Der Krake auf meinem Kopf - Jim Nisbet - E-Book

Der Krake auf meinem Kopf E-Book

Jim Nisbet

4,8

Beschreibung

Die Musik ist Curly Watkins' Leben; doch aus den aufregenden Tagen der Punkbewegung in San Francisco sind ihm nur seine Gitarre geblieben und ein riesiges Kraken-Tattoo auf dem Kopf. Die meisten seiner alten Freunde sind längst tot, doch Curly hat überlebt und schlägt sich mit Auftritten in Cafés durch. Als er seinen alten Kumpel Ivy Pruitt, einen begnadeten Jazzdrummer, dazu überreden will, eine Band zu gründen, gerät dieser in eine Razzia der Drogenfahndung. Doch alte Freundschaft verpflichtet, zumal Lavinia, eine gemeinsame Freundin, Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um das Geld für Ivys Kaution aufzutreiben. Doch dann geht es plötzlich um Mord, um das Präparieren toter Körper und Schlimmeres … Jim Nisbet nimmt uns auf seinem Noir-Trip mit in ein von Profitgier verwüstetes Kalifornien der Nullerjahre, in dem sich die Ideale eines gesellschaftlichen Aufbruchs längst in Agonie befinden und wo eine emotionale Wüste entstanden ist, unbewohnbar wie der Mond.

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Inhalte

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Impressum

Zum Autor

Zu den Übersetzern

Pulpmaster Backlist

Jim Nisbet

Der Krake auf meinem Kopf

... un noyé pensif, parfois, descend ...

(Ein Toter, manchmal, bleich, gedankenvoll versinkt. )

Arthur Rimbaud, Das trunkene Schiff

1

Ivy Pruitt wohnte in einer kleinen Bude über einer Garage in Oakland, ein Stockwerk hoch, einfach über eine Außentreppe an der Rückseite des Hauses. Vom Treppenabsatz hatte man einen Ausblick auf den größten Friedhof der Stadt.

Ich stattete Ivy einen Besuch ab, dachte, dass er mal wieder Lust habe zu spielen, und wenn es dazu käme, wollte ich dabei sein. Keine Ahnung, warum ich glaubte, er sei bereit für eine Veränderung, und mit Ivy gab es sowieso immer nur Stress, aber da war ich nun. Und Ivy war auch da und rauchte Heroin.

Aus seiner Einzimmerwohnung ließe sich eine Menge machen. Ivy hatte seinen neunzigjährigen Vermieter breit­schlagen können, ihm für sechs Monate die Miete zu erlassen, im Gegenzug erledigte Ivy ganz nach seinem, Belieben Besorgungen für ihn. Ivy trug saubere Klamotten, sobald er sich keine Zigaretten leisten konnte, und obwohl er nie kochte oder Gäste bewirtete, putzte er zwanghaft seine Wohnung, sodass sie, vom Duft nach ver­brann­tem Teerheroin einmal abgesehen, noch genau in dem Zustand war, in dem sie bei seinem Einzug gewesen sein musste: frisch gestrichen, blitzblank, mit spiegelnden Fenstern, auf Hochglanz gewienert, feucht gewischt und mit einer Matratze auf dem Fußboden des auf die Straße hinausgehenden Zimmers und einem Klapptisch plus zwei Gartenstühlen in der Küche nur spärlich möbliert. Dazu ein Badezimmer, und das war’s. Von der Größe her glich sie in etwa meiner Hütte in San Francisco, nur war Ivys kein Dreckloch und kostete auch nur die Hälfte. Je nach Bedarf schob er die Stühle hin und her, doch ich bin mir sicher, dass er oft nur am Herd lehnte wie ein müdes Pferd, das vor sich hin döste. Er war meistens allein. Ich sah weder einen Fernseher noch eine Stereoanlage, nicht einmal ein Radio, und nirgendwo gab es einen Hinweis auf ein Musikinstrument.

Selbst das Bad war picobello, als hätte man es beschlag­nahmt, genau wie die Küche, denn bei einem Junkie kam weder das eine noch das andere Ende der Nahrungszufuhr groß zum Einsatz. Doch die Küche hatte Südseite, die sie mit reichlich Sonnenlicht versorgte, und in Oakland scheint ständig die Sonne. Und so schien dieser Raum trotz seiner ansonsten elenden und be­fremdlichen Nutzung um zwei Uhr nachmittags von nahezu aufdringlicher Heiterkeit zu sein. Und es war diese Räumlichkeit, wohin sich Ivy nach einem nur kurz­zeitigen Verharren an der Eingangstür zurückzog, als würde er unweigerlich von seinem Herd angezogen wie ein Komet von der Gravitation der Sonne. Unter den weni­gen Haus­haltsgeräten – einem Kühlschrank, einem Durchlauferhitzer und einem Toaster mit dem Preisschild eines Billigladens – bewahrte sich der Herd seinen einzigartigen Gebrauchswert.

Ich hatte nie zuvor Teerheroin gesehen, geschweige denn, dass ich jemals den Drachen gejagt hätte; aber Ivy Pruitt grenzte diesen Mangel an kultureller Erfahrung schnell auf den kuriosen Gebrauch zweier Gegenstände ein.

Bei dem Herd handelte es sich um einen Gasherd. Ivy holte einen Klumpen Teerheroin aus einer schwarzen Filmdose, rollte ihn zwischen seinen Handflächen wie ein Künstler, der seinen Radiergummi bearbeitet, bevor er ihn an seine Zeichnung setzt. Als der Klumpen hübsch rund war und knapp einen Zentimeter Durchmesser maß, zündete Ivy einen der vorderen Gasbrenner, und mit einer Selbstverständlichkeit, die über eine angeborene Rechtshändigkeit hinwegtäuschte, jonglierte er die Kugel zwischen den Klingen der beiden Menü­messer, die er in den Händen hielt und deren violette Patina verriet, wie sehr sie diese ganz besondere Form der Missachtung der Etikette gewöhnt waren. Er drehte die Kugel in die blaue Flamme und wieder heraus, brachte sie zum Sieden, ohne sie verkohlen zu lassen, und alles mit dem Geschick eines Sushikochs beim Zer­teilen eines Red Snappers. Währenddessen quatschte er unentwegt.

»Weißt du, Curly, man darf dieses Zeug nicht zu stark erhitzen, sonst wird’s echt scheiße. Der Drache entwischt. Der Drache mag’s gar nicht, monatelang in kleinen, kleb­rigen Bällen gefangen zu sein, also lauert er ständig auf seine Chance, die Flatter zu machen. Andererseits hat der Scheißer keinen Grund, sich zu beklagen. Die meisten empfindsamen Wesen sind ihr Leben lang gefangen. Aber nicht der Drache. Der Drache leidet, wenn er sechs Monate drüber ist über der Mohnernte. Hab ich dir jemals erzählt, was Lavinia immer gesagt hat, wenn’s darum ging, dass ich sie in den Arsch ficken wollte?«

Die Zwangsläufigkeit, mit der solche »Vertrau­lich­keiten« unter »Männern« nur wieder einen weiteren langweiligen Aspekt beider Begriffe bildete, entlockte mir ein nachdrückliches Nein. »Und sonst?«, schob ich hinterher. Ich hoffte, den Tag ohne ein Wort über Lavinia hinter mich bringen zu können.

Ivy überhörte es. »›Der Versuch, mir dein Ding in den Arsch zu schieben, ist so, als wollte man Gott zurück in den Peyote-Knopf stecken: Es ist aussichtslos.‹«

»Hey«, sagte ich beeindruckt, »das ist wahrscheinlich die treffendste Definition für Entropie, die mir je unter­gekommen ist.«

Ohne den Blick von seiner Aufgabe zu wenden, sagte Ivy: »Oha, wir haben wirklich einiges über Entropie gewusst, Lavinia und ich. Ivy, hat sie immer gemeint, dein Ding ist zu klein für den Himmel und zu groß für die Hölle. Also«, er bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen, als wollte er sein Rückgrat ausrichten, »haben mein Ding und ich ein paar Jahre im Fegefeuer zugebracht, die ganze Zeit an der Schwelle zum Chaos.« Er grinste in die Flamme, stieß ungewöhnlich genüsslich das Wort »Hitzetod« hervor, als handelte es sich um eine Beschwörung.

Völlig überraschend löste sich die Heroinkugel in eine Geistererscheinung aus blauem, duftendem Rauch auf, entrollte ihre Vergänglichkeit aufwärts und weg von den Klingen, nur um auf die sich ihr entgegenstrebende numinose Gier Ivys geweiteter Nasenflügel zu treffen, die sich auf ein rätselhaftes Signal aus dem Alambic hin gebläht hatten und worin die Schlange vollständig und überaus geschmeidig verschwand, in die ihr zugedachte Höhle schoss wie eine Muräne nach der Paarung auf dem Weg zum Abendessen in ihrer Behausung.

Ivy hielt Mund und Augen fest geschlossen, während er tief durch die Nase einatmete. Hätte er den Orgelspieltisch umarmt, nachdem er die Klänge der Passa­caglia am Ende von Bachs Toccata und Kantate in h-Moll mit Hilfe der großen Orgel der Grace Cathedral vor tausend Zuhörern hatte aufmarschieren lassen, er hätte nicht konzentrierter, nicht entrückter erscheinen können. Nach dieser Unterbrechung legte er die beiden Messer über Kreuz auf einem Unterteller in der Mitte des Herdes ab, dem vermutlich einzigen Teller des Hauses, aber immerhin so, als habe man soeben das Essen beendet und warte nur darauf, dass ein umsichtiger Kellner die Zeugnisse dessen abräume und, mit der gleichen Umsicht, die Präsentation der Rechnung hinauszögere, um dem Gast das träge Vergnügen eines nachklingenden Gefühls des völligen Gesättigtseins zu ermöglichen. Unter dem Teller lag eine zur Viertel Seite zusammengefaltete Zeitung mit der Schlagzeile: »Verweiblichung bei Tieren auf dem Vormarsch.«

Ivy atmete lange aus, wie ein Perlentaucher, der soeben zwanzig Meter hinab- und wieder aufgetaucht war. Er suchte in der Luft nach erkennbaren Spuren von Rauch; nichts zeigte sich, und natürlich bedeutete »nichts« die volle Dröhnung. Er seufzte zufrieden. Die Augen fielen ihm zu und er öffnete sie wieder: Ihre Pupillen waren zu kleinen schwarzen Sonnen geworden, ohne Planeten, die es zu wärmen galt. Plötzlich lächelte er — fast.

»Mal probieren?«

Bemerkenswert gastfreundlich. Und wer war ich, die Offerte abzulehnen?

Eigentlich hätte Ivy die Gasflamme abdrehen müssen, doch mit der lässigen Weltanschauung des Junkies – der zufolge man kein Problem mit der Welt habe, solange man drauf ist, und sollte die Welt nicht drauf sein, sollte sie konsequenterweise drauf kommen – leistete er sich im Lichte seiner Vertrautheit mit dem Ritual eine Fehleinschätzung, was mein Eingehen auf sein generöses Angebot betraf, ein Versehen, das erneutes, wenn auch leicht widerwilliges großzügiges Handeln erfordern sollte. Denn es war nur einen Augenblick später, dass die Flamme dank meiner ungeübten Hand das dargebotene Geschenk zu einem sich verflüchtigenden Schadstoff in der asepti­schen Atmosphäre der Küche verdampfen ließ, es einem Auf­flammen zum Fraß vorwarf, das sich ent­wickelt, wenn zu schnell Hitze zugeführt wird, sodass meiner Nase nichts anderes übrig blieb, als den beißenden Schwaden gleich­er­­maßen scheu und träge in krei­senden Bewegungen zu folgen, ähnlich einer Fliegenklatsche, die mit der durch sie in Schwingungen versetzten Luft dem Entwischen der Fliege Vorschub zu leisten scheint.

Sich seines Irrtums inzwischen bewusst, rollte Ivy eine zweite, zur Strafe kleiner bemessene Dosis und verab­reichte sie mir mit dem unerbittlichen Elan von Prousts Mutter, die dem Asthma ihres Sohnes mit Räucherwerk begegnet, und ich bekam meinen Flash.

Wir traten aus der Küchentür hinaus auf einen weiß getünchten Vorbau, der kaum groß genug war, um zwei Menschen Platz zu bieten. Ob der Südlage grell, ausgetrocknet und mit abblätternder Farbe, gewährte die kleine Veranda uns, die wir glücklich hinter unseren Sonnenbrillen blinzelten, den Ausblick auf eine gewaltige, stumme Fläche mit Grabsteinen und Rasen, Grabmalen und Zypressen, Lavendel und Obelisken, mit Carolina­tauben und von der Sonne beschienenem Granit. Ausgehend von einer bemoosten Mauer am Ende des kleinen Gar­tens, sozusagen direkt unter unseren Füßen, er­streckte sich der weitläufige Friedhof in südlicher und westlicher Richtung bis zu der gut eine Meile entfernten Autobahn und schmiegte sich nach Osten hin etwa eine halbe Meile den Hügel zu unserer Linken hinauf bis zu einer Asphaltfläche, die von dem sich dahinter abzeichnenden Mormonentempel überragt wurde. So weit das blinzelnde Auge reichte, schien diese Totenstadt alles zu überdecken; doch tatsächlich er­streckte sie sich nur so weit, bis ihre wie gepixelt wir­kenden Gruften über die Kuppe eines Hügels und aus dem Blickfeld rollten, sich mit dem gleißenden Sonnenlicht des frühen Nachmittags anlegten, um in dem kurzen Gefecht zu unterliegen; dort dann, als hätte man sie eine nach der anderen verdoppelt, schienen sie im Dunst zu wanken bis hinunter zur glitzernden Weite der etwa sieben Meilen entfernt liegenden San Francisco Bay.

Dieser Anblick rief mir Paul Valérys Gedicht Der Friedhof am Meer oder – wie es im Original heißt – Le cimetière marin ins Gedächtnis.

»Französisch«, sagte Ivy verächtlich in dem Bemühen, seinen Rausch vor dem Eindringen von Gedanken zu schützen.

»Soll ich dich besser mit dem Unverständlichen der Sprache eines anderen Landes verschonen, ganz zu schweigen von seiner Musik?«

Gleichgültig zuckte er mit den Achseln. Mir war auch gleichgültig zumute, aber ich mag dieses Gedicht. Sofort fiel mir eine bescheidene, zugegebenermaßen auch recht freie Übertragung einiger Zeilen ein.

Dies stille Dach, auf dem Tauben stolzieren

Zwischen raunenden Pinien und Gräbern ...

»Raunenden«, meinte Ivy beipflichtend. »Sanfte Töne.«

Der Urteilsspruch des Mittags übergibt das Meer dem Feuer

Das Meer, das sich Tag für Tag erneuert!

Welch eine Belohnung nach schier endlosem Sinnieren,

Dieser ruhende Blick auf die Gelassenheit der Götter ...

»Zur Verteidigung des Originals«, fügte ich hinzu, »muss man sagen, dass es sich um eine sehr schöne Betrachtung über Leben und Tod handelt. Ich ziehe es der Elegie, geschrieben auf einem Dorfkirchhof von Thomas Gray vor.«

Ivys Augenbrauen hoben sich über der Sonnenbrille. »Wenn du schon über Gott nachdenkst, stellst du ihn dir dann gelassen vor?«

»Im Französischen verwendet man den Plural. Aber wenn wir über einen einzigen Gott sprechen und wenn es ein männlicher Gott ist, nun ... ich nehme an, dass seine Gelassenheit davon abhängen dürfte, ob Er es sich in Seinem Peyote-Knopf bequem gemacht hat.«

Ivy lächelte.

Wir blickten über diese Stille, die sich – so wie man es sich erhoffen konnte – in einer völligen Abgeklärtheit sonnte, befriedet wie eine Arbeitergegend am Mittag eines Werktages.

Nach einer Weile bemerkte ich auf einem Gebäude, das sich etwa neunzig Meter von uns entfernt auf einem Hügel befand, einen hohen Schornstein aus getünchten Ziegeln und dahinter eine Kalifornische Zypresse, die in den Hitzewellen, die aus der verrußten Schornsteinöffnung austraten, hin und her zu wogen schien. Unsichtbarer Brodem ließ die Zweige des Baumes arrhythmi­scher und träger tanzen, als sie es sonst oder selbst wenn eine Brise aufgekommen wäre, getan hätten. Ich fragte, was das sei.

»Das ist unser Krematorium.«

»Wir sehen einer Einäscherung zu?«

»Irgendein glückloses irdisches Dasein, das zu Asche zerfällt«, bestätigte Ivy. Er machte eine wegwerfende Handbewegung, nicht ohne ein gewisses Wohlbehagen. »Genau in dem Moment, wenn wir über den Sinn des Lebens reflektieren.«

Zwischen all den Grabsteinen flatterte eine Taube von irgendeiner Kante in die Höhe und schien erschrocken, als sie zwischen dem Schornstein und der Zypresse hindurchflog, um anschließend ihren Flug ruhig fortzusetzen.

»Die Gabe der Gelassenheit«, meinte Ivy.

»Es heißt, dass nur die Zähne übrig bleiben«, sagte ich mit Zurückhaltung.

Ivy zog eine Grimasse.

»Das ist die Belohnung, egal, wie viel Gedanken man sich gemacht hat.« Die Betonung beider Substantive machte klar, wie wenig Glauben er beiden Begriffen entgegenbrachte.

»Bist du sicher, dass nicht irgendein geschäftstüchtiger Typ schon vor Langem eine Zahnharke erfunden hat?«

»Ein simples Sandsieb reicht völlig«, erwiderte Ivy mit einem Nicken. »Das einzig Wahre allerdings wäre doch, einen Menschen mit völlig intakten Zähnen in die Hölle zu schicken. Um so besser kann er mit den Zähnen knirschen, wenn er erst mal dort ist.« »Genau das, was er hier mit ihnen gemacht hat«, fügte er leise hinzu.

»So habe ich das noch gar nicht betrachtet«, räumte ich ein.

Ivys eigene vom Rauchen gelbe Zähne bildeten einen netten Kontrast zum Schimmern seiner getönten Sonnenbrille. »Mit den Zähnen knirschen«, er streckte die Hände aus, »bedeutet, dass man lebt.«

»Irgendwie klingt das ... monofon.«

»Das wurde alles schon vor langer Zeit festgelegt.«

»Hast du dich der Vorherbestimmung verschrieben, Ivy?«, fragte ich.

»Nicht in der Mikrowelt.« Er schüttelte den Kopf und straffte sich, aber so, als würde es ihm Mühe bereiten. »Ganz sicher nicht. Die Pfade sind unterschiedlich. Aber in der Makrowelt läuft es für alle aufs Gleiche hinaus.« Er ließ die flache Hand über die Aussicht wandern. »Ist es nicht unbegreiflich, dass bei zehntausend Grabsteinen nicht in einem ›Alles ist Scheiße‹ gemeißelt ist?«

Es gab eine Menge Grabsteine da draußen.

Ivy legte den Kopf auf die Seite, die Totenstadt noch immer im Blick.

»Man sollte meinen, ein Typ mit einem Kraken-Tattoo auf dem Kopf täte gut daran, dem schnell beizupflichten, oder?« Er feixte.

Ich feixte ebenfalls. »Sollte man meinen.«

Ich blickte fürs Erste weiter auf den Friedhof. Nach einer angemessenen Phase des Schweigens fragte ich: »Jetzt mal im Ernst, was ist mit der Musik?«

Ivy wandte mir ehrlich erstaunt seine dunkle Brille zu.

Ich fragte noch einmal: »Komm schon, Ivy, denkst du, dass Musik auch Scheiße ist?«

Diesmal lachte er richtig los. Es war nicht das schnau­fende Wiehern eines kindisch gewordenen Kiffers, eher war es der vergnügte Ausbruch eines Mannes, der, da er alles gesehen hatte, sich durch und durch belustigt fühlte. Es war aber auch die kraftlose, nicht von Energie getragene Regung des Junkies, der nur in Hinblick auf die eine Sache richtig in Aktion treten konnte und nicht wegen einer Belustigung an sich. Schließlich hatte es auch etwas vom Lachen eines Mannes, der in letzter Zeit nicht viel gelacht hatte.

Ivy schüttelte den Kopf und grinste. »Los, besorg mir ’n paar Starthilfekabel. Ich hab Kammerflimmern.«

Ich hatte morgens nur ein wenig Kaffee getrunken, hatte gedacht, dass Ivy und ich vielleicht ein spätes Frühstück einnehmen würden, sodass ich, als ich über das Geländer kotzte, nicht viel herausbrachte. Hauptsächlich Galle.

Das war der Punkt, als Ivy sich ausschüttete vor La­chen.

»Du hast mir gefehlt, Curly«, sagte er liebevoll, als er sich wieder verständlich machen konnte. »Wo zum Teufel hast du gesteckt?«

2

Nach ihrer Trennung von Ivy Pruitt hatte sich Lavinia eine Freundin zugelegt. Die Freundin war aus der California Institution for Women – dem »Kittchen für Flitt­chen«, wie Ivy es nannte – auf Bewährung entlassen worden, knapp sechs Monate bevor der in Panik geratene Besitzer eines Eckladens sie mit einer Flinte erschießen sollte, als sie ihn, ausgestattet mit einem Luftgewehr, zu überfallen gedachte.

Lavinia heuerte einen Anwalt an, dem es aber nicht gelang, die Freundin posthum zu rehabilitieren. Doch dank der Unterwanderung des Ermittlungsverfahrens fand eine Kopie des Videos aus der Überwachungskame­ra mit den entscheidenden zehn Minuten ihren Weg in die Underground-Rave-Szene von San Francisco, unterlegt das Ganze mit einem Soundtrack, der sich anhörte, als würden zwei Gabelstapler um ein Zweihundertliterfass mit Ecstasy kämpfen. Der Clip wurde als tanzbar erachtet und Lavinia fand sich als diesseitige Sprecherin ihrer dahingeschiedenen Exfreundin wieder, eine au­thenti­sche Antiheldin der Gegenkultur mit in die Ferne schwei­fendem Blick in den wilden, blauen Augen (»...›eine Protagonistin‹«, erinnerte mich Ivy salbungsvoll und zitierte dabei aus einer Besprechung der »Performance«, die auf einer Webseite namens Klub.Xeen.com er­schie­nen war und die er in einer Zweigstelle der Oakland Public Library heruntergeladen und ausgedruckt hatte, »›wie aus einem Drama oder Buch, die durch einen Mangel an überkommenen heroischen Qualitäten cha­rak­terisiert ist.‹«). Mit diesen ihren fünfzehn Minuten Ruhm schuf Lavinia ihre Rolle als Auntie, Heroin­dealer­in der Hipoi­sie.

Ich gab den Schockierten.

Ivy zuckte mit den Achseln. »Ein Mädchen tut das, was es am besten kann. Und Lavinia hat einen mexi­kanischen Großhändler für Teerheroin von einem Franchise-Modell überzeugt.«

Ich gab den Skeptiker.

»Willst du mal Unternehmergeist in Reinkultur er­le­ben?« Ivy streckte die Hand aus. »Gib mir ’nen Zehner.«

Ich gab den Zauderer.

»Sieh das mal von der Warte«, meinte Ivy, »es kostet so viel wie der Eintritt für den neusten stumpfsinnigen Hollywood-Film, der eine Zielgruppe bedienen soll, von der du keine Ahnung hast, minus der Kosten für Parken und Popcorn, aber der Geschmack in deinem Mund hält länger an.«

Ich runzelte die Stirn.

»Ein Film, an den sich bald keiner mehr erinnert.«

Ich ließ den Zehner rüberwachsen.

»Jetzt brauchen wir ein Telefon.« Er streckte die andere Hand aus.

Ich sah Ivy über den Rand meiner Sonnenbrille an. »Du hast kein Telefon?«

»Ich habe kein Telefon.«

»Aber die schmeißen einem die Dinger hinterher, Ivy.«

»Wer?«

»Die Provider. Ich glaube, so nennt man sie.«

Ivy wischte sie mit einer Handbewegung beiseite, die Provider.

»Nicht im Falle von Ivy Pruitt«, mutmaßte ich. »Ivy Pruitt kriegt keinen Kredit.«

»Stimmt«, bestätigte er. »Ich bereue nichts.«

Ich gab ihm mein Mobiltelefon.

Er wählte eine Nummer. »Es wird weitergeleitet.« Wir hörten die drei Pieptöne eines Pagers. »Wie ist die Nummer von diesem Ding?«

Ich nannte sie ihm.

Ivy tippte sie ein und dann ab damit.

»Das war’s?«

Er stützte seine Unterarme auf das morsche Etwas, das als Geländer diente.

»Wart’s ab.«

Aus dem hohen Schornstein trat kein Rauch mehr aus. Auf dem Rand hatte sich ein Rabe niedergelassen und spähte hinein. Ein Leichenwagen fuhr vom Parkplatz des Krematoriums, bog am nordwestlichen Ende, oben an der Cordoza Street, scharf um die Ecke und verschwand.

An dieser Ecke stand ein Feuermelder vor der hohen Mauer des Friedhofes. Seine etwa eineinhalb Meter hohe verblasste rote Säule war mit Herz-Ballons aus Polyesterfolie und künstlichen Blumengirlanden ge­schmückt. Am Fuße der Säule standen zwei Blumentöpfe mit jeweils einem verdorrten Weihnachtsstern, wie auch rund um die Säule dicht an dicht leere Miniaturflaschen angeordnet waren wie Pfähle. Die Luftballons hatten ebenfalls ihre besten Zeiten hinter sich. Zwar schwebten sie noch immer lustlos in der Luft, aber offenkundig entwich das Helium aus ihnen und sie fielen allmählich in sich zusammen. Die Bänder, die sie an dem Pfosten hielten, waren nur schlaffe Ketten in der Windstille des Nachmittags. Auf einem lila- und silberfarbenen Band formten hellrote, mit Goldflitter kontu­rier­te Buchstaben die Worte: WIR VERMISSEN DICH. Schlaffe, metal­lisch glitzernde Wedel, die an der geriffelten Säule hingen, mussten Ballons sein, aus denen das Helium völlig entwichen war.

»Das ist eine Gedenkstätte«, erklärte Ivy. »Vor zwei Wochen wurde an dieser Ecke ein Junge erschossen.«

»Weshalb?«

Ivy schüttelte den Kopf. »Wer weiß? Ein Bandenkrieg, ein mieser Drogendeal, ein unglücklicher Zufall ... Seine Mutter ist erst ein paar Monate zuvor mit ihm umgezogen, wollte genau das vermeiden. Bis rauf nach Vallejo ist sie gezogen. Aber der Junge ist Tag für Tag in den Bus gestiegen und hierhergekommen wie ein Pendler. Ist gependelt, nur um hier abzuhängen.« Ivy deutete auf die Gegend. »Das hier war seine Welt.«

»Wie alt war er?«

»Siebzehn.«

»Jung.«

Wieder schüttelte Ivy den Kopf. »Nicht wenn man schwarz und männlich ist. Er war der dritte Jugendliche, der hier innerhalb von drei Monaten im Umkreis weni­ger Straßen getötet wurde. Das vierte Opfer war eine ältere Frau, ebenfalls schwarz. Sie ist in ein Kreuz­feuer geraten. Dreißig Schüsse in nicht mal einer Minute. Sie ist die Stufen zu ihrer Veranda hoch und hat nie er­fah­ren, was sie umgebracht hat. Obwohl es helllichter Tag war, hat niemand sonst auch nur einen Kratzer ab­be­kommen, natürlich hat auch keiner was gesehen und man hat auch niemanden drangekriegt. Und nicht nur das, zufällig war es genau die Lady, die die Stadt so lange bloßgestellt hat, bis die ganzen Kühl­schränke, Fernseher und Sofas von den Bürgersteigen verschwunden sind, ebenso die gestohlenen und kaputten Autos. Zwei oder drei Jahre hat sie dafür gebraucht, hat denen keine Ruhe gelassen mit Petitionen, hat sie auf öffent­lichen Veranstaltungen und Zusammenkünften damit konfrontiert, hat die Presse eingeschaltet und wen sonst noch alles – also genau die Form von Auseinandersetzung mit der Stadt, die alle scheuen. Die Ironie des Ganzen ist verstörend.«

Er gestikulierte mit dem Telefon. »Der Penner hier hätte locker an ihrem Tod beteiligt gewesen sein können. Genauso locker könnte er auch mal zur falschen Zeit am falschen Ort sein, so wie sie. Siehst du die Flaschen da? Jack Daniel’s, Bombay Sapphire, Courvoisier – Qualität ist wichtig. Die Kumpels stoßen auf den toten Siebzehnjährigen an, lassen die leeren Flaschen an der Ge­denk­stätte stehen und ziehen ab, um selbst erschossen zu werden.«

Mein Telefon klingelte.

Ivy sah darauf, drückte eine Taste und hielt es dann schräg, damit ich mithören konnte.

»Auntie«, sagte eine Frauenstimme.

»Ivy.«

»Was gibt’s, Spinner?«

»’nen Zehner.«

»Wow«, flötete sie, »zehn Flocken. Hast du ’nen Job oder so?«

»So tief werde ich nie wieder sinken.«

»Und wie tief sinkst du? Ach, lassen wir das. Ich will’s gar nicht wissen. Sag mir einfach, wo.«

»Bei mir. Wo sonst?«

»Wir führen nicht Buch, du Idiot.«

»2733-1/2 Cardoza. Hinten die Treppe hoch.«

»Fünfzehn Minuten.«

»Ich werde da sein.«

Ivy gab mir das Telefon. »Wenn sie hier sind, hältst du dich zurück. Das Reden übernehme ich.«

Wir sahen hinaus auf den Friedhof. Unweit der Mauer auf der Rückseite des Gartens hüpfte ein Eichhörnchen an der oberen Kante eines Katafalks aus dunklem, rosa gesprenkeltem Granit entlang.

Als es eine Ecke erreicht hatte, richtete es sich auf, begann an einer Eichel zwischen seinen Pfoten zu knabbern und nahm uns dabei ins Visier.

Ich versuchte es noch einmal. »Spielst du nie mit dem Gedanken, wieder Musik zu machen?«

Ivy sah mich nicht an. Sein Haar war grau geworden, seit ich ihn das letzte Mal getroffen hatte, aber er trug es noch immer ordentlich zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz frisiert. »Scheiße.« Mehr sagte er nicht.

Nach zehn Minuten erschienen sie am Fuße der Treppe – zwei Mexikaner, einer von ihnen ein Jugendlicher. Der Ältere musterte uns, ließ dann den Jüngeren zuerst die Treppe hinaufgehen und uns in die Küche folgen. Kaum war auch der Ältere drinnen, stieß er die Tür hinter sich zu, schloss sie aber nicht ganz und hielt die Hand auf. Ivy legte ihm die beiden Fünfer auf die Handfläche. Der Jüngere spuckte einen am Ende verknoteten grünen Luftballon auf seine Handfläche und gab ihn Ivy, Spucke und so inklusive. Ivy schloss seine Faust darum und die Mexi­kaner verschwanden ohne ein Wort.

»Lieferservice«, sagte ich verwundert. »Sind wir schon dermaßen drauf?«

»Wenn du es so siehst.«

»Ja, so sehe ich es. Das ist auch nicht sonderlich schwie­rig.«

»Nein, ist es nicht«, stimmte Ivy mir zu. »Schwierig ist nur das mit dem Geld.«

»Ach«, sagte ich, »du meinst, ich sollte die Scheine vorher bügeln?«

Ivy lächelte, fast. »Das ist nur der Ausgleich für den Stoff, den du verschwendet hast.«

»Und wem gehört jetzt der Stoff?«

»Uns natürlich.«

»Simpático.« Ich stellte mich neben den Herd. »Was ist mit dem Jungen?«

Ivy wusch seine Hände und den Luftballon in der Spüle. »Der Junge hat das Dope, der ältere Typ wickelt das Geschäft ab.«

»Er ist nicht mal sechzehn«, sagte ich.

»Stimmt.« Ivy wischte den Ballon und seine Hände an der zusammengefalteten Zeitung ab. »Wenn man sie schnappt, und das wird man, haben die einen Minderjährigen ohne Papiere. Egal, was man ihm zur Last legt, am Ende wird er nur abgeschoben. Dem Älteren kann man nichts nachweisen, also kann er gehen. Sechs Wochen später ist der Junge wieder im Land und im Geschäft.«

»Abgesehen von der Gesellschaft insgesamt kommt niemand zu Schaden«, so meine Schlussfolgerung.

»Du lieber Himmel, Curly, du bist ja geradliniger als die Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks.«

»Oh, Mann, du verstehst es wirklich, jemanden zu beleidigen.«

Ivy biss den Knoten des Ballons durch und stülpte sich den Ballon über den Daumen. Ein Klumpen Paste, weniger als einen Zentimeter groß, der aussah wie ein Stück brauner Kreide, fiel in seine Hand. »Voilà.« Er heftete seinen Blick darauf. »Ein Zehndollarklumpen Teerheroin.« Und in diesem Moment bekam ich die Einsamkeit eines Ivy Pruitt flüchtig zu Gesicht. Es war – vermutlich – völlig gleichgültig, mit wem er seine Ge­heim­nisse teilte. Ob verwerflich oder nicht, er zeigte mir, was er machte, wie es sich anfühlte und wie es ab­lief. Ich hatte den Eindruck, dass er ganz lange mit niemandem etwas geteilt hatte. Genauso offensichtlich hatte er nur noch diese eine Sache, die er mit anderen teilen konnte. Dieser flüchtige Eindruck war – wenn auch reduziert und be­fremdlich – ein Überbleibsel, ein Kondensat jener Art von Verbundenheit, die Menschen entdecken können, wenn sie zusammen Musik machen. Ein flüchtiger Eindruck war es, mehr nicht. Während Ivy diesen Mo­ment seiner Sucht genoss, blitzte seine Einsamkeit auf wie eine Glasscherbe, die sich als Spielball der Wasser eines schnell dahinfließenden Stroms über dessen schlam­miges Bett bewegt. Dann war sie verschwunden.

Ich vergeudete meine Zeit.

»Sieht auf jeden Fall wie einer aus«, sagte ich mit einem Zwinkern. Vielleicht hatte Ivy meinen Tonfall verstanden, aber er sah nicht hoch. »Wie steht’s mit dem Gewicht?«, fragte ich, weil mir nichts Besseres einfiel.

»Exzellent«, antwortete er und der Tag nahm wieder Fahrt auf. »Sie hasst mich, aber sie ist immer großzügig.«

»Es hat aber nichts damit zu tun, sich deine Ab­hän­gigkeit und Dankbarkeit zu sichern, oder?«

»Du meinst Kundenzufriedenheit?« Ivy hielt das Heroin gegen das Licht. »Und wer ist hier abhängig?«, fragte er vergnügt.

»Besitzer von Geländewagen. Von ausländischem Öl.«

»Stimmt.«

»Trägt der Ältere eine Waffe?«

»Wieso sollte er?«

»Weil Typen wie du manchmal gefährlich werden können?«

»Das wäre ganz schön gefährlich«, erwiderte Ivy. »Abgesehen davon auch kurzsichtig und dumm. Natürlich kann so was passieren. Ist es auch schon. Aber diese Deals laufen nur über persönliche Empfehlungen. Wenn ich diese beiden Jungs um zehn Dollar prellen würde, müsste Lavinia entweder dafür geradestehen oder ihrem mexikanischen Großhändler verklickern, wo die zehn Dollar abgeblieben sind. Ersteres bedeutet, sie dreht mir den Hahn zu und ich schieb bald den Affen. Letzteres hieße nicht nur auf dem Trockenen sitzen, sondern auch von ihrem jefe eine Dröhnung mit Azeton, Batteriesäure oder sonst was für den Stoffwechsel Unbekömmliches verpasst zu bekommen. Wie du siehst«, er lächelte, »alles eine Sache des Vertrauens.«

»Meine Güte«, sagte ich, »da sind wir erst seit zwei Monaten unterwegs, und jetzt ist das schon Tennessee.«

»Noch lange nicht, aber danke für den Zehner.«

»Gern geschehen. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich so ein leichtes Opfer bin.«

»Klar weißt du das.« Ivy sah mich offen an. »Ich habe dir einen Platz in meiner Band gegeben, als alle Welt dich nicht mal hätte vorspielen lassen.«

»Also bin ich sentimental.«

»Nein«, sagte er mit einer gewissen Überzeugung. »Du bist dumm.«

Ich deutete mit dem Kopf auf das Heroin. »So dumm nun auch wieder nicht.«

»Was meinst du mit so dumm nun auch wieder nicht? Wo war dein Verstand vor einer Stunde, als der Rest von dir hier, in dieser Opiumhöhle, Heroin geraucht hat?«

»Gute Frage. Die Antwort lautet, er war neugierig.«

»Warum bist du eigentlich hergekommen?«, fragte Ivy ungehalten.

Er machte die Gasflamme an und regulierte ihre Höhe.

»Hat was mit Musik zu tun.«

Ivy schnaubte.

»Musik.« Er nahm die beiden verfärbten Menümesser und legte zwischen den Brennern auf der Metalloberfläche des Herdes einen Trommelwirbel hin, in der Hauptsache Schlagfiguren mit Syn­kopen, die man von Marsch­kapellen kennt. »Von allen Wichsern, die ich kenne, bist du der einzige, der zehn Jahre lang dieselbe Telefonnummer hatte.«

»Zwölf. Wie sonst sollen mich Klubbesitzer, Agen­ten, Platten­firmen und Klatschkolumnisten ausfindig ma­chen?«

Ivy tat so, als wolle er mit der Faust auf die Herdoberfläche einschlagen, hielt aber einen Zentimeter davor inne und berührte sie nur mit der Handkante. »Scheiße, wer will schon ausfindig gemacht werden?«

»Die, die abgetaucht sind, sicher nicht«, antwortete ich mit etwas Schärfe. »Andererseits kommt es mir so vor, als hätte abgetaucht zu bleiben auch etwas damit zu tun, dass man es ablehnt, eine gewisse Verantwortung zu übernehmen, die dazugehört, wenn man lebendig ist.«

Ivy starrte vor sich hin. »Stimmt.«

»Vor allem wenn man Talent hat«, fügte ich schulmeisterhaft hinzu. »Was stimmt?«

»So was wie ein Mittagessen für lau gibt’s nicht mehr.«

»Richtig. Du hast zwar die zehn Dollar von mir, musst dich aber immer noch mit mir unterhalten.«

»Sagt wer?«

»Niemand. Du könntest eigentlich auch so lange rum­ätzen, bis ich gehe.«

»Ich habe ’ne bessere Idee. Wir machen halbe-halbe mit dem Stoff und sehen, was wir uns anschließend noch zu sagen haben.«

Das stand im Raum: Würde ich mich hinreichend zu­dröhnen, käme ich zu spät zu meinem Auftritt, würde vielleicht an diesem Tag überhaupt keine Musik machen und obendrein an die Luft gesetzt werden. Anschließend würden wir beide den armseligen Betrag auf meinem Konto verrauchen und mein Auto dazu. Eventuell sogar meine Gitarren. Das läge in Ivys Interesse. Dass meine Mitgift uns beide allenfalls bis zum nächsten Monat über Wasser halten würde, dürfte Ivy durchaus als mittelfristige Perspektive für die Zukunft erscheinen.

»Dreiviertel und ein Viertel wäre wohl mehr als groß­zügig geteilt«, sagte ich vorsichtig. »Es käme dir entgegen. Ich bin jedenfalls nicht daran interessiert, mich so zuzuknallen, dass ich weder fahren noch arbeiten oder denken kann, mich im Übrigen auch nicht weiter mit dir unterhalten könnte.« »Alles Dinge, die mich interessie­ren«, fügte ich störrisch hinzu.

»Was mich betrifft, ich kann mich jederzeit mit jedem über alles unterhalten, egal, ob ich zugeknallt bin oder nicht. Egal, ob die Unterhaltung sich lohnt«, er warf mir einen schiefen Blick zu, »oder nicht.«

»Ja, klar. Du bist dicht und quasselst. Bei mir ist das anders. Keine Ahnung, wie das mit Heroin ist, aber wenn ich mich mit anderen Sachen zugeknallt habe, möchte ich so weit runterkommen, um arbeiten zu können. Ich will mit keinem reden, ich will nicht ficken, ich will nix essen. Ich will nur arbeiten. Meinetwegen be­trach­te mich als langweilig.«

»Kein Problem.« Ivy korrigierte ein wenig die Höhe der Flamme. »Wenn du arbeiten sagst, meinst du spielen.«

»Wenn ich spielen sage, meine ich arbeiten.«

»Arbeiten oder spielen oder keins von beiden – du äußerst dich menschenfeindlich. Also, worin unterscheiden wir uns, du und ich?«

Ivy fing an, mich zu nerven. »Es gibt einen großen Unterschied«, sagte ich gereizt. »Wenn ich zu dicht bin, um mit der Außenwelt kommunizieren zu können, mache ich was falsch.«

»Da fällt mir etwas ein«, sagte er. »Kannst du die Nummer aus deinem Telefon löschen?«

»Hä? Ja, sicher.«

»Mach es.«

»Was zum – «

»Mach’s einfach.«

»Müsste die letzte Nummer sein ... « Ich holte das Telefon hervor und ging die Anrufe durch. »Area Code 510?«

»Lass mal sehen.«

Ich ließ ihn einen Blick darauf werfen.

»Das ist sie.«

Als ich dabei war, die Nummer zu löschen, sagte er: »Zeigst du mir mal, wie man das macht?«

Ich zeigte es ihm.

»Cool. Also ... wo waren wir stehen geblieben?«

Ich deutete auf die Gasflamme. »Wir sprachen über Menschenfeindlichkeit.«

Er beobachtete das Flackern der Flamme. »Richtig.« Er nahm das Trommeln mit den Messern auf dem Herd wieder auf, verlor aber sogleich das Interesse daran. »Bei mir ist das anders, Curly.«

»Ich weiß, Ivy.«

Doch er ließ nicht locker. »Den Stoff zu rauchen ist das eine. Wen interessiert es schon, was mit mir passiert? Halt die Klappe«, fuhr er mich an, bevor ich den Mund aufmachen konnte. »Ich habe dieses Leben gehasst. Die Musik war zum Kotzen, die Gigs waren zum Kotzen, das Equipment von einer Bar ins Studio und von da in eine andere Bar zu schaffen, war zum Kotzen, und das Geld war zum Kotzen. Was das betrifft, weißt du besser Be­scheid als ich.«

»Es ist immer noch zum Kotzen«, sagte ich.

»Also, warum das Ganze?« Er hielt eines der Messer in der Vertikalen wie einen Trommelstock. »Spar dir die Antwort.«

»Warum nicht?«, erwiderte ich dennoch. »Das ist doch wohl eher die Frage.«

»Das ist keine Antwort. In Ordnung. Schließlich will ich auch keine Antworten hören.«

»Du warst gut, Ivy«, sagte ich ziemlich verzweifelt. »Besser als gut.«

»Und du bist absolutes Mittelmaß, Curly. Wie kommst du damit klar?«

Ich zählte es an drei Fingern ab. »Es ist alles, was ich habe, es schlägt jeden Brotjob um Längen, und du hast mich seit zehn Jahren nicht spielen gehört.«

»Das ist auch nicht nötig«, sagte Ivy sanft, als meinte er es freundlich.

Das machte mich richtig wütend, aber ich reagierte nicht darauf. Menschen können sich ändern und ich hatte mich geändert; aber sie müssen es nicht und Ivy hatte es auch nicht getan. Was all das betraf, hatte er sich bereits vor langer Zeit entschieden.

»Was den Brotjob angeht – «, er lächelte stolz und ich sah, dass das leichte Zischen seiner Aussprache keine Frage einer mangelnden Kontrolle durch die Droge war, sondern dass er die meisten seiner Zähne verloren hatte, nicht nur einige. »Nun, nicht mit mir.«

»Mit mir schon. Ich habe ziemlich viel gemacht.«

»Stimmt. Als ich dich das erste Mal traf, warst du für den Fotokopierer in der Kanzlei eines Steuerberaters zuständig oder so.«

»Anwaltskanzlei. Bevor ich da aufgehört habe, hat man mich zum Korrekturleser befördert.«

Ohne auch nur einen Funken Interesse zu zeigen, fragte Ivy: »Und das heißt?«

»Man bekommt Dokumente und liest Korrektur. Man redigiert nicht, sondern überprüft die Rechtschreibung und Interpunktion. Das ist alles. Jede Zeile in diesen Dokumenten ist nummeriert. Da kommen viele, manchmal Hunderte von Seiten zusammen. Alles Juristenkram, selbst wenn man wollte, man könnte das nicht redigieren ... wie sind wir eigentlich darauf gekommen?«

»Wir haben darüber diskutiert, wie tief ich gesunken bin, und haben nach einem Vergleichsmaßstab gesucht.«

»Ach, fick dich, Pruitt! Ich bin doch derjenige, der zehn Mäuse lockergemacht hat, ohne ein Radio stehlen zu müssen.«

»Wer hat was von Radio stehlen gesagt?«

»Du weißt, was ich meine, du infantiler Drecksack.«

»Infantil?« Ivy richtete sich auf. »Man hat mir schon eine Menge nachgesagt, Curly, aber niemand, nicht eine Menschenseele hat mich bisher als infantil bezeichnet.«

»Ich fühle mich gleichermaßen geschmeichelt und ge­tadelt.«

»Füge ›auf ein Mittelmaß gestutzt‹ hinzu und du hast ’nen Ohrwurm.«

»Das muss ich gleich in meinem Notizbuch festhalten«, gab ich zurück.

Aber Ivys Aufmerksamkeit war längst wieder auf seinen kleinen Klumpen Teerheroin gerichtet, der auf dem Unterteller seiner Verwendung harrte. Mit dem Geschick eines Reihers, der seinen Schnabel einsetzt, um eine Zecke aus dem Höcker eines Brahman-Bullen zu picken, nahm Ivy den Klumpen zwischen die Klingen der beiden Messer.

»Wie kommst du eigentlich über die Runden?« Ich ließ meinen Blick durch die Küche schweifen. »Deine Gasrechnung muss enorm sein.«

»Es findet sich jeden Tag ein alter Freund«, sagte Ivy und rollte die Droge in der Flamme, »der Mitleid mit mir hat.« Ohne Ankündigung fuhr er herum und hielt mir den rauchenden Klumpen direkt unter die Nase.

»Verdammte Schei– «

»Erinnerst du dich noch an die Sechzehntelnoten, die dir beim Spielen so verhasst waren, Curly? Was dir an diesem Stoff gefallen wird, ist das Gefühl, dir stehe für jede einzelne dieser Noten eine ganze Bar zur Verfügung.«

»Aber dir steht keine ganze Bar zur Verfügung, Mann, du – «

»Das kriegen wir alles hin, Curly«, erklärte er. »Tief einatmen.«

Ich war kurz davor, ohnmächtig zu werden, als Ivy die Apparatur urplötzlich unter meiner Nase wegzog, um sie sich unter die eigene zu halten.

»Mmmm ... «, seufzte er durch die geschlossenen Lippen hindurch. Dreißig Sekunden später lachte er das eigentümliche, kraftlose Lachen desjenigen, der sich eine frische Heroin-Dröhnung verpasst hatte, und stieß dabei nicht einen Hauch von Rauch aus. »Ein Teil für dich und zwei Teile für mich – war doch deine Rede, oder?«

Während ich noch kleine Rauchwolken hustete wie ein in der Vorpubertät steckender Erstraucher, füllte sich die Küche nach und nach mit Uniformierten.

3

»Hier in der Zeitung steht«, sagte der Typ, der links von mir an der kalten gefliesten Wand saß, »dass dir ein Tumor im Arschloch den Dickdarm aufreißen kann.«

»Ich hab deinen Tumor«, sagte der Typ, der rechts von mir an der Wand lehnte. Als ich ihn ansah, sah er mich ebenfalls an und sagte: »Und deinen auch, du Wichser.«

»Im Chronicle sprechen sie nicht von Arschloch«, meinte ein dritter Typ, der es sich an der gegenüberliegenden Wand auf dem elastischen Fußbodenbelag bequem gemacht hatte, auf dem Rücken und einen Arm über den Augen. »Der Chronicle ist ein Familienblatt.«

»Genau«, pflichtete ihm der Typ mit der Zeitung bei. »Ich hab nur übersetzt, für die mit einem rektalen Handi­cap.«

»Wahrscheinlich steht da Schokotunnel«, sagte der Typ auf dem Boden. »¡Aieee! ¡No más! ¡No más por favor!«, bettelte er enthusiastisch.

»Nee«, sagte der Typ links von mir und faltete die Zeitung zusammen. »Aber einen habt ihr noch.«

»Oh, nein«, sagte eine vierte Stimme. »Animier die nicht – «

»Spundloch«, sagte der Typ mit dem Arm über den Augen.

»Rosette«, sagte der Typ links von mir.

»Tropisches Paradies.«

»Köcher für die Spaßkanone.«

»Geburtenkontrolle.«

Der Typ auf dem Boden faltete die Hände hinter dem Kopf und sagte mit geschlossenen Augen: »Concerto anale.«

»Culo«, konterte der Typ links von mir, aber er brauch­te eine Sekunde, um damit rauszukommen.

»Echter Sex«, kam es prompt.

»Unechter Sex«, lautete die grimmige Replik.

»L’usine de gaz.«

»Warten auf das Martyrium.«

»Mörser für den Stößel.«

»Besser als mit ohne Schlucken.«

»Rückzugsort des Priesters.«

»Anale Grande.«

»Intimlippen ... «

»Watkins!«

»Blinddarm der Hingabe.«

»Ist Curly Watkins hier?«

»Fiesta auf dem Perineum.«

»Ja«, sagte ich.

»Die non-orale Lösung.«

Als der Wärter die Tür öffnete, traten zwei oder drei Männer nach vorn.

»Prolabiertes Rektum.«

»Vergesst es«, sagte der Schließer und scheuchte sie zurück. »Raus hier, Watkins.«

»Eichel auf Toast ... «

Die Tür schlug zu.

»Hinterladers Liebling.«

»Prostatas Wonne ... «

»¡Aieee! ¡No más! ¡No más por favor!«

Um es kurz zu machen: Da Ivy und ich das Beweisstück aufgeraucht hatten, ließen sie mich laufen.

Zwar hatten sie noch ein paar Utensilien, die sie untersuchen konnten, aber die Kriminalitätsrate in Oakland bewegt sich in schwindelerregender Höhe, also die von echten Verbrechen wie Mord und so. Ich war ein viel zu kleiner Fisch, um in die Pfanne gehauen zu werden. Außerdem waren es Ivys Menümesser gewesen, nicht meine. Abgesehen davon, Ivy hatte ein Strafregister, ich nicht.

Alle Nummern auf meinem Mobiltelefon wurden überprüft, als könnten der eine Klubbesitzer, die vier oder fünf Musiker und neun oder zehn Lieferservices, die in meinem Speicher aufgelistet waren, etwas wissen. Ein hartnäckiger Cop mit einem Faible für Maßnahmen rief jeden Einzelnen an und versuchte, Dope zu ordern, egal, wen er am anderen Ende hatte. Leider ging diese Form von Ermittlungsarbeit an mir vorbei, aber im Lau­fe der Jahre erfuhr ich von den Anrufen. Zumindest von den meisten. Die »Curly-hat-gesagt-du-kannst-was-für-mich-eintüten«-Nummer vergraulte zwei oder drei Leute für immer und ewig. Was soll’s. Wenn es zum Äußersten kommt, weiß man nie, was das Ende einer Beziehung einläutet.

Der Gitarrenkoffer im Kofferraum meines Wagens war ebenfalls sauber, obwohl – wie die Cops das herausgefunden haben wollten, ohne die Gitarre zu zerstören, wäre eine interessante Frage. Irgendwie eben. Mein Straf­­register war so was von jungfräulich, dass die Cops kaum glauben konnten, dass ich im Musikgeschäft war. Alles verjährt, versicherte ich ihnen. Und außerdem, wer sagt, dass es ein Geschäft ist? Verglichen mit Kriminali­tät. Ein Cop meinte, er spiele ab und an ein wenig Kornett. »Cool«, sagte ich, »haben Sie’s dabei?« Er wurde rot und verneinte. »Gut«, erwiderte ich mit Nachdruck und sorgte bei den anderen Cops für einen Lacher auf seine Kosten. Vielleicht hatten sie ihn mal spielen hören. Aber er nahm es sportlich.

Unterdessen hatte der Computer eine alte Sache aus San Francisco ausgespuckt, vor der Ivy sich gedrückt hatte, also schafften sie ihn über die Brücke und machten Feierabend. Das und der Umstand, dass ein Streifenwagen mit zwei Mexikanern hinten drin in dem Moment vorgefahren war, als man Ivy und mich in Handschellen aus dem Apartment geführt hatte, machte das Ganze zu einem erfolgreichen Beutezug. Warum die Konsumenten festhalten, wenn man die Dealer hatte? Eine gute Frage, aber wir sind nicht hier, um die Broken-Windows-Theorie zu diskutieren, wir sind hier, um unsere Freiheit zu zelebrieren, indem wir unseren Honda zurückfordern, der in der Polizeigarage steht. Einen Honda Civic rückwärts abschleppen zu lassen, schadet unglücklicherweise dem Getriebe und zieht Reparaturkosten in Höhe von zweihundertfünfzig Dollar nach sich. Ich fuhr auf dem Beifahrersitz des Abschleppwagens über die Bay Bridge zum Unocal an der Market Street in Duboce, wo Jim Zhong, der den Laden schmeißt, wie immer gelassen darauf reagierte, dass mein Honda wieder mal am Ab­schlepphaken hing. Er würde ihn auf seinem Parkplatz abstellen und reparieren, sobald ich es bezahlen konnte. Das war mehr als ein fairer Deal.

Es war also ziemlich spät, als ich zur Hausnummer Einhundert in der Haight Street zurückgetrottet kam. Dennoch, mir blieb genügend Zeit, mir ein Jackett zu schnappen und den Bus, um zur Arbeit zu fahren, als ich niemand anderen auf den Vorderstufen meines Hauses vorfinden sollte als eine kettenrauchende Ms. Lavinia Hahn – »Auntie« höchstpersönlich.

»Hi, Curly«, zwitscherte sie, die Pupillen so spitz wie die Augen strahlend. »Oh, nein«, entfuhr es mir spontan.

Sie ließ ihre Kippe zu den anderen Artgenossen aufs Pflaster fallen und drückte sie mit der Sohle ihres Stiefels aus. »Was ist los, Curly? Blutzucker abgesackt?«

»Woher weißt du?«

»Ich hatte mal einen Massagesalon.« Sie stand auf und strich ihren Rock glatt. »Kann ich reinkommen?«

»Was, wenn ich nein sage?«

»Dann leg ich dir Fesseln an und zwing dich, mein Video anzuschauen, bis du ›Auntie‹ sagst.«

»Auntie.« Ich sammelte die Post im Hausflur ein und ging vor Lavinia die Treppe hoch. Drei Treppen später öffnete ich meine Wohnungstür und trat zur Seite. »Falls du dir ’nen Schuss setzen musst, rechts ist das Badezimmer.«

»Ich bin cool.« Sprach’s und schob sich an mir vorbei, den untrüglichen Geruch von verbranntem Teerheroin im Schlepptau. Hat man den Geruch erst einmal zugeordnet, begegnet man ihm öfter.

»Der Meinung war ich schon immer«, erwiderte ich.

»Außerdem«, sagte sie und nahm dabei ohne jede Hemmung, ihre Geringschätzung zu zeigen, das Apartment in Augenschein, »bevorzuge ich leichtes Gepäck, wenn ich arbeite.«

Erschöpft schloss ich die Tür und stellte den Gitarrenkoffer gegen die Wand meines bescheidenen Flurs. »Was führt dich nach Hayes Valley?«

»Du, natürlich.« Sie schwebte durch den Schlaf-Ess-Wohn- und Übungsbereich und machte vor dem Spiegel über der Spüle halt, um ihr Make-up zu inspizieren.

»Du, natürlich«, äffte ich sie nach. Ich sah das blin­kende Lämpchen am Anrufbeantworter und drückte die Abspieltaste. »Wie ich höre, soll dein Video einfach wahn­sinnig sein.«

»Hintersinnig«, sagte sie an der Spitze ihres Lippen­stiftes vorbei. »Wahnsinnig sind Leute, deren Autos so groß sind, dass man nirgendwo damit parken kann.«

»Curly«, knurrte der Anrufbeantworter, »du Arsch­loch.« Es war die Stimme von Padraic Mousaief, dem ein Café an der Judah Street gehörte, ganz in der Nähe vom Strand. »Heute ruft mich so ein Typ an, wollte Dope kaufen und hat gemeint, du hättest ihm erzählt, ich könnte da was klarmachen? Scheiße, was soll das? Und nicht nur das, der Typ ist wahrscheinlich auch noch ’n Cop. Findest du das komisch? Weißt du, was es heißt, in diesem Land Einwanderer zu sein?«

»Weißt du, wie mein Onkel und seine elf Söhne im Bekaa-Tal ihren Lebensunterhalt verdienen?«, murmelte ich unglücklicherweise.

»Obwohl«, bemerkte Lavinia nämlich, »sei­nem Anrufbeantworter zu antworten ist ebenfalls wahn­sinnig, ist geradezu symptomatisch für Wahnsinn.«

»Ich glaube«, fuhr Padraic fort, »es ist das Beste, wenn du von heute Abend an nicht mehr hier spielst, zumin­dest so lange, bis du zu mir kommst und mir ehrlichen Herzens erklärst, weshalb ich einen Mann engagieren soll, der mit Drogen handelt.«