigen gebracht. Ich hechte nach vorn, strecke die Arme so weit es geht nach dem Beutel, der unter den stampfenden Füßen zu verschwinden droht. Über mir bewegen sich die Beine, als wäre ich gar nicht da. Eine Stimme flucht und ich spüre einen Tritt gegen die Hüfte, doch meine Hände umklammern den groben Stoff. Ich reiße den Beutel an meine Brust, knie auf dem Boden und halte ihn wie ein Baby im Arm.

Danach stelle ich mich fernab des Menschenstroms unter die Traufe eines Gebäudes. Ich atme stoßweise und abgehackt, wie das Pferd des Kutschers. Während ich mir die Ledergurte des Beutels um die Hand wickle, warte ich darauf, dass die Panik verfliegt. Wie lang würde es dauern, wenn ich sie verliere? Wie lang, bis man zu einem von den namenlosen Umherirrenden wird? Trostsuchend zusammendrängt, wie Schafe auf der Weide: erinnerungslos.

Das Körpergedächtnis würde noch eine Weile funktionieren. Denn Muskeln und Knochen haben ihre eigenen Tricks, um sich zu merken, was sie Tag für Tag tun müssen. Diese Gewohnheiten, vom Atmen bis zum Blutkreislauf, sind tief verankert. Mein Körper erinnert sich aber auch an die Beschaffenheit der Felder, die richtige Zeit zum Pflanzen, daran, wie sich Erde anfühlt. Meine Arme wissen, wie man den Boden für ein Saatbett wendet, meine Hände wissen, in welcher Tiefe eine Zwiebel gedeiht. All das nutzt mir hier nichts. Nur Objekterinnerungen können mir sagen, wer ich bin. In ihnen hortet man die Bilder der Vergangenheit, in Schnipseln und Überbleibseln, gerettet aus dem Fluss der Zeit. Wenn ich sie in die Hand nehme, die Objekte, kommen die Bilder hoch. Mein ganzes Leben ist in meinem Beutel. Teile meiner Kindheit. Stücke meiner letzten Tage auf dem Hof. Alles, was mir je wichtig genug war, um es aufzuheben. Ich kämpfe gegen den Drang an, hineinzugreifen und eins zu berühren, die Bilder auf mich einstürmen und mich von ihnen hinabziehen zu lassen.

Netty hatte recht. Hier ist kein Platz für mich. Kein Platz, und der seidene Faden, dem ich hierher gefolgt bin, ist bereits gerissen. Meine Mutter ist gerade mal zwei Tage tot und schon habe ich sie im Stich gelassen. Die Stadt um mich herum entgleitet mir, mit ihrem schrecklichen Lärm und ihrem Geruch nach Kieljauche und Harz.

Dann höre ich es wieder.

Das stumme Flüstern irgendwo aus südlicher Richtung. Ein kühler Strom durch das Gedränge und den Lärm. Wie die Verheißung eines Ortes, an dem ich durchatmen kann.

Mit den Händen bahne ich mir einen Weg durch die Menschen und Melodien. Ich biege um die Ecken, bewege mich wie blind. Vorbei an vernagelten Häusern und Straßenverkäufern und noch mehr Menschen. Über eine breite Straße mit prachtvollen Gebäuden. Durch musizierende Duos und Trios, ihre glänzenden Instrumente in Silber, Ahorn, Gold. Eine schmale graue Gasse entlang, in einen Park, über zwei mit Mettalspitzen bewehrte Zäune, durch das Gebüsch und endlich, hinter einer breiten betonierten Straße, liegt er.

Ein Fluss wie eine freie, flache Straße. Breiter als alle Flüsse, die ich kenne. Bräunlich-graues Wasser. Boote, klein wie Spielzeug. Das Wasser gekräuselt auf seinem Weg von Osten nach Westen. Ganz ruhig, als wäre er schon immer hier und hätte alles gesehen.

Beim Betrachten zittern meine Arme, als hätte ich gerade etwas viel zu Schweres abgestellt. Dort stehe ich, als ich höre, wie es den Himmel durchzuckt: halb Hüsteln, halb Frösteln. Diese Warnung ist so tief in meinem Körpergedächtnis gespeichert, dass als Erstes meine Muskeln reagieren. Ich habe überhaupt nicht mehr auf das Läuten geachtet und es ist schon eine knappe Minute vor der Vesper – und dem Klingen.

Zur Mette lässt das Carillon Die Geschichte piano erklingen – leise, lieblich. Die Geschichte ist Antiphonie: Frage und Antwort, Ruf und Erwiderung. Unsere Stimmen ergänzen die Melodie vom Carillon. Wir geben die richtigen Antworten, immer dieselben und die gleichen für alle. Wenn das Leben Musik ist, und das ist es, dann ist Die Geschichte der Bass. Sozusagen die Last, die immerwährende Wahrheit, die unter allem liegt. Die dazu da ist, um auf ihr zu gehen und sich von ihr leiten zu lassen, jeden Morgen.

Zur Vesper ist das Klingen völlig anders. Solo und forte, so stark, dass es einen in die Knie zwingt und in seine Schranken weist. Jedes Mal anders, ständiger Veränderung unterworfen.

Hinter der Straße liegt ein steinernes Podest, bewacht von zwei katzenähnlichen Wesen aus schwarzem Stein. Eins der beiden hat kein Gesicht mehr. Das andere lächelt noch immer, gelassen und hübsch wie ein Mädchen. Ein kurzer Blick zum Katzenmädchen, keine Zeit für eine nähere Bekanntschaft, dann schlüpfe ich an ihr vorbei, durch die verbogenen Mettalstangen, die mich vom Wasser trennen. Ich kauere mich am oberen Ende einer Treppe zusammen, die in den Schlund des Wassers hinunterführt. Ich kann nur noch meine Gedanken leeren, als die Luft hinein und hinaus fließt wie Ebbe und Flut, wie ein paar Lungen, und der Geruch von Pfeffer mich erreicht.

Das Klingen ist wie eine Faust. Es entspannt und öffnet sich. Am Anfang ist es eine Faust, aber dann bricht es auf wie eine Blüte. Wer weiß schon, ob langsam oder schnell? Das Klingen ist jedes Mal anders, und selbst nachdem ich es Tausende Male erlebt habe, könnte ich es nicht beschreiben.

 

Auf der Südseite sind Menschen aus den Gebäuden und Häusern gekommen und haben sich in einer unordentlichen Reihe entlang des Ufers aufgestellt. Einer nach dem anderen recken sie sich in die große Ruhe der Musik. Auch ich strecke meine Arme hoch, im Einklang mit den Gelenken und Muskeln dieser fernen Fremden.

Zuerst kommt die Einfache Melodie. Wir folgen ihr in Solfège. Ein Konzert der Hände, die durch den Himmel schneiden: So Fa Mi Do Re Mi So Fa Mi Mi Re Do Do So So. Dann wird die Melodie umgekehrt wiederholt. Danach ertönt sie erneut, aber eine Oktave höher und eine zweite Stimme nimmt die umgedrehte Melodie auf und beide fließen ineinander. Die Akkorde spülen über mich hinweg. Sie reinigen und erden mich. Das Gewicht der Tonika gleitet an meinem Rückgrat in den Boden hinab.

Folge der Melodie durch ihre Variationen, durch ihren Auftakt und ihr Erblühen. Sie erzählt von Harmonie und Schönheit. Von einer Schönheit, die größer ist als wir. Meine Gedanken öffnen sich und alles, was es auf der Welt gibt, erscheint perfekt geordnet in der Musik. Für andere Gedanken bleibt kein Platz.

Die Ufer des Flusses entfalten sich. Das Vor und Zurück aller Dinge tritt hervor und zeigt sich – Stein, Mensch, Boot. Das Flusswasser verdickt sich, als wollte es gerinnen – als könnte man auf ihn hinauslaufen, über die sich kräuselnden Wellen und Wirbel.

Es ist eigentlich nicht schmerzhaft, aber es ist auch nicht ohne Schmerz. Ich habe Männer weinen sehen, sicher. Aber wer weiß schon, aus welchem Grund? Es ist so gewaltig, dass wir uns einer nach dem anderen hinkauern. Die Stirn auf den Knien, unsere Schädel dem Himmel zugewandt.

Ein Flusskiesel

Ganz am Schluss kommt wieder die Einfache Melodie. Wie eine kräftige Hand, die mich wachrüttelt.

Ich öffne die Augen, blinzele das Verschwommene und die Schmerzen weg. Der weite graue Himmel über mir ist vom Sonnenuntergang rosa eingefasst. Die Stufe, auf der ich sitze, ist bräunlich grau und Teil einer Treppe, die zu einem Fluss von derselben Farbe hinunterführt. Den Beutel mit meinen Erinnerungen habe ich zwischen meinen Knien und über meinen Schultern hängt ein schlammiger Regenmantel. Angst erfasst mich. Gewaltige Akkorde schallen klar und aufrecht durch meinen Kopf. Ich versuche, unter ihnen wegzutauchen, in die gedämpfte Unterwasserstille. Nichts. Ich warte und atme und lento kommt es zurück aus der schlammigen Tiefe. Ich bin in London. Ich bin angekommen.

Ich blicke auf meine Hände. Sie halten eine in Goldfolie und violettes Papier eingewickelte Tafel Schokolade. Sie ist geschmolzen und durch die Folie in die Falten meiner Handflächen gelaufen. Ich sehe eine Frau mit einer Pfanne in der Hand, die sie wie wild mit Stahlwolle bearbeitet. Ihr Gesicht ist grau und kalt. »Wie nennt ihr denn deine Mutter zu Hause?«, fragt sie und wendet mir den Rücken zu.

Meine Mutter. Ich suche nach ihren Umrissen. Aber alles, was ich finde, ist das Gefühl, wie sie neben mir in einem lichtdurchfluteten Raum steht, der nach Erde riecht. Sie lächelt und winkt mich mit den Fingern zu sich. Ich hebe meinen Beutel auf, spüre das Gewicht der Erinnerungen. Ich werde mich auf sie verlassen müssen. Eine ziemliche Aufgabe, denke ich. Ein Faden, dem ich folgen muss.

Die Geräusche und Gesänge der Stadt erfüllen wieder die Luft und die Ebbe setzt ein, also gehe ich auf dem betonierten Weg zurück. Den Fluss an meiner Seite und die Stadt schwer vom Gesang über mich gebeugt, spüre ich eine gewisse Ruhe. Ich werde mir zum Schlafen einen Park oder einen Hof an einem Kreuzhaus unten am Kai suchen, weit weg von den Menschenmassen. Und morgen halte ich nach einer Leerstelle Ausschau. Ich werde meinen Weg anhand der Objekterinnerungen zurückverfolgen. Ich werde nicht vergessen. Und dann spüre ich es plötzlich wieder. Die Stille erhebt sich und ruft aus der Tiefe des Flusses nach mir.

Ich schüttle den Kopf, um ihn frei zu bekommen. Nichts. Kurz aufblitzendes Nichts, wie ein leises silbernes Aufschimmern. Der Wunsch, diese silberne Stille zu finden, ergreift mich mit großer Macht. Obwohl ich keine Ahnung habe, was es ist oder was es bedeutet, gehe ich darauf zu, als würde es meinen Namen rufen. Subito renne ich. Frei von allen Gedanken; meine Erinnerungen schlagen mir gegen die Seite. Bis der Fluss hinter der abgebrochenen Kaimauer flacher wird und ich eine gigantische Brücke mit hoch in den Himmel schießenden blauen Mettalstreben erreiche und das Flussbett sehen kann.

Meine Hände in öligem Grün. Tief unten zwischen den Muscheln und Steinen und Trümmern, im Schlamm. Ich grabe so tief im Schlick, dass das Wasser die hochgeschobenen Ärmel des Regenmantels erreicht und ich fast das Gleichgewicht verliere. Fäuste voller Schlamm und Muscheln und Scherben ziehe ich herauf und halte sie unter der schlierigen Wasseroberfläche. Ich bewege die Hände hin und her, so dass die Fundstücke abgespült werden. Ich muss schlucken, spüre einen Kloß im Hals.

Die Bewegung ist Teil meines Körpergedächtnisses, so tief in meinen Muskeln verankert, dass ich dabei nicht mal denke. Ich stoße wieder in die Tiefe, bin auf unseren Feldern und grabe nach verblühten Zwiebeln. Muscheln und Steine pieken, zerkratzen mir Finger und Handflächen. Mettalstücke schieben sich unter meine Fingernägel. Ich fasse tief in die Fülle im Magen des Flusses und hole volle Fäuste zum Ausspülen an die Oberfläche. Und dann von vorn, presto, ein Rhythmus entsteht, als diente das alles einem Zweck.

Es ist als hätten meine Hände Ohren. Meine Fingerspitzen suchen und berühren schließlich etwas. Glatt, kühl. Lebendig in seiner Stille. Als würde die Stille wie Wurzeln daraus herauswachsen. Ich greife zu.

Als ich die Hände herausziehe, kommt ein dreckiger, sandiger Klumpen zum Vorschein. Das Ding, was immer es ist, strahlt ein pulsierendes, milchiges Licht aus und eine seltsame, alles beruhigende Stille. Ich wische es am Mantel ab, spucke drauf, wische es noch mal ab und halte es hoch ins schwindende Tageslicht. Ein faustgroßer Klumpen silbernes Mettal. Völlig verformt, als wäre es von einer gewaltigen Hitze geknetet worden.

Ich stehe da, mein Herzschlag verlangsamt sich und ich spüre, wie die Stille in mich eindringt und mit ihr so etwas wie Frieden. Dann höre ich ein lautes Platschen und zucke zusammen. Etwa dreißig Zentimeter neben mir breiten sich im öligen Wasser kreisförmige Wellen aus. Ich gehe einen Schritt vorwärts, etwas fliegt an meinem Kopf vorbei und landet dumpf neben mir im Dreck. Ich bücke mich, um es mir anzusehen – es ist hart wie ein Backstein, glitschig vom graubraunen Schlamm. Dann explodiert die Welt in Sterne.

 

Überall Schmerzen. Schmerzen wie Finsternis. Sterne in der Finsternis, die von roten Adern durchzogen ist. Sie leckt seitlich über meinen Kopf und lässt mich dann endlich still im Wasser liegen. Tacet dunkel, verwässertes Licht, und mein Kopf schwebt ruhig zwischen Ufer und Himmel, zwischen Wasser und Luft. Alte Chiffren flackern herunter: . Was immer diese Buchstaben bedeuten mögen, und was ist das? Hoch aufgestapelte Backsteine, die sich weit in das strecken, was vom Himmel übrig ist. Flackernde alte Buchstaben, in die Höhe ragende alte Backsteine, und meine umgekippten Gedanken gehen unwillkürlich auf Wanderschaft, ein Liedfetzen, zu tief vergraben, zu spät wieder freigelegt. Mit Worten, die zur Melodie passen. In den Tagen vor dem Sturm, höre ich gegen meinen Willen zu spät, sieben Raben hoch im Turm.

Und subito bin ich bei meiner Mutter. Wir stehen in einem Treibhaus. Sie singt mir das Lied vor und ich singe die Töne nach.

In den Tagen vor dem Sturm,

sieben Raben hoch im Turm.

Stutzen sie des Raben Schwingen,

fängt der Vogel an zu singen.

Wenn sie des Raben Schnabel brechen,

fängt der Vogel an zu sprechen.

Wenn das Klingen vom Himmel ruft,

steigen die Vögel in die Luft.

Gwillum, Huginn, Cedric, Thor,

Odin, Hardy, ihre Spur sich verlor.

Am liebsten würde ich weiter der dunklen, melodiösen Stimme meiner Mutter lauschen, aber sie besteht darauf, dass ich ihr nachsinge, weil es sehr wichtig ist. Die Töne werden tiefer, tiefer, tiefer.

Den Kopf im Fluss sinke ich mit dem Lied immer weiter in die kühle Dunkelheit, wo der Schlamm meine Augen überdecken und meinen Mund verstopfen wird und –

 

Ein Ruck.

Eine Ohrfeige.

Ich werde geschüttelt, spucke Wasser aus, schnappe nach Luft. Grobe Hände rollen und ziehen mich, ich bin auf dem Trockenen und blinzle im Licht.

Vor mir stehen zwei Beine in abgerissenen Jeans. Dann taucht ein Gesicht vor mir auf. Ein verächtliches Grinsen. Braune, verfilzte Haare. Wut, die emporsteigt, wie Gestank. Ein stämmiger Junge im Leerlingsalter, mit vielleicht fünfzehn bis achtzehn Wintern auf dem Buckel.

»Was bei Gott denkst du dir dabei, in unserem Gebiet zu angeln?«

Bevor ich mich rühren kann, lässt der Leerling sich mit seinem ganzen Gewicht auf meine Brust fallen und fixiert meine Schultern mit den Knien.

Der silberne Klumpen.

Etwas in mir kämpft darum, ihn zu behalten. Ich greife ihn fester und versuche, mich wegzudrehen, aber der Junge ist zu schwer.

»Was hast du da, du Arschloch?«

Seine schlammbeschmierten Hände greifen nach meinen, ziehen einen Finger nach dem anderen hoch; dann reißt er mir den Klumpen aus der Hand und mir bleibt nur eine Handvoll Themseschlamm.

Mit einem eigenartigen Blick hält er ihn in das schwindende Licht. Das Mettal hat ihm Mut gemacht. Er verlagert sein Gewicht auf meinen Schultern.

»Das hier ist unser Revier.« Das Gewicht drückt stärker; sein Gesicht kommt näher. »Weißt du, was wir mit Flussratten machen, die in unserm Revier rumlungern?«

An seinem Hemd ist kein Gildeabzeichen. Er ist überhaupt kein Leerling. Das ist merkwürdig. Keine Gilde heißt keine Arbeit; keine Arbeit heißt kein Körpergedächtnis; kein Körpergedächtnis und man ist schon so gut wie erinnerungslos. Doch sein Blick ist scharf, seine Bewegungen geschmeidig und sicher.

Dann höre ich von hinten eine zweite Stimme. »Lass ihn, Brennan.«

Sie ist kühl und klar, eine Stimme wie das Ende vom Klingen, wenn die Schmerzen verschwinden und nur noch die Töne in der Luft hängen.

Der Junge namens Brennan gibt meine Schultern frei und verlagert sein Gewicht lento auf die Fersen. Ich komme in die Hocke, so dass ich wegrennen kann, wenn’s sein muss. Die Bedrohung noch immer im Nacken.

 

Aber ich kann nicht rennen.

Zum einen hat Brennan meinen Beutel. Er hat meine Erinnerungen. Und zum anderen will ich sehen, wem die zweite Stimme gehört. So kühl und silbrig wie die letzten Töne des Klingens.

Er steht einige Schritte vom Ufer entfernt. Er ist schlank und groß und blass, trägt zu große grüne Hosen aus grobem Tuch und kein Hemd. Seine Hosen werden von einem dicken Lederriemen zusammengehalten. Seine Schultern sind breit und knochig, seine lockigen Haare strahlen.

Aber das alles spielt keine Rolle. Ich kann nicht anders, als seine Augen anzustarren. Sie sind so blass, dass er fast blind sein muss, in jedem eine stecknadelgroße schwarze Pupille inmitten von milchigem Weiß. Mit diesen seltsamen blinden Augen sieht er mich direkt an. Er kommt auf mich zu, und als er in meiner Nähe ist, bleibt er stehen und streckt die Hand aus. Die Geste wirkt wie die Parodie einer Vorstellung und ich will ihm nicht den Gefallen tun und darauf eingehen. Eine Weile steht er so da; dann zuckt sein Mundwinkel hoch.

»Nimm’s Brennan nicht übel«, sagt er. »Er verteidigt nur unser Revier.«

Sie bringen mich zu einem Lagerhaus in einer Gegend, die sie »West India Key« nennen. In der Mitte des Raums steht ein Fass, in dessen Bauch ein Feuer glüht. In den hölzernen Fußboden ist ein Loch geschnitten und das Fass hineingesetzt worden; von außen sind Steine aus dem Fluss aufgeschüttet, damit die Wärme drinbleibt. Ein großer, schwarzer, verbeulter Teekessel hängt an einem Draht über der Fassöffnung.

Es ist noch einer von ihnen dort, still wie ein verängstigtes Kaninchen steht er im Licht des Ofens. Sie nennen ihn Abel und der Anführer legt ihm im Vorbeigehen einigermaßen freundschaftlich die Hand an den Hinterkopf. Er hat die eine oder andere Pflanzzeit weniger auf dem Buckel als ich. Eine schmale Narbe verläuft außen an seiner Wange entlang und endet kurz über der Halsschlagader. Was immer da passiert ist, muss ziemlich knapp gewesen sein.

Im Lagerhaus ist es warm. Auf einer Seite sind Hängematten an den Dachbalken befestigt. Erschöpft gleite ich durch die Wärme, meinen Mantel und meinen Beutel lasse ich nicht aus den Augen. Ich wickele mir die Lederriemen um die Hände und ziehe sie fest, damit sich das Blut staut und der Schmerz mich wachhält. Der, den sie Brennan nennen, bemerkt es, schaut aber gleich wieder ins Feuer.

Die Pupillen des Anführers vergrößern sich hier drinnen, als könnte er im Halbdunkel des Lagerhauses besser sehen. Er sitzt zum Teil innerhalb und zum Teil außerhalb des schmalen Lichtkreises. Dann bricht er das Schweigen.

»Also, was bringt einen einsamen Bauernjungen dazu, in London zu schürfen?«

Ich sage nichts.

»Hast du auf dem Markt deine Eltern verloren?«

Dann spricht der Kleine, der Abel heißt, piano: »Vielleicht lassen wir ihn einfach mal zur Ruhe kommen, Lucien?«, sagt er. »Er sieht halb ersoffen aus.«

»Am Ufer hatten wir Mitleid mit ihm. Wir haben ihm Abendessen gemacht. Wir waren alles in allem sehr gastfreundlich. Aber weißt du, Abel, wir können uns keinen Hausgast leisten.« Lucien wirft mir einen Blick zu und seine Mundwinkel zucken wieder, als wäre das ein spezieller Insiderwitz zwischen uns beiden.

»Er hatte Glück heute, so über die Lady zu stolpern. Aber seht ihn euch an – nichts weiter als noch so ein Schlammwühler. Kennt sich wahrscheinlich nicht mal mit den Grundlagen aus. Ich wette, in einem dunklen Raum kann er seine Nase nicht von seinem Arsch unterscheiden.«

Ich bin wütend, und genau das war seine Absicht.

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sage ich langsam und kühl. Ich halte mich zurück.

Er fixiert mich und wieder sehe ich, wie merkwürdig seine Augen sind – fast weiß, mit dieser leuchtenden, scharfen Pupille. Etwas Wildes und Helles liegt in diesen Augen, dass meine Nackenhaare sich aufstellen.

»Du hattest also keine Ahnung, worum du dort unten gekämpft hast? Du wolltest bloß nicht, dass jemand anders es kriegt. Stimmt das?« Er kommt näher, und mit ihm ein Geruch nach Holzfeuer. Den silbernen Klumpen hält er in der Hand. »Ich fürchte, wir müssen uns alle davon trennen, früher oder später«, sagt er.

Ich betrachte den Klumpen auf seiner Handfläche, blasses Silber und diese seltsame, umfassende Stille.

»Was ist das?«

»Du solltest zur Mette besser aufpassen«, erwidert er. »Das hier ist das Mettal im Fluss. Das aus der Asche des Missklangs entstand. Und dafür bezahlen sie uns.« Er schließt die Hand um das Mettal.

»Das verstehe ich nicht.«

»Das musst du auch nicht verstehen, Bauernjunge.«

»Wofür soll das sein?«, frage ich. »Wer kauft es euch ab?«

Er sieht mich an, als wäre er Fragen nicht gewöhnt. Sein Gesichtsausdruck hat sich verändert und er spricht auf einmal lento. »Was braucht man, um Harmonie zu erzeugen? Einen Leiter. Und für die größte aller Harmonien? Einen Supraleiter – die Lady Pale.« Er verzieht den Mund, als wäre das noch ein Witz, den ich nicht verstehe.

»Natürlich will es die Ordnung und die Ordnung bezahlt. Wir schürfen im Fluss danach und die Ordnung kauft es. Die Lady wird für den Bau des Carillons gebraucht«, erklärt er. Und sieht mich an. Ansehen stimmt nicht ganz. Eher Lauschen. Das Gehör ganz auf meinen Herzschlag und meinen Atem gerichtet.

Die Lady wird für den Bau des Carillons gebraucht. Komisch, aber beim Klingen denke ich nie an das Instrument. Daran, woher die Töne kommen – was da spielt. Nur an die Musik, die herausbricht, bis alle Teile sich zu einem Ganzen vermischen. Keine Pfeifen oder Glocken, sondern des Himmels ureigenes Orkester. Ein von Vorhängen verdeckter Himmel, die von den Akkorden immer weiter zurückgezogen werden, bis alles freigelegt ist, rein und bloß.

Im Lagerhaus ist es eine Weile tacet. Bis Lucien weiterspricht. »Was ist dein Instrument?«, will er wissen. Brennan zieht eine Augenbraue hoch. Die Frage überrascht ihn.

»Blockflöte.«

Brennan kichert. Lucien hebt die Hand und bringt ihn zum Schweigen.

»Dann hol sie bitte.«

Die Flammen flackern und die von den Dachbalken hängenden Lampen schaukeln in dem Wind, der vom Fluss hereinzieht. Sie werfen lange Schatten an die Holzwände. Die zwei Jungs namens Abel und Brennan gehen zu ihren Hängematten. Brennan kommt mit einer runden, flachen Tambor zurück, etwa zwei Handspannen groß. Abel mit einer Viole.

Ich greife in meinen Beutel. Ein Moment der Panik, aber das Etui ist noch da und unbeschädigt. Ich öffne die kleinen Messingschnallen. Innen ist der Lederkoffer mit blauem Samt ausgekleidet, das jeden Teil der Flöte fest umschließt. Das Kastanienholz, den Schnabel mit der Elfenbeinspitze. Im Koffer wirkt sie kalt und abwesend, aber sobald ich sie herausnehme, fühlt sie sich leicht, warm und lebendig an. Ohne Nachdenken rutschen meine Hände in die richtige Position, jeder Finger auf sein Loch.

Ich trete in den Kreis und Lucien dreht sich zu mir um.

»Versuch mitzuhalten«, sagt er.

Ohne Begleitung beginnt er zu singen.

Er singt und die Zeit steht still, als würde er über Wasser gehen. Seine Stimme ist rein und wahrhaftig, man hört den weiten, leeren Himmel und helle Salzkristalle.

Die ersten Töne der Melodie sind fröhlich und trällernd. Die Worte sagen nicht viel aus, aber ich verstehe die Bedeutung der Melodie. Es geht darum, wenn Unschuld eigentlich Blindheit ist. Und dass, wenn man etwas unbedingt will, so sehr, dass man es schmecken kann, der Verstand einem vormacht, es sei erreichbar.

Das ist der fröhliche, trällernde, lustige Teil. Aber dann kommt das zweite Thema und das ist schmerzvoll. Es handelt von falscher Schönheit, die man trotz allem begehrt, aber noch immer nicht haben kann.

Lucien singt wieder das erste Thema ohne Worte oder Handzeichen, nur sich windende und verändernde Klänge. Dann kommt Brennan, sanft, mit seiner Trommel dazu. Er spielt einen Viervierteltakt. Dann weitet er ihn aus und legt Muster darunter, bis er dieselbe Geschichte erzählt. Aber die Tambor-Stimme hat einen unerbittlichen Unterton: Warnung vor Verlust und Strafe. Dann setzt Abel mit einer weiteren Stimme auf der Viole ein. Sie sucht Streit mit Luciens Stimme. Eine schnelle Abfolge schlagfertiger Triolen, die Luciens Klagen mit Schelte, Gepolter und Hohn überziehen.

Ich höre zu. Ich höre zu, bis die flackernden Wände des Lagerhauses verschwimmen und die drei neuen Gestalten mit ihren konzentrierten Gesichtern und Bewegungen für mich unsichtbar werden. Abel und Lucien und Brennan verschwinden und ich sehe nur noch, wie die Melodie sich entfaltet und die Musik voranschreitet.

In ihrer Mitte allerdings fehlt etwas. Dort wartet etwas. Ich kann es spüren und es wird mit jedem Augenblick stärker. Vielleicht kommt es von den dreien, die mich zwar nicht ansehen, aber dennoch beobachten. Aber noch mehr geht es von der Musik selbst aus. Eine ganze Stimme fehlt. Das Lied hat drei Teile: eine Sehnsucht, eine Warnung und ein dringliches Schelten. Aber nirgends ist die Stimme des Schönen, das darauf wartet, gefunden zu werden. Das, wonach alle suchen.

Ich nehme meine Flöte und fange an, auch wenn ich nicht weiß, wie ich die fehlende Stimme spielen soll. Nachdem ich mein ganzes Gefühl in den ersten Teil der Melodie gelegt habe, weiß ich es immer noch nicht, aber da ist es schon zu spät, also spiele ich sie einfach. Ich spiele sie hoch und unbekümmert und frei, so dass sie über allen anderen fliegt. Ich lege ein wenig von der Wut hinein, die ich spüre, und dann noch ein bisschen mehr. Ich spiele eine Stimme, die nie etwas anderes gekannt hat als Glück und Schönheit. Ich weiß nicht, woher sie kommt, nur, dass sie gefehlt hat.

Die Melodie geht immer weiter. Lucien führt das Lied in eine Richtung und dann in eine andere. Er ändert die Tonart, macht einen Scherz, schlägt einen neuen Rhythmus an. Nach einer Weile höre ich, dass die Viole ausgestiegen ist. Dann verstummt die Trommel und ich höre nur noch Luciens Stimme und meine Flöte. Ich folge ihm. Als würde ich in der Dunkelheit rennen und rennen, ohne hinunterzuschauen. Dunkelheit umströmt mich, berauschend. Eine Zeit lang renne ich und es kommt mir vor, als folgte ich ganz dicht dem blassen, hellen Lichtschein, der von Luciens Stimme ausgeht. Ein Rennen, das eher einem Fallen gleicht. Mir ist mulmig.

Subito erhasche ich einen Blick in eine seltsame neue Welt. Nicht die engen, lichtgesprenkelten Holzwände des Lagerhauses, sondern ein riesiges, beleuchtetes Labyrinth, wie ein Spinnennetz. Und in dem Moment sehe ich Lucien vor mir rennen, lachend in seiner Meisterschaft. Seine Stimme erhellt das Labyrinth. Oder erschafft sie das Labyrinth überhaupt erst?

Ich höre auf, atemlos, und die schweren Holzwände sind wieder da und ich sehe Lucien, wie er mich durch die Flammen hindurch anschaut. Er zeichnet einen Kreis in die Luft, noch immer singend. Dann wird er langsamer, seine Stimme piano und er singt die erste Strophe zu Ende. Ich stehe da.

Durch das Feuer sehe ich Brennan und Abel. Sie halten ihre Instrumente still und lauschen.

Ich blase Luft durch meine Flöte, halte sie in beiden Händen und warte. Müde, als wäre ich eine lange Strecke gerannt. Für Prüfungen habe ich nicht viel übrig. Aber das Feuer ihrer Musik strömt durch meine Arme und Brust und wärmt mich. Abel setzt sich wieder an den Ofen. Er spuckt auf ein Stück Stoff, wischt unter dem Griffbrett seiner Viole den Staub vom Kolophonium weg und sieht mich nachdenklich von der Seite an. Ich beobachte seine umsichtigen Bewegungen. Woher kam die durchtriebene, trockene Schlagfertigkeit in seinem Spiel? Er blickt zu Brennan hinüber und ich sehe, wie sie sich anschauen. Stillschweigende Übereinkunft liegt in ihrem Blick.

»Aha«, sagt Lucien. »Verstehe.«

Dann lächelt er bedeutsam. Und wie im Tausch gegen das weggenommene Mettal, greift er in seine Tasche und wirft mir etwas zu, was ich auffange. Ich öffne meine Hand. In meiner Handfläche liegt ein kleiner Flusskiesel, trocken und matt.

»Nicht schlecht für einen Bauernjungen«, stellt er fest. »Was ein Glück für dich ist. Und für uns auch, nehme ich an.«

Lucien bedeutet Brennan, sich hinzusetzen, dann setzt er sich auch und das Feuer lässt goldene Formen über sein Gesicht und über die seltsam blassen Augen wandern. Er dehnt seine Schultern und überkreuzt seine langen Beine und dann teilt er mir mit einem Schulterzucken mit, dass am Feuer noch Platz für mich ist.

»Morgen zeigen wir dir, wie man im Untergrund rennt«, verkündet er.

Erinnerungslos

Dreizehn Monate später

Mette

Ich wache auf und hänge. Hoch über mir die Balken eines hölzernen Dachstuhls, der mit altem Öl und Rauch überzogen ist. Das Licht leuchtet schwach grau und verschwommen, und ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, wo ich bin. Panik steigt in mir auf und flattert gegen meine Rippen, wie ein Vogel im Käfig. Ich suche in diesem Grau nach einem Hinweis darauf, was ich hier mache. Nach etwas, was in den Tiefen des Schlafs, aus denen ich gerade aufgetaucht bin, verloren gegangen ist. Ich suche nach einem Wort oder Grund für meine unerklärliche Traurigkeit. Ich warte und schaukle und schließlich taucht aus der brackigen Dunkelheit eine Antwort auf. Keine Ahnung, ob es die ist, nach der ich gesucht habe, aber sie treibt nach oben und erleichtert mich irgendwie. Ihr Klang ist der Klang des Morgens. Hör zu, sagt sie. Du bist zu Hause.

Die Kälte hallt trocken und scharf durch den Raum. Das ist das Erste. Bis hinunter zum Boden, sodass sich die Entfernungen ausdehnen. Dann kommt die Lagerhalle dazu – vier stabile, nackte Wände, wie ein Rhythmus zum Marschieren. Ich lausche nach den anderen. Ich lausche nach ihren unterschiedlichen Geräuschen, ihren Rhythmen. Clares knappe Schritte, ihr ungeduldiges Hin und Her. Brennan tritt fester auf. Abel leicht und unsicher, als wollte jeder Schritt seine Meinung ändern. Lucien? Noch nicht.

Als Nächstes versuche ich, das Wasser draußen hinter dem Lagerhaus zu hören. Die Bootsleute aus Richmond sind schon auf dem Weg flussabwärts zum Markt. Sie singen die Sichtlinien des Flusses und den Takt der Gezeiten flussauf- und abwärts. Ihre Melodien folgen jeder Uferbiegung, wenn man genau hinhört, kann man es fast sehen. Leise, wortlose Stimmen im Halbgesang der Navigation, ein La la leia la, fast wie der Klang des Flusses selbst. Darüber und dazwischen kringeln sich verschiedene Nachrichten von den kleinen Schonern und Kähnen. Diese Lieder haben Texte, die manchmal listig gegen die Bedeutung der Melodie arbeiten. In Leaside ist ein Damm gebrochen. In Hammersmith hat eine Polizzei-Barkasse angelegt, um nach Schmuggelware zu suchen. Auf der Columbia Road gibt es Mohnblumen zu kaufen. Am Lambeth Way ist ein Mädchen von einem Boot verschwunden.

Schließlich schlage ich die Decken zurück und schwinge die Beine über den Rand der Hängematte. Dabei fällt etwas klackernd zu Boden. Ich hebe es auf. Ein Flusskiesel, trocken und sandig – eine Erinnerung, in die ich mich gestern Abend versenkt haben muss. Was immer darin versteckt sein mag, es schweigt, und ich lege den Kiesel presto zurück in meinen Beutel. Körpergedächtnis schlägt Objektgedächtnis und mein Körpergedächtnis sagt: Geh zu den anderen. Es sagt: Iss, töne mit den anderen, geh runter zum Fluss. Es sagt: Der Abend ist zum Erinnern da. Und von der Seite sagt es: Vorher ist Blasphonie.

Ich heiße Simon, glaube ich. Ich wohne im Lagerhaus auf Dog Isle, in London. Ich gehöre zum Pakt von Five Rover.

Ich schiebe die Vorhänge zur Seite und trete in den Tag hinaus.

Im Lagerhaus glüht die Kohle im Ofen, die anderen Paktmitglieder sind auch da und meine Stimmung hellt sich auf. Abel schürt das Feuer. Clare schneidet am Arbeitstisch Brot. Brennan steht in seiner Ecke und streckt sich. Wenn man richtig hinhört, hat das Ganze seinen eigenen Rhythmus. Abel holt die Dose und löffelt Teeblätter ins Wasser. Clare gießt Milch in einen Kupferkessel, gibt Honig und Muskat dazu. Brennan spießt Brot auf Bratspieße. Wir setzen uns im Kreis um den Ofen, jeder mit einem Spieß, und trinken Tee mit süßer, gewürzter Milch. Dank dem Körpergedächtnis finden wir unseren Platz. Keiner spricht am Morgen, solange wir uns nicht so weit gesammelt haben, dass wir wissen, wer wir sind und was wir hier machen. Nicht bevor Die Geschichte erklungen ist.

Wenn man hinhört, kann man jetzt draußen auf den Straßen gleichmäßige Schritte vernehmen. Schnell, eilig. Menschen auf dem Weg zu Kreuzhäusern, Wiesen, öffentlichen Plätzen, wo sie zusammenkommen, um Die Geschichte ensemble im Freien zu hören und zu tönen, Trost suchend in der Gemeinschaft. Wir, der Themsepakt des Reviers von Green Witch bis Five Rover, versammeln uns mit Tassen voll süßem Tee um den Ofen, unsere Stimmen mäandern vor Müdigkeit trübe vor sich hin, Lucien leitet uns an. Jeden Morgen das Gleiche. Beim Knacken und Knistern des Feuers, mit süßem Tee, neben uns der langsam vorbeiströmende Fluss und darunter der Untergrund, der bereits nach uns ruft.

Dann höre ich Lucien, noch bevor ich ihn sehe. Die langen Schritte vom Balkon. Er kommt herein und zuerst ist es schwer, ihn anzusehen. Wenn man aus dem Dunkeln ins Helle kommt, ist es genauso, oder? Zuerst sehe ich sein Profil, dann den zackigen Schwung seiner Arme. Er reicht mir den Kessel, ich nehme ihn und hänge ihn an seinen Haken über dem Draht, der im Maul des Ofens sitzt.

Dann erzittert die Luft, wie immer kurz vor dem Klingen. Ein Ruck oder Stoß, wie ein Räuspern vor einer wichtigen Bekanntmachung. Eine Frage taucht auf, steigt empor in meinem trüben, schläfrigen Kopf. Vielleicht ist es meine Stimme, vielleicht auch nicht. Die Ankunft in London, fragt sie. Wie war das? Ich schaue zur Seite, als könnte da jemand sitzen, der mir sagen kann, woher die Frage kommt, was sie bedeutet. Aber jetzt ist keine Zeit zum Grübeln, denn in der Mitte des Raums hebt Lucien seine Arme und die ersten Töne des Carillons erklingen. Die Geschichte beginnt.

 

Freude durchzuckt mich, heftig und strahlend. Ich öffne meinen Geist und lasse die Musik und die Worte fließen. Der Rhythmus ist so vertraut wie das Atmen. Die Akkorde klar und voller Schönheit. Lucien macht die Handzeichen in Solfège dazu, schreibt für uns mit, sodass wir es sehen und gleichzeitig hören. So funktioniert es. Do Mi La.

Was geschieht in der Zeit des Missklangs?, fragt die Musik.

 

Und wir singen die richtige Antwort:

»Zur Zeit des Missklangs kein Geräusch ist Harmonie.

Keiner seine Stimme kennt,

Doch jeder will die Melodie.«

In Der Geschichte ist es, als ob es immer noch passiert. Immer hier und immer die Melodie erzählend. Jeder Teil ist nur eine Sequenz der größeren Melodie. Aber auch das wird uns gelehrt: Ein Teil ist das Ganze und das Ganze ist ein Teil. In meinen Ohren ist Die Geschichte ein Kreis, der das Ende mit dem Anfang verbindet. Kein Vorher und kein Nachher. Wenn man an einer Stelle anfängt, kommt man früher oder später an der anderen Seite wieder hoch.

»Die Zeit des Missklangs kennt keine Partitur.

Musik ohne Inhalt

Klopft an die Tür.«

Wie wird die Harmonie verdorben?, fragt das Carillon.

»Zur Zeit des Missklangs wird nur das Wort verehrt.

Gierig ist die Sprache.

Gierig ist das Schwert.

 

Zur Zeit des Missklangs wird nur Rede anerkannt.

Diabolus in musica.

Lasst den Klang tun, was er kann.«

Was geschieht in den Städten?, fragt das Carillon.

»Klang wird zur Waffe, Klang wird unerhört,

Klang wird zu Schrei,

Alle Städte sind zerstört.«

Die Antwort ist hart und unerbittlich. Auf dem Höhepunkt des Missklangs, während des Großen Bruchs, wurde der Klang zur Waffe. In der Stadt sprang das Glas aus den Rahmen, weiß gesplittert schälte es sich von den Fenstern. Die Gebäude wackelten und stürzten ein. Das Mettal war verbogen und verstimmt. Das Wasser im Fluss stand wie eine einzige Welle, die niemals brach. Was geschah mit den Menschen? Sie wurden blind und taub gemacht. Sie starben. Die Brücke zwischen Bankside und Paul’s zitterte und schwankte, heißt es. Die Menschen rannten, aber nie schnell genug. Nach dem Großen Bruch blieben nur die übrig, deren Herzen und Gehör rein waren. Sie lebten in den Städten. Sie warteten auf Ordnung; auf eine neue Harmonie.

Die Worte sind einfach, denn Worten kann man nicht trauen. Die Bedeutung liegt jetzt in der Musik. Niemand wird ausgelassen. Selbst wir, die wir die Überreste der Lady im Untergrund plündern.

»Mettal im Fluss, aus des Bruches Kampf.

Ruhe und Trost,

Hell und sanft.«

Die Töne perlen mir von der Zunge, so wie jedes Mal. Wiederhole das Ganze forte, immer und immer und immer wieder, bis es noch tiefer verankert ist als im Körpergedächtnis. Dadurch kommt man zur Ruhe. Die zermürbenden Sorgen beim morgendlichen Erwachen, das Verschwommene und Angestrengte, das alles fällt von mir ab.

»Aus des Missklangs Asche Harmonie entspringt.

Ordnung des Carillons.

Himmelsmusik erklingt.«

Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht, aber manchmal versuche ich, mir Die Geschichte als eine Linie vorzustellen, die an einer Stelle beginnt und zu einer anderen führt. Aber es gelingt mir nicht. Nie. Ich glaube, es ist Blasphonie, das zu versuchen. Stattdessen bewegt sie sich um ihren Kreis und durch ihre Veränderungen und jeder Moment geschieht jederzeit – das Glas schwebt, die Brücke zittert, die Menschen rennen.

Der Missklang ist unter uns, selbst in der Harmonie der Ordnung. Man kann die eingestürzten Gebäude sehen, wenn man zum anderen Flussufer hinüberschaut. Die Brücke zwischen Bankside und Paul’s zittert und schwankt. Die Menschen rennen, aber nie schnell genug. Jetzt gibt es keine Brücke zwischen Bankside und Paul’s mehr, aber auf den Straßen und Märkten singen die Kinder die alte Vorhersage, als würde es immer noch passieren, als würde es zu jeder Zeit passieren. London Bridge is falling down, falling down, falling down. London Bridge is falling down, my fair Lady.

Zur Prime ziehen wir uns an, um in den Untergrund zu gehen. Zuerst lange Wollunterhosen, darüber Jeans. An den Füßen noch eine Lage Wolle, die das Wasser aufsaugt und uns warm hält. Darüber ziehe ich Poly-Überschuhe, dann Gamaschen. Brennan wickelt Haftfolie um seine Füße, Gamaschen drüber. Meint, das würde das Wasser besser abhalten, da hab ich allerdings meine Zweifel.

Wir packen Streichhölzer ein, Feldflaschen mit Trinkwasser, einen Stapel Haferkekse in Wachspapier, ein paar Streifen getrocknetes Kaninchenfleisch.

In einer Reihe treten wir aus dem Lagerhaus. Gleich gekleidet, unsere Gesichter blass wie die Morgendämmerung. Draußen auf der Brache ist alles ruhig. Die flachen Podeste aus zerborstenem Beton reichen bis runter zu den zwei zerstörten Kränen, die den Eingang bewachen. Das Wasser fließt wie ein schmaler Zufluss direkt dort entlang und trennt unsere Seite des Docks fast wie eine Insel von der Stadt ab. Mettalstreben, die mal zu einer Brücke gehört haben müssen, verstimmt und zu merkwürdigen Formen verbogen.

Der Himmel ist weiß und unbewegt. Wir gehen an den alten Kränen vorbei und von dort rennen wir, machen Tempo und nehmen auf der Liver-Street-Treppe drei Stufen auf einmal.

Ich atme den vom Fluss verströmten Geruch nach abgestandenem Tee ein und erspähe die vertrauten Umrisse der Ufersammler, die wie Störche auf geraden Beinen mit gebeugtem Rücken und zuckenden Wünschelruten das Ufer absuchen. Sie sind wie Blinde, die einem Gerücht folgen vom Flüstern und der seltenen Großzügigkeit der Lady – der Andeutung eines im Themseschlamm zurückgebliebenen Bruchstücks.

In Der Geschichte erfährt man nicht viel über die Lady Pale.

Als die Waffe des Missklangs zerstört wurde – und die meisten sagen, das war in der Narbe, draußen hinter Batter Sea –, fanden sie in den Überresten das Palladium: Lady Pale. Die Lady wurde von der Explosion weit davongetragen und ließ sich, wenn man so will, im Fluss nieder. Und dort schürfen wir nach ihr. Weil das Carillon aus Palladium gemacht wird. Zu hundert Prozent. Superrein. Aus des Missklangs Asche Harmonie entspringt.

Die Geschichte verschweigt, dass die Lady zur Zeit des Missklangs auch für andere Dinge verwendet wurde. Die weniger reinen Stücke sind ganz schön rumgekommen. Kleine Tropfen kann man auf Geheimplatten finden und in vielen kleinen, stummen Elektricks. Fleet, einer der westlicheren Pakte, hat die alten Autofriedhöfe unter seiner Fuchtel. Die haben zwar keine Chance, an die reine Form ranzukommen, aber in den Leitungen ist eine Menge versteckt. So zu schürfen ist natürlich schmutzig. Man braucht Königswasser und Geduld.