Der klassische Adventskalender -  - E-Book
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Beschreibung

Der Bestseller zum Advent - das ideale Geschenk für die schönste Zeit des Jahres Wenn das Weihnachtsfest naht, zählen nicht nur die Kinder die Tage. Für alle, denen der Sinn nicht jeden Tag nach einem Stück Schokolade hinter einem Papptürchen steht, ist »Der klassische Adventskalender« die ideale Lektüre: 24 kleine Geschichten großer Autorinnen und Autoren erzählen von ganz unterschiedlichen Winterferien und Weihnachtsabenden in London, Lübeck und am Nordpol.

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Seitenzahl: 172

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Mit Texten von Selma Lagerlöf, Thomas Mann, Kurt Tucholsky und vielen anderen.

Der klassische Adventskalender

24 Geschichten bis zum Fest

Anthologie

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ob auf dem Zauberberg, im Berlin der Zwanzigerjahre oder in einer skandinavischen Nacht – zur Weihnachtszeit wimmelt es von Geschichten. Sie handeln von Geschenken und Weihnachtsbäumen, von Schnee und von Glück. Und über allem liegt die erwartungsvolle Spannung, die wir aus Kindertagen kennen. 24 kleine Geschichten großer Autorinnen und Autoren erzählen von ganz unterschiedlichen Winterferien und Weihnachtsabenden – vom Trubel der Vorbereitung bis zum frohen Fest.

 

Mit Texten von Selma Lagerlöf, Thomas Mann, Kurt Tucholsky und vielen anderen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

1. Kapitel

Thomas Mann – Weihnachten auf dem Zauberberg

2. Kapitel

Wilhelm Müller – Der stürmische Morgen

3. Kapitel

Walter Benjamin – Wintermorgen

4. Kapitel

Adalbert Stifter – Als der Winter hereinbrach

5. Kapitel

Annette von Droste-Hülshoff – Am Weiher

6. Kapitel

Joachim Ringelnatz – Draußen schneit’s

7. Kapitel

Kurt Tucholsky – Gefühle nach dem Kalender

8. Kapitel

Rainer Maria Rilke – Advent

9. Kapitel

Hans Christian Andersen – Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern

10. Kapitel

Gottfried Keller – Weihnachtsmarkt

11. Kapitel

Theodor Fontane – Alles still!

12. Kapitel

Joachim Ringelnatz – Stille Winterstraße

13. Kapitel

Hans Fallada – Lüttenweihnachten

14. Kapitel

Marie von Ebner-Eschenbach – Das Weihnachtsfest war nahe

15. Kapitel

O. Henry – Das Weihnachtsgeschenk

16. Kapitel

Kurt Tucholsky – Großstadt-Weihnachten

17. Kapitel

Selma Lageröf – Das Feuer in der dunklen Nacht

18. Kapitel

Hans Christian Andersen – Der Tannenbaum

19. Kapitel

Sophie Reinheimer – Der Schnee

20. Kapitel

Peter Rosegger – Als ich Christtagsfreude holen ging

21. Kapitel

Theodor Storm – Unter dem Tannenbaum

22. Kapitel

Jeremias Gotthelf – Merkwürdige Reden, gehört zu Krebsligen zwischen zwölf und ein Uhr in der Heiligen Nacht

23. Kapitel

Thomas Mann – Weihnachten bei den Buddenbrooks

24. Kapitel

Lukas – Die Weihnachtsgeschichte

Anhang

Nachweise

1

Thomas Mann

Weihnachten auf dem Zauberberg

Im Speisesaal, an den sieben Tischen, beherrschte der Anbruch des Winters, der großen Jahreszeit dieser Gegenden, das Gespräch. Viele Touristen und Sportsleute, hieß es, seien eingetroffen und bevölkerten die Hotels von »Dorf« und »Platz«. Man schätzte die Höhe des geworfenen Schnees auf sechzig Zentimeter, und seine Beschaffenheit sei ideal im Sinne des Skiläufers. An der Bobbahn, die drüben am nordwestlichen Hange von der Schatzalp zu Tal führte, werde eifrig gearbeitet, schon in den nächsten Tagen könne sie eröffnet werden, vorausgesetzt, daß nicht der Föhn einen Strich durch die Rechnung mache. Man freute sich auf das Treiben der Gesunden, der Gäste von unten, das nun sich hier wieder entwickeln werde, auf die Sportsfeste und Rennen, denen man auch gegen Verbot beizuwohnen gedachte, indem man die Liegekur schwänzte und entwischte. Es gab etwas Neues, hörte Hans Castorp, eine Erfindung aus Norden, das Skikjöring, ein Rennen, wobei sich die Teilnehmer auf Skiern stehend von Pferden ziehen lassen würden. Dazu wollte man entwischen. – Auch von Weihnachten war die Rede.

Von Weihnachten! Nein, daran hatte Hans Castorp noch nicht gedacht. Er hatte leicht sagen und schreiben können, daß er kraft ärztlichen Befundes mit Joachim den Winter hier werde zubringen müssen. Aber das schloß ein, wie sich nun zeigte, daß er hier Weihnachten verleben sollte, und das hatte ohne Zweifel etwas Erschreckendes für das Gemüt, schon deshalb, aber nicht ganz allein deshalb, weil er diese Zeit überhaupt noch niemals anderswo als in der Heimat, im Schoß der Familie, verlebt hatte. In Gottes Namen denn, das wollte nun in den Kauf genommen sein. Er war kein Kind mehr, Joachim schien auch weiter keinen Anstoß daran zu nehmen, sondern sich ohne Weinerlichkeit damit abzufinden, und wo nicht überall und unter welchen Umständen war in der Welt schon Weihnachten begangen worden!

Bei alldem schien es ihm etwas übereilt, vor dem ersten Advent von Weihnachten zu reden; es waren ja noch reichlich sechs Wochen bis dahin. Diese aber übersprang und verschlang man im Speisesaal, – ein inneres Verfahren, auf das Hans Castorp ja schon auf eigene Hand sich verstehen gelernt hatte, wenn er es auch noch nicht in so kühnem Stile zu üben gewöhnt war wie die älter eingesessenen Lebensgenossen. Solche Etappen im Jahreslauf, wie das Weihnachtsfest, schienen ihnen eben recht als Anhaltspunkte und Turngeräte, woran sich über leere Zwischenzeiten behende hinwegvoltigieren ließ. Sie hatten alle Fieber, ihr Stoffumsatz war erhöht, ihr Körperleben verstärkt und beschleunigt, – es mochte am Ende wohl damit zusammenhängen, daß sie die Zeit so rasch und massenhaft durchtrieben. Er hätte sich nicht gewundert, wenn sie Weihnachten schon als zurückgelegt betrachtet und gleich von Neujahr und Fastnacht gesprochen hätten. Aber so leichtlebig und ungesetzt war man mitnichten im Berghofspeisesaal. Bei Weihnachten machte man halt, es gab Anlaß zu Sorgen und Kopfzerbrechen. Man beriet über das gemeinsame Geschenk, das nach bestehender Anstaltsübung dem Chef, Hofrat Behrens, am heiligen Abend überreicht werden sollte, und für das eine allgemeine Sammlung eingeleitet war. Voriges Jahr hatte man einen Reisekoffer geschenkt, wie diejenigen überlieferten, die seit mehr als Jahresfrist hier waren. Man sprach für diesmal von einem neuen Operationstisch, einer Malstaffelei, einem Gehpelz, einem Schaukelstuhl, einem elfenbeinernen und irgendwie »eingelegten« Hörrohr, und Settembrini empfahl auf Befragen die Schenkung eines angeblich im Entstehen begriffenen lexikographischen Werkes, genannt »Soziologie der Leiden«; doch fiel ihm einzig ein Buchhändler bei, der seit kurzem am Tische der Kleefeld saß. Einigung hatte sich noch nicht ergeben wollen. Die Verständigung mit den russischen Gästen bot Schwierigkeiten. Die Sammlung spaltete sich. Die Moskowiter erklärten, Behrens auf eigene Hand beschenken zu wollen. Frau Stöhr zeigte sich tagelang in größter Unruhe wegen eines Geldbetrages, zehn Franken, die sie bei der Sammlung leichtsinnigerweise für Frau Iltis ausgelegt hatte, und die diese ihr zurückzuerstatten »vergaß«. Sie »vergaß« es, – die Betonungen, mit denen Frau Stöhr dies Wort versah, waren vielfach abgestuft und sämtlich darauf berechnet, den tiefsten Unglauben an eine Vergeßlichkeit zu bekunden, die allen Anspielungen und feinen Gedächtnisstachelungen, an denen es Frau Stöhr, wie sie versicherte, nicht fehlen ließ, Trotz bieten zu wollen schien. Mehrfach verzichtete Frau Stöhr und erklärte, der Iltis die schuldige Summe zu schenken. »Ich zahle also für mich und für sie,« sagte sie; »gut, nicht mein ist die Schande!« Endlich aber war sie auf einen Ausweg verfallen, von dem sie der Tischgesellschaft zu allgemeiner Heiterkeit Mitteilung machte: sie hatte sich die zehn Franken auf der »Verwaltung« auszahlen und der Iltis in Rechnung stellen lassen, – womit die träge Schuldnerin denn überlistet und wenigstens diese Sache ins gleiche gebracht war.

***

Kurz nach Weihnachten starb der Herrenreiter … Aber vorher spielte eben noch Weihnachten sich ab, diese beiden Festtage, oder, wenn man den Tag des heiligen Abends mitzählte, diese drei, denen Hans Castorp mit einigem Schrecken und der kopfschüttelnden Erwartung entgegengesehen hatte, wie sie sich hier wohl ausnehmen würden, und die dann, als natürliche Tage mit Morgen, Mittag, Abend und mittlerer Zufallswitterung (es taute etwas), auch nicht anders, als andere ihrer Gattung, heraufgekommen und verblichen waren: – äußerlich ein wenig geschmückt und ausgezeichnet, hatten sie während der ihnen zugemessenen Frist ihre Bewußtseinsherrschaft in den Köpfen und Herzen der Menschen geübt und waren unter Zurücklassung eines Niederschlages unalltäglicher Eindrücke zu naher und fernerer Vergangenheit geworden …

Der Sohn des Hofrates, Knut mit Namen, kam auf Ferienbesuch und wohnte bei seinem Vater im Seitenflügel, – ein hübscher, junger Mann, dem aber ebenfalls schon der Nacken etwas zu sehr heraustrat. Man spürte die Anwesenheit des jungen Behrens in der Atmosphäre; die Damen legten Lachlust, Putzsucht und Reizbarkeit an den Tag, und in ihren Gesprächen handelte es sich um Begegnungen mit Knut im Garten, im Walde oder im Kurhausviertel. Übrigens erhielt er selbst Besuch: eine Anzahl seiner Universitätskameraden kam in das Tal herauf, sechs oder sieben Studenten, die im Orte wohnten, aber beim Hofrat die Mahlzeiten nahmen und, zum Trupp verbunden, mit ihrem Kommilitonen die Gegend durchstreiften. Hans Castorp mied sie. Er mied diese jungen Leute und wich ihnen mit Joachim aus, wenn es nötig war, unlustig, ihnen zu begegnen. Den Zugehörigen Derer hier oben trennte eine Welt von diesen Sängern, Wanderern und Stöckeschwingern, er wollte von ihnen nichts hören und wissen. Außerdem schienen die meisten von ihnen aus dem Norden zu stammen, womöglich waren Landsleute darunter, und Hans Castorp fühlte die größte Scheu vor Landsleuten, oft erwog er mit Widerwillen die Möglichkeit, daß irgendwelche Hamburger im »Berghof« eintreffen könnten, zumal Behrens gesagt hatte, diese Stadt stelle der Anstalt immer ein stattliches Kontingent. Vielleicht befanden sich welche unter den Schweren und Moribunden, die man nicht sah. Zu sehen war nur ein hohlwangiger Kaufmann, der seit ein paar Wochen am Tische der Iltis saß, und der aus Cuxhaven sein sollte. Hans Castorp freute sich im Hinblick auf ihn, daß man mit Nicht-Tischgenossen hierorts so schwer in Berührung kam, und ferner darüber, daß sein Heimatsgebiet groß und sphärenreich war. Die gleichgültige Anwesenheit dieses Kaufmanns entkräftete in hohem Grade die Besorgnisse, die er an das Vorkommen von Hamburgern hier oben geknüpft hatte.

Der heilige Abend also näherte sich, stand eines Tages vor der Tür und hatte am nächsten Tage Gegenwart gewonnen … Es waren noch reichlich sechs Wochen bis zu ihm gewesen, damals, als Hans Castorp sich gewundert hatte, daß man hier schon von Weihnachten sprach: so viel Zeit also noch, rechnerisch genommen, wie die ganze Dauer seines Aufenthalts nach ihrer ursprünglichen Veranschlagung, zusammen mit der Dauer seiner Bettlägrigkeit betragen hatte. Trotzdem war das damals eine große Menge Zeit gewesen, namentlich die erste Hälfte, wie es Hans Castorp nachträglich schien, – während die rechnerisch gleiche Menge jetzt sehr wenig bedeutete, beinahe nichts: die im Speisesaal, so fand er nun, hatten recht gehabt, sie so gering zu achten. Sechs Wochen, nicht einmal so viele also, wie die Woche Tage hatte: was war auch das in Anbetracht der weiteren Frage, was denn so eine Woche, so ein kleiner Rundlauf vom Montag zum Sonntag und wieder Montag war. Man brauchte nur immer nach Wert und Bedeutung der nächstkleineren Einheit zu fragen, um zu verstehen, daß bei der Summierung nicht viel herauskommen konnte, deren Wirkung überdies und zugleich ja auch eine sehr starke Verkürzung, Verwischung, Schrumpfung und Zernichtung war. Was war ein Tag, gerechnet etwa von dem Augenblick an, wo man sich zum Mittagessen setzte, bis zu dem Wiedereintritt dieses Augenblicks in vierundzwanzig Stunden? Nichts, – obgleich es doch vierundzwanzig Stunden waren. Was war denn aber auch eine Stunde, verbracht etwa in der Liegekur, auf einem Spaziergang oder beim Essen, – womit die Möglichkeiten, diese Einheit zu verbringen, so gut wie erschöpft waren? Wiederum nichts. Aber die Summierung des Nichts war wenig ernst ihrer Natur nach. Am ernstesten wurde die Sache, wenn man ins Kleinste stieg: jene sieben mal sechzig Sekunden, während derer man das Thermometer zwischen den Lippen hielt, um die Kurve fortführen zu können, waren überaus zählebig und gewichtig; sie weiteten sich zu einer kleinen Ewigkeit, bildeten Einlagerungen von höchster Solidität in dem schattenhaften Huschen der großen Zeit …

Das Fest vermochte die Lebensordnung der Berghofbewohner kaum zu stören. Eine wohlgewachsene Tanne war schon einige Tage zuvor an der rechten Schmalseite des Speisesaals, beim Schlechten Russentisch, aufgerichtet worden, und ihr Duft, der durch den Brodem der reichen Gänge hindurch die Speisenden zuweilen berührte, rief etwas wie Nachdenklichkeit in den Augen einzelner Personen an den sieben Tischen hervor. Beim Abendessen des 24. Dezembers zeigte der Baum sich bunt geschmückt mit Lametta, Glaskugeln, vergoldeten Tannenzapfen, kleinen Äpfeln, die in Netzen hingen, und vielerlei Konfekt, und seine farbigen Wachskerzen brannten während der Mahlzeit und nachher. Auch in den Zimmern der Bettlägrigen, hieß es, brannten Bäumchen; jedes hatte das seine. Und die Paketpost war reich gewesen schon in den letzten Tagen. Auch Joachim Ziemßen und Hans Castorp hatten Sendungen aus der fernen und tiefen Heimat bekommen, sorglich verpackte Bescherungen, die sie in ihren Zimmern ausgebreitet hatten: sinnreiche Kleidungsstücke, Krawatten, Luxusgegenstände in Leder und Nickel, sowie viel Festgebäck, Nüsse, Äpfel und Marzipan, – Vorräte, die die Vettern mit zweifelnden Blicken betrachteten, indem sie sich fragten, wann hier je der Augenblick kommen werde, davon zu genießen. Schalleen hatte Hans Castorps Paket hergestellt, wie er wußte, und auch, nach sachlicher Besprechung mit den Onkeln, die Geschenke besorgt. Ein Brief von James Tienappel lag bei, auf dickem Privatpapier, doch in Maschinenschrift. Der Onkel übermittelte darin des Großonkels und seine eigenen Fest- und Genesungswünsche und fügte aus praktischen Gründen gleich die nächstens fälligen Neujahrsgratulationen hinzu, wie übrigens auch Hans Castorp verfahren war, als er rechtzeitig seinen Weihnachtsbrief nebst klinischem Rapport an Konsul Tienappel liegend aufgesetzt hatte.

Der Baum im Speisesaal brannte, knisterte, duftete und hielt in den Köpfen und Herzen das Bewußtsein der Stunde wach. Man hatte Toilette gemacht, die Herren trugen Gesellschaftsanzug, man sah an den Frauen Schmuckstücke, die ihnen von liebender Gattenhand aus den Ländern der Ebene gekommen sein mochten. Auch Clawdia Chauchat hatte den ortsüblichen Wollsweater gegen ein Salonkleid vertauscht, das aber einen Stich ins Willkürliche oder vielmehr ins Nationale hatte: es war ein helles, gesticktes Gürtelkostüm von bäuerlich-russischem, oder doch balkanischem, vielleicht bulgarischem Grundcharakter, mit kleinen Goldflittern besetzt, dessen Faltigkeit ihrer Erscheinung eine ungewohnt weiche Fülle verlieh und ausgezeichnet mit dem zusammenstimmte, was Settembrini ihre »tatarische Physiognomie«, insbesondere ihre »Steppenwolfslichter« zu nennen beliebte. Man war sehr heiter am Guten Russentisch; dort zuerst knallte der Champagner, der dann fast an allen Tischen getrunken wurde. An dem der Vettern war es die Großtante, die ihn für ihre Nichte und für Marusja bestellte, und sie traktierte alle damit. Das Menü war gewählt, es endete mit Käsegebäck und Bonbons; man schloß Kaffee an und Liköre, und dann und wann rief ein aufflammender Tannenzweig, der Löscharbeit forderte, eine schrille, übermäßige Panik hervor. Settembrini, gekleidet wie immer, saß gegen Ende des Festessens eine Weile mit seinem Zahnstocher am Tische der Vettern, hänselte Frau Stöhr und sprach dann einiges über den Tischlerssohn und Menschheits-Rabbi, dessen Geburtstag man heute fingiere. Ob jener wirklich gelebt habe, sei ungewiß. Was aber damals geboren worden sei und seinen bis heute ununterbrochenen Siegeslauf begonnen habe, das sei die Idee des Wertes der Einzelseele, zusammen mit der der Gleichheit gewesen, – mit einem Worte die individualistische Demokratie. In diesem Sinne leere er das Glas, das man ihm zugeschoben. Frau Stöhr fand seine Ausdrucksweise »equivok und gemütlos«. Sie erhob sich unter Protest, und da man ohnedies die Gesellschaftsräume aufzusuchen begonnen hatte, so folgten die Tischgenossen ihrem Beispiel.

Die Geselligkeit dieses Abends erhielt Gewicht und Leben durch die Überreichung der Geschenke an den Hofrat, der mit Knut und der Mylendonk auf eine halbe Stunde herüberkam. Die Handlung vollzog sich in dem Salon mit den optischen Scherzapparaten. Die Sondergabe der Russen bestand in etwas Silbernem, einem sehr großen, runden Teller, in dessen Mitte das Monogramm des Empfängers eingraviert war, und dessen vollkommene Unverwendbarkeit in die Augen sprang. Auf der Chaiselongue, die die übrigen Gäste gestiftet hatten, konnte man wenigstens liegen, obgleich sie noch ohne Decke und Kissen war, nur eben mit Tuch überzogen. Doch war ihr Kopfende verstellbar, und Behrens probierte ihre Bequemlichkeit, indem er sich, seinen nutzlosen Teller unter dem Arm, der Länge nach darauf ausstreckte, die Augen schloß und zu schnarchen begann wie ein Sägewerk, unter der Angabe, er sei Fafnir mit dem Hort. Der Jubel war allgemein. Auch Frau Chauchat lachte sehr über diese Aufführung, wobei ihre Augen sich zusammenzogen und ihr Mund offen stand, beides genau auf dieselbe Weise, so fand Hans Castorp, wie es bei Pribislav Hippe, wenn er lachte, der Fall gewesen war.

Gleich nach dem Abgange des Chefs setzte man sich an die Spieltische. Die russische Gesellschaft bezog, wie immer, den kleinen Salon. Einige Gäste umstanden im Saale den Weihnachtsbaum, sahen dem Erlöschen der Lichtstümpfchen in ihren kleinen Metallhülsen zu und naschten von dem Aufgehängten. An den Tischen, die schon für das erste Frühstück gedeckt waren, saßen vereinzelte Personen, weit voneinander entfernt, verschiedentlich aufgestützt, in getrenntem Schweigen.

Der erste Weihnachtstag war feucht und neblig. Es seien Wolken, sagte Behrens, in denen man sitze; Nebel gäbe es nicht hier oben. Aber Wolken oder Nebel, auf jeden Fall war die Nässe empfindlich. Der liegende Schnee taute oberflächlich an, wurde porös und klebrig. Gesicht und Hände erstarrten im Kurdienst weit peinlicher als bei sonnigem Frost.

Der Tag war ausgezeichnet durch eine musikalische Veranstaltung am Abend, ein richtiges Konzert mit Stuhlreihen und gedruckten Programmen, das Denen hier oben vom Hause »Berghof« geboten wurde. Es war ein Liederabend, gegeben von einer am Orte ansässigen und Unterricht erteilenden Berufssängerin mit zwei Medaillen seitlich unter dem Ausschnitt ihres Ballkleides, Armen, die Stöcken glichen, und einer Stimme, deren eigentümliche Tonlosigkeit über die Gründe ihrer Ansiedelung hier oben betrübende Auskunft gab. Sie sang:

»Ich trage meine Minne

mit mir herum.«

Der Pianist, der sie begleitete, war ebenfalls ortsansässig … Frau Chauchat saß in der ersten Reihe, benutzte jedoch die Pause, um sich zurückzuziehen, so daß Hans Castorp von da an der Musik (es war Musik unter allen Umständen) mit ruhigem Herzen lauschen konnte, indem er während des Gesanges den Text der Lieder mitlas, der auf dem Programm gedruckt stand. Eine Weile saß Settembrini an seiner Seite, verschwand aber ebenfalls, nachdem er über den dumpfen bel canto der Ansässigen einiges Pralle, Plastische angemerkt und sein satirisches Behagen darüber ausgedrückt, daß man auch heute abend so treu und traulich unter sich sei. Die Wahrheit zu sagen, spürte Hans Castorp Erleichterung, als sie beide fort waren, die Schmaläugige und der Pädagog, und er in Freiheit den Liedern seine Aufmerksamkeit widmen konnte. Er fand es gut, daß in der ganzen Welt und noch unter den besondersten Umständen Musik gemacht wurde, wahrscheinlich sogar auf Polarexpeditionen.

Der zweite Weihnachtstag unterschied sich durch nichts mehr, als durch das leichte Bewußtsein seiner Gegenwart, von einem gewöhnlichen Sonn- oder auch nur Wochentag, und als er vorüber war, da lag das Weihnachtsfest im Vergangenen, – oder, ebenso richtig, es lag wieder in ferner Zukunft, in jahresferner: zwölf Monate waren nun wieder bis dahin, wo es sich im Kreislauf erneuern würde, – schließlich nur sieben Monate mehr, als Hans Castorp hier schon verbracht hatte.

2

Wilhelm Müller

Der stürmische Morgen

Wie hat der Sturm zerrissen

Des Himmels graues Kleid!

Die Wolkenfetzen flattern

Umher in mattem Streit.

Und rothe Feuerflammen

Ziehn zwischen ihnen hin.

Das nenn’ ich einen Morgen

So recht nach meinem Sinn!

Mein Herz sieht an dem Himmel

Gemalt sein eignes Bild –

Es ist nichts als der Winter,

Der Winter kalt und wild!

3

Walter Benjamin

Wintermorgen

Die Fee, bei der er einen Wunsch frei hat, gibt es für jeden. Allein nur wenige wissen sich des Wunsches zu entsinnen, den sie taten; nur wenige erkennen darum später im eignen Leben die Erfüllung wieder. Ich weiß den, der mir in Erfüllung ging, und will nicht sagen, daß er klüger gewesen ist als der der Märchenkinder. Er bildete sich in mir mit der Lampe, wenn sie am frühen Wintermorgen um halb sieben sich meinem Bette näherte und den Schatten des Kindermädchens an die Decke warf. Im Ofen wurde Feuer angezündet. Bald sah die Flamme, wie in ein viel zu kleines Schubfach eingepfercht, wo sie vor Kohlen kaum sich rühren konnte, zu mir hin. Und doch war es ein so Gewaltiges, das dort in nächster Nähe, kleiner als ich selbst, sich einzurichten anfing, und zu dem die Magd sich tiefer bücken mußte als zu mir. Wenn es versorgt war, tat sie einen Apfel zum Braten in die Ofenröhre. Bald zeichnete sich das Gatter der Kamintür im roten Flackern auf der Diele ab. Und meiner Müdigkeit kam vor, sie habe an diesem Bilde für den Tag genug. So war es um diese Stunde immer; nur die Stimme des Kindermädchens störte den Vollzug, mit dem der Wintermorgen mich den Dingen in meinem Zimmer anzutrauen pflegte. Noch war die Jalousie nicht hochgezogen, da schob ich schon zum erstenmal den Riegel der Ofentür beiseite, um dem Apfel in