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Verloren in einem Meer von Täuschungen Anna Wolf, mitte dreißig, von ihrem Ehemann getrennt, kommt spät abends am Flughafen Zürich an und nimmt versehentlich einen fremden Koffer vom Band. Eine Flut von halb verwischten Erinnerungen, Assoziationen, Albträumen und erotischen Visionen treibt Anna mit dem schweren Gepäckstück auf eine Odyssee durch die Nacht, bis sie in einer Bar von einem Mathematiker vom Problem entarteter Ecken erfährt. Gibt es eine Verbindung zwischen Liebe und Mathematik?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Der Koffer
oder: Entartete Ecken
von Susanne Mathies
Buchbeschreibung:
Verloren in einem Meer von Täuschungen
Anna Wolf, mitte dreißig, von ihrem Ehemann getrennt, kommt spät abends am Flughafen Zürich an und nimmt versehentlich einen fremden Koffer vom Band. Eine Flut von halb verwischten Erinnerungen, Assoziationen, Albträumen und erotischen Visionen treibt Anna mit dem schweren Gepäckstück auf eine Odyssee durch die Nacht, bis sie in einer Bar von einem Mathematiker vom Problem entarteter Ecken erfährt. Gibt es eine Verbindung zwischen Liebe und Mathematik?
Die Autorin:
Susanne Mathies, geboren 1953 in Hamburg, lebt in Zürich, promovierte in Wirtschaftswissenschaft und in Philosophie. Sie schreibt auf Deutsch und Englisch und hat bisher sechs Kriminalromane veröffentlicht, außerdem zahlreiche Gedichte und Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien.
Impressum
© 2023 Baltrum Verlag GbR
BV 2351 – Der Koffer oder: Entartete Ecken
Umschlaggestaltung: Baltrum Verlag GbR
Graphiken: Susanne Mathies
Lektorat: Baltrum Verlag GbR
Korrektorat: Baltrum Verlag GbR, Dr. Hans-Jörg Springer
Herausgeber: Baltrum Verlag GbR
Verlag: Baltrum Verlag GbR, Weststraße 5, 67454 Haßloch
Internet: www.baltrum-verlag.de
E-Mail an [email protected]
Druck: epubli
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der Koffer
oder: Entartete Ecken
Susanne Mathies
Baltrum Verlag
Weststraße 5
67454 Haßloch
Ein Anfang
»All meine Freuden zählen nie
So viel wie die Melancholie«
Robert Burton, Die Anatomie der Melancholie
Ich haste einen steilen Acker hoch, bei jedem Schritt sinke ich tief in die dunklen Erdschollen ein, meine hochhackigen Schuhe bleiben fast im Boden stecken, nur mit Mühe kann ich sie herausziehen. Rote Lackschuhe, sie werden ganz schmutzig, aber ich kann jetzt nicht umkehren. Ich muss rasch an einem bestimmten Ort ankommen, einem Flughafen auf dem Lande, den man nur zu Fuß erreichen kann. Gerade habe ich ein staubiges Dorf verlassen, dort hat mir jemand einen Tipp gegeben. Ich muss bergauf gehen, die Sonne brennt mir auf den Rücken. Endlich bin ich so weit oben angelangt, dass ich den Flughafen erkennen kann. Er ragt hoch in den Himmel wie eine Kathedrale, die Spitze schimmert am Horizont, noch mindestens zwei Hügelkuppen entfernt. Auf keinen Fall darf ich zu spät kommen, muss eilig weiterstolpern über den buckligen Boden. Dies ist nur die erste Hürde – am Flughafen werden die wirklichen Schwierigkeiten erst anfangen. Der Check-in befindet sich tief im Bauch der Kathedrale, man erreicht ihn nur durch unterirdische Gänge in einem Einkaufszentrum, überall ist der Weg von Brandtüren versperrt, graugestrichene Türen aus schwerem Eisen. Hoffentlich kann ich sie öffnen, vielleicht hat jemand sie abgeschlossen, das tun sie manchmal.
»Bitte bleiben Sie angeschnallt sitzen, bis das Zeichen über Ihrem Sitz erloschen ist!«
Ich recke mich gegen die harte Rückenlehne und versinke in die Aufgabe, die mir im Traum auferlegt ist.
Nirgendwo ist der Weg zum Check-in angegeben, man muss sich vom letzten Mal an alle Details erinnern: Der Modeladen mit den kurzen Seidenkleidern befindet sich an der Ecke, hinter der man die Treppe zum ersten Untergeschoss hinaufsteigen muss. Die Treppe ist schlecht beleuchtet, ich muss aufpassen. Die Eingangstür zum eigentlichen Flughafenbereich kann man leicht übersehen, bestimmt gehe ich ein paar Mal daran vorbei, bevor ich sie finde. Von dort aus gibt es Hinweisschilder, allerdings zeigen sie manchmal in die falsche Richtung, und ehe ich mich versehe, bin ich zurück im Einkaufszentrum und muss wieder von vorn anfangen.
»Bitte bleiben Sie angeschnallt sitzen, wir haben das Ziel noch nicht erreicht!«
Sicher wollen einige hektische Herren aus dem fahrenden Flugzeug aussteigen. So eilig habe ich es nicht, darf außerdem nicht aufwachen, solange ich meine anstrengende Aufgabe noch nicht erfüllt habe. Mein Atem wird keuchend, meine Arme verkrampfen sich, jetzt nur nicht aufgeben! Aber die stickige Hitze liegt mir schwer auf der Brust.
Meine Füße schleppen sich über den klumpigen Boden, ich hätte doch besser über die Landstraße zum Flughafen laufen sollen, um rechtzeitig anzukommen. Aber das macht keinen Sinn, fällt mir jetzt ein. Schließlich sitze ich schon in einem Flugzeug, noch dazu in einem, das gerade gelandet ist! Ich nehme einen tiefen Atemzug und versuche, mich zu entspannen.
Die Luft, die durch meine Nase zieht, schmeckt suppig, nach einer Brühe, die ich mir lieber nicht vorstellen will. Verkohlte Kabel, mit Kotze gelöscht. Hässliche Worte für einen hässlichen Geschmack. Widerwillig öffne ich die Augen.
Das Flugzeug ist hell erleuchtet. Der muffige Vorhang, der Business- von Economy-Class trennt, ist zurückgezogen, die grauen Falten hängen direkt vor meiner Nase. Neben mir sitzt ein Mann in verschwitzten schwarzen Jeans und Karo-Hemd. Er scheint ein paar Nummern zu groß für den Sitz, seine Knie stoßen gegen die Lehne des Vordermannes, und sein rechter Ellenbogen reicht weit über die Armlehnengrenze zu mir herüber. Auf der höchsten Stelle seines Bauches hält er eine Aktenmappe. Er tippt auf einem Smartphone, das ständig wegzurutschen droht. Die Hitze wird unerträglich, alles scheint in Auflösung begriffen. Der Ellenbogen meines Nachbarn zuckt immer wieder in meine Richtung, gleich wird er mir schmerzhaft in die Rippen stoßen, kräftig und rücksichtslos. Aber es passiert nicht, warum bin ich enttäuscht darüber? Solche Gedanken sind Anzeichen für eine depressive Verstimmung, hat der Arzt gesagt, die feinen Falten unter den hellblauen Augen lassen ihn freundlich aussehen, aber er versteht mich nicht. Ich wollte schließlich nur ein Rezept für ein Stärkungsmittel, vielleicht fehlen mir Vitamine oder Mineralien, viele Frauen leiden unter Eisenmangel.
»Bitte bleiben Sie noch angeschnallt sitzen!«
Das könnte das Motto meines Lebens sein, brav sitzen bleiben, tun, was mir gesagt wird, keine eigenen Pläne verfolgen, nicht aufbegehren. Da bleiben, wo ich einmal platziert worden bin, mit einem Zwangsjackenband an einen zu engen Sitz gezurrt, in einem stickigen Metallkanister eingepfercht zusammen mit anderen menschlichen Tieren, die nach ihrem Auslauf gieren, mit Zorn in der Kehle und dem Impuls zum Losgaloppieren in den Fuß- und Kniegelenken, ausscherend, ellenbogenrammend, gegen Sitzlehnen tretend. Währenddessen benebelte Sinne und schieflaufende Gedanken, die in rasender Fahrt abdriften, so dass man ihnen gar nicht schnell genug hinterhersehen kann.
An der Tür entsteht Unruhe. Ich stelle mir vor, was geschehen ist. Draußen hat dieser suchende Riesenwurm mit den Ziehharmonika-Falten sein bis zum Ausrenken des Kiefergelenks aufgesperrtes Maul suchend hin- und hergeschwenkt, nach kurzem Schwanken die offene Tür des Flugzeugs gefunden und sich daran festsaugt, eine erfolgreiche Paarung, ein Willkommenskuss. Wenigstens die Maschinen sind glücklich.
Mein übergroßer Nachbar zwängt sich erstaunlich schnell aus dem ächzenden Sessel, schwingt seine Tasche zwischen die Wartenden im Gang und sichert sich einen günstigen Platz.
Inzwischen hat auch mich das Aussteig-Fieber ergriffen, ich hebe meine Handtasche auf und dränge zur Tür. Mein Sitznachbar ist schon nicht mehr in Sichtweite, und sofort fühle ich mich freier. Im Verbindungskorridor ist es kühler als im Flugzeug. Tief atme ich die frische Luft ein.
Im Flughafengebäude gehe ich mit schnellem Schritt voran. Das Klappern meiner hohen Absätze hallt auf dem Boden – klack, klack, klack, klack – wie bei einer Flamenco-Tänzerin, der die Musik verloren gegangen ist, ein Auftakt zu einem Tanz, der nicht stattfindet, stattdessen nur dieses knöcherne Klacken. Ein weicher Rocksaum umspielt meine Knie, die Parodie einer Liebkosung. Ich sehe ihn schwingen, einen Seidenjupe in leuchtendem Pink, mit hingetupften burgunderfarbenen Blüten. Wann habe ich den gekauft, ich kann mich nicht erinnern – man kauft so oft Dinge, um jemand anderes sein zu können, elegant und glänzend. Zu Hause vor dem Spiegel dann wieder das eigene blasse Gesicht, fremd und gleichzeitig viel zu vertraut im neuen Rahmen ...
Die Halle mit der Gepäckausgabe ist fast menschenleer. Wohin sind die anderen so schnell verschwunden? Bin ich in Gedanken verloren irgendwo stehengeblieben, so dass alle an mir vorbeigezogen sind? Träum nicht, hat Mutter früher zu mir gesagt, aber es gibt so vieles, was mich festhält: die Lackschuhe im Fenster, der Glitzerstein im weißen Licht, die Reflexion in der Glasscheibe ...
Die Uhr an der Wand zeigt fünf nach zehn, wahrscheinlich war mein Flug der letzte an diesem Abend. Die Halle wölbt sich neonhell und himmelweit. Plötzlich wird mir kalt, die verglasten Wände und der spiegelnde Boden sind so frostig wie die Halle der Schneekönigin im Märchenbuch, ich sehe das Bild vor mir, eine feine Federzeichnung, die Halle endlos lang, und weit hinten sitzt Kai, legt Eisschollen in geometrischen Mustern vor sich hin. Er hat einen Spiegelsplitter im Herzen, muss von einer liebenden Frau gerettet werden.
Das unerwartete Alleinsein macht mich schwindelig. Mit Mühe zwinge ich mich zum Weitergehen in die große Leere. An der Wand hängt eine Anzeigetafel: Flug aus Hamburg, Gepäckausgabe in vier Minuten auf Band 21.
Vor dem Band 21 stehe ich als Einzige, obwohl bald mehrere Koffer ankommen, will die niemand abholen? Der erste Trolley ist dunkelrot, wie meiner, aber ich bin mir nicht sicher, er wirkt fremd. Vorsichtshalber schaue ich auf dem angehängten Namensschild nach, man kann sich so leicht täuschen. Nein, so heiße ich nicht, mein Name ist viel schöner. Ich hätte außerdem nicht nachzuschauen brauchen, denn ich verwende nie einen Adressanhänger, solche Anhänger sind doch eine Einladung an Einbrecher.
Da kommt mir ein schrecklicher Gedanke: Ich kann mich nicht an meine eigene Adresse erinnern! Alsterkrugchaussee 32, Hamburg Fuhlsbüttel, schießt mir durch den Kopf. Aber das ist Roberts Adresse, die ich auf die Briefumschläge schreibe, nicht meine eigene, an sich selbst schreibt man ja nicht. In Antragsformularen muss man sie angeben, ich stelle nicht viele Anträge, aber die Adresse ist da, sie fällt mir nur im Moment gerade nicht ein. Noch nicht einmal an den Anfangsbuchstaben der Straße kann ich mich erinnern, auch nicht an den Klang.
Ich presse die Fäuste gegen die Stirn, um besser nachdenken zu können, aber je stärker ich mich konzentriere, desto schneller rennen die Erinnerungen vor mir davon. Hastig öffne ich den Reißverschluss meiner Handtasche und wühle im Inneren. Lächerlich, nach dem Handy zu suchen, um dort die eigene Adresse nachzulesen, absolut lächerlich.
In der Tasche finde ich eine Packung Papiertaschentücher, einen Spiegel, einen Lippenstift, eine Puderdose, ein Mascara, einen Kamm, mehr nicht. Wo sind Portemonnaie, Handy, der Pass, Hausschlüssel, die Bordkarte mit dem Gepäckabschnitt? Ist mir während des Fluges etwas aus der Tasche gefallen? Mein Kopf schmerzt, es pocht in meinen Schläfen, ich bin müde. Morgen kümmere ich mich darum, nicht jetzt, jetzt kann ich nicht mehr. Für heute Abend muss es auch so gehen, irgendwie.
Nach einer Karawane schwarzer Trolleys fährt mir endlich ein dunkelroter entgegen, der mir sofort vertraut vorkommt. Vorn zwei Taschen, und ein silbernes Logo-Schildchen ziemlich weit oben. Ich packe ihn und zerre ihn vom Band. Gepolsterter bequemer Griff, schwere Last – ja, mein Trolley. Es fühlt sich gut an, etwas Greifbares in der Hand zu halten.
Ich stelle ihn auf und rolle ihn durch die verwaiste Zollkontrolle in Richtung Bahnhof. Nur fort von hier. Vom Flughafen nehme ich immer den Zug in Richtung Zürich Hauptbahnhof, und auf dem Weg nach Hause wird mir meine Adresse natürlich wieder einfallen. Wahrscheinlich wird sich die ganze Sache von selbst aufklären. Aber wenn nicht? Was, wenn nicht? So ein dummer Gedanke.
Als ich den Trolley auf die Rolltreppe zum Bahnsteig 4 stelle, höre ich unten einen Zug einfahren. ›22:20 S2 Zürich Oerlikon – Zürich HB‹ steht auf der Anzeigetafel. Leider ist der Trolley zu schwer, um ihn die Treppe hinunterzutragen. Also warte ich notgedrungen, bis die Rolltreppe mich nach unten befördert hat. Hoffentlich bleibt der Zug so lange stehen.
Die Türen beginnen sich zu schließen. Ein junger Mann springt an mir vorbei und verschwindet im Innern des Zuges.
Schnell trete ich auf die Stufen an der Eingangstür und ziehe am schweren Trolley. Es kostet viel Kraft, ihn auf die erste Stufe zu wuchten. Draußen ertönt ein gellender Pfiff. Ich halte mich an der Seitenstange fest und ziehe den Koffer die nächste Stufe hoch. Er scheint mit Wackersteinen gefüllt, wie der Bauch des Wolfes, den die sieben Geißlein im Brunnen versenken. Endlich geschafft! Ich atme tief durch.
Der Trolley neben mir scheint größer geworden zu sein. Die silberne Plakette blitzt grell. Ich schaue genauer hin, weil mir das Logo plötzlich fremd vorkommt. Dies ist nicht mein Trolley!
Der Zug fährt ab.
Schmerz
»Dolor nonnullis insaniae causa fuit, et aliorum morborum insanabilium, sagt Plutarch zu Apollonius; Der Schmerz ist ein Grund für Irrsinn, und ein Grund für viele andere Krankheiten.«
Robert Burton, Die Anatomie der Melancholie
Nein, dies ist nicht mein Trolley. Meinen Trolley habe ich vor fünf Jahren in einem exklusiven Koffergeschäft am Neuen Wall in Hamburg gekauft, und das Label zeigt die Eigenmarke des Geschäftes. Der Schriftzug auf dem Trolley, der neben mir steht, lautet: ›Porsche-Design‹, in großen Lettern. So etwas hätte ich nie gekauft.
Dies ist nicht mein Koffer! Mir graust davor, dass ich einen ganzen Koffer voller fremder Wäsche und fremder Erinnerungen mit mir führe, so als ob mir ein beliebiges anderes Leben mit seiner ganzen Schwere aufgedrängt worden wäre.
Da erinnere ich mich, es gibt eine einfache Erklärung. Mein eigener Koffer ist defekt, ein Rad hat sich gelöst, und Mutter, die gerade in Zürich Urlaub macht und solange bei mir wohnt, hat mir ihren Trolley ausgeliehen.
»Du bist in ein paar Tagen wieder zurück, bis dahin kann ich ihn entbehren.«
Ich spüre noch die morgendliche Kühle, als ich mit Mutters Koffer an der Wohnungstür stehe, die Flurlampe brennt, draußen ist es noch dunkel.
»Anna, ich hoffe nur, du wirst dich in Hamburg nicht wieder mit Robert treffen«, sagt sie. »Das tut dir nicht gut, erspar dir das, du musst nach vorn schauen.«
Morgens um halb sechs, aber Mutter sieht schon makellos aus, wie einem Modemagazin entsprungen. Als ich klein war, habe ich geglaubt, eine gute Fee hätte Mutter den Zauber der ewigen Schönheit verliehen, und wenn ich brav genug wäre, würde die Fee auch zu mir kommen.
Mutters in einen Dutt gebändigte grau-blonde Haarmähne wirkt perfekt, jede Strähne mehr oder weniger wäre falsch gewesen. Auch die locker sitzende, aber figurbetonende Hose und der dünne Kaschmirpulli senden eine klare Botschaft aus: Hier ist eine starke Frau, finanziell unabhängig und selbstbewusst genug, um ihre körperlichen Reize zur Geltung zu bringen. Zu diesem Bild passte auch ihr cremefarbener Porsche.
Das Problem mit Robert geht Mutter nichts an. Ich antworte nur kurz: »Ich fliege nach Hamburg, um zu arbeiten und an einer Konferenz teilzunehmen. Sonst habe ich keine Pläne.«
»Du hast nie Pläne, du lässt dich treiben. Sich von einem Mann abhängig zu machen, ist keine Lösung. Du bist Mitte dreißig, wie lange willst du noch so leben?«
Ich werde wütend, aber ich sage nichts.
»Roberts Assistentin – wie heißt sie, Nina? – treibt genau so ein Spiel wie du. Sie gibt sich auch als Häschen-Typ, den ein Mann sich gern auf den Schoss setzt, um ein bisschen zu spielen. So etwas hast du nicht nötig! Und wie du aussiehst – schau mal in den Spiegel: Du hast so schöne Locken, aber du lässt sie auf Kleinmädchenart über die Schultern hängen, das betont dein rundes Gesicht.«
Mutter schiebt mich vor den Flurspiegel, hebt mit kühlen Händen mein Haar an und rafft es in einen lockeren Dutt zusammen. In diesem Spiegel habe ich mich jahrelang jeden Morgen prüfend betrachtet, bevor ich aus dem Haus gegangen bin, seit mir im Kindergarten ein Junge gesagt hat, meine Mütze sei doof. Links unten hat der Spiegel einen blinden Fleck, und der Rahmen aus ockerfarbenen Mosaiksteinen wirkt viel zu schwer für das luftige Spiegelbild, mit solchen Steinen könnte man einen Fußboden pflastern. Wie ist dieser Spiegel nur in meine Wohnung gekommen, hat Mutter ihn etwa mitgebracht?
