Der kleine Lord - Frances Hodgson Burnett - E-Book

Der kleine Lord E-Book

Frances Hodgson Burnett

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Beschreibung

Überarbeitete und korrigierte Fassung Der siebenjährige Cedric Errol lebt mit seiner Mutter in armen Verhältnissen in Amerika. Sein liebenswertes Wesen bezaubert alle Menschen in seinem Umkreis. Eines Tages ändert sich Cedrics Leben jedoch plötzlich: Sein griesgrämiger Großvater, Graf Dorincourt, möchte ihn zu sich nach England holen und einen kleinen Lord aus ihm machen... Null Papier Verlag

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Frances Hodgson Burnett

Der kleine Lord

Mit Bildern aus dem Film

Frances Hodgson Burnett

Der kleine Lord

Mit Bildern aus dem Film

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 3. Auflage, ISBN 978-3-954181-11-7

www.null-papier.de/lord

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel – Eine große Über­ra­schung

Zwei­tes Ka­pi­tel – Ce­driks Freun­de

Drit­tes Ka­pi­tel – Ab­schied von der Hei­mat

Vier­tes Ka­pi­tel – In Eng­land

Fünf­tes Ka­pi­tel – Im Schlos­se

Sechs­tes Ka­pi­tel – Der Graf und sein Erbe

Sie­ben­tes Ka­pi­tel – In der Kir­che

Ach­tes Ka­pi­tel – Rei­ten ler­nen

Neun­tes Ka­pi­tel – Schwe­re Sor­gen

Zehn­tes Ka­pi­tel – Ame­ri­ka in Ängs­ten

Elf­tes Ka­pi­tel – Die Ne­ben­buh­ler

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Der Ret­ter in der Not

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Un­lieb­sa­me Über­ra­schun­gen

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Der ach­te Ge­burts­tag

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Die Bil­der ent­stam­men dem Film „Litt­le Lord Faunt­leroy“ (USA 1936)

Erstes Kapitel

Eine große Überraschung

Ce­drik selbst wuss­te kein Ster­bens­wört­chen da­von, nie war et­was Der­ar­ti­ges in sei­ner Ge­gen­wart auch nur er­wähnt wor­den. Dass sein Papa ein Eng­län­der ge­we­sen, wuss­te er, weil sei­ne Mama ihm das ge­sagt hat­te, aber dann war die­ser Papa ge­stor­ben, als er noch ein ganz klei­ner Jun­ge ge­we­sen, und ihm war von dem­sel­ben nicht viel mehr in Erin­ne­rung ge­blie­ben, als dass er eine hohe Ge­stalt und blaue Au­gen und einen lan­gen, schö­nen Schnurr­bart ge­habt und dass es herr­lich ge­we­sen, auf sei­nen Schul­tern in der Stu­be her­um­zu­rei­ten. Nach des Va­ters Tode hat­te Ce­drik dann die Ent­de­ckung ge­macht, dass es am al­ler­bes­ten sei, mit der Mama gar nicht von ihm zu spre­chen. Als der Papa er­krank­te, war Ce­drik fort­ge­bracht wor­den, und als er wie­der nach Hau­se kam, war al­les vor­über ge­we­sen, und sein Müt­ter­chen, das auch eine schwe­re Krank­heit durch­ge­macht, fing eben wie­der an, in ih­rem Lehn­stuh­le am Fens­ter zu sit­zen; al­lein sie war bleich und ma­ger und all die lus­ti­gen Grüb­chen wa­ren aus ih­rem hüb­schen Ge­sich­te ver­schwun­den; die Au­gen sa­hen so groß aus und so trau­rig, und ihr Kleid war ganz schwarz.

»Herz­lieb«, sag­te Ce­drik – so hat­te sein Papa sie im­mer ge­nannt, und der klei­ne Jun­ge mach­te es ihm nach – »Herz­lieb, geht’s Papa bes­ser?«

Er fühl­te, wie ihr Arm zit­ter­te, wand­te plötz­lich sein lo­cki­ges Köpf­chen und sah ihr ins Ge­sicht, und als er sie so an­sah, war’s ihm, als ob er selbst bald zu wei­nen an­fan­gen müs­se.

»Herz­lieb«, frag­te er noch ein­mal, »ist Papa wohl?«

Dann gab ihm sein klei­nes zärt­li­ches Herz plötz­lich ein, bei­de Ärm­chen um den Hals der Mut­ter zu schlin­gen und sie wie­der und wie­der zu küs­sen und sei­ne wei­che, war­me Wan­ge fest an die ih­ri­ge zu schmie­gen, und sie drück­te ihr Ge­sicht an sei­ne Schul­ter und hielt ihn um­schlun­gen, als ob sie ihn nie mehr von sich las­sen woll­te, und wein­te bit­ter­lich.

»Ja, ihm ist wohl«, schluchz­te sie; »ihm ist ganz, ganz wohl, aber wir – wir ha­ben nichts mehr auf der Welt als ein­an­der. Kei­ne Men­schen­see­le sonst.«

So klein er war, hat­te er doch be­grif­fen, dass sein großer, schö­ner, jun­ger Papa nicht mehr wie­der­kom­men wer­de, dass er tot sei, wie er es von an­de­ren Leu­ten auch schon hat­te sa­gen hö­ren, ob­wohl er nicht recht wuss­te, was das für ein selt­sa­mes Ding war, das so viel Her­ze­leid in sei­nem Ge­fol­ge hat­te, und weil sein Müt­ter­chen im­mer wein­te, wenn er von dem Papa sprach, kam er ganz in al­ler Stil­le auf den Ge­dan­ken, dass es bes­ser sei, nicht von ihm zu spre­chen, und all­mäh­lich fand er auch, dass es bes­ser sei, sie nicht ganz ru­hig da­sit­zen und zum Fens­ter hin­aus oder ins Feu­er star­ren zu las­sen. Be­kann­te hat­ten er und sei­ne Mama nicht vie­le, und man konn­te ihr Le­ben sehr ein­sam nen­nen, ob­gleich Ce­drik da­von kei­ne Ah­nung hat­te, bis er äl­ter wur­de und man ihm dann sag­te, wes­halb sie kei­ne Be­su­che er­hiel­ten. Er er­fuhr dann, dass sei­ne Mama eine Wai­se war und ganz al­lein in der Welt ge­stan­den hat­te, ehe sie Pa­pas Frau ge­wor­den. Sie war sehr hübsch und hat­te als Ge­sell­schaf­te­rin bei ei­ner rei­chen al­ten Frau ge­lebt, die nicht gü­tig ge­gen sie ge­we­sen war. Ei­nes Ta­ges hat­te Ka­pi­tän Ce­drik Er­rol, der Be­such bei der Dame mach­te, sie die Trep­pe hin­auf­ei­len se­hen mit schwe­ren di­cken Trä­nen­trop­fen an den lan­gen Wim­pern, und da­bei hat­te sie so un­schul­dig und trau­rig und wun­der­lieb­lich aus­ge­se­hen, dass der Ka­pi­tän es nicht mehr hat­te ver­ges­sen kön­nen. Dann wa­ren man­cher­lei merk­wür­di­ge Din­ge ge­sche­hen, sie hat­ten ein­an­der ken­nen ge­lernt und hat­ten sich sehr lieb und wur­den schließ­lich Mann und Frau, ob­wohl die­se Hei­rat ih­nen die Miss­bil­li­gung ver­schie­de­ner Per­so­nen zu­zog. Am meis­ten er­zürnt dar­über war der Va­ter des Ka­pi­täns, der in Eng­land leb­te und ein sehr rei­cher und vor­neh­mer Herr von lei­den­schaft­li­cher Ge­müts­art und ei­ner hef­ti­gen Vor­ein­ge­nom­men­heit ge­gen Ame­ri­ka und die Ame­ri­ka­ner war. Ka­pi­tän Ce­drik war der drit­te Sohn und hat­te also für sein Teil we­nig Aus­sich­ten auf die äu­ßerst be­deu­ten­den Gü­ter und Ti­tel sei­nes Hau­ses.

Die Na­tur ver­teilt ihre Gü­ter je­doch nicht nach dem Erst­ge­burts­recht, und es kommt vor, dass drit­te Söh­ne Din­ge be­sit­zen, die den bei­den äl­te­ren ver­sagt sind. Ce­drik Er­rol hat­te ein hüb­sches Ge­sicht, eine kräf­ti­ge, schlan­ke, elas­ti­sche Ge­stalt, ein hel­les La­chen und eine wei­che, fröh­li­che Stim­me; er war tap­fer, frei­mü­tig und hat­te das bes­te Herz von der Welt, und es war, als ob ihm ein Zau­ber ver­lie­hen sei, der alle Men­schen zu ihm zog und an ihn fes­sel­te. Bei sei­nen äl­te­ren Brü­dern war dem nicht so; der eine wie der and­re war we­der hübsch noch be­gabt, noch gut­her­zig. Als Kna­ben in der Schu­le zu Eton mach­ten sie sich sehr un­be­liebt; auf der Uni­ver­si­tät be­trie­ben sie kei­ner­lei Stu­di­en, ver­geu­de­ten Zeit und Geld und ge­wan­nen we­nig Freun­de. Was der Va­ter an ih­nen er­leb­te, wa­ren Ent­täu­schun­gen und De­mü­ti­gun­gen; der Erbe sei­nes ed­len Na­mens mach­te dem­sel­ben kei­ne Ehre und ver­sprach, nichts zu wer­den, als ein selbsti­scher, ver­schwen­de­ri­scher un­be­deu­ten­der Mensch ohne jeg­li­che rit­ter­li­che Tu­gend. Es war sehr bit­ter für den al­ten Herrn, dass der Sohn, wel­cher die un­be­deu­ten­de Stel­lung des Jüngs­ten ein­nahm und nur ein sehr mä­ßi­ges Ver­mö­gen er­hal­ten konn­te, al­les be­saß, was an Ta­lent, Lie­bens­wür­dig­keit, Kraft und äu­ße­rer Er­schei­nung in sei­ner Fa­mi­lie zu ent­de­cken war.

Zu­wei­len hass­te er den fri­schen jun­gen Ge­sel­len bei­na­he, der sich un­ter­fing, all’ die gu­ten Din­ge zu be­sit­zen, die doch mit Fug und Recht zu dem großen Ti­tel und dem herr­li­chen Be­sitz­tum ge­hört hät­ten, und doch hing sein stol­zes, ei­gen­wil­li­ges al­tes Herz ins­ge­heim un­end­lich an sei­nem Jüngs­ten. In ei­nem der­ar­ti­gen An­fall von Ge­reizt­heit war’s, dass er ihn auf eine Rei­se nach Ame­ri­ka ge­schickt hat­te; Ce­drik soll­te ihm eine Zeit lang aus den Au­gen kom­men, da­mit er nicht durch den im­mer­wäh­ren­den Ver­gleich sich über das Trei­ben der bei­den Äl­tes­ten, die ihm ge­ra­de da­mals wie­der viel zu schaf­fen mach­ten, noch mehr auf­zu­re­gen brauch­te.

Aber kaum war der Sohn ein hal­b­es Jahr fort, als der alte Herr Sehn­sucht nach ihm emp­fand und ihm den Be­fehl zur Heim­kehr sand­te. Die­ser Brief kreuz­te sich mit ei­nem des jun­gen Man­nes, in dem die­ser dem Va­ter von sei­ner Lie­be zu der hüb­schen Ame­ri­ka­ne­rin und sei­ner Ab­sicht, die­sel­be zu hei­ra­ten, sprach, was den Gra­fen in fürch­ter­li­che Wut ver­setz­te. Wie ent­setz­lich sei­ne Zor­nes­aus­brü­che auch sein le­ben­lang, ge­we­sen wa­ren, so schran­ken­los hat­te er noch nie ge­tobt, wie nach dem Empfang von Ka­pi­tän Ce­driks Brief, und sein Kam­mer­die­ner, der eben im Zim­mer war, mach­te sich auf einen Schlag­an­fall ge­fasst. Eine Stun­de lang ras­te er wie ein wil­des Tier, dann setz­te er sich hin und schrieb an sei­nen Sohn. Er ver­bot ihm, je wie­der den Fuß in die Nähe sei­ner al­ten Hei­mat zu set­zen oder an Va­ter und Brü­der ein Wort zu schrei­ben; er kön­ne le­ben, wie es ihm be­ha­ge, und ster­ben, wo es ihm ge­fäl­lig sei, von sei­ner Fa­mi­lie sei er für alle Zei­ten ge­schie­den und Hil­fe oder Un­ter­stüt­zung habe er von sei­ten sei­nes Va­ters nie und nim­mer zu ge­wär­ti­gen.

Der Ka­pi­tän war tief be­trübt über die­sen Brief. Er hing an Eng­land und er lieb­te das schö­ne Heim, in dem er ge­bo­ren war; er hat­te so­gar den übel­lau­ni­schen, des­po­ti­schen Va­ter lieb und hat­te des­sen Küm­mer­nis­se im stil­len im­mer mit­emp­fun­den, aber er war sich voll­kom­men klar, dass er von nun an nichts mehr von ihm zu er­war­ten hat­te. Erst wuss­te er kaum, was an­fan­gen, denn er war ja nicht zur Ar­beit er­zo­gen und hat­te kei­ne Ah­nung von Ge­schäf­ten, da­für aber Mut und Ent­schlos­sen­heit; er gab sei­ne Stel­lung in der eng­li­schen Ar­mee auf, fand, nach man­cher Müh­sal, Be­schäf­ti­gung in New York und hei­ra­te­te. Der Un­ter­schied zwi­schen sei­nem eins­ti­gen und jet­zi­gen Le­ben war groß, al­lein er war jung und glück­lich und hoff­te, bei har­ter Ar­beit eine Zu­kunft zu ha­ben. Er be­wohn­te ein klei­nes Häu­schen in ei­ner ru­hi­gen ab­ge­le­ge­nen Stra­ße, und dort kam sein Jun­ge zur Welt und al­les war ein­fach und be­schei­den, aber fröh­lich und freund­lich, so­dass er es nie einen Mo­ment be­reu­te, die hüb­sche Ge­sell­schaf­te­rin der rei­chen al­ten Dame ge­hei­ra­tet zu ha­ben, ein­zig, weil sie ein sü­ßes Ge­schöpf war und ihn lieb hat­te und er sie. Sie war aber auch wirk­lich und wahr­haf­tig ein sü­ßes Ge­schöpf, und ihr klei­ner Jun­ge glich Mut­ter und Va­ter, und wenn er auch in ei­nem arm­se­li­gen, weltent­le­ge­nen Häu­schen ge­bo­ren war, schi­en es doch nie ein glück­li­che­res Kind auf der Welt ge­ge­ben zu ha­ben. In ers­ter Li­nie war er al­le­zeit ge­sund und mun­ter, mach­te also kei­ner­lei Sor­ge und Mühe, dann hat­te er so ein lie­bes, rei­nes Ge­müt und war so ein her­zi­ger klei­ner Mensch, dass je­der­mann Freu­de an ihm ha­ben muss­te, und zu dem al­len war er so schön, dass man ihn im­mer­fort an­stau­nen muss­te wie ein wun­der­ba­res Bild. Statt als ein kahl­köp­fi­ges Baby auf der Bild­flä­che zu er­schei­nen, hielt er sei­nen Ein­zug als Welt­bür­ger mit ei­ner Fül­le wei­chen, sei­di­gen, gol­den schim­mern­den Haa­res, das sich nach sechs Mo­na­ten in leich­ten Lo­cken um sein Köpf­chen kraus­te; er hat­te große brau­ne Au­gen, lan­ge Wim­pern und ein her­zi­ges klei­nes Ge­sicht, fer­ner so kräf­ti­ge Glie­der, dass er mit neun Mo­na­ten plötz­lich auf sei­nen ker­zen­ge­ra­den stram­men Bein­chen zu wan­deln an­fing, und da­bei war er ein so ge­sit­te­tes Baby, dass es eine Lust war, sei­ne Be­kannt­schaft zu ma­chen. Er schi­en da­von aus­zu­ge­hen, dass je­der Mensch sein Freund sei, und sprach je­mand mit ihm, wenn er in sei­nem Kin­der­wa­gen auf der Stra­ße war, so pfleg­te er den Un­be­kann­ten erst ganz ernst­haft aus sei­nen brau­nen Au­gen an­zu­schau­en, wor­auf dann so­fort ein son­ni­ges Lä­cheln folg­te. Da­her kam es denn auch, dass in der gan­zen Nach­bar­schaft kei­ne Men­schen­see­le war – nicht ein­mal der Spe­ze­reihänd­ler an der Ecke, und der war an­er­kannt der gröbs­te Mensch un­ter Got­tes Son­ne – die nicht eine Freu­de dar­an ge­habt hät­te, ihn zu se­hen und mit ihm zu spre­chen, und mit je­dem Mo­nat, den er äl­ter wur­de, ward er hüb­scher und le­ben­di­ger.

Als er groß ge­nug war, mit sei­ner Kin­der­frau aus­zu­ge­hen in ei­nem kur­z­en, wei­ßen Röck­chen, mit ei­nem großen, wei­ßen Hut auf dem lo­cki­gen Haar, er­reg­te er all­ge­mei­nes Auf­se­hen, und die Wär­te­rin hat­te der Mama die längs­ten Ge­schich­ten zu er­zäh­len von Da­men, die ihre Wa­gen hat­ten an­hal­ten las­sen und aus­ge­stie­gen wa­ren, um mit ihm zu spre­chen, und die ganz ent­zückt ge­we­sen wa­ren, als er in sei­ner harm­lo­sen, un­be­fan­ge­nen Art mit ih­nen ge­plau­dert hat­te, als ob er sie von je­her ge­kannt. Die­se selt­sam un­be­fan­ge­ne Art und Wei­se, mit je­der­mann Freund­schaft zu schlie­ßen, gab ihm einen ganz ei­gen­ar­ti­gen Reiz. Er war eine of­fe­ne, rück­halts­los ver­trau­en­de Na­tur, und sein war­mes klei­nes Herz woll­te, dass es al­len so wohl zu Mute sein sol­le, wie ihm selbst, das war’s, was ihn die Emp­fin­dun­gen de­rer, die um ihn wa­ren, so merk­wür­dig schnell ver­ste­hen ließ. Vi­el­leicht hat­te sich die­ser Zug auch mehr ent­wi­ckelt, weil er im­mer mit Va­ter und Mut­ter leb­te, die lie­be­voll, gü­tig und voll ech­ter Her­zens­bil­dung wa­ren; nie hör­te er zu Hau­se ein un­höf­li­ches oder rau­es Wort: von je­her wur­de er mit Lie­be und Zärt­lich­keit be­han­delt und um­ge­ben, und so ström­te sein Kin­der­herz auch von Lie­be und Wär­me für and­re über. Im­mer hat­te er sein Müt­ter­chen mit sü­ßen Schmei­chel­na­men nen­nen hö­ren, und des­halb sprach auch er nie an­ders mit ihr und von ihr; im­mer hat­te er ge­se­hen, dass sein Papa sie ängst­lich be­hü­te­te und für sie sorg­te, und so lern­te auch er ganz von selbst für sie sor­gen. Und als er nun wuss­te, dass sein Papa nicht wie­der­kom­men wer­de, und sah, wie trau­rig sie war, da ent­stand un­be­wusst in sei­nem klei­nen Her­zen das Ge­fühl, dass er nun al­les tun müs­se, um sie glück­lich zu ma­chen. Er war ja noch ein klei­nes Kind, aber dies Ge­fühl leb­te in ihm, wenn er auf ihre Knie klet­ter­te und sie küss­te und sein lo­cki­ges Köpf­chen an ihre Wan­ge drück­te, oder wenn er ihr sein Spiel­zeug und sei­ne Bil­der­bü­cher zum An­se­hen brach­te oder sich schwei­gend und re­gungs­los ne­ben sie kau­er­te, wenn sie auf dem Sofa lag.

Er war noch nicht alt ge­nug, um and­re Tros­tes­mit­tel zu fin­den, aber er tat sein Bes­tes, und er selbst hat­te kei­ne Vor­stel­lung da­von, wie wohl sein stil­les Tun dem ar­men, ver­ein­sam­ten Her­zen tat.

»O Mary!« hör­te er sei­ne Mama ein­mal zu der al­ten Die­ne­rin sa­gen, »ich bin über­zeugt, er will mir auf sei­ne Wei­se hel­fen und mich trös­ten. Zu­wei­len sieht er mich an mit großen, ver­wun­der­ten Au­gen voll tiefs­ter Lie­be, als ob ich ihm im In­ners­ten leid täte, und dann kommt er und strei­chelt mich oder zeigt mir et­was. Er ist so merk­wür­dig reif; ich bin über­zeugt, er denkt so weit.«

Als er her­an­wuchs, hat­te er eine Men­ge wun­der­li­cher Ein­fäl­le, die höchst er­götz­lich wa­ren, und wuss­te sei­ne Mama so gut zu un­ter­hal­ten, dass sie gar nicht nach and­rer Ge­sell­schaft ver­lang­te; sie gin­gen mit­ein­an­der spa­zie­ren und schwatz­ten und spiel­ten zu­sam­men. Er war noch ein ganz klei­ner Bur­sche, als er le­sen lern­te, und her­nach lag er abends auf dem Tep­pich vor dem Ka­min und las vor – Kin­der­ge­schich­ten, zu­wei­len auch große Bü­cher, wie er­wach­se­ne Leu­te sie le­sen, und hier und da so­gar die Zei­tung, und da­bei hör­te Mary in ih­rer Kü­che Mrs. Er­rol manch­mal hell auf­la­chen über sei­ne wun­der­li­chen Be­mer­kun­gen: »Und, mei­ner Seel’«, sag­te Mary zu dem Spe­ze­reihänd­ler, »so ver­stockt könn­te kei­ner sein, dass er nicht la­chen müss­te über un­sern Jun­gen, wenn er so alt­klug schwatzt. In der Nacht, wo der neue Prä­si­dent er­nannt wor­den ist, kommt der Jung’ zu mir in die Küch’, stellt sich vors Feu­er, die Händ­chen in den klei­nen Ta­schen, wie ein Bild, sag’ ich Ih­nen, und mit so ei­ner fei­er­li­chen Mien’ wie ein Rich­ter im Talar, Und dann sagt er zu mir: ›Ma­ry‹, sagt er, ›die Wahl ’tres­siert miss sehr‹, sagt er. ›Iss bin ’Pub­li­ka­ner und Herz­lieb auch. Bist du auch ’Pub­li­ka­ner, Mary?‹ ›Tut mir lei­d‹, sag’ ich, ›a­ber ich bin just ein we­nig von der an­de­ren Par­tei.‹ Da sieht er mich an, dass es ei­nem ganz durch Mark und Bein geht, und sagt: ›Ma­ry‹, sagt er, ›die riss­ten ja das Land zu Grund.‹ Und seit­her ist kein Tag ver­gan­gen, wo er mir nicht zu­ge­re­det hat, zur an­de­ren Par­tei zu ge­hen.«

Mary war sehr ent­zückt von »un­serm Jun­gen« und sehr stolz auf ihn; sie war schon im Hau­se ge­we­sen, als er zur Welt kam, und seit sei­nes Va­ters Tode war sie Kö­chin, Haus­mäd­chen und Kin­der­frau in ei­ner Per­son. Sie war stolz auf den kräf­ti­gen, be­weg­li­chen, klei­nen Kerl und sein net­tes Be­neh­men, ganz be­son­ders aber auf sein schim­mern­des Haar, das in die Stirn her­ein­ge­schnit­ten war und in leich­ten Pa­gen­lo­cken auf sei­ne Schul­ter fiel. Um sei­ne klei­nen An­zü­ge ma­chen zu hel­fen, war ihr früh und spät kei­ne Mühe zu viel.

»’Ri­sto­kra­tisch, hm?« pfleg­te sie zu sa­gen. »Du lie­ber Gott, den Jun­gen auf der Fifth Ave­nue möcht’ ich se­hen, der so drein­schaut, sei­ne Bei­ne so setzt! Je­der Mensch, Mann und Weib und Kind, al­les schaut ihm nach, wenn er den schwar­zen Samt­an­zug an­hat, den wir ihm aus mei­ner Frau ih­rem al­ten Klei­de zu­recht ge­macht ha­ben, wenn er den Kopf so auf­wirft und sein Lo­cken­haar fliegt! Ak­ku­rat wie ein jun­ger Lord sieht er aus.«

Ce­drik hat­te kei­ne Ah­nung da­von, dass er wie ein jun­ger Lord aus­sah, er wuss­te auch durch­aus nicht, was ein Lord war. Der vor­nehms­te un­ter sei­nen Freun­den war der Spe­ze­reihänd­ler an der Ecke – der gro­be Mann, der ge­gen ihn nie grob war. Er nann­te sich Mr. Hobbs und war in Ce­driks Au­gen sehr reich und eine höchst be­deu­ten­de Per­sön­lich­keit, die er über die Ma­ßen be­wun­der­te; er hat­te ja so vie­le Din­ge in sei­nem La­den – Pflau­men und Fei­gen und Ap­fel­si­nen und Bis­kuits – und er hat­te ein Pferd und einen Wa­gen. Ce­drik moch­te auch den Milch­mann, den Bä­cker und die Ap­fel­frau wohl lei­den, aber Mr. Hobbs war doch oben­an in sei­nem Her­zen, und er stand auf so ver­trau­tem Fuße mit ihm, dass er ihn je­den Tag be­such­te und oft lan­ge bei ihm saß, um die Ta­ge­s­er­eig­nis­se zu be­spre­chen. Es war ganz merk­wür­dig, wie viel die bei­den im­mer zu schwat­zen hat­ten, über al­les Mög­li­che. Der 4. Juli na­ment­lich war ein The­ma, über wel­ches ih­nen das Ge­spräch nie aus­ging. Mr. Hobbs hat­te eine sehr ge­rin­ge Mei­nung von den Eng­län­dern und er er­zähl­te ihm die gan­ze Ge­schich­te der Los­rei­ßung, wo­bei die Schänd­lich­keit des Fein­des und die Tap­fer­keit der Auf­stän­di­schen durch schla­gen­de Bei­spie­le be­leuch­tet wur­den, schließ­lich trug er ihm noch ein­zel­ne Tei­le der Un­ab­hän­gig­keits­er­klä­rung wört­lich vor. Ce­drik war dann so auf­ge­regt, dass sei­ne Au­gen leuch­te­ten, sei­ne Wan­gen glüh­ten und all sei­ne Lo­cken eine wir­re Mas­se wa­ren; zu Hau­se konn­te er die Mahl­zeit kaum er­war­ten, um sei­ner Mama al­les Ge­hör­te wie­der­zu­ge­ben, und so war es ent­schie­den Mr. Hobbs, dem er sein ers­tes In­ter­es­se für Po­li­tik zu dan­ken hat­te. Mr. Hobbs war auch ein eif­ri­ger Zei­tungs­le­ser, und da­her er­fuhr Ce­drik so ziem­lich al­les, was in Wa­shing­ton vor sich ging, und wuss­te im­mer, ob der Prä­si­dent sei­ne Schul­dig­keit tat oder nicht. Und bei der letz­ten Prä­si­den­ten­wahl wa­ren bei­de sehr er­regt ge­we­sen und ohne Mr. Hobbs und Ce­drik wäre das Land wo­mög­lich aus den Fu­gen ge­gan­gen. Ce­drik wur­de dann auch zu ei­nem Fa­ckel­zug mit­ge­nom­men, und man­cher Fa­ckel­trä­ger er­in­ner­te sich nach­her noch des un­ter­setz­ten Man­nes an dem La­ter­nen­pfahl mit dem blon­den Kna­ben auf der Schul­ter, der so ener­gisch sein Mütz­chen ge­schwun­gen und sein Hur­ra ge­ru­fen hat­te.

Nicht lan­ge nach die­ser Wahl war es – Ce­drik war nun zwi­schen sie­ben und acht Jah­ren alt – dass das selt­sa­me Er­eig­nis ein­trat, wel­ches sein Le­ben so ganz und gar um­ge­stal­te­te. Merk­wür­dig war, dass er ge­ra­de an dem Tage mit sei­nem Freun­de über Eng­land und die Kö­ni­gin ge­spro­chen hat­te, wo­bei Mr. Hobbs sich sehr hart über die Ari­sto­kra­tie ge­äu­ßert und na­ment­lich mit den bri­ti­schen Gra­fen und Mar­quis streng ins Ge­richt ge­gan­gen war. Es war ein sehr hei­te­rer Mor­gen, und Ce­drik war, nach­dem er mit ein paar Ka­me­ra­den Sol­da­ten ge­spielt hat­te, zu Mr. Hobbs ge­gan­gen, um sich aus­zu­ru­hen, und hat­te den­sel­ben in ent­rüs­te­ter Be­trach­tung der »Lon­don Il­lus­tra­ted News« ge­fun­den, die eine Hof­ze­re­mo­nie wie­der­gab.

»Ha«, sag­te er, »auf die Art trei­ben sie’s nun, aber sie wer­den’s schon ein­ge­tränkt krie­gen ei­nes schö­nen Ta­ges, wenn die sich auf­rich­ten, die sie jetzt mit Fü­ßen tre­ten, und das gan­ze Ge­lich­ter übern Hau­fen wer­fen – Her­zö­ge und Gra­fen und all den Plun­der! Das bleibt nicht aus; sie sol­len sich nur vor­se­hen.«

Ce­drik saß wie ge­wöhn­lich ritt­lings auf dem Comp­toir­stuh­le, den Hut aus der Stirn ge­rückt, die Händ­chen in den Ta­schen, ganz Ohr.

»Ha­ben Sie vie­le Mar­quis ge­kannt, Mr. Hobbs?« frag­te er ernst­haft. »Oder vie­le Gra­fen?«

»Nein«, er­wi­der­te Mr. Hobbs mit Ent­rüs­tung, »ganz und gar nicht. Aber ich möch­te wohl mal so einen hier in mei­ner Bude klein krie­gen, dem woll­te ich’s klar ma­chen, dass ich kei­ne Räu­ber und Ty­ran­nen auf mei­nen Bis­kuit­kas­ten sit­zen und bei mir her­um­lun­gern las­sen will.«

Dies Be­wusst­sein er­ha­be­nen Bür­ger­stol­zes er­füll­te ihn mit großer Be­frie­di­gung, und er wisch­te sich die Stirn mit ei­nem sieg­rei­chen Herr­scher­blick auf sei­ne Kis­ten.

»Vi­el­leicht sind sie nur Gra­fen, weil sie es eben nicht bes­ser wis­sen«, be­merk­te Ce­drik, in des­sen klei­nem Her­zen ein ge­wis­ses Mit­ge­fühl für die Un­glück­li­chen auf­stieg.

»Weil sie’s nicht bes­ser wis­sen!« sag­te Mr. Hobbs. »Da bist du ganz auf dem Holz­we­ge, sie bil­den sich ja noch Wun­der was dar­auf ein, die Kuckucks­brut!«

Mit­ten in die­ser Un­ter­hal­tung er­schi­en Mary. Ce­drik nahm erst an, sie wer­de ir­gend einen klei­nen Be­darf für den Haus­halt ho­len, dem war aber nicht so; sie sah sehr auf­ge­regt aus und war so bleich, wie man es bei ih­rem Teint kaum für mög­lich ge­hal­ten hät­te.

»Komm heim, Lieb­ling«, sag­te sie, »die Mama will’s ha­ben.«

Ce­drik glitt von sei­nem er­ha­be­nen Sit­ze her­un­ter.

»Soll ich mit der Mama aus­ge­hen, Mary?« frag­te er. »Gu­ten Tag, Mr. Hobbs. Ich kom­me ein an­der­mal.«

»Was ist denn ge­sche­hen, Mary?« forsch­te er un­ter­wegs. »Ist’s die Hit­ze?«

»Nein, nein«, sag­te Mary, »Gott, was bei uns für Ge­schich­ten pas­sie­ren!«

»Hat denn Herz­lieb Kopf­weh von der Son­ne?« frag­te der klei­ne Mann, nach und nach ängst­lich wer­dend.

Das war’s aber auch nicht. Als sie das Haus er­reicht hat­ten, stand ein Wa­gen da­vor und im Wohn­zim­mer war je­mand bei Mama; Mary zog ihn eilends die Trep­pe hin­auf, steck­te ihn in sein bes­tes Ge­wand, den wei­ßen Fla­nel­l­an­zug mit der ro­ten Schär­pe, und bürs­te­te sei­ne Haa­re glatt.

»Ein Lord!« sprach sie da­bei vor sich hin. »Lord war’s ja doch! Ach, und die Ver­wandt­schaft. Hol sie der Kuckuck! Lord und Graf, ja­wohl, umso schlim­mer!«

Das war wirk­lich al­les sehr selt­sam, al­lein er wuss­te ja ganz ge­wiss, dass sei­ne Mama ihm al­les er­klä­ren wür­de, und so ließ er Mary un­ge­stört ih­ren Ge­dan­ken nach­hän­gen. Als er um­ge­klei­det war, lief er die Trep­pe hin­un­ter und ge­ra­des­wegs ins Wohn­zim­mer. Ein großer, ma­ge­rer al­ter Herr mit ei­nem scharf­ge­schnit­te­nen Ge­sich­te saß im Lehn­stuhl, sei­ne Mama stand da­ne­ben, sie war sehr blass, und er be­merk­te auf den ers­ten Blick, dass sie Trä­nen in den Au­gen hat­te.

»O Ced­die!« rief sie, ih­rem klei­nen Jun­gen ent­ge­ge­nei­lend und ihn scheu und er­regt ans Herz drückend. »Ced­die, mein Her­zens­kind!«

Der große alte Herr stand auf und sah den Kna­ben scharf an, wo­bei er sein spit­zes Kinn mit der fleisch­lo­sen Hand rieb. Der Ein­druck schi­en ihn üb­ri­gens zu be­frie­di­gen.

»So so«, sprach er lang­sam, »das ist also der klei­ne Lord Faunt­leroy.«

Zweites Kapitel

Cedriks Freunde

In der Wo­che, die nun folg­te, gab es wohl kei­nen er­staun­te­ren und ver­blüff­te­ren klei­nen Jun­gen als Ce­drik; die gan­ze Wo­che war aber auch höchst selt­sam und un­wahr­schein­lich. Ers­tens ein­mal war die Ge­schich­te, die sei­ne Mama ihm er­zähl­te, eine ganz wun­der­li­che, und er muss­te sie zwei- oder drei­mal hö­ren, bis er sie ver­stand, was aber Mr. Hobbs da­von hal­ten wür­de, dar­über war er sich auch dann noch nicht klar. Die Ge­schich­te fing mit Gra­fen an, sein Groß­va­ter, den er nie ge­se­hen hat­te, war ein sol­cher, und sein äl­tes­ter On­kel wäre dann spä­ter ein Graf ge­wor­den, wenn er nicht durch einen Sturz vom Pfer­de ge­tö­tet wor­den wäre, nach ei­nem Tode hät­te dann sein zwei­ter On­kel Graf wer­den sol­len, der war aber in Rom ganz plötz­lich am Fie­ber ge­stor­ben. Nun wäre es schließ­lich an sei­nem eig­nen Papa ge­we­sen, den Ti­tel zu be­kom­men, da aber alle tot wa­ren und nie­mand üb­rig, kam es zu gu­ter Letzt dar­auf hin­aus, dass er nach sei­nes Groß­va­ters Tode der Graf und Erbe wer­den wür­de – und jetzt für den Au­gen­blick war er Lord Faunt­leroy.

Als er dies zu­erst er­fuhr, ward er ganz bleich.

»O Herz­lieb!« sag­te er, »ich möch­te lie­ber kein Graf sein. Kei­ner von den an­de­ren Jun­gen ist ein Graf. Kann ich nicht kei­ner sein?«

Die Sa­che schi­en sich je­doch nicht um­ge­hen zu las­sen, und als er abends mit sei­nem Müt­ter­chen am Fens­ter saß und in die arm­se­li­ge Stra­ße hin­aus­blick­te, spra­chen sie lan­ge und ein­ge­hend dar­über. Ce­drik saß auf sei­ner Fuß­bank, das eine Bein über­ge­schla­gen, wie es sei­ne Lieb­lings­stel­lung war, und sein klei­nes Ge­sicht war ein we­nig ver­stört und ganz rot vor lau­ter Nach­den­ken. Sein Groß­va­ter woll­te, dass er nach Eng­land kom­men sol­le, und hat­te des­halb den al­ten Herrn ge­schickt.

»Ich weiß, dass dein Papa sich dar­über freu­en wür­de«, sag­te sei­ne Mama, die trau­ri­gen Au­gen dem Fens­ter zu­ge­wen­det. »Sein Herz hing sehr an sei­ner Hei­mat, und dann sind da­bei auch noch vie­le Din­ge zu be­den­ken, die du noch nicht ver­ste­hen kannst, mein Kind. Ich wür­de eine sehr selbst­süch­ti­ge Mama sein, wenn ich dich nicht rei­sen lie­ße – das wirst du al­les be­grei­fen, wenn du erst er­wach­sen bist.«

Ce­drik schüt­tel­te weh­mü­tig das Köpf­chen. »Es tut mir so leid, wenn ich von Mr. Hobbs fort muss«, sag­te er. »Ich habe Angst, er wird mich ver­mis­sen und er wird mir sehr feh­len – er und all die an­de­ren.«

Als Mr. Ha­vis­ham, wel­cher der lang­jäh­ri­ge Sach­wal­ter des Gra­fen Do­rin­court war, und der die Mis­si­on hat­te, Lord Faunt­leroy nach Eng­land zu brin­gen, am nächs­ten Tage wie­der­kam, er­fuhr Ce­drik sehr viel Neu­es, al­lein es war ihm gar nicht sehr tröst­lich, zu er­fah­ren, dass er der­einst ein sehr rei­cher Mann sein und hier ein Schloss und dort ein Schloss, große Parks, Berg­wer­ke und Län­de­rei­en und vie­le Die­ner­schaft be­sit­zen wer­de. Er war sehr be­küm­mert im Ge­dan­ken an sei­nen Freund, Mr. Hobbs, und bald nach dem Früh­stück such­te er ihn voll Her­zens­angst in sei­nem La­den auf.

Er fand ihn die Zei­tung le­send und trat ihm mit erns­ter Mie­ne ge­gen­über: er wuss­te ja, dass das, was ihm wi­der­fah­ren, für Mr. Hobbs ein her­ber Schlag sein muss­te, und er hat­te sich’s un­ter­wegs ge­nau über­legt, wie er ihm die Sa­che bei­brin­gen woll­te.

»Hal­lo!« sag­te Mr. Hobbs. »’Mor­gen!«

»Gu­ten Mor­gen«, sag­te Ce­drik. Er klet­ter­te nicht wie sonst auf sei­nen ho­hen Stuhl, son­dern setz­te sich auf einen Bis­kuit­kas­ten und schlug die Bei­ne über­ein­an­der und schwieg so lan­ge, bis Mr. Hobbs fra­gend über sein Zei­tungs­blatt hin­über nach ihm hin­schiel­te.

»Hal­lo!« sag­te er noch ein­mal.

Ce­drik fass­te sich ein Herz.

»Mr. Hobbs«, be­gann er, »wis­sen Sie noch, von was wir ges­tern Vor­mit­tag ge­spro­chen ha­ben?«

»Hm, ja, von Eng­land dächt’ ich.«

»Frei­lich, aber ge­ra­de als Mary her­ein­kam, wis­sen Sie das noch?«

Mr. Hobbs rieb sich den Hin­ter­kopf.

»Wir dis­ku­rier­ten über die Kö­ni­gin und die ›’Ri­sto­kra­ten‹.«

»Ja«, sag­te Ce­drik zö­gernd, »und, und über die Gra­fen; wis­sen Sie noch?«

»Ja­wohl«, er­wi­der­te Mr. Hobbs, »die ka­men schlecht weg da­bei, wie sich’s ge­hört!«

Ce­drik ward rot bis un­ter sein lo­cki­ges Stirn­haar, in sol­cher Ver­le­gen­heit hat­te er sich im Le­ben noch nie be­fun­den und da­bei ängs­tig­te ihn das Ge­fühl, dass die Sa­che auch für Mr. Hobbs nicht ohne Ver­le­gen­heit ab­lau­fen wer­de.

»Ja, und Sie sag­ten«, fuhr er fort, »dass Sie kei­nen von den ’Ri­sto­kra­ten auf Ihren Bis­kuit­kis­ten her­um­sit­zen las­sen wür­den.«

»Das will ich mei­nen!« be­stä­tig­te Mr. Hobbs sei­nen Auss­pruch mit Über­zeu­gung. »Soll nur ’mal ei­ner kom­men, dem werd’ ich’s zei­gen.«

»Mr. Hobbs«, sag­te Ce­drik schüch­tern, »es sitzt aber ei­ner auf die­ser Kis­te!«

Um ein Haar wäre Mr. Hobbs vom Stuh­le ge­fal­len.

»Was?« rief er.

»Ja«, er­klär­te Ce­drik in ge­büh­ren­der De­mut, »ich bin ei­ner oder wer­de we­nigs­tens spä­ter ei­ner wer­den. Ich will Sie nicht hin­ter­ge­hen.«

Mr. Hobbs sah ganz al­te­riert aus; er er­hob sich plötz­lich und sah nach dem Ther­mo­me­ter.

»Muss wohl so was wie ein Son­nen­stich sein«, er­klär­te er, sei­nen klei­nen Freund scharf ins Auge fas­send. »Die Hit­ze ist auch da­nach! Hast du Schmer­zen? Seit wann fühlst du den Zu­stand?«

Er leg­te sei­ne brei­te Hand auf des Kna­ben Haupt, und die­ser war mehr denn je in Ver­le­gen­heit.

»Dan­ke, dan­ke«, sag­te Ce­drik, »ich bin ganz wohl und in mei­nem Kop­fe ist al­les in Ord­nung, Es tut mir ja so leid, aber al­les, was ich Ih­nen ge­sagt habe, ist wahr, Mr. Hobbs; des­halb hat mich ja Mary ges­tern ge­holt, und Mr. Ha­vis­ham hat mei­ner Mama al­les ge­sagt und er ist ein Ad­vo­kat.«

Mr. Hobbs sank in sei­nen Ses­sel und trock­ne­te sich die Stirn mit sei­nem Ta­schen­tuch.

»Ei­ner von uns bei­den hat den Son­nen­stich!« rief er.

»Nein«, ver­setz­te Ce­drik, »si­cher nicht. Wir müs­sen uns eben drein fin­den, Mr. Hobbs. Mein Groß­pa­pa hat Mr. Ha­vis­ham den gan­zen Weg von Eng­land her­über­ge­schickt, um uns das al­les zu sa­gen.«

Mr. Hobbs starr­te ganz be­stürzt in das un­schul­di­ge, ernst­haf­te, klei­ne Ge­sicht vor ihm.

»Wer ist dein Groß­va­ter?« frag­te er end­lich.

Ce­drik griff in sei­ne Ta­sche und zog mit großer Sorg­falt einen klei­nen Pa­pier­strei­fen her­vor, auf wel­chem in großen, un­be­hol­fe­nen Buch­sta­ben et­was ge­schrie­ben stand.

»Ich habe mir’s nicht recht mer­ken kön­nen, des­halb hab’ ich’s auf­ge­schrie­ben«, sag­te er und las lang­sam: »John Ar­thur Mo­ly­neux Er­rol Graf Do­rin­court! So heißt er und er wohnt in ei­nem Schloss – in ein paar Sch­lös­sern, glaub’ ich. Und mein Papa, der ge­stor­ben ist, war sein jüngs­ter Sohn; und ich wäre kein Graf ge­wor­den und kein Lord, wenn mein Papa nicht ge­stor­ben wäre, und mein Papa wäre auch kein Graf ge­wor­den, wenn sei­ne bei­den Brü­der nicht ge­stor­ben wä­ren. Aber die sind alle tot, und ist gar kei­ner da au­ßer mir – kein Jun­ge – des­halb muss ich der Graf wer­den, und mein Groß­pa­pa hat je­mand ge­schickt, der mich nach Eng­land ab­ho­len soll.«

Mr. Hobbs schi­en es im­mer hei­ßer zu wer­den, er wisch­te sei­ne Stirn und sei­nen kah­len Schä­del und schnaub­te und pus­te­te ganz fürch­ter­lich. Dass hier ein sehr merk­wür­di­ges Er­eig­nis vor­lag, fing an, ihm auf­zu­däm­mern, wenn er dann aber wie­der den klei­nen Jun­gen auf der Bis­kuit­kis­te an­sah mit den ängst­li­chen, un­schul­di­gen Kin­derau­gen, an dem so ganz und gar nichts ver­än­dert zu sein schi­en, son­dern der ganz der näm­li­che hüb­sche, fröh­li­che klei­ne Kerl war in sei­nem schwar­zen Röck­chen mit der ro­ten Kra­wat­te, wie er am Tage vor­her auch da ge­ses­sen, so über­wäl­tig­te ihn die­se Ge­schich­te von Adel und Ti­teln im­mer wie­der aufs neue, und weil Ce­drik sie mit sol­cher Ein­fach­heit und Un­be­fan­gen­heit wie­der­gab, of­fen­bar ohne sich selbst einen Be­griff von ih­rer Trag­wei­te zu ma­chen, stei­ger­te sich sei­ne Ver­blüf­fung im­mer mehr.

»Und, und wie hast du ge­sagt, dass du jetzt hei­ßest?« frag­te Mr. Hobbs.

»Ce­drik Er­rol, Lord Faunt­leroy«, er­wi­der­te der arme klei­ne Edel­mann. »So nennt mich Mr. Ha­vis­ham; als ich ins Zim­mer trat, hat er ge­sagt: ›So, so, das ist also der klei­ne Lord Faunt­leroy.‹«

»Da will ich mich doch gleich räu­chern las­sen!«