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Eigentlich wollte Richard nie wieder in seinen bayrischen Geburtsort zurückkehren, denn die Verletzungen einer schwulen Jugend sind nicht vergessen. Während er sich, als Polizist in Fulda, von all den Konventionen und konservativen Nickligkeiten im fernen Allgäu für immer befreit fühlt, hat das Schicksal jedoch andere Pläne. Ein Todesfall, den er nicht ignorieren kann, ruft ihn in die verdrängte Heimat zurück. War vielleicht nicht alles schlecht? Sind die Dämonen von früher vielleicht die Engel von heute? Zwischen Wehmut und Schmerz offeriert sich ein unerwarteter Kriminalfall, der ihn an seine Grenzen führt. Der Roman erschien erstmals 2021 als Ebook unter dem Pseudonym Maxi Miller im Selbstverlag.
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Seitenzahl: 313
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Tristan Thomas
© dead soft verlag, Mettingen 2025
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Für Fragen zur Produktsicherheit:
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© the author
Erstausgabe 2021
Cover: Irene Repp
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Bildrechte:
© Just dance – shutterstock.com
© PlamenPetrov – stock.adobe.com
SERHII – stock.adobe.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-817-7
ISBN 978-3-96089-818-4 (ebook)
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Veröffentlichung und Vervielfältigung sind ohne Autorenzustimmung nicht erlaubt.
Eigentlich wollte Richard nie wieder in seinen bayrischen Geburtsort zurückkehren, denn die Verletzungen einer schwulen Jugend sind nicht vergessen. Während er sich, als Polizist in Fulda, von all den Konventionen und konservativen Nickligkeiten im fernen Allgäu für immer befreit fühlt, hat das Schicksal jedoch andere Pläne. Ein Todesfall, den er nicht ignorieren kann, ruft ihn in die verdrängte Heimat zurück. War vielleicht nicht alles schlecht? Sind die Dämonen von früher vielleicht die Engel von heute? Zwischen Wehmut und Schmerz offeriert sich ein unerwarteter Kriminalfall, der ihn an seine Grenzen führt.
Liebe Leser*innen, da dieser Roman im Allgäu und im Schwabenländle spielt, wollte ich auf ein bisschen Dialekt, der Stimmigkeit und Stimmung wegen, nicht verzichten. Ich bin sicher, dass ihr damit zurechtkommt, denn irgendwo haben wir doch alle noch Verwandte, die nicht dem reinen Hochdeutsch frönen. Aber: Natürlich gibt es diverse Vokabeln, die sich zwar zum Schreien komisch anhören, auf deren hochdeutsche Übersetzung man aber selbst mit sehr viel Fantasie nicht kommt.
Diese acht bayrischen und schwäbischen Vokabeln sind hier, mit hoffentlich makelloser Übersetzung, zum Einstieg, zusammengefasst:
Bayrisch-Deutsch
Gfickterts: Geflügel
Brunzkachl, ogsoachte: Eine sehr nervtötende Frau. Das bayrische Schimpfwort geht noch mit Du g’hörst ja mit der Scheißbürscht’n nausghaut weiter.
Schwäbisch-Deutsch
Glotzbebbelschdern: Augenstern
gotzig: Gotzig ist eine jener besonderen Vokabeln, die es nur im Schwäbischen gibt und bedeutet eine Steigerung von allein oder einzig. Gotzig ist entstanden aus dem alten Wort gotteseinzig und wurde schwäbisch-mundfaul zu gotzig verkürzt.
Schwätzbas: Tratschtante
Furzklemmer: Geizhals
Grombiirasalad: Kartoffelsalat
Für die einen ist es der schönste Fleck des Bundeslands, mit den romantischen Schlössern der Bayernkönige Maximilian und Ludwig. Für die anderen ist das Allgäu einfach nur Euro-Disney ohne Micky und Goofy. Für mich wiederum ist es weder Idyll noch Kitsch. Für mich ist es Heimat, nur eben nicht im positiven Sinne. Ich war nie ein Landmensch und ich werde auch nie ein Landmensch sein. Ich mag all das Gerede nicht, diesen ewigen Kreislauf aus Jeder kennt jeden. Dieses Hast du schon gehört? und Du wirst es nicht glauben!, das meinem sorgsam versteckten Schwulsein, anno 1999, mit zarten 15, zum Verhängnis geworden war. In diesem Fall war es Rosi, hast du schon gehört, dass man deinen Sohnemann mit dem Obermüller Veit im Heu erwischt hat? gewesen. Immerhin hatte die Huber Traudl die Details ausgespart, aber die waren natürlich trotzdem, keinen Tag später, im Dorf herumgegangen. Ja, ich hatte dem Obermüller Veit einen geblasen. Bis uns sein Vater, unglückseligerweise, erwischt hatte, die am besten investierten zwanzig Mark meines Lebens. Eigentlich hatte das Geschäft ja auf einem Ey, Schwuli. Für zwanzig Mark zeig‘ i dir oamoi einen richtigen Oschi! basiert, nachdem mich Obermüller Junior, mit der Playgirl, auf dem Schulklo erwischt hatte. Aber als dann, nachmittags im Heu, Herr Oschi wider Erwarten tatsächlich vorstellig wurde, denn natürlich hatte ich bis dahin mit einer bösartigen Verarsche gerechnet, war mir nicht nur nach Gucken gewesen. Okay, vielleicht noch nicht gleich nach Blasen, aber vom Anfassen zum Anwichsen war es kein großer Schritt gewesen. Ehrlich, ich denke heute noch gerne an den Schwanz vom Veit zurück. Eine richtige Fleischwurst, fett und lang. Halbsteif konnte man den echt wie eine Weißwurst zuzeln. Ich weiß noch, wie überrascht er mich anfangs angeglotzt hatte. So nach dem Motto Du kannst doch jetzt nicht einfach meinen Oschi…
Und wie ich konnte. Eigentlich schade, dass mich Veit seit damals hasst. Und dazu noch, ganz Vorzeige-Hetero, insgesamt fünf Kinder, mit vier verschiedenen Frauen, gezeugt hat. Ich würde das 99er Geschäft nur zu gerne zum Abschluss bringen. Und da tangiert mich selbst jener Bierbauch nur extrem peripher, den er vor sieben Jahren zur Schau getragen hatte, als ich das letzte Mal hier gewesen war, um die Beerdigung meiner Mutter zu organisieren. Und heute ist es wieder ein Todesfall, der mich zurück nach Schwangau zwingt. Und so sehr ich mich auch mit eigentlich nichtigen Gedanken abzulenken versuche, so weiß ich doch, dass sich der Schmerz, den ich verbannen will, irgendwann meiner bemächtigen wird. Ich zünde mir eine Zigarette an. Jetzt, wo ich die Bergstraßen hinter mir habe, reicht mir bis Schwangau eine Hand am Lenker.
Seit drei Stunden bin ich nun schon auf der Romantischen Straße, die von Würzburg bis Füssen geht, unterwegs. Jetzt biege ich kurz vor Füssen Richtung Schwangau ab und genieße den Blick auf die bekannten Schlösser. Schloss Hohenschwangau thront auf einer Anhöhe über meinem Heimatort, Schloss Neuschwanstein liegt quasi auf dem Hügel gegenüber. Gut, für die Touristen sind es majestätische Berge, auf denen märchenhafte Schlösser thronen. Dabei sind es genau betrachtet eigentlich Burgen, mit Erkern und Zinnen – und dem ganzen Türmchengedöns, das Walt Disney zum Träumen gebracht hat. Richtig, ich bin kein typischer Schwangauer. Wenn ich meinen Blick über die Schlösser schweifen lasse, ist mein Herz nicht voll Stolz und Wehmut erfüllt. Ja, auch meine Familie hat anno dazumal für den Kini gearbeitet, wie fast jede alteingesessene Schwangauer Familie, aber das Leben und Sterben von Ludwig 2 ging mir schon immer am Arsch vorbei. Interessant fand ich lediglich die Geschichten über seine amourösen Abenteuer, mit diversen Reitersoldaten, die er, in größerer Anzahl, zum Hofdienst abkommandiert hatte, um sie dann dort mit königlich-sexuellen Avancen zu konfrontieren. Die schockierten Gesichter, dieser meist jungen Männer vom Lande, kann ich mir bildlich vorstellen. Vor allem wenn es um ihren Kunis ging. Denn Majestät geruhte auf eine gewisse Größe durchaus Wert zu legen. Ich muss trotz der Tragik meines Anreisegrundes grinsen. Wer verwendet heute noch das Wort Kunis? Sittsam heißt es heute Penis. Ich aber nenne einen Schwanz einen Schwanz. Okay, manchmal auch Oschi, aber nur wenn ich an Veit denke, beziehungsweise an dessen Oschi. Wie jetzt wieder. Scheiße, ich glaube, ich habe ein Veit-Trauma. Kaum nähere ich mich wieder dem altbekannten Kaff am Alpsee, schon habe ich Veit vor Augen. Und natürlich seinen Vater, wie er mich mit den Worten Saubua, dreggader! und einer eindrucksvoll geschwungenen Mistgabel aus der Scheune jagt. Gut, das ist die weniger geile Erinnerung. Es hat schon seine Gründe, warum ich hier, einen Tag nach meinem 18. Geburtstag, die Fliege gemacht habe. Ich schaue zu Neuschwanstein hoch. Wie jeder Schwangauer Bua und jedes Schwangauer Mädl habe auch ich früher die Touris mit Ludwig-Anekdoten unterhalten. Nur war es mir dabei nie um den kleinen Obulus gegangen. Höchstens als ganz kleiner Bua. Später fand ich es viel spaßiger, die preußischen Herrschaften mit einem Der Kini mochte Männer mit einem großen Kunis, wussten Sie das? zu beglücken. Ich nehme mal an, das war die Zeit, als ich mich auch für die Größe eines Kunis, der nicht zwischen meinen eigenen Beinen hing, zu interessieren begann. Und seitdem habe ich mich wirklich für sehr viele Schwänze interessiert. Meine selige Mutter wäre schockiert, würde sie noch leben. Die wahre Promiskuität ihrer sogenannten missratenen Brut, und das war ich, nach jenem Scheunen-Intermezzo, bis zu ihrem Tod für sie geblieben, hat sie nicht einmal ansatzweise erahnt.
Das Ortsschild, ich bin zuhause. Nichts hat sich verändert. Warum auch? Weil es so ist, wie es ist, kommen die Touris schließlich. Malerische Laubenhäuser mit Holzgiebel und grünen Fensterläden. Und dazu überall Geranien, denn Geranien sind ein Muss. Meist in Blumenkästen unter den Fenstern, aber auch gerne mal in Kübeln vor der Haustür. Eigentlich sollte man die Geranie zur Nationalblume von Bayern, der Schweiz und Österreich erklären. Egal durch welche Bergdörfer man fährt, sie hängt überall herum. Ich fahre an Obermüllers Hof vorbei. Der gehört jetzt Veit. Obermüller Senior ist dement und wohnt im Heim. Wahrscheinlich hat der den dreggaden Saubua inzwischen vergessen. Und Veits Frau scheint ein Händchen für Pflanzen auch außerhalb des Geranienspektrums zu haben. Der prächtige Blauregen, rund um das kleine Werkstattgebäude, ist neu. Zumindest gab es den vor sieben Jahren noch nicht. Ja, Schwangau ist in seinem ganzen Idyll typisch für das Allgäu. Seit 1986 sind wir sogar Heilklimatischer Kurort. Wir? Komisch, obwohl ich mich in meinem hessischen Exil pudelwohl fühle, kommt mir das wir immer locker über die Lippen, sobald ich Schwangauer Boden betrete und die frische Allgäuer Luft einatme. Losgelöst vom familiären Desaster scheine ich zumindest gegen Schwangau an sich keinen Groll zu hegen. Das Gefühl hatte ich vor sieben Jahren schon. Ich habe es nur wieder vergessen. Oder verdrängt, weil ich nicht gedacht habe, jemals wieder hierher zurückzukehren. Das Urnengrab meiner Mutter pflegt der Friedhofswärter. Er besorgt den Blumenschmuck, ich überweise ihm das Geld dafür – und natürlich ein kleines Dankeschön. Andere Familienmitglieder gibt es nicht mehr. Meine Mutter war ein Einzelkind und mein Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, als ich drei Jahre alt gewesen war. In Anbetracht des schwierigen Charakters meiner Mutter eigentlich kein Wunder. Ich musste für das Leb wohl, man sieht sich! erst volljährig werden.
Ich biege links ab. Jetzt werden die Straßen schmaler. Ich befinde mich im alten Ortskern, fernab der großen Höfe und modernen Hotelanlagen. Hier bin ich aufgewachsen, hier habe ich in meiner Kindheit mit der Müller Vroni Gummitwist und viele Jahre später mit Anton, im Hof seiner Tante, Badminton gespielt. Natürlich hat er meistens gewonnen, denn er war schon immer sportlicher und mit seinen 1,94 Metern auch größer als ich gewesen. Ihn zu überlobben war mir nie gelungen. Aber den schmächtigen Jungen von damals gibt es jetzt nicht mehr. Ich bin zwar nicht gewachsen, verharre, bis das große Schrumpfen irgendwann losgeht, in deutscher Durchschnittsgröße, aber ein paar Muskeln habe ich mir im Fitnessstudio antrainiert. Außerdem trage ich gestutztes Brusthaar und Dreitagebart, das macht männlich. Wenn nur dieser Rotstich in meinen Barthaaren nicht wäre. Ganz egal, wie gut er, laut der Putzfrau unserer Fuldaer Polizeidienststelle, zu meinen braungrünen Augen passt, ich finde ihn schlimm.
Auch den Hof gibt es nicht mehr. Der ist noch in meiner Jugendzeit einem Parkplatz gewichen, nachdem Tante Polly beschlossen hatte, ihre damals noch deutlich kleinere Pension zu vergrößern. Und auf genau diesen Parkplatz steuere ich jetzt zu. Auch hier hat sich nichts verändert. Nur die Linden sind im Laufe der Jahre ganz schön gewachsen.
Wenig später stehe ich mit meiner Reisetasche vor dem Hintereingang der Pension. Wenn ich es genau bedenke, habe ich noch nie den Vordereingang benutzt. Der war immer für Gäste reserviert. Da war Tante Polly, die eigentlich Leopoldine heißt, wirklich sehr eigen und gestreng. Trotzdem habe ich mir immer eine Tante wie Antons Tante Polly gewünscht. Denn so strikt sie auch in gewissen Dingen war, so tolerant war sie in anderen. Mein Schwulsein war bei ihr nie eine große Sache gewesen. Vielleicht wäre ihr selbst Anton schwul lieber gewesen. Seine Freundinnen hatten es mit ihr jedenfalls nicht leicht gehabt. Viel zu groß, viel zu dumm, viel zu verwöhnt. Selbst an der hübschen Annabel hatte sie kein gutes Haar gelassen. Die Worte Wer nennt sein Kind denn Annabel, das hört sich an wie Anna gauz einmal habe ich immer noch in den Ohren. Nein, als Schwiegermutter hätte ich Tante Polly auch nicht haben wollen. Da war sie mir als quasi adoptierte Tante lieber. In den drei Jahren zwischen Saubua, dreggader! und Leb wohl, man sieht sich! verdanke ich all meine schönen Erinnerungen nur Anton und ihr. Und jetzt, jetzt ist Anton tot. Durch diese Tür zur Küche, vor der ich nach wie vor unschlüssig stehe, wird er nie wieder lachend rein oder raus stürmen. Wie früher, als wir wie Brüder gewesen waren. Wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Weswegen aus Tante Poldi auch Tante Polly geworden war.
„Die Hintertür hat immer noch keine Klingel. Du musst schon reingehen.“
Ich zucke zusammen. Als Polizist sollte ich nicht schreckhaft sein, aber hier hat mich Tante Polly eiskalt erwischt. Ich habe einfach nicht damit gerechnet, dass sie plötzlich hinter mir steht. Wie früher in ihrer obligatorischen Kittelschürze. Nur ist sie heute nicht bunt gemusterter Augenkrebs, sondern schwarz. Wie auch das Kopftuch, das sie nur dann trägt, wenn sie in ihrem Garten am Werkeln ist.
„Tante Polly, es tut mir so leid!“
Ich lasse meine Reisetasche fallen und umarme sie. Seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, damals an Mutters Beerdigung, ist sie noch dünner geworden. Mit einer Sense in der Hand würde sie gerade sogar Gevatter Tod Konkurrenz machen.
„Der dumme Bua! Sowas macht man doch nicht, das macht man doch nicht!“
Sie schluchzt und schiebt mich sanft in Richtung Küche. Dort wird sie mir einen heißen Kakao und sich einen Kaffee machen. Das weiß ich, denn das war immer so. Auch wenn ich, mit meinen inzwischen 35 Jahren, ebenfalls einen starken Kaffee vertragen könnte. Schließlich bin ich seit ihrem Anruf heute Morgen auf den Beinen – und um 7 Uhr in der Früh stehe ich im Urlaub eher selten auf. Trotzdem lasse ich sie den Kakao machen. Sie wirkt sehr fahrig und durch den Wind, da will ich sie nicht unnötig irritieren. Auch nach einem Zimmer werde ich sie erst später fragen. Auf der Gefriertruhe steht meine Reisetasche gut, ohne jemand zu stören. Mein Instinkt rät mir, dass ich mich ihrer Geschwindigkeit anpassen sollte. Wenn sie so weit ist, wird sie mit mir reden und mir erzählen, was heute Morgen passiert ist. Wenn sie es nicht schafft, die Geschehnisse in Worte zu fassen, weil die Erinnerung für sie zu frisch und schmerzhaft ist, werde ich mich später bei der örtlichen Polizei erkundigen. Ein Selbstmord passiert hier nicht alle Tage. Die Polizei war sicher auch vor Ort.
Mein ehemals heißer Kakao ist nur noch lauwarm. Ich stehe in Tante Pollys Garten und schwelge in Erinnerungen. Der windschiefe Schuppen, in dem Anton und ich heimlich unsere ersten Zigaretten geraucht haben – und der immer noch steht, obwohl wir schon damals befürchtet hatten, er könne uns bald über den Köpfen zusammenbrechen. Die Stachelbeersträucher, früher vor einem kleinen Mäuerchen von anno dazumal, heute vor einem mannshohen Zaun, der den privaten Garten vom Parkplatz abgrenzt. Die Büsche werden inzwischen vermutlich neue Anpflanzungen sein, aber an den Erinnerungen ändert das nichts. Was haben wir zwei Jungs früher die Büsche leer schnabuliert. Sehr zum Ärger von Tante Polly, die die Beeren so gerne gläserweise zu Marmelade verarbeitet hätte. Ich höre sie noch schimpfen, dass sie sich, wenn das so weiterginge, einen Stacheldraht für ihre Stachelbeeren zulegen würde. Und hey, da steht tatsächlich noch Neuspatzstein auf der kleinen Rasenfläche neben dem Schuppen. Das Vogelhaus auf einem Holzpfahl, das wir Tante Polly 2001 zu Weihnachten gebaut haben. Okay, hauptsächlich Anton. Ich war handwerklich noch nie geschickt. Dafür aber sehr begabt im Anreichen von Nägeln und Werkzeug, wie es Anton immer auszudrücken pflegte. Mit diesem für ihn typischen Grinsen im Gesicht.
Wie ich ihn vermisse, jetzt wo er tot ist. Jetzt, wo ich mich fragen muss, wie es dazu hatte kommen können, dass wir uns so auseinandergelebt haben. Sicher, viele Kindergarten- und Schulfreundschaften überstehen den Wechsel in die Welt der Erwachsenen nicht. Interessen verändern sich, Lebenswege schlagen eine jeweils andere Richtung ein, aber doch nicht bei Anton und mir. Unsere Interessen waren schon immer verschieden gewesen. Er ein Schürzenjäger vor dem Herrn, ich der frischgekürte Dorfschwule, wegen dem der ach so bemitleidenswerte Obermüller Veit auf ein Internat geschickt worden war. Er der Fußballspieler auf dem Feld, ich der Fan am Spielfeldrand. Er, trotz aller Schicksalsschläge, in seinem tiefsten Innern lebensfroher Optimist, ich introvertierter Außenseiter mit dem immer halbleeren Glas in der Hand. Dabei waren meine Probleme, gegen seine, eher Luxusprobleme gewesen. Ich hatte meine Eltern nicht mit 15 durch einen Hausbrand verloren. Und ich war auch nicht aus meinem gewohnten Umfeld herausgerissen und in die Allgäuer Provinz, zu einer mir weitgehend unbekannten Tante, verfrachtet worden. Ich war lediglich mit einer Anti-Bilderbuchmutter und einem überschaubaren Freundeskreis, der sich nach der Scheunengeschichte gänzlich verabschiedet hatte, gesegnet gewesen.
„Kommst du wieder rein, Bua?“
Ich zucke erneut zusammen. Tante Polly hat wirklich ein unheimliches Talent dafür entwickelt, ganz plötzlich hinter einem zu stehen.
„Geht es wieder, Tante Polly?“
Ich drehe mich zu ihr um und mustere sie besorgt. Was ist schon meine Trauer um Anton gegen ihren Verlust. Ich habe einen guten Freund verloren, der einmal mein bester Freund gewesen war, sie einen Menschen, den sie wie einen Sohn geliebt und tolerant und vertrauensvoll durch die letzten zwanzig Jahre begleitet hatte. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie Anton jemals etwas verboten hat.
„Es muss ja, Bua. Es muss ja.“
Sie scheint sich ein wenig gesammelt zu haben, aber sie hat Tränen in den Augen. Ich weiß nicht, ob es gut ist, das Thema Anton jetzt weiter zu vertiefen. Vielleicht sollte ich mir die Informationen wirklich anderweitig besorgen.
„Außerdem will ich darüber reden. Die anderen erzählen dir doch nur Unsinn.“
Ja, auch Tante Polly ist keine Anhängerin des sogenannten Dorffunks. Deswegen waren ihr damals auch die Gerüchte um die kleine, schwule Blasmamsell, was durchaus noch die netteste Titulierung gewesen war,komplett am Arsch vorbei gegangen. Sie hatte lediglich nachgefragt, ob die Sache den ganzen Ärger wenigstens wert gewesen sei – und ich hatte völlig verdattert genickt, nachdem mir vor Schreck fast der Kakao aus der Hand gefallen war. Untermalt von einem lauten Antonprusten. Selbstmord? Nein, das passt so gar nicht zu dem Anton, den ich kannte. Und erst recht nicht Erhängen, im ehemaligen Pferdestall, zwischen Tante Pollys ausrangierten Möbelstücken und einem uralten Traktor.
„Die Polizei hat sicher einen ordnungsgemäßen Bericht geschrieben. Wenn es dich zu sehr aufregt, gehe ich nachher mal beim Poidl vorbei. Der ist doch noch bei der hiesigen Polizei?“
„Es regt mich NICHT auf! Aufregen würde es mich, wenn der Poidl überall rumerzählt, wie der arme Bua gestorben ist und dass das kleine Miststück ihm das Herz gebrochen hätte.“
Das kleine Miststück? Hatte Anton eine Freundin gehabt? Ich folge Tante Polly in die Küche und stelle meine Tasse in der Spüle ab. Ein kurzer Rundumblick. Nein, eine Spülmaschine gibt es immer noch nicht. Und das in einer Pension mit inzwischen zwanzig Zimmern.
„Anton hatte eine Freundin?“, frage ich möglichst neutral, denn es ist offensichtlich, dass dieses Thema gerade nicht ihr Lieblingsthema ist. Aber sie hat das kleine Miststück angesprochen – und ich brauche irgendeinen Ansatzpunkt, warum sich Anton, Zefix no amoi, erhängt hat. Komisch, keine Stunde zurück in Schwangau, schon fange ich wieder an, innerlich auf bayrisch zu fluchen.
„Das kleine Miststück ist zwar ein Flitscherl, aber kein Weibsbild. Das ist ein junger Bua, den der Anton aus München mitgebracht hat. Keine zwanzig Jahre alt, aber hat es faustdick hinter den Ohren, das kleine Miststück, das Mistige.“
Gut, das kleine Miststück, das Flitscherl, oder das was auch immer, heißt Snorre. Laut Tante Polly genau der richtige Name für einen Schnorrer. Und das ist er ihrer Meinung nach: ein durchtriebener, mannsgeiler Schnorrer, der sich bei Anton eingenistet hatte, um ihn nach Strich und Faden auszunehmen. Allerdings passt das alles nicht zusammen. Ich weiß, dass bei Anton keine schwule Ader vorhanden gewesen war. Nicht einmal einen Hauch davon. Warum hätte er sich also einen mannstollen Kerl ins Haus holen und diesem auch noch Geld in den Arsch blasen sollen? Sicher ist allerdings, dass Snorre in den letzten Wochen mit mindestens zwei jungen Kerlen aus Füssen herumgemacht hat. Einmal war es die Huber Traudl, wer auch sonst, gewesen, die durch ein Fenster spioniert und Stein und Bein geschworen hatte, dass der Sohn vom Füssener Bürgermeister unaussprechliche Dinge mit dem Hintern vom Flitscherl getrieben habe.Das andere Mal hatte das Flitscherl am Alpsee mit einem Füssener Schulbub, laut Tante Polly höchstens 17 Jahre alt, geknutscht – und in der Badehose von jenem Bub wäre wohl beinahe ein öffentliches Ärgernis entstanden. Der Anton habe das aber alles mit den Worten Der Snorre ist halt jung abgetan. Und deswegen habe sie sich auch nicht einmischen wollen. Dass junge Burschen manchmal ihr Hirn ausschalten, wüsste sie ja noch von mir. Aber ich hätte nur am Obermüller Veit schnabuliert und nicht noch an zig anderen Jungs. Das müsse gesagt sein, denn das sei schon ein Unterschied. In ihren Augen wohlgemerkt. Hätte sich damals nämlich die Chance geboten, mich an den Schwänzen meiner anderen Klassenkameraden zu verlustieren, hätte ich definitiv eine frühe Karriere als Blasmeister gestartet. Aber außer Anton hat mich damals, nach dem Happening mit Veit, keiner mehr mit dem Arsch angeguckt. Man hätte sich ja schließlich mit Schwulsein infizieren können oder so. Ohne Anton wäre ich innerlich vor die Hunde gegangen. Nicht einmal die Mädchen hatten sich noch mit mir abgeben wollen, weil ich angeblich ihren Helden schwulisiert hätte. Dabei wäre keines dieser Zahnspangenmädchen jemals Frau Obermüller geworden. Der Veit stand schon damals auf reifere Mädels – und die erste Frau Obermüller war gleich satte acht Jahre älter als er. Anton war es egal gewesen, was ich in den Mund nehme und was nicht. Wir waren beste Kumpels geblieben, die sich einfach nur nicht über alles ausgetauscht hatten. Der Oschi vom Veit hatte ihn nämlich nicht die Bohne interessiert. Was diese ganze Snorre-Geschichte wirklich, wirklich, komisch macht. Vielleicht hat Tante Polly recht. Auch wenn ich die sexuelle Neugier von diesem Snorre nachvollziehen kann, er muss einfach das kleine Miststück sein, für das sie ihn hält. Vielleicht hat er Anton erpresst. Vielleicht hatte Anton in München irgendwas getan, was hier keiner wissen durfte. Und deswegen residierte das Flitscherl im gemachten Nest und verführte die Füssener Stadtjugend. So oder so, ich muss mir diesen Kerl mit eigenen Augen anschauen. Das habe ich auch Tante Polly gesagt – und ihr natürlich hoch und heilig geschworen, dass ich mich von dieser blondgelockten Lorelei nicht verführen lassen werde. Als ob ich mit einem Kerl in die Kiste steigen würde, der meinen besten Freund in den Tod getrieben hat. Und danach sieht es leider aus. Immerhin hat die Huber Traudl, die direkt neben Antons kleinem Häuschen am Ortsrand wohnt, sie in den letzten Tagen häufiger streiten gehört. Ehrlich, früher hat Tante Polly nicht so viel auf den Dorftratsch gegeben. Scheinbar ist das so eine Altersgeschichte.
„Parzival, dich hab’ ich ja lange nicht mehr gesehen!“
So, jetzt ist es raus. Ich heiße wirklich Parzival. Vollständig Parzival Richard Katzlmayr – und der reichlich rund gewordene Mann, der mich soeben auf der Straße begrüßt, ist der Poidl. Der übrigens genau weiß, wie sehr ich den Namen Parzival hasse. Keiner nennt mich so. Ich war schon immer Richie. Außer bei der Mobbingfraktion meiner Jugend natürlich. Pimmellingeling, da kommt der Parzival war ja auch so witzig gewesen. Ich lächele trotzdem und antworte mit einem flotten „Poidl, in welchem Monat bist du denn schon?“. Kurz habe ich den Eindruck, dass seine Mimik gefriert, dann lacht er laut und klopft mir auf die Schulter. „Der war gut!“, tut er kund. „Und verdient!“, füge ich an. Dann lachen wir beide. Allerdings nur kurz, dann wird uns wieder klar, warum ich hier bin. Wegen Anton, der tot ist. Wegen einem Selbstmord, der nicht zu ihm passt. Und der Poidl ist der zuständige Wachtmeister im Ort. Er war heute Morgen sicher dabei.
„Mein Beileid, Par … äh … Richie. Der Anton war ein guada Mensch.“
„Sag mal, Poidl, können wir kurz reden?“
Am liebsten würde ich zurück zur Pension marschieren und Tante Polly einfach noch mal in den Arm nehmen, denn der Morgen muss für sie die wahre Hölle gewesen sein. Mir reicht schon Poidls Bericht, über das, was er, bei seiner Ankunft am Tatort, mitbekommen hat. Einen definitiv toten Anton auf dem Boden, den die Rettungssanitäter schon zugedeckt hatten, weil nichts mehr zu machen gewesen war. Eine hysterische Tante Polly, die permanent wiederholt hatte, dass der arme Junge noch gezappelt habe, als sie mit der Brennholzaxt dem Seil zu Leibe gerückt war, das Anton, warum auch immer, an einem unteren Stützbalken verknotet hatte, bevor er mit dem anderen Seilende unters Dach geklettert war. Und dann hatte zu allem Übel auch noch der lammfromme Bulle vom Gruber Valentin die ganze Zeit im Weg herumgestanden, der wohl in den letzten zwei Wochen sehr häufig als unwillkommener Nachtbesuch, auf dem Grundstück von Tante Polly, in Erscheinung getreten war. Vorgestern hatte sie sogar die Polizei gerufen, weil er ihrem heißgeliebten Gemüsegarten auf die Pelle gerückt war. Und das, obwohl der Gruber Valentin die Stalltür seit Tagen abends doppelt und dreifach kontrolliert. Aber das ist ein Fall für Akte X. Antons Tod war ein Fall für Rettungsdienst und Polizei. Beziehungsweise war ein Fall gewesen. Nachdem der Arzt den Totenschein auf Tod durch Selbstmord ausgestellt hatte, hat die hiesige Polizei, bis zur endgültigen Entscheidung des Staatsanwalts, von weiteren Ermittlungen abgesehen. Zumal sich die Sachlage, also zweifelsfreier Selbstmord, als völlig klar erwiesen hätte.
Meiner polizeilichen Erfahrung nach gibt es keinen zweifelsfreien Selbstmord, wenn man nicht gerade zufällig live dabei ist, wie eine arme Seele von einem Hochhaus springt. Und selbst dann kann noch jemand die Person gestoßen haben. Andererseits ist das hier Schwangau. Hier laufen keine irren Mörder rum. Da kann ich Poidls Einschätzung der Lage schon verstehen: Anton hängt sich auf. Der Bulle vom Gruber Valentin fängt an zu muhen. Tante Polly, die bekannte Frühaufsteherin, eilt herbei, um das ungeliebte Rindvieh zu vertreiben, entdeckt den baumelnden Anton und zerhaut geistesgegenwärtig das gespannte Seil. Nur leider zu spät, Anton ist schon tot. Polizeiliche Rationalität. Und selbst wenn es eine dritte Person gegeben hätte, so hätte sie, bei einer Flucht aus dem Stall, Tante Polly direkt in die Arme laufen müssen. Summa summarum spricht leider alles für einen Selbstmord. Anton hatte auch keine Feinde. Nur einen sexuell aktiven Jungspund als Mitbewohner, mit dem er sich, warum auch immer, häufiger gestritten hat. Jedenfalls in letzter Zeit. Deshalb hat Poidl diesen Snorre, direkt heute Morgen noch, befragt. Allerdings rein pro forma, denn ohne den geringsten Anhaltspunkt für ein Verbrechen, keine Notwendigkeit für ein Alibi. Trotzdem werde ich mir dieses Flitscherl anschauen. Wenn ich schon einen Selbstmord akzeptieren muss, dann will ich ihn zumindest verstehen. Das Warum, das Wieso – und das Weswegen.
Bis zu Antons Häuschen brauche ich zu Fuß keine zehn Minuten. Es liegt zwar am anderen Ende des Ortes, aber Schwangau ist in seiner Größe überschaubar. Außerdem kenne ich diverse Abkürzungen zwischen den Grundstücken hindurch. Die Geheimgänge meiner Kindheit, die vermutlich schon in der Kinderzeit meiner Großeltern existiert haben. Auch wenn heutzutage fast alle mit Öl oder Gas heizen, die Holzschuppen von früher stehen immer noch. Und damit all die engen Winkel, durch die man sich, fast ungesehen, von A nach B schlängeln kann. Zäune gibt es nur nach vorne zur Straße hin. Der Touris wegen. Dem Nachbarn vertraut man. So läuft das auf dem Dorf. Auch Antons Häuschen ist ein ehemaliger Holzschuppen. Tante Pollys Holzschuppen, den sie in den 70ern von der Huber Traudl erworben hatte, weil im Pferdestall nicht mehr genug Platz für die Holzscheite gewesen war. Richtig, da hatte schon damals der alte Traktor seine Rente drin gefeiert. Aber Aussortieren und Loslassen sind nun einmal nicht Tante Pollys größte Stärken.
Okay, ein Holzschuppen ist das Häuschen nicht mehr. Das war zu erwarten gewesen. Mit einem zweistöckigen Wohnhaus habe ich jedoch nicht gerechnet. Nur noch das Erdgeschoss erinnert an den Schuppen von früher. Wo früher die quietschende Holztür mit der abgeblätterten Farbe war, ist jetzt eine stabile Haustür. Wieder Holz, aber viel edler. Auch das kleine Fenster rechts neben der Tür ist geblieben, nur hat es jetzt eine heile und keine gesprungene Scheibe mehr. Und da, wo früher das Dach war, gibt es jetzt ein neues Stockwerk, samt Minibalkon über der Haustür. Mit einem Blumenkasten voll Geranien. Ich muss grinsen, obwohl mir nicht nach Grinsen ist. Wenn ich eines an Antons Häuschen nicht erwartet hätte, dann Geranien. Er war nie ein Pflanzenmensch gewesen. Ja, ein Wald- und Wiesenbursche, aber eher mit einem Auge für stolze Bäume – und nicht für bunte Blumen. Waren wir uns so fremd geworden, dass ich einfach nicht bekommen habe, dass sich mein Herzensbruder zu einem Geraniengießer entwickelt hatte? War er vielleicht doch zum Schwulsein konvertiert und ich hatte auch das nur nicht realisiert? Nein, das kann nicht sein. Ich schüttele innerlich den Kopf. Auch wenn wir in den letzten sieben Jahren nur ab und an telefoniert oder gechattet hatten, so was hätte er mir erzählt. Ein Richie, ich mag jetzt auch Oschis statt Uschis hätte er rausgehauen. Und sei es nur, um sich an meiner vermutlich perplexen Reaktion zu erfreuen. So war er nämlich. Er konnte sich diebisch darüber freuen, wenn anderen die Kinnladen gen Boden krachten. Mein Anton. Ich seufze auf. Warum habe ich ihn nicht häufiger angerufen? Warum habe ich ihn nicht einfach mal eingeladen? Er wäre bestimmt gekommen und hätte ständig Witze über die Hulda aus Fulda gemacht. Kein Kalauer. In der Wohnung über mir wohnt tatsächlich eine Hulda. Eigentlich eine Cathulda, aber das Cat hätte er ganz sicher gütig unterschlagen.
Verdammt, ich muss aufpassen, dass ich nicht anfange, zu weinen. Das wäre mir vor dem Flitscherl danndoch peinlich. Schließlich bin ich ein gestandener Mann – und kein blondes Bübchen, das sich von einem älteren Mann aushalten lässt. Scheiße, wenn ich Anton als älteren Mann bezeichne, bin ich es selbst auch. Ich bin sogar fünf Monate älter. Das ist nicht mein Tag, weder emotional noch intellektuell.
Auf mein Klingeln reagiert niemand, aber es muss jemand zuhause sein. Die Haustür ist nur angelehnt und der Fernseher läuft. Vielleicht ist das Flitscherl hinterm Haus. Ich beschließe, nachzuschauen und schleiche um den ehemaligen Holzschuppen herum. Tatsächlich, ich schleiche. Das fällt mir aber erst auf, als ich Antons Was-auch-immer sehe, das mit dem Rücken zu mir steht, mich nicht bemerkt und gerade in Shorts schlüpft, die wohl vor ein paar Sekunden noch an der Wäschespinne gehangen hatten. Was wiederum bedeutet, dass es vorher, mit nichts an, außer dieser unübersehbar gutsitzenden Unterhose, draußen herumspaziert war. Gut, dass das die Huber Traudl nicht gesehen hat. Den Empörungslevel möchte ich mir gar nicht ausmalen. Ich male mir eher aus, wie dieser schicke Hintern wohl ohne Unterwäsche aussieht. Ich tippe auf haarlose, schneeweiße Apfelbacken. Vielleicht mit einem Hauch von blondem Flaum in der Ritze, denn das Flitscherl ist in der Tat ein Blondchen. Ein Goldblondchen, denn die süßen kleinen Löckchen auf seinem Kopf glänzen im Sonnenlicht. Es ist einen Kopf kleiner als ich, ich schätze höchstens 1.70 – und dreht sich genau jetzt zu mir um.
„Genug gespannt, oder soll ich die Hose vorne auch noch mal lupfen?“
Okay, das Flitscherl hatte mich bemerkt. Der Tonfall und der finstere Blick, der mir aus grasgrünen Augen zugeworfen wird, sprechen Bände. Statt einen schlagfertigen Kommentar rauszuhauen, um den ich sonst nie, wirklich nie, verlegen bin, schweige ich völlig überrascht. Denn erstens kommt mir dieses Gesicht bekannt vor und zweitens erscheint es mir als ein großes Wunder, dass ein solch engelgleiches Geschöpf überhaupt finster dreinblicken kann. Dass das Flitscherl der Füssener Stadtjugend den Kopf verdreht hat, ist für mich keine Überraschung mehr. Trotzdem sammle ich mich wieder, denn schließlich ist dieser goldgelockte Jüngling, mit den sinnlichsten Lippen, die ich je gesehen habe, besagte böse Made im Speck. Obwohl, ich habe diese Lippen schon einmal gesehen, ich bin mir sicher, aber ich habe leider keinen Schimmer wo.
„Nicht nötig!“, antworte ich daher nur, „Wir wollen schließlich nicht, dass Frau Huber vor Schreck in Ohnmacht fällt.“
Nein, ich habe keine Augen im Hinterkopf, aber als Polizist bin ich gut im Kombinieren. Hinter mir kommt jemand schwer atmend näher und vor mir verdreht das Sahneschnittchen genervt die Augen.
„Parzival, ich wusste, dass du kommst. Leopoldine hat dich bestimmt sofort angerufen. Ach herrje, der arme Bua. Und das nur wegen dem Flitscherl da. Ich hoffe, du wirst es gleich verhaften, das verdorbene Ding.“
Voilà, die Huber Traudl, wie sie leibt und lebt. Aber scheinbar ein wenig dement, denn ein verdorbenes Dingwar ich für sie auch schon einmal gewesen. Jetzt aber wird das Flitscherl von früher an den kolossalen Busen gedrückt und das Flitscherl von heute mit einem blicktechnischen Todesfluch belegt.
„Liebe Frau Huber, ich bin hier nicht der Wachtmeister. Und bisher wüsste ich auch nicht, wofür ich den jungen Herrn hier verhaften sollte.“
Ich befreie mich aus ihrer Umarmung und setze voll auf Höflichkeit. Auch wenn ich diese alte Tratschtante wirklich gefressen habe. Ja, ob meiner Jugendzeit bin ich ein wenig nachtragend. Und deswegen beschließe ich auch, das Flitscherl im Geiste nicht mehr Flitscherl zu nennen. Sahneschnittchen passt sowieso besser.
„Der junge Herr macht aus unserem schönen Schwangau Sodom und Gomorrha. Schau, wie das Flitscherl schon wieder rumläuft. Halbnackert, wie eine Dirne.“
Ich verdrehe die Augen und will etwas entgegnen, da kommt mir das Sahneschnittchen zuvor:
„Herr Parzival, wenn Sie mich also nicht verhaften möchten, dann werde ich mich jetzt entschuldigen. Bevor ich mich gegenüber dieser Dame vergesse!“
Statt Dame hätte es genauso gut Drache, Hexe, oder dumme Kuh sagen können. Die Betonung des Wortes Dame war unmissverständlich. Und während sich die Dame noch über die unsäglichen Manieren dieses unverschämten Jungen entrüstet, ist der Stein des sittlichen Anstoßes an mir vorbei und ins Haus. Knallende Haustür inklusive.
Ich klingele wieder. Die Huber Traudl ist schimpfend auf ihr Grundstück zurück gestapft und ich will mir jetzt endlich ein genaueres Bild von diesem Sahneschnittchen machen. Vor allem will ich wissen, was es mit Anton getrieben hat. Natürlich nicht in sexueller Hinsicht, denn ich bin immer noch überzeugt, dass Anton mit Schwänzen und Männerärschen nichts am Hut hatte.
„Wollen Sie mich jetzt doch verhaften, Herr Parzival?“
Die Tür wird geöffnet – und der Blick, der mir nun zugeworfen wird, schwankt zwischen äußerst unfreundlich und sehr genervt. Genervt bin ich allerdings auch, denn Herr Parzival hat mich noch niemand genannt und ich bin ziemlich sicher, dass ich so auch nicht genannt werden möchte. Deshalb stelle ich kurz und knapp klar, dass ich Richard Katzlmayr heiße und den Herrn Snorre gerne, unter vier Augen, zu sprechen wünsche. Zuerst verdüstert sich der Blick gewaltig, Herr Snorre scheint auch keine Wunschtitulierung zu sein, dann hellt sich Sahneschnittchens Miene schlagartig auf.
„Sie sind Richie, oder? Sie sind der Bulle aus Fulda!“
Antons kleines Häuschen ist sehr gemütlich eingerichtet. Zumindest das Erdgeschoss. Ein Kachelofen rechts in der Ecke, ein großes Sofa links an der Wand – und damit ist der vordere Raum des ehemaligen Holzschuppens auch schon vollgestellt. Ein Hoch auf die flachen Fernseher der Gegenwart, die man an eine Wand hängen kann. Ein Fernsehtisch samt Röhrenmonster hätte hier nämlich keinen Platz mehr gefunden. Auch der Couchtisch ist eher eine zweckmäßige Miniaturvariante für einen Laptop und eine Tasse Kaffee.
„Setzen Sie sich doch. Ich hole ihnen auch eine Tasse Kaffee. Ich weiß, dass Sie Kaffee mögen.“
Das Sahneschnittchen, welches soeben, durch die rückseitige Tür, in eine winzig kleine Küche verschwindet, weiß mehr über mich als mir lieb ist. Anton hat wohl viel von mir erzählt. Was bedeutet, dass dieser Snorre höchstwahrscheinlich weiß, dass ich schwul bin – und ich mich wirklich vor den Reizen einer Lorelei in Acht nehmen muss. Wenn er etwas zu verbergen hat, wird er versuchen, mich zu verführen. Es ist daher nicht ratsam, es mir auf dem Sofa bequem zu machen, das er, Kissen und Decke sprechen Bände, auch als Schlafplatz benutzt. Entweder hat ihn Anton aus dem gemeinsamen Schlafzimmer geschmissen, oder sie haben nie das Bett geteilt. Ich tendiere nach wie vor zu Letzterem, denn so wohlgerundet das Hinterteil auch daherkommt, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es Anton jemals ins Auge gesprungen wäre.
„Milch? Zucker?“, ruft der Besitzer des wohlgerundeten Hinterteils nun fragend aus der Miniküche. Und während ich Milch bejahe und Zucker verneine, beschließe ich, mich doch auf das Sofa zu setzen. Dort liegt eine Decke, die ich bei Bedarf unauffällig drapieren kann. Denn nichts erscheint mir momentan unangebrachter und peinlicher, als gegebenenfalls Zeichen akuter Geilheit offen zur Schau tragen zu müssen. Dabei fällt er nicht einmal in mein Beuteschema. Viel zu jung, viel zu unbehaart, viel zu blond. Und Löckchen sind eigentlich so gar nicht meins. Gut, er hat jetzt nicht diesen gruseligen Pudellook des jungen Justin Timberlake, aber wenn ich ihm ein weißes Nachthemd überwerfe, könnte er mit diesen Engelslocken auf der nächstbesten Wolke frohlocken. Männer, die mich normalerweise antörnen, sind in der Regel groß und dunkelhaarig, mit fast schon schwarzen Augen. Meist haben sie Brusthaar und Dreitagebart – und auch Tätowierungen sind gerne gesehen. Nur ein Arschgeweih finde ich peinlich. Ich war mal mit einem Typen im Bett, der hatte allen Ernstes eine breitbeinige Diddl-Maus über dem Steiß. Da war mir dann auch der heiße Arsch egal gewesen. Beim Vögeln auf eine Diddl-Maus zu starren, no way, das geht gar nicht. Genauso wenig gehen eigentlich Stupsnasen, aber Snorres Stupsnase ist nicht ganz so stupsig und passt perfekt zu dieser schön geschwungenen Oberlippe. Und diese Kombination, aus Nase und Mund, kenne ich. Da bin ich mir wirklich sicher, weiß aber immer noch nicht woher. Was mich schon ein bisschen wahnsinnig macht.
„Bitte schön, Ihr Kaffee, mit Milch und ohne Zucker!“
Prinz Stupsnase ist zurück, drückt mir eine Kaffeetasse in die Hand und lässt sich leicht schniefend neben mir nieder. Wirklich, er lässt sich wirklich nieder. Kein profanes Hinsetzen, nein, er gleitet förmlich auf das Sofa hinab. Mit einer natürlichen Anmut, die mich verblüfft. Selbst Anton und ich waren in seinem Alter viel grobmotorischer unterwegs gewesen. Hinhocken, hinfläzen, von Anmut keine Spur. Nur das Schniefen passt nicht dazu. Also schaue ich genauer hin und entdecke ein paar Tränen, die er, kaum dass er meinen prüfenden Blicken gewahr wird, eilig mit dem Handrücken wegwischt.
