Der Kreis - Martin Maurer - E-Book + Hörbuch

Der Kreis Hörbuch

Martin Maurer

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Beschreibung

Sommer 1984 – vier Monate ist es her, dass Nick Marzek und Graziella Altieri der Gruppe LUDWIG das Handwerk gelegt haben. Seit sie wieder zurück in München sind, fragen sie sich, wer die Hintermänner sein könnten, die noch immer frei herumlaufen. Doch dann tut sich ein neuer Fall auf: Zwei Frauen wurden tot im Perlacher Forst aufgefunden. Bei den Opfern handelt es sich um Maria Ursa und ihre Tochter Dinka. Vom Ehemann und Vater Stjepan fehlt jede Spur. Hat er Frau und Tochter erschossen? Näher kommen die Ermittler der Sache, als sie sich in der Gemeinde der Exilkroaten umschauen, zu denen die Ermordeten gehörten. Stjepan Ursa war Mitglied der »Kroatischen Revolutionären Bruderschaft«, einer terroristischen Vereinigung, die sich als Freiheitskämpfer gegen Tito und das kommunistische System versteht. War es der jugoslawische Geheimdienst, der die Familie Ursa regelrecht hingerichtet hat? Je weiter Nick und Graziella in beiden Fällen graben, desto tiefer tauchen sie in ein Geflecht aus Lügen und Intrigen ein. Und bald wissen sie nicht mehr, wem sie überhaupt noch trauen können …

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Zeit:13 Std. 7 min

Sprecher:Wenzel Banneyer

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Sommer 1984. Vier Monate ist es her, dass Nick Marzek und Graziella Altieri der Gruppe LUDWIG das Handwerk gelegt haben. Seit sie wieder zurück in München sind, fragen sie sich, wer die Hintermänner sein könnten, die noch immer frei herumlaufen. Dass dieser Fall sie in größte Gefahr bringen wird, ahnen sie noch nicht. Genauso wenig ahnen sie, dass ein Zusammenhang mit einem weiteren mysteriösen Mordfall besteht: Zwei Frauen wurden tot im Perlacher Forst aufgefunden. Bei den Opfern handelt es sich um Maria Ursa und ihre Tochter Dinka. Vom Ehemann und Vater Stjepan fehlt jede Spur. Hat er Frau und Tochter erschossen? Näher kommen die Ermittler der Sache, als sie sich in der Gemeinde der Exilkroaten umschauen, zu denen die Ermordeten gehörten. Stjepan Ursa war Mitglied der »Kroatischen Revolutionären Bruderschaft«, einer terroristischen Vereinigung, die sich als Freiheitskämpfer gegen Tito und das kommunistische System versteht.

Je weiter Nick und Graziella in beiden Fällen graben, desto tiefer tauchen sie in ein Geflecht aus Lügen und Intrigen ein. Und bald wissen sie nicht mehr, wem sie überhaupt noch trauen können …

© Jordis Antonia Schlösser/OSTKREUZ

Martin Maurer wurde 1968 in Konstanz am Bodensee geboren. Er studierte Dramaturgie und Drehbuch an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg und arbeitet als Drehbuchautor. Bei DuMont erschienen bislang sein Thriller ›Terror‹ (2011) und ›Die Krieger‹ (2020), Nick Marzeks erster Fall. Martin Maurer lebt in Berlin.

MARTIN MAURER

DER KREIS

Ein Fall für Nick Marzek

Von Martin Maurer sind bei DuMont außerdem erschienen:

›Terror‹

›Die Krieger‹

Der Autor dankt der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa, dem Deutschen Literaturfonds und der VG Wort sehr herzlich für die Unterstützung seiner Arbeit.

eBook 2022

© 2022 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Georg Aczel / Süddeutsche Zeitung Photo

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-8235-9

www.dumont-buchverlag.de

Just watching the trees and the leaves as they fall

Joy Division

The Eternal

Real power begins where secrecy begins.

Hannah Arendt

PROLOG

Sommer 1983.

Es war ein Fehler. Sie wusste es. Jetzt, da sie nur noch fünfzig Meter von ihrem Haus entfernt waren, wäre sie am liebsten stehen geblieben und hätte gesagt: Lass uns umkehren. Wenn wir weitergehen, wird es kompliziert, das überfordert uns beide.

Seit sie aus der Tram gestiegen waren, zerschmolz er vor ihren Augen. Der schöne, große Mann mit den dunklen Locken verlor mit jedem Schritt an Form und Format. Sie ging schneller in der Hoffnung, das Haus zu erreichen, bevor ihr jede Wertschätzung abhandengekommen und seine Verwandlung in einen hässlichen Zwerg abgeschlossen wäre.

Sie hatten das Tor erreicht. Max hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und ein süffisantes Lächeln auf den Lippen. Er schaute an dem Gebäude hinauf und hinunter. »Nicht schlecht. Fast noch ein bisschen imposanter, als ich es mir vorgestellt hatte.«

Sie sah sich um. Von den Nachbarn war niemand zu sehen. Weder in den Gärten noch an den Fenstern. Im Haus gegenüber spielte Leo Klavier. Er würde es nie lernen. »Komm, lass uns reingehen.«

»Wie muss ich mir das vorstellen?« Er drehte sich um und wies zum Straßenrand. »Hier fahren dann die Limousinen vor, oder was?«

»Lass uns reingehen, ja?« Es war wie beim ersten Geschlechtsverkehr. Augen zu und durch.

»Aber ich möchte …«

»Ich erklär dir alles. Komm jetzt.« Sie packte ihn am Arm und zog ihn hinter sich her, den Kiesweg entlang, bis zur Tür. Ein kurzer Blick auf die Armbanduhr. Ihre Eltern waren schon in der Stadt, das war das Wichtigste, und die Angestellten hatten entweder bereits Feierabend oder machten Besorgungen. Sie lauschte, aber drinnen waren keine Geräusche zu hören. Also schloss sie auf. »Bitte sehr.«

Nachdem er eingetreten war, machte sie die Tür schnell hinter ihm zu. Sie ging voran, um seinen schlendernden Gang nicht sehen zu müssen und den lässigen Habitus dessen, der nichts zu verlieren hat. Eingangshalle. Salon. Seine Schritte auf dem Parkett: kein festes Auftreten, ein Schlurfen. Auch ohne ihn anzusehen, wusste sie ganz genau, mit welchem Gesichtsausdruck er die Bücherregale und die Gemälde betrachtete.

»Wer ist denn das?«

Sie blieb stehen. Instinktiv hatte er aus all den Bildern, die hier an den Wänden hingen, dasjenige herausgepickt, das ihr auch jetzt noch unheimlich war. Als kleines Mädchen hatte sie den Blick gesenkt, wenn sie daran vorbeigehen musste, so sehr hatte ihr davor gegraut. Bis in ihre Träume hatte es sie verfolgt.

»Das ist ein Kinderporträt Philipps des Zweiten.«

»Sieht irgendwie merkwürdig aus.« Er warf die dunklen Locken zurück. Wie sehr sie diese Geste geliebt hatte. Jetzt kam sie ihr einfach nur lächerlich vor. »Man sieht das Gesicht eines Jungen und gleichzeitig das eines alten Mannes …«

Schlauer Kerl, du hast es erfasst. Nur dass das Bild nicht merkwürdig ist, sondern grauenerregend. Sie betrachtete das greisenhafte Kindergesicht. Wie oft sie ihren Vater in stummer Andacht vor diesem Bild hatte stehen sehen. Mit fünfzehn oder sechzehn hatte sie herauszufinden versucht, was an diesem Herrscher ihn so sehr faszinierte, und hatte sich mit dessen Leben befasst. Sie hatte alles gelesen, was sie über Philipp II. in die Hände bekommen konnte – und mit jeder Zeile war ihre Verstörung gewachsen. Denn sie hatte nichts Heldenhaftes an diesem Mann entdecken können. Im Gegenteil, sein Leben war ihr von Anfang bis Ende trostlos erschienen. Als kahlköpfiger, gichtgeplagter Griesgram verwaltete Philipp II. sein überschuldetes, morsches Reich vom Escorial-Palast aus. Er starb qualvoll, sieben Wochen lang, von Geschwülsten übersät, zwischen Eiter und Kot. Um seinen Kindern die Hinfälligkeit aller irdischen Macht zu demonstrieren, entblößte er vor ihnen »seinen übel riechenden, mit Geschwüren durchlöcherten, mit Läusen bestiegenen Leib«. Diese Zeilen stammten aus einem der Bücher und hatten sich ihr eingebrannt. Erst einige Jahre später verstand sie, dass ihr Vater ihn für seine Ernsthaftigkeit und Unerbittlichkeit im Glauben verehrte. Für die Verteidigung des Katholizismus. Dafür, dass er der Welt den Escorial-Palast geschenkt hatte. Ihr Vater musste sich Philipp II. sehr nahe fühlen.

Sie riss sich von dem Bild los und ging weiter. Sie wollte es hinter sich bringen. »Komm, ich zeig dir, wo das Treffen stattgefunden hat.« Sie öffnete die unscheinbare Tür neben dem Bücherregal und ließ ihn das Arbeitszimmer betreten. In diesem Moment konnte sie den Verrat an ihrem Vater körperlich spüren. Sie ließ einen Fremden in das Herz ihrer Familie blicken, sie zog einen Vorhang auf, der geschlossen hätte bleiben müssen. Sie musste an den Garten von El Escorial denken. An die akkurat geschnittenen Hecken, die Labyrinthe bildeten. Etwa zehn Jahre alt musste sie gewesen sein, als sie und ihr Vater in diesem Garten Verstecken gespielt hatten. Sie hatten so laut gelacht, dass sich die Leute nach ihnen umgedreht hatten. Aber ihren sonst so strengen Vater hatte das nicht gestört. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn danach jemals wieder so ausgelassen erlebt zu haben …

»Erzähl mir von dem Treffen.«

Erst dringst du hier ein, und dann zerstörst du auch noch meine Erinnerungen.

»Hier haben sie gesessen.« Sie zeigte auf die gepolsterten Stühle, die in der hinteren Ecke des Raumes um einen runden Tisch gruppiert waren. »Hier, mit dem Rücken zu mir, Franz Josef Strauß, daneben Giulio Andreotti. Rechts von ihm Jean Violet und da drüben mein Vater.«

Sie wandte sich ab und überlegte, wie sie ihn schnellstmöglich loswerden konnte. Ihr Blick fiel nach draußen in den unheimlichen Teil des Parks. Als Kind hatte sie das Gefühl gehabt, dass das Licht dort ein wenig anders und die Temperatur ein wenig kühler war, und hatte diese Stelle gemieden. Sie trat einen Schritt näher ans Fenster. Die Bäume standen dicht beieinander, alles war in Halbschatten getaucht. Sie schaute an einem der Stämme hinauf – und entdeckte ein Paar schwarze, blank polierte Schuhe in der Luft. Das Gesicht des Mannes, der dort draußen hing, kam ihr fremd vor, und sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es sich um ihren Vater handelte.

EIN JAHR SPÄTER …

I.  DIE SKULPTUR

Mit dem Himmel stimmte etwas nicht, und München lag da wie tot. Kein Kindergeschrei, keine Vogelstimmen, kein Luftzug; als hätte Gott eine Welt geschaffen und Menschen, Tiere und den Wind vergessen.

Nick streckte den Kopf aus dem Autofenster. »Schau dir mal den Himmel an!«

Gruber blinzelte nach oben. »Gelb ist er. Und?«

»Hast du so was schon mal gesehen?«

»Sieht komisch aus, das stimmt, aber es ist immer noch der Himmel.«

»Wie meinst du das?«

»Wenn meine Frau vom Friseur kommt, erkenn ich sie auch nicht wieder, aber ich weiß trotzdem, dass es sich um meine Frau handelt.«

Das war das Problem mit Gruber: Sagte er wirklich solche Sachen, oder lag es daran, dass Nick sein Niederbayrisch nicht verstand?

Die Ampel schaltete auf Grün. Gruber gab Gas und jagte in hohem Tempo durch die menschenleere Wohnstraße. Er redete ohne Punkt und Komma und steigerte sich in eine große Wut hinein. Er schimpfte und fluchte. Irgendetwas schien ihm furchtbar gegen den Strich zu gehen, aber wenn Nick ihn richtig verstand, hatte das nichts mit dem gelben Himmel zu tun, sondern mit der Anschnallpflicht, die vom 1.August an in der gesamten BRD gelten sollte. Für den Freistaat Bayern war bis Anfang Oktober eine Schonfrist beschlossen worden, um besonders starrköpfigen Mitbürgern die Gewöhnung zu erleichtern. Statt eines Strafzettels sollten die Kollegen von der Verkehrspolizei bis dahin nur einen Aufkleber mit dem Slogan Maul ned – schnall di o! an die überführten Verkehrssünder verteilen, und Gruber wusste gar nicht, worüber er sich mehr aufregen sollte, über die Anschnallpflicht als solche oder über diesen dämlichen Slogan, den Polizeipräsident Häring auf einer Pressekonferenz vorgestellt hatte. »Öffentlich! Der traut sich was!« Gruber spielte ernsthaft mit dem Gedanken, den Dienst zu quittieren, er wollte keinem totalitären Staat dienen. »Wehret den Anfängen!« Grubers Wangen waren rot vor Aufregung, die Knöchel seiner Hände weiß, so fest umklammerte er das Lenkrad. »Bis hierher und keinen Schritt weiter!« Man habe schließlich Rechte, als Mensch und als Bürger dieses Landes, die seien nicht verhandelbar. Darunter falle auch das Recht, den eigenen Körper zugrunde zu richten, wenn man das wolle. »Mein Bauch gehört mir! Da kommt kein Gurt drüber.« Sein Blick war fiebrig. »Wenn wir jetzt keinen Widerstand leisten, verbieten sie uns irgendwann noch das Rauchen!« Er schnippte die Kippe aus dem Fenster, bog scharf ab und steuerte den Wagen über die Straßenbahngleise in den Perlacher Forst.

Plötzlich wurde es dunkel, und Gruber schaltete die Scheinwerfer an. Nick warf einen Blick auf die Uhr. Fast 20Uhr, aber im Hochsommer viel zu früh für eine solche Dunkelheit. Oder lag es an den hohen Fichten, die den Weg säumten? Der Himmel war entweder verschwunden oder hatte sich der allgemeinen Finsternis angepasst, immerhin war er nicht mehr gelb. Langsam fuhren sie über den Forstweg. Gruber sagte kein Wort mehr, er hatte sein Pulver verschossen. Im Scheinwerferlicht tauchte ein uniformierter Kollege auf. Am Wegesrand standen ein Streifenwagen und ein VW-Bus. Wahrscheinlich die Spurensicherung. Der Uniformierte trat heran und spähte in den Wagen »Servus. Stellts euch hinter den Bulli.« Dann deutete er auf einen schmalen Weg, der in den Wald hineinführte. »Die Kollegen sind schon da. Immer geradeaus. Etwa hundert Meter.«

»Aber da ist doch ein Weg«, sagte Gruber.

»Genau. Immer geradeaus, etwa hundert …«

»Wenn da ein Weg ist, dann benutz ich den doch. Oder ist er nicht befahrbar?«

»Schon. Aber besser wär’s, ihr parkts hier und geht den Rest zu Fuß.«

»Wär das besser, ja? Mach ich irgendwelche Spuren kaputt, wenn ich da entlangfahr?«

»Nein … ich … ich glaube nicht …«

»Warum wär das dann besser?«

Irgendetwas in Grubers Stimme ließ den Uniformierten zurückweichen.

»Es gibt hier einen Weg, der mich da hinführt, wo ich hinwill, warum ist es dann besser, diesen Weg nicht entlangzufahren? Das muss mir mal einer erklären.«

Der Uniformierte war sichtlich aus dem Konzept. Er wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als Gruber losbrüllte: »Oder gehörst du auch zu denen, die mir sagen, es wär besser, ich würd mich künftig anschnallen? Und wenn ich’s nicht mach, weil, ich mach’s nicht – krieg ich dann von dir die Maul-ned-schnall-di-o-Medaille, oder erschießt du mich gleich?!«

Es ging noch eine Weile hin und her, aber Gruber war in Rage und für Nick nicht mehr zu verstehen.

»Weißt, was besser wär?«, brüllte Gruber schließlich. »Besser wär, du machst jetzt einfach Platz!« Er ließ den Motor aufheulen und gab Gas. Der Uniformierte sprang zur Seite, und Gruber steuerte den Wagen auf den Waldweg. »Wo kommen die plötzlich alle her, diese Besserwisser?«

Wurzeln, Steine, Löcher im Boden. Gruber fuhr Schritttempo, mehr war nicht möglich. Tausende Insekten schwirrten im Scheinwerferlicht umher. Die einzigen Lebewesen, denen die Hitze nichts auszumachen schien. Ausgerechnet. Nick schloss den Mund und biss die Zähne zusammen. Seit seiner Kindheit begleitete ihn die Angst, er könnte Mücken, Fliegen oder Wespen verschlucken. Es ging dabei nicht um die Größe der Tiere, es war allein die Vorstellung, ein Insekt könnte in seinen Rachen fliegen und sich dort einnisten, die ihn in Panik versetzte. Er nahm sich vor, gelegentlich mal beim Polizeipsychologen nachzufragen, und hielt den Arm aus dem Fenster. Irgendwie war Bewegung in die Luft gekommen, vielleicht war’s aber auch nur der Fahrtwind. Zweige schlugen gegen den Kotflügel, und Nick zog schnell den Arm zurück. Dann war der Wald plötzlich zu Ende. Vor ihnen tat sich eine Lichtung auf. Im Scheinwerferlicht erkannten sie eine prächtige alte Linde. Auf einer Bank davor saßen aneinandergelehnt zwei Frauen, als würden sie sich gegenseitig abstützen. Gruber schaltete in den Leerlauf und beugte sich nach vorn. Auch Nick spähte angestrengt aus dem Fenster. Die beiden Frauen schienen zu schlafen und dabei zu versuchen, die Balance zu halten. Vielleicht lag es an der Linde, dass das Bild fast idyllisch wirkte. Aber es täuschte. Die Kleidung der Frauen war blutgetränkt.

Nick wollte gerade die Tür öffnen, als Gruber sagte: »Hier stimmt doch was nicht.«

»Was meinst du?«

»Wo sind denn die Kollegen?«

Gruber hatte recht. Außer den beiden toten Frauen war weit und breit niemand zu sehen, und der Uniformierte auf dem Forstweg hatte doch gesagt … Gruber zog die Handbremse und ließ den Motor laufen. Die Scheinwerfer waren die einzige Lichtquelle hier draußen. Sie stiegen aus. Noch immer war es heiß und noch immer beängstigend still. Sie waren mitten im Perlacher Forst, aber nicht eine Vogelstimme war zu hören und kein Rascheln im Unterholz. Was, dachte Nick, wenn nicht nur die beiden Frauen tot sind, sondern alle Lebewesen? Wenn alle tot waren und nur noch Gruber und er … und die Insekten …

Während sie langsam in Richtung Linde gingen, geriet die Welt, die eben noch von der Hitze lahmgelegt war, plötzlich in Unruhe. Wind kam auf und wurde rasend schnell zum Sturm. Orkanböen peitschten die Bäume, Wipfel bogen sich, Blätter rauschten. Nick musste sich den Böen mit ganzer Kraft entgegenstemmen. Es wurde schlagartig kalt, und er fröstelte. Eine Wolkenwand rollte heran und hüllte sie ein. Von Gruber war nur noch ein Schemen zu sehen. Sand wirbelte auf, sodass Nick die Augen schließen musste. Es knallte. Er hörte Gruber vor Schmerz aufschreien und versuchte zu begreifen, was hier vor sich ging.

Ein ohrenbetäubender Lärm brach los, als würde in der Nähe ein Maschinengewehr abgefeuert. Aus vereinzelten Schlägen wurden erst ein Trommelfeuer und dann das anhaltende Brüllen eines Ungeheuers. Nick wurde am Kopf getroffen. Es war, als würde er mit Steinen beworfen. »Zurück zum Auto! Schnell!«

Er versuchte, sich mit den Händen zu schützen, während er zum Wagen spurtete, riss die Tür auf und ließ sich schwer atmend auf den Sitz fallen. Hier drin war es allerdings noch lauter als draußen. Der Hagel donnerte auf das Wagendach. Nick presste sich die Hände auf die Ohren. Von der Umgebung war nichts mehr zu sehen, der Wald, die Lichtung, alles war hinter einer weißen Wand verschwunden. Die Fahrertür wurde aufgerissen. Gruber sank auf den Sitz. »Wie im Krieg!«, stöhnte er und hielt sich die blutende Stirn. Es knallte und krachte. Erst zerbarst die Heck- und kurz darauf die Frontscheibe. Faustgroße Hagelkörner hüpften, kullerten und schossen wie Granaten herein. Um sich vor Lärm und Hagelschlag zu schützen, hielten sich Nick und Gruber wie in einer grotesken Pantomime abwechselnd die Hände auf die Ohren und vors Gesicht. In den Höllenlärm mischte sich ein weiteres Geräusch, das Nick zunächst nicht einordnen konnte. Es kam von links, vom Nebensitz. Gruber starrte vor sich hin, seine zusammengepressten Lippen bildeten einen schmalen Schlitz, aus dem das Wimmern drang. Nick beugte sich vor, um Grubers Gesicht besser sehen zu können, und erschrak, denn er erkannte ihn nicht wieder. Sein Körper krümmte sich zusammen, und sein Kopf sank aufs Lenkrad. Seine kräftigen Hände hatten sich in seine Haare gekrallt. Gruber war ein paar Jahre älter als Nick, gut möglich, dass er als Kind noch Bombenhagel erlebt hatte. Nick legte ihm die Hand auf die Schulter, und bald hatte er das Gefühl, dass sich der Körper seines Kollegen ein wenig entspannte. Das Wimmern erstarb. Ganz im Gegensatz zum Hagelsturm, der mit voller Kraft weiter tobte.

Wie lange der Spuk dauerte, war unmöglich zu sagen, fünf Minuten? Eine halbe Stunde? Irgendwann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, hörte der Hagel auf. Es wurde heller, und Meter für Meter wich der Dunst zurück. Eine weiße Landschaft tat sich vor ihnen auf, die ganze Lichtung war von einer Eisschicht überzogen.

Auf der Bank vor der Linde saß ein Wesen, das an eine fremde Gottheit erinnerte, gleichermaßen schaurig und schön. Eine große Ruhe ging von ihm aus. Ein schüchterner Sonnenstrahl durchbrach die Wolkendecke und ließ den Eispanzer funkeln, unter dem es schützend die Toten verbarg.

Nick war kein religiöser Mensch, aber der Anblick berührte ihn. Gruber schien es ähnlich zu gehen. Stumm saßen sie in ihrem zerstörten Wagen wie in einer Kirchenbank.

Da Grubers Kopfwunde nicht aufhörte zu bluten, holte Nick das Verbandszeug unter dem Sitz hervor und verarztete ihn notdürftig. Sie sprachen kein Wort. Als sie ausstiegen, versanken ihre Schuhe in einer Eisschicht. Der gesamte Wagen – Motorhaube, Dach, Kofferraum – war von Dellen übersät und erinnerte an die Oberfläche eines Golfballs. Erst als sie auf die Linde zustapften, bemerkte Nick, dass der Boden nicht nur von einer hohen Eisschicht bedeckt war, sondern auch von Zweigen, Blättern und toten Vögeln. Der Perlacher Forst hatte sich in eine apokalyptische Landschaft verwandelt.

Sie gingen schweigend und setzten langsam Schritt vor Schritt. Das Eis knirschte unter ihren Füßen. Aus der Ferne drang das Jaulen der Martinshörner zu ihnen, und die Vögel, die überlebt hatten, erhoben zaghaft ihre Stimmen.

Vor der Linde blieben sie stehen und betrachteten das wunderliche Wesen, das sich die toten Frauen einverleibt hatte. Wie so oft verlor das Erhabene aus der Nähe besehen seinen Zauber. Was blieb, war eine bizarre Eisskulptur, die bereits zu schmelzen begann; bald würde sie die Frauen freigeben.

Plötzlich schlug ihm Gruber aufgeregt in die Seite und zischte: »Da!«

Nick trat einen Schritt nach rechts und spähte am Baumstamm vorbei. Auf der Lichtung stand ein Mann mit langen Haaren und Bart und starrte zu ihnen herüber. Er hatte die Arme leicht ausgebreitet und war blutüberströmt.

»Hallo?«, rief Gruber, aber der Mann reagierte nicht. Erst als sie sich auf ihn zubewegten, löste er sich aus seiner Erstarrung und rannte in Richtung Waldrand davon.

»Polizei! Bleiben Sie stehen!«

Aber der Mann rannte weiter und verschwand im Unterholz. Nick und Gruber verständigten sich wortlos, Gruber nahm die Verfolgung auf, und Nick blieb bei den Toten. Er sah Gruber nach, der über den rutschigen Boden eierte. Als er im Wald verschwunden war, hörte er ihn noch ein paarmal rufen, dann kehrte wieder Ruhe ein.

Obwohl der Abend dämmerte, wurde es wieder wärmer. Unter dem tauenden Eispanzer kamen langsam die beiden Frauen zum Vorschein. Eine Verwandlung fand statt, und Nick hatte die Aufgabe, darüber zu wachen und die Frauen zu beschützen. Es war ein seltsam intimer Moment, fast wie eine Geburt. Unter der dünner werdenden Eisdecke nahmen sie langsam Gestalt an, bekamen eine Haarfarbe, Gesichtszüge, eine Persönlichkeit. Die eine war deutlich älter, an die vierzig vielleicht. Sie trug das aschblonde Haar halblang und um den Hals eine goldene Kette, an der ein Kreuz hing. Bekleidet war sie mit einem weißen Sommerkleid mit blauen Punkten, das sonntäglich wirkte, und dazu passenden blauen Halbschuhen. Die Frau neben ihr war fast noch ein Mädchen, höchstens achtzehn Jahre alt, mit langem, kastanienbraunem Haar, das links und rechts an den Schläfen mit je einer Spange gehalten wurde. Um die Nase herum Sommersprossen. Sie trug ein Marillion-T-Shirt, Jeans und Espadrilles. Beide hatten klaffende Wunden in der Brust. Man musste kein Experte sein, um zu sehen, dass sie erschossen worden waren. Mitten im Perlacher Forst hatte jemand zwei Frauen hingerichtet, und eine davon war noch fast ein Kind.

Ein Geräusch in seinem Rücken ließ Nick herumfahren. Es waren die Kollegen, die durch das Eis auf ihn zukamen.

»O Gott«, sagte einer. Ein anderer bekreuzigte sich. Stumm standen sie eine Weile vor den Toten.

Die Kollegen waren zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Die Wandlung war vollzogen, der mystische Moment dahin. Nick konnte ihnen die beiden Frauen guten Gewissens anvertrauen. Also nickte er den Beamten von der Spurensicherung zu und trat ein paar Schritte zurück. Er beobachtete, wie sie mit all ihrer Routine ans Werk gingen, und wusste die Frauen in guten Händen. Allerdings bezweifelte er stark, dass die Kollegen irgendetwas Verwertbares finden würden, eine bessere Methode zur Beseitigung von Spuren als ein Hagelsturm ließ sich kaum denken. Die Eisschicht war inzwischen sulzig geworden. Seen bildeten sich, bald würde die Lichtung im Schlamm versinken. Nick wandte sich an die beiden Uniformierten, die ein wenig unschlüssig abseits standen: »Wo habt ihr euch denn versteckt?«

Einer von ihnen, berichteten sie, war Hobbymeteorologe, wusste Bescheid übers Wetter und hatte sie gewarnt, sodass sie sich rechtzeitig in der Hütte bei der Jausenstation in Sicherheit bringen konnten. Nick, der sich, wie in ganz München, auch im Perlacher Forst nicht auskannte, hatte keine Ahnung, wovon sie sprachen. »Wer hat die Toten eigentlich entdeckt?«

Ein Spaziergänger sei das gewesen, berichteten sie, der an und für sich … Sie blickten einander erschrocken an. »Also … eigentlich war der eben noch da … Aber dann ist er in dem ganzen Chaos wohl … Vielleicht wartet er vorne am Weg beim Kollegen …«

»Habt ihr die Personalien?«

»Ja.«

»Dann ist alles gut.« Nick zündete sich eine Zigarette an. Neben dem ununterbrochenen Jaulen der Martinshörner war aus der Ferne ein weiteres Geräusch zu vernehmen, ein dumpfes Grollen, als bräche die Erde auf, aber es war wohl das Eis, das weggeräumt wurde und von den Dächern fiel. Die Stadt stöhnte und wimmerte wie ein geschundener Organismus.

Nach einer halben Stunde kam Gruber zurück. Er wirkte nachdenklich, nickte den Kollegen zu und erzählte, er sei dem Flüchtenden bis zur Menterschwaige gefolgt, einer psychiatrischen Privatklinik, die mitten im Perlacher Forst lag. »Etwa zweihundert Meter.« Gruber zeigte die Richtung an. »Der Mann heißt Jürgen Berger und lebt dort in einer therapeutischen Wohngemeinschaft. Lauter Langhaarige und Selbstgestrickte, ziemlich chaotisch.« Er wollte eine Zigarette. Nick gab ihm eine HB und Feuer. Ein uniformierter Kollege meinte, sich zu erinnern, dass gegen die Klinikbetreiber Anzeigen wegen Steuerhinterziehung und Verstoßes gegen das Heilpraktikergesetz vorlägen, und irgendwo habe er mal gelesen, dass es sich bei der Einrichtung eher um eine Psycho-Sekte als um eine richtige Klinik handle.

»Meinst du, dieser Jürgen Berger hat etwas mit dem Mord zu tun?«, fragte Nick.

»Eher nicht.« Gruber blies Rauch aus. »Das Blut stammt wohl von ihm selbst, von mehreren Verletzungen am Kopf. Er hat ausgesagt, dass er regelmäßig zum Meditieren in den Wald geht, nur dass er heute leider vom Hagel überrascht worden ist. Er hat nichts Verdächtiges bemerkt, nix gesehen, nix gehört … Allerdings …« Gruber brach ab und betastete das Pflaster auf seiner Stirn. »Es ist klar, dass wir die in der Menterschwaige alle vernehmen müssen, Patienten, Personal, Ärzte, alle. Allein wegen der Nähe zum Fundort der Leichen. Irgendwer muss die Schüsse ja gehört haben.« Er berichtete weiter, dass er deshalb Aki angerufen und um Unterstützung durch uniformierte Kollegen gebeten habe. »Aber der hat mich nur ausgelacht. München schaut aus wie nach dem Krieg, hat er gesagt. Die Kollegen sind im Dauereinsatz, da ist momentan kein einziger abkömmlich.« Gruber hielt inne. Sie lauschten dem Jaulen der Martinshörner in der Ferne, das nicht abreißen wollte.

»Das Dach von der Klinik hat’s auch erwischt.« Gruber schnippte die Zigarettenkippe in die Eisbrühe. »Immerhin sind jetzt Mercks und Löscher auf dem Weg zur Menterschwaige und fangen schon mal an mit den Vernehmungen.«

Da trat einer der Spurensicherungskollegen heran und reichte ihnen eine Plastiktüte. »Bei der Älteren haben wir keine Papiere gefunden, aber die Jüngere hatte das hier in ihrer Hosentasche.« In der Plastiktüte befand sich ein durchsichtiges Dokumentenmäppchen mit einem Schülerausweis, ausgestellt auf den Namen Dinka Ursa, wohnhaft in der Quiddestraße 41. Dinka hatte die elfte Klasse des Heinrich-Heine-Gymnasiums besucht.

Den zerstörten Wagen ließen sie stehen. Sollte sich jemand vom Fuhrpark darum kümmern. Der uniformierte Kollege, mit dem Gruber aneinandergeraten war, brachte sie in einem beschädigten, aber immerhin fahrtüchtigen Streifenwagen zum Bahnhofsviertel. Umgestürzte Bäume und Äste lagen auf der Fahrbahn. Überall waren Feuerwehr und THW mit Bergungs- und Aufräumarbeiten beschäftigt. Vor der Brachfläche an der Senefelderstraße stiegen sie aus und gingen zu Nicks Dienstwagen. Bis auf ein paar Dellen hatte der BMW nichts abbekommen. Sie stiegen ein und fuhren langsam durchs Bahnhofsviertel das halbwegs glimpflich davongekommen zu sein schien. Je weiter sie allerdings Richtung Osten kamen, desto schlimmer hatte der Sturm gewütet. Inzwischen war es dunkel geworden. Im Licht der Straßenlaternen bot sich ihnen ein Bild der Verwüstung: Die meisten Straßen standen unter Wasser oder waren noch immer von einer dicken Hagelschicht bedeckt, einige Tunnel waren gesperrt. Einzeln oder in kleinen Gruppen standen Menschen vor ihren zerstörten Häusern und Autos. Viele hatten Schneeschippen in der Hand und räumten mit leeren Gesichtern die Gehsteige von Eis, Glasscherben und heruntergefallenen Dachziegeln frei. Überall zerschlagene Scheiben, Löcher in Dächern und Fassaden. Ambulanzen standen mit rotierendem Blaulicht am Straßenrand oder fuhren so schnell, dass Wasserfontänen aufspritzten. Martinshörner aus allen Richtungen. Gruber schaltete das Radio ein: »… im Großraum München und im Landkreis Ebersberg wegen des Unwetters und nach starkem Hagelschlag erhebliche Behinderungen, zusätzliche Gefahr durch umgestürzte Bäume und abgebrochene Äste, im Bereich Pasing kann die Straßenbahn wegen eines Kurzschlusses in der Oberleitung nicht mehr verkehren …« Andächtig lauschten Nick und Gruber den nicht enden wollenden Katastrophenmeldungen. Obwohl sie das Wüten des Hagelsturms selbst hautnah miterlebt hatten, wurde ihnen die tatsächliche Dimension der Zerstörung erst jetzt richtig bewusst. »Im Laufe des Nachmittags«, erklärte ein Meteorologe, »etwa gegen 16Uhr konnte man südlich des Raumes Stuttgart auf unserem Radarschirm die Entstehung einer einzelnen Gewitterwolke beobachten. Als die Gewitterwolke dann auf das Stadtgebiet München zuzog, hat die zusätzliche Hitze der Stadt einen weiteren Wärmenachschub geliefert und so dafür gesorgt, dass die Wolke noch weiter in die Höhe schoss, wodurch diese außerordentlich großen Hagelkörner entstehen konnten …«

»Jetzt schlau daherreden, aber vorhergsagt habts ihr nix!«, schimpfte Gruber.

Vor ihnen tauchten die Hochhaustürme einer Trabantenstadt auf. Sie ragten wie ein Gebirge in den Nachthimmel. Nick versuchte, anhand der erleuchteten Fenster ihre Höhe einzuschätzen. Acht Stockwerke, manche zwölf.

»Neuperlach.« Gruber erklärte, dass sie vor zehn Jahren das ganze Viertel aus dem Boden gestampft und hier auf die grüne Wiese gesetzt hatten. »Der Architekt war auch Berliner.« Er sah Nick vorwurfsvoll an, und angesichts der Betonwüste überkamen Nick prompt Schuldgefühle. »Ich bin nicht für alles verantwortlich, was aus Berlin kommt. Nur damit du Bescheid weißt.«

Gruber sagte nichts, aber er schien das zu bezweifeln.

Als sie an einer Ampel stoppten, überquerte vor ihnen ein altes Ehepaar die Straße. Sie hielten sich an den Händen. Er zog einen Einkaufsroller hinter sich her und blutete aus einer Wunde am Kopf. Vielleicht lag es am Ampellicht, dass ihre Gesichter so fahl wirkten. Die Ampel schaltete um. Gruber gab Gas. Im Radio spielten sie »Eisbär« von Grauzone. »Die haben Nerven«, sagte Gruber.

Die breite Straße war wie ausgestorben. Sie parkten hinter einem Opel Commodore mit zerschlagener Heckscheibe und stapften durch die Hagelkörner auf den Eingang zu. Es dauerte einen Moment, bis sie den Namen Ursa auf dem Klingelbrett gefunden hatten. Nick drückte auf den Knopf und als nicht geöffnet wurde, klingelte er so lange bei den Nachbarn, bis einer sich erbarmte. Der Türöffner summte. Nick stieß die Eingangstür auf. Da sie nicht wussten, in welchem Stock Dinka Ursa gewohnt hatte, mussten sie die Treppe nehmen. Nick war froh, er hasste Fahrstühle. Es war dann der fünfte. Gruber fluchte und atmete schwer. Wieder drückten sie den Klingelknopf. Klopften. »Polizei, bitte öffnen Sie.« Als nichts passierte, holte Nick den Dietrich aus seiner Tasche. Gleichzeitig wurde die Tür zur Nachbarwohnung geöffnet.

»Was ist denn los?« Die Frau war um die dreißig. Plastiklöffel in der Hand. Drinnen schrie ein Kleinkind.

Gruber kümmerte sich um sie, und Nick betrat die Wohnung, in der das Mädchen mit den Sommersprossen gelebt hatte. »Hallo?«, rief er. »Ist jemand da?« Keine Antwort. Einen Moment lang stand er bewegungslos im dunklen Eingangsbereich und sog den besonderen Geruch ein, der jeder fremden Wohnung anhaftete. Die Stimmen von Gruber und der Nachbarin drangen gedämpft zu ihm. Sonst war es still. Nicht einmal Martinshörner waren zu hören. Entweder war in diesem Viertel nichts passiert, oder man hatte es vergessen.

Er machte Licht. Im Flur eine Tapete mit Pflanzenmuster. An der Garderobe hinter der Tür hingen ein Sommerblouson und ein Regenmantel. Nick ging von Zimmer zu Zimmer und versuchte, sich einen Eindruck von den Menschen zu verschaffen, die hier lebten … oder gelebt hatten.

Die Wohnung war sauber und aufgeräumt, viel dunkles Holz, Stiche mit alten Stadtansichten und in fast jedem Zimmer ein Kruzifix an der Wand. Vom Wohnzimmer aus hatte man einen beeindruckenden Blick über das ganze Viertel. Ein Wohnblock reihte sich an den nächsten. Auffallend wenige Fenster waren erleuchtet. Waren nicht alle Wohnungen vermietet, oder wollten die Nachbarn nicht gesehen werden und scheuten das Licht? Um sie herum mochte die Welt feindlich sein, aber hier oben, im fünften Stock des Wohnblocks Quiddestraße 41, hatten sich die Ursas einen sicheren Ort geschaffen. So kam es Nick jedenfalls vor.

Dinkas Zimmer war hell und freundlich eingerichtet. Marillion-Poster an den Wänden, sie schien ein echter Fan gewesen zu sein. Auf dem Nachttisch lagen zwei Bücher. Die Möwe Jonathan und Johannes von Heinz Körner. Alles in diesem Raum zeugte von Leben und Aufbruch. Der Anblick war kaum zu ertragen.

Plötzlich stand Gruber neben ihm. »Jugos. Der Vater heißt Stjepan. Automechaniker. Angenehme Leute, sagt die Nachbarin, ruhig und zurückgezogen.«

Im Bücherregal im Wohnzimmer fanden sie ein Familienfoto, das, nach Dinkas Aussehen zu schließen, vor etwa zwei Jahren aufgenommen worden war. Das zweite Opfer, die ältere Frau, war zweifellos Dinkas Mutter. Stjepan, um die vierzig, dichtes, braunes Haar, Seitenscheitel, eingerahmt von Ehefrau und Tochter, lächelte stolz in die Kamera.

Was ist euch zugestoßen?, dachte Nick. Was hat dazu geführt, dass zwei von euch tot sind?

»Passt.« Gruber schnappte sich das Foto, ging zum Telefon und ließ Stjepan Ursa zur Fahndung ausschreiben. Während er telefonierte, meinte Nick, ein Geräusch zu hören. Er lauschte. Da war es wieder. Ein Rascheln. Es kam aus dem Badezimmer. Merkwürdig, er hatte doch jeden Raum überprüft. Er drückte die Klinke hinunter, öffnete langsam die Tür. »Hallo? Ist hier jemand?«

Keine Antwort, aber die Geräusche waren nun viel deutlicher zu hören. Irgendjemand war in diesem Raum, auch wenn Nick niemanden sehen konnte. Er zog seine Waffe und ging langsam an der Badewanne entlang – bis er dahinter einen Käfig erblickte. Auf dem mit Sägespänen bedeckten Boden rannte ein Meerschwein hin und her. Immer wieder stieß es gegen die Käfigwand.

»Fahndung ist raus.« Gruber spähte neugierig herein und trat zu Nick. »Oje. Was machen wir denn mit dem?«

»Müssen wir mit dem irgendwas machen? Ist eigentlich nicht unsere Baustelle, oder?«

Das Meerschwein sah sie mit seinen Knopfaugen an, es blickte von einem zum anderen.

»Die Spurensicherung kommt bald, sollen die sich doch kümmern.«

»Ja«, sagte Nick, »völlig richtig.«

»Wen habt ihr denn da?«, fragte Aki, als Nick den Käfig über den Flur des Kommissariats balancierte.

»Du auch Döner?«, fragte Gruber und ging, ohne auf Nicks Antwort zu warten, direkt zum Loch im Boden neben dem Getränkeautomat und rief Hakan seine Bestellung zu.

Nick stellte den Käfig im Besprechungsraum ab und erklärte Aki, wo und unter welchen Umständen sie das Meerschwein entdeckt hatten. »Irgendwo muss es ja hin.«

Nick und Gruber berichteten vom Fund der beiden Frauenleichen im Perlacher Forst und dass sie Stjepan Ursa bereits zur Fahndung ausgeschrieben hatten. Als Nick seine Eindrücke von Dinkas Zimmer schilderte, schüttelte Aki den Kopf. »Mein Gott, sie war ja noch ein Kind.«

Hakan brachte die Döner persönlich und wünschte guten Appetit. Aber nicht einmal Gruber brachte mehr als zwei Bissen herunter. Keinem fiel mehr etwas ein, also schwiegen sie, und Nick hatte wieder das Bild der Eisskulptur vor Augen.

»Wie heißt es denn?«, fragte Aki unvermittelt.

»Wer?«

Aki deutete zum Käfig.

»Woher soll ich das wissen?« Nick betrachtete das Meerschweinchen. Sein Fell war schwarz-weiß-braun und ganz struppig. Lustige Frisur, an den Seiten lang. Bestimmt hatte es Dinka gehört. Welchen Namen hätte sie wohl für ihr Meerschweinchen gewählt? Auf einmal verspürte Nick eine große Verantwortung. Dieses Tier war Dinkas Vermächtnis. Er wollte es im Sinne der Verstorbenen benennen. Aber was wusste er über Dinka? Sie hatte Marillion geliebt, aber Marillion fand er nicht passend als Namen für ein Meerschweinchen. Die Bücher auf ihrem Nachttisch, vielleicht? Johannes oder Jonathan? Er betrachtete das Tier noch einmal ganz genau. Diese Frisur! Das Meerschwein erinnerte auf frappierende Weise an Fish, den Marillion-Sänger, und plötzlich wusste Nick, wie Dinka ihr Haustier genannt hatte.

»Es heißt Fisch.«

Aki warf ihm einen befremdeten Blick zu, aber bevor er etwas sagen konnte, fragte Gruber: »Hat unser Raumschiff eigentlich auch was abbekommen?«

»Nein«, sagte Aki, »wahrscheinlich hat der Hagel gewusst, dass die Bude zusammenstürzt, wenn er hier einschlägt.« Im ganzen Kommissariat war nicht eine einzige Fensterscheibe zu Bruch gegangen. Aki bestätigte, was sie bereits vermutet hatten: Das Bahnhofsviertel war vergleichsweise glimpflich davongekommen. »Aber ansonsten ist das eine einzige Katastrophe. In den Krankenhäusern ist die Hölle los.«

Irgendwann kamen Mercks und Löscher dazu. Sie wirkten erschöpft. Die Vernehmungen in der Menterschwaige waren kompliziert gewesen, die Patienten hatten aus ihrem Leben und von ihren Gefühlen erzählt, viele hatten geheult, aber klare, brauchbare Aussagen zu bekommen, war furchtbar schwierig gewesen. Weder die Patienten noch das Personal hatten Schüsse vernommen. »Wobei sie sich nicht mal ganz einig waren, wer zu welcher Gruppe gehört«, warf Löscher ein, »die Übergänge scheinen fließend zu sein.«

»Allerdings machen die dort auch Schreitherapien und Sufi-Tanz«, führte Mercks seinen Gedanken weiter, »wo’s dann auch mal lauter wird. Kann schon sein, dass man dann keine Schüsse hört.«

»Oder der oder die Täter haben einen Schalldämpfer benutzt«, sagte Gruber.

»Im Moment sieht es jedenfalls so aus«, fasste Aki zusammen, »als hätten wir’s mit einem Familiendrama zu tun. Stjepan Ursa ist, Stand jetzt, unser Hauptverdächtiger. Die Fahndung nach ihm läuft. Die Kollegen von der Spurensicherung sind auf dem Weg zur Wohnung der Familie. Danke, so viel fürs Erste.«

In dem Moment fiel draußen die Eisentür ins Schloss.

»Wer kommt denn jetzt noch?« Aki spähte in Richtung Flur.

Kurz darauf führte Löscher Graziella und ihren Sohn Matteo in den Besprechungsraum. »Ciao.« Graziella versuchte ein Lächeln, aber Nick sah ihr an, dass ihr eigentlich zum Heulen zumute war. Erst jetzt bemerkte er den großen Koffer, den sie bei sich hatte. Matteo hatte eine Sporttasche umgeschnallt. »Der Hagel hat«, begann sie, »der hat unsere Wohnung … Das Dach ist … Das ganze Haus …« Sie brach in Tränen aus. Schluchzend stand sie bei der Tür. Auch Matteo rannen die Tränen über die Wangen.

Aki rückte schnell zwei Stühle zurecht. »Setzt euch erst mal.«

Gruber kam mit zwei Bier herein. Eines für Graziella und eines für Matteo.

»Gibt’s auch Cola?«, fragte der Junge schüchtern.

»Im Automat gibt’s nur Bier. Aber Hakan hat bestimmt …« Gruber verschwand wieder nach draußen, und kurz darauf hörte man ihn lautstark mit Hakan unten im Bosporus verhandeln. Das Loch war ein Segen. Als sich Graziella wieder etwas gefangen hatte, erzählte sie, wie der Hagelsturm ihr Zuhause vernichtet hatte. »Der hat das ganze Dach abgedeckt …«

Sie hatten die Wohnung fluchtartig verlassen und in der WG im Erdgeschoss Zuflucht gefunden. »Als alles vorbei war, sind wir wieder hoch …« Graziella brach ab und begann wieder zu schluchzen.

»Überall war Eis«, sagte Matteo leise. »In der ganzen Wohnung …«

Schweigen. Jeder nippte an seinem Getränk. Gruber kam zurück. »Cola kommt gleich.«

»Das heißt«, sagte Aki, »ihr braucht jetzt also erst mal eine Unterkunft, ja?«

Die Blicke aller Kollegen richteten sich auf Nick.

»Das ist aber süß.« Matteo hatte das Meerschweinchen entdeckt. »Wie heißt es denn?«

»Fisch«, sagte Aki.

Dunst lag über den Straßen. Die Neonlichter der Stripclubs spiegelten sich im Tauwasser. Discobeats aus den Bars mischten sich mit dem Grölen Betrunkener. Horden von Männern in T-Shirts und kurzen Hosen waren unterwegs, ein paar Punks rutschten auf schmutzigen Eisbergen herum, die am Straßenrand vor sich hin schmolzen. Wenn einer stürzte, applaudierten die Animierdamen, die rauchend vor den Türen der Clubs standen. Die Katastrophe war vorüber, das Bahnhofsviertel tanzte.

Sie hatten den Weg bisher schweigend zurückgelegt. Matteo, der sich eben noch kindlich über das Meerschweinchen gefreut hatte, gab sich demonstrativ unbeeindruckt vom dampfenden Rotlichtviertel. Er hatte seine Ihr-könnt-mich-mal-Rüstung angelegt. Visier runter, breiter Gang, nichts geht raus, nichts kommt rein. Nie war man derart verletzlich wie mit fünfzehn, und nie durfte man es so wenig zeigen, dachte Nick. Der Koffer war schwer, aber er ließ sich nichts anmerken.

Je näher sie seiner Wohnung kamen, desto unsicherer wurde er. Alle waren wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Nick die beiden bei sich unterbringen würde, und natürlich wollte er ihnen helfen, keine Frage. Aber jetzt, da sie bald vor seiner Haustür stehen würden, kamen ihm Zweifel. Er warf Graziella einen Blick zu. Sie wirkte in sich gekehrt, mit sich und ihren Gedanken beschäftigt. Nur einmal, vorhin, als er sie zu sich eingeladen hatte, war ein Lächeln über ihr Gesicht gehuscht. Da war ihm aufgefallen, wie lange er sie schon nicht mehr hatte lächeln sehen. In Italien war etwas mit ihnen passiert, das Nick bis heute nicht recht zu benennen vermochte. Die Jagd nach der Gruppe LUDWIG hatte sie zusammengeschweißt. Sie waren ein Team geworden? Ein Paar? Liebende? Sie hatten eine Affäre gehabt? Keiner dieser Begriffe war passend. Sie hatten einfach zusammengehört. Mit Graziella in Italien hatte Nick sich zu Hause gefühlt, besser konnte er es nicht ausdrücken. Sie hatten miteinander gelacht, gegessen, geschlafen und Angst gehabt, und es war ihnen gelungen, Wolfgang Abel und Marco Furlan das Handwerk zu legen und den Behörden zu übergeben. Die italienische Staatsanwaltschaft verdächtigte die beiden jungen Männer aus der Oberschicht Veronas jener rechtsextremen Gruppe LUDWIG anzugehören, die seit 1977 vornehmlich in Oberitalien zehn Morde und Anschläge begangen und dabei fünfzehn Menschen getötet hatte. Teil dieser Mordserie schien auch der Brandanschlag auf die Sex-Diskothek Liverpool in der Schillerstraße am 7.Januar 1984 zu sein. Zumindest legte dies das Bekennerschreiben nahe, das zehn Tage später im Münchner Polizeipräsidium eingetroffen war:

»IM LIVERPOOL WIRD NICHT MEHR GEFICKT.

EISEN UND FEUER SIND DIE STRAFEN DER NAZIS.

GOTT MIT UNS«

Um die Tat aufzuklären, war die Soko Liverpool gegründet worden, die hauptsächlich aus Nick und seinen Kollegen von der Mordkommission 3 bestanden hatte und von Aki geleitet worden war. Um herauszufinden, ob es tatsächlich eine Verbindung zu den anderen Fällen gab, zu denen sich die Gruppe LUDWIG in ihren mit Reichsadler und Hakenkreuz versehenen Schreiben bekannt hatte, war Nick nach Italien geschickt worden. Da der Zeitdruck groß gewesen war und so schnell kein professioneller Dolmetscher verpflichtet werden konnte, hatte Aki kurzerhand Graziella überredet, Nick zu begleiten und für ihn zu übersetzen.

Dabei hatten sie sich ineinander verliebt. Aber auf der Rückreise nach München, im Schneetreiben auf dem Brenner, hatte Graziella ihm prophezeit, dass sich nun bald eine Verwandlung vollziehen würde. Sie würden, kaum zu Hause angekommen, nicht mehr eine Einheit bilden wie in Italien, sondern auseinanderfallen. »Ich werde wieder Graziella sein, die Putzfrau, und du wieder Hauptkommissar Nick Marzek.« Sie würden wieder in zwei unterschiedlichen Welten leben. »Es wird sein wie in einem bösen Märchen«, hatte sie gesagt, »wir werden uns nicht dagegen wehren können.« Genau so war es gekommen.

Und nun führte der Hagelsturm sie wieder zusammen. Manchmal, dachte Nick, bekommt man es aus eigener Kraft nicht hin. Manchmal braucht es ein Naturereignis.

Er schloss die Haustür auf und drückte auf den Lichtschalter. Die Treppenstufen knarzten bei jedem Schritt. Jetzt erst bemerkte Nick, dass der Koffer derselbe war wie der, den Graziella in Italien dabeigehabt hatte. Mailand, Vicenza, Verona. Wie oft er das schwere Ding bereits durch irgendwelche Treppenhäuser geschleppt hatte. Ein Knirschen unter seinen Schuhsolen. Auf dem Treppenabsatz lagen Glassplitter. Der Hagel hatte das Fenster zertrümmert. Musste er dem Hausmeister melden. Dann hatten sie seine Wohnung erreicht. Schlüssel ins Schloss. »Kommt rein!«

»Danke, Nick. Ich hätte sonst wirklich nicht weitergewusst.« Sie saßen am Küchentisch, Nick ein Bier, Graziella ein Glas Wein vor sich. Matteo war schlafen gegangen. »Schule, muss früh raus«, hatte er gemurmelt. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass Graziella und Matteo das Bett im Schlafzimmer nehmen würden und Nick das Sofa im Wohnzimmer.

»Meint ihr, ihr kommt zurecht?«

»Klar kommen wir zurecht.«

»Es ist ein bisschen eng, und so ganz eingerichtet ist es immer noch nicht.« Nick erzählte, wie Vlado vom Im- und Export nebenan letztes Jahr kurz vor Weihnachten sein gesamtes Möbellager angeschleppt hatte, weil Jo zu Besuch kommen wollte. »Ich habe schnell Möbel gebraucht, deshalb sieht es jetzt ein bisschen … ein bisschen kunterbunt aus.«

»Mir gefallen die Geweihe. Und die Perserteppiche.«

»Die sind nicht echt.«

»Die Geweihe oder die Teppiche?«

»Die Teppiche. Was die Geweihe angeht, bin ich mir nicht sicher.«

»Sie gefallen mir«, wiederholte Graziella. Außerdem, fand sie, gehöre es bei Perserteppichen im Grunde dazu, dass sie nicht echt seien. »Eigentlich sind doch die falschen die richtigen. Ich mein, wer hat schon echte Perserteppiche?« Sie beispielsweise sei froh, dass sie keine hatte, denn die wären jetzt alle hinüber. »Grandine di merda!«

Sie wollte wissen, wo Nick gewesen war, als der Hagelsturm tobte, und er sagte es ihr. Dann berichtete sie noch einmal haarklein, wie sie und Matteo die Katastrophe erlebt hatten. Sie spielte es ihm vor. Sie machte den Wind nach, das Donnern des Hagels und das Splittern des Glases, und Nick wurde bewusst, wie sehr er sie vermisst hatte.

Als es bereits spät war und Graziella immer öfter gähnte, wurde Nick unruhig. Er konnte sie nicht ins Bett gehen lassen, ohne ihr die Frage gestellt zu haben, die ihn seit Wochen beschäftigte. »Liegt es an mir oder an der Gruppe LUDWIG, dass du mir aus dem Weg gehst?«

»Ich gehe dir nicht aus dem Weg …« Sie machte eine Handbewegung, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. »Oder vielleicht doch … Ich … Ich konnte nicht mehr schlafen, Nick. Ich bin jede Nacht schweißgebadet aufgewacht und habe alles wieder vor mir gesehen, was wir in Italien erlebt haben.«

Sie erzählte, und Nick hörte aufmerksam zu. Schon nach wenigen Sätzen wusste er, dass es ihr genauso ergangen war wie ihm selbst. Auch ihn hatte die LUDWIG-Geschichte nicht mehr losgelassen. Genau wie Graziella hatte er nachts wach gelegen, weil er die Bilder nicht aus dem Kopf bekam. Das Industriegebiet. Die Kuppel. Solaris Körper am Seil. Der Friedhof von Vicenza im strömenden Regen. Ihr Freund Solari, der ehemalige Commissario aus Vicenza, und der Journalist Franco Marin waren umgebracht worden, und beide Todesfälle hatten irgendetwas mit dem unheimlichen Foto von der Erschießung der beiden katholischen Aufständischen aus dem mexikanischen Bürgerkrieg zu tun, mit den beiden Cristeros, die mit verrenkten Körpern und geschlossenen Augen vor der Mauer aus Ziegelsteinen standen. Als sich dann herausstellte, dass es auch in München einen angeblichen Selbstmord im Zusammenhang mit diesem Foto gegeben hatte, war das Grauen plötzlich wieder ganz nah gewesen. Bis nach München war es gekommen, bis vor die eigene Haustür.

»Vielleicht habe ich einfach nur gehofft, dass ich, wenn ich zu dir Abstand halte, auch Abstand zu alldem bekommen würde.« Graziella zuckte mit den Schultern. »Es hat nicht funktioniert. Ich liege nachts immer noch wach … Aber was mir am meisten Angst macht, ist, dass keiner versucht, den dritten Mann der Gruppe LUDWIG zu finden, den Mann mit dem weißen Mercedes.«

Das war auch für Nick der entscheidende Punkt. Ein Phantombild dieses Mannes existierte, die italienischen Kollegen hatten es nach Graziellas Angaben angefertigt, denn sie hatte ihn beobachtet, als er aus dem Mercedes gestiegen war. Er hatte ihr direkt in die Augen geschaut. Aber bis jetzt hatte offenbar niemand ernsthaft nach diesem Mann gesucht.

»Ich hätte einfach sagen sollen, dass er mir entwischt ist und dass ich ihn nicht gesehen habe.« Sie blickte ihn ernst an. »Ich will mit alldem nichts mehr zu tun haben, Nick. Ich möchte wieder ein normales Leben führen …«

»Das mit dem dritten Mann«, sagte Nick, »dass dem keiner nachgegangen ist, das finde ich auch merkwürdig, aber … es muss nicht unbedingt etwas heißen.«

»Wie meinst du das?«

»Manchmal … Bei Ermittlungen kommt es häufig vor, dass Erkenntnisse, die anfangs bedeutsam erscheinen, später keine Rolle mehr spielen, weil andere Beweise oder Indizien inzwischen wichtiger sind. Allerdings kenne ich den aktuellen Stand der Dinge auch nicht. Seit das BKA den Fall übernommen hat, sind wir raus aus der Sache. Und seit klar ist, dass der Prozess gegen Abel und Furlan in Verona geführt wird, umso mehr. Das ist jetzt Aufgabe der italienischen Staatsanwaltschaft. Vielleicht haben sie ja inzwischen nach dem Mann gefahndet. Ich weiß es nicht. Niemand konnte mir dazu Auskunft geben.«

»Das heißt, ihr bekommt überhaupt keine Informationen mehr? Auch Aki nicht?« Graziella strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Nick wurde bewusst, wie sehr ihm der Austausch mit ihr gefehlt hatte. Zusammen mit der Nähe zu Graziella war ihm auch die Kraft abhandengekommen, sich weiter mit der LUDWIG-Geschichte zu befassen. Eine seltsame Lähmung hatte ihn befallen. Aber jetzt … Jetzt war Graziella wieder da.

»Doch«, sagte er. »Aki hat ein paar Informationen bekommen …« Er erhob sich. Graziella sah ihn fragend an. »Was machst du?«

»Bin gleich wieder bei dir.« Während er über den Flur ins Wohnzimmer ging, erfasste ihn eine merkwürdige Unruhe. Der Karton stand auf dem Couchtisch, genau dort, wo er ihn vor einer Woche abgestellt und seither nicht mehr angerührt hatte. Er hob ihn hoch und wunderte sich erneut darüber, wie schwer er war.

Graziella hatte sich eine weitere Zigarette angezündet. Den linken Arm hatte sie über den Bauch gelegt, er bildete eine Balustrade, auf der lässig der rechte Arm ruhte. Sie hielt die Kippe zwischen den Fingern, blies Rauch aus und beobachtete, wie Nick den Karton auf den Tisch stellte. »Allora?«

»Vor einer Woche«, begann er, »hat mich Aki in sein Büro bestellt und mir dieses Paket über den Schreibtisch geschoben. Er hatte natürlich mitbekommen, wie sehr mich das alles beschäftigt … Und er hat Kontakt mit Mario Sannite aufgenommen, dem Untersuchungsrichter in Verona. Er hat ihm gesagt, er sei der Leiter der Sonderkommission Liverpool, was ja auch stimmt, nur dass es die Soko Liverpool seit vier Monaten nicht mehr gibt …«

»Was ist in diesem Karton, Nick?«

»Die Akten der italienischen Staatsanwaltschaft. Vernehmungsprotokolle von Abel und Furlan, Ermittlungsergebnisse, Sachverständigenberichte, einfach der aktuelle Stand zur Gruppe LUDWIG.«

Graziellas Gesicht war zu einer Maske erstarrt. Schließlich sagte sie mit belegter Stimme: »Hast du mich zu dir geholt, damit ich diese Akten übersetze?«

»Nein, natürlich nicht … Du hast mich gefragt, ob Aki Informationen hat, und ich habe deine Frage beantwortet. Mehr nicht.«

»Mehr nicht.« Graziella sah ihn eine Weile schweigend an, dann drückte sie ihre Zigarette aus. »Ich gehe schlafen. Gute Nacht.«

Nick blieb sitzen. Er lauschte den ungewohnten Geräuschen in seiner Wohnung. Dem Klappen der Türen, dem Rauschen des Wassers im Bad, Graziellas Schritten auf dem Flur. Als die Schlafzimmertür geschlossen wurde, stand er auf und trat ans Fenster. Die Birke und die Wäschespinne, die zwei Gefährten, waren durch den Hagelschlag verwundet worden, ganz schief standen sie im Hinterhof.

II.  DIE HEXE

Die Couch. Das Wohnzimmer. Kaffeeduft. Nick brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Er stand auf und schlurfte in die Küche. Matteo saß am Tisch, eine Tasse Kaffee vor sich und eine Scheibe Brot mit Honig auf dem Teller. »Morgen.«

»Findest du, was du brauchst?«

»Gibt’s Nutella?«

»Weißt du was?« Nick schnappte sich Stift und Zettel und legte beides neben Matteo auf den Tisch. »Schreib auf, was fehlt, dann machen wir einen Einkauf.«

»Alles klar.«

»Hast du gut geschlafen?«

»Ja.«

»Du meldest dich, wenn was ist, ja?«

»Na klar.«

Als Jo in dem Alter gewesen war, waren die Gespräche ähnlich abgelaufen. Ja. Nein. Egal. Nick schenkte sich Kaffee ein. Eigentlich hatte sich daran bis heute nichts geändert. Vor drei Wochen hatte er eine Postkarte aus Lissabon bekommen. Es geht mir gut. Viele Grüße, Jo. Die zweite, nachdem er vor einem halben Jahr auf Interrail-Tour gegangen war. Die erste war von der Algarve gekommen. Portugal schien ihm zu gefallen. Wo er inzwischen wohl steckte? Nick öffnete den Kühlschrank. Milch war auch alle. »Schläft deine Mutter noch?«

»Die ist schon lange weg.«

»Wieso?«

»Na arbeiten.«

»War sie nicht gestern …?«

»Sie putzt doch nicht nur bei euch. Bank, Schule, Anwaltskanzlei. Jetzt ist sie, glaub ich, in der Bank.«

Nick nippte stumm an seinem Kaffee. Er hatte immer geglaubt, Graziella würde nur für die Mordkommission arbeiten. In Italien hatte er sich ihr so nahe gefühlt, aber er wusste rein gar nichts über sie. Gerade als Nick sich überlegt hatte, wie er ein Gespräch mit Matteo in Gang bringen konnte, stand der Junge auf und stellte sein Geschirr in die Spüle. »Ich muss los.«

Aber so einfach würde er ihn nicht davonkommen lassen. »Eine Frage noch …«

»Ja?«

»Bist du eigentlich für Deutschland oder für Italien?«

»Wie?«

»Na, im Fußball. Im WM-Finale vor zwei Jahren zum Beispiel«, sagte Nick, »warst du da für Deutschland oder für Italien?«

»Für Italien natürlich.« Matteo sah ihn an, als könne er nicht fassen, was ihm da für eine bescheuerte Frage gestellt wurde. Er nickte ihm zu und verließ die Küche. Nick hörte ihn im Flur hantieren und wunderte sich, dass die Sache so klar war. Soweit er wusste, war Matteo noch nie in seinem Leben in Italien gewesen.

Als er die Brachfläche an der Senefelderstraße betrat, stand der Krumme an der Balustrade wie ein Kapitän auf der Brücke und winkte ihn heran. »Komm mal hoch!«

»Ich muss zum Dienst!«

»Komm hoch!«

Also ging Nick zu dem bunkerartigen Betonwürfel mit den vergitterten Fenstern und stieg am rostigen Geländer die Außentreppe hinauf. Der Krumme wartete vor der Metalltür, über der mit weißer Farbe Parkwächter geschrieben stand. Von hier oben war die gesamte Fläche gut zu überblicken, der Sperrmüll, der sich an den Seiten türmte, und die vielen vom Hagel beschädigten Autos, die auf den kostenpflichtigen Parkplätzen standen. Ein Meer kaputter Autos, deren Karosserien aussahen wie eine Wasseroberfläche bei starkem Regen.

»Schau dir das an.« Der Krumme machte eine Geste, als segnete er die Zerstörung zu seinen Füßen. »So was sieht man nur einmal im Leben.« Hoffentlich hatte er recht.

Als Nick mit dem BMW vorfuhr, wartete Gruber schon vor dem Bosporus, eine Serviette mit süßem türkischem Gebäck in der Hand. »Gruß von Hakan.«

Von Stjepan Ursa gab es noch immer keine Spur, die Grenzposten waren informiert, für den Fall, dass er sich in seine Heimat absetzen wollte. »Nächste rechts.« Gruber lotste Nick durch die Stadt in Richtung der Autowerkstatt, in der Stjepan Ursa arbeitete. Oder gearbeitet hatte. Noch immer herrschte Ausnahmezustand. Feuerwehrleute versuchten, die Dächer zu sichern, und dichteten die größten Löcher mit Plastikplanen ab. Viele Straßen waren noch gesperrt. Im Radio erzählte die Besitzerin einer Gärtnerei unter Tränen, dass nicht eines ihrer Gewächshäuser heil geblieben sei und dass sie genauso ausschauten wie nach dem Krieg.

»In jedem zweiten Satz reden sie vom Krieg«, maulte Gruber. »Fällt denen nix Besseres ein?«

Nick musste an Grubers Reaktion während des Hagelsturms denken, an das Wimmern, das aus seiner Kehle gekommen war. Das Wimmern eines verängstigten Kindes. »Ist doch naheliegend hier in Deutschland, findest du nicht?«

Aber Gruber blickte nur stumm nach draußen. Auf der rechten Fahrspur hatte sich ein Stau gebildet. Verbeulte Karosserien, zerborstene Fenster, nicht ein einziges der wartenden Fahrzeuge war heil geblieben.

»Wo wollen die denn alle hin?«

»Ich glaub«, sagte Gruber, »die haben dasselbe Ziel wie wir.«

Tatsächlich stauten sich die Autos vor einer Hofzufahrt, über der geschrieben stand: Fa. Heilig. Kfz-Reparaturservice. Eine Menschentraube hatte sich gebildet, einige hielten Schilder in die Höhe: Kaufe jeden Pkw.

»Fahr weiter«, sagte Gruber. »Wir parken dahinter.«

Sie stellten den BMW ab und gingen zu Fuß zurück. Die Geier warteten am Wegesrand. Männer in Halbarmhemden gingen von Wagen zu Wagen und verhandelten mit den Besitzern. »Ist ja wie auf dem Strich«, sagte Gruber.

Sie kämpften sich durch. Der Hinterhof war erstaunlich groß. Gegenüber türmte sich ein Monster auf, sechs Stockwerke hoch, keine Fensteröffnungen, nichts. »Die Rückseite vom Parkhaus«, sagte Gruber. Davor ein zweistöckiger Flachbau, sauber verputzt, wilder Wein und ein runder Kamin in den bayrischen Landesfarben auf dem Dach. Seitlich die Werkstatt, eine Baracke, Michelin-Männchen, Castrol, es roch nach Benzin und Abgasen. Zwei Monteure im Blaumann standen mit einem Schreibblock vor den Autos. Sie wirkten wie Kellner, die Bestellungen aufnahmen, begutachteten die Schäden, machten Notizen und reichten dann den Fahrern einen Zettel durchs Fenster. Die Autos fuhren in die andere Richtung davon und verschwanden hinter dem Flachbau. Offenbar gab es dort eine zweite Ausfahrt. Ein Mann im ölverschmierten Kittel trat aus der Baracke. Knollennase, buschige Augenbrauen, Mundwinkel bis an die Knie. »Bestimmt der Chef.« Gruber eilte auf ihn zu. »Servus. Polizei.« Er hielt dem Mann seinen Dienstausweis vor die Nase.

»Anweisung vom Freistaat Bayern: Bitte ab sofort bei allen Pkw die Gurte abmontieren.«

Der Mann starrte Gruber an. »Ist das ein blöder Witz?«

»Ja«, sagte Nick schnell. »Können wir irgendwo in Ruhe sprechen?«

»In Ruhe? Sie sehen doch, was hier los ist!«

Nick erklärte ihm, weshalb sie hier waren. Der Mann hörte zu und nickte schließlich betroffen. »Heilig mein Name. Mir gehört der Laden. Kommts mit.« Sie folgten ihm in ein schäbiges Kabuff, das als Büro diente. »Stjepan arbeitet seit fast vier Jahren bei mir. Guter Mechaniker, sehr zuverlässig. Ich kann mich nicht erinnern, dass es mal irgendwelche Probleme gegeben hätte …«

»Wie gut kannten Sie ihn?«

»Er war mein Angestellter. Ab und zu ein gemeinsames Bier, aber seine Familie habe ich zum Beispiel nie kennengelernt. Wenn Sie mehr über ihn wissen wollen, müssen Sie mit dem Sepp sprechen.« Er sprang auf, öffnete die Tür und brüllte: »Ist der Sepp inzwischen da?«

Einer der Mechaniker im Blaumann schüttelte den Kopf. Draußen fertigten sie die Autos noch immer im Akkord ab.

»Wie bewältigt ihr das denn alles?«, fragte Gruber, als Heilig wieder Platz nahm. Der winkte ab. »Gar nicht. Wir verteilen nur noch Termine. Ihr habt die Schlange ja gesehen.«

»Der Sepp ist also …«, begann Nick.

»Komisch.« Heilig sah auf die Uhr. »Der kommt eigentlich nie zu spät.«

»Wie viele Angestellte haben Sie denn insgesamt?«

»Fünf. Stjepan, Sepp, die beiden da draußen und Holger. Der ist jetzt allein in der Werkstatt. Ausgerechnet heute fehlen mir zwei Mann!«

Sie baten ihn, einen nach dem anderen zu ihnen ins Kabuff zu schicken. »Vielleicht ist der Sepp ja da, wenn wir mit ihnen fertig sind.«

»Bitte machts schnell, ich brauch heute jeden Mann.«

»Wir geben uns Mühe.«

Die beiden Blaumänner hatten nicht viel beizutragen. Sie strahlten eine derartige Dumpfheit aus, dass Gruber irgendwann sagte: »Aber dass gestern ein Wetter war, habts ihr schon mitbekommen, ja?«

Dann kam Holger Riehs. Um die dreißig, braune Locken, Brille mit verschmierten Gläsern. »Morgen. Der Stjepan ist zwar ein Jugo, aber ein angenehmer Kollege, guter Mechaniker.« Riehs leierte seinen Text runter, aber je länger er sprach, desto mehr hatte Nick das Gefühl, dass er durch das viele Reden nicht etwas auf-, sondern etwas zuzudecken versuchte. Als Riehs irgendwann Luft holen musste, grätschte Nick dazwischen: »Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, uns das zu erzählen, was sie uns eigentlich nicht erzählen wollten.«

»Hä?« Riehs Augen weiteten sich hinter der verschmierten Brille.

»Wir finden es sowieso raus, aber Sie könnten uns Arbeit ersparen und sich selbst Ärger.«

»Wie kommt ihr denn darauf, dass ich irgendwas weiß, was ich noch nicht …«

»Da kommen wir drauf«, schaltete sich Gruber ein, »weil wir den Job schon ein paar Jahre machen, und wenn wir irgendwo Blut wittern, stürzen wir los wie die Haie.«

Holger Riehs blickte stumm von einem zum anderen. Dann nickte er. »Ich wollte ihn nur nicht anschwärzen … Vielleicht war das völlig harmlos … Ich will wirklich nicht schlecht über ihn reden, aber ich hab da zufällig was mitbekommen.«

Fasching sei es gewesen, irgendwo in der Innenstadt, in der Nähe von der Hundskugel, wenn er das recht im Kopf habe. Er war mit ein paar Kollegen unterwegs gewesen, sie hatten auch schon ein bisschen geladen. »Es war schon dunkel. Ich erinnere mich, dass Schnee lag, so ein schmutziger Schnee. Der Stjepan stand vor einem Hauseingang mit dem Rücken zu mir und vor ihm eine Hexe. Mit so einer Plastikmaske, wie man sie in der Faschingsabteilung bei Hertie kriegt. Kopftuch. Kittelschürze. Weiße Tennissocken. Diese Socken hab ich noch genau in Erinnerung … Und sie hatte so einen Besen, an dem hat sie sich irgendwie festgeklammert. Der Stjepan hat die Hexe angeschrien, so was hab ich noch nie … Der ist sonst so ein ganz Ruhiger, irgendwie immer freundlich … Deswegen konnte ich das gar nicht … Ich dachte, der schlägt die jetzt gleich tot …«

Nick und Gruber wechselten einen Blick. »Und dann?«

»Weiß nicht. Meine Kumpels wollten weiter. Es war ja auch nicht so, dass man hätte einschreiten müssen … Er hat ja nicht zugeschlagen … Es war … bedrohlich, aber vielleicht auch nur, weil ich ihn so noch nie erlebt habe …« Unsicher sah er von Nick zu Gruber. »Vielleicht ist es auch völlig unwichtig.«

»Hat er Sie gesehen?«, fragte Nick.

»Nein, ich glaube nicht.«

»Und diese Hexe, die hatte ihre Maske vor dem Gesicht?«

»Ja.«

»Sie haben also ihr Gesicht nicht gesehen?«

»Nein, sie hat die ganze Zeit die Maske getragen … Aber trotzdem war für mich irgendwann klar, wer die Hexe war …« Er brach ab. »Komisch eigentlich, jetzt, wo ich drüber nachdenke. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass die Hexe seine Tochter war.«

Eine Pause entstand. Nur das monotone Dröhnen der Motoren draußen war zu hören.

»Kannten Sie Dinka?«

»Nein. Hab ich vorher nie gesehen.«

»Woraus haben Sie dann geschlossen, dass es Dinka war?«

»Stjepan hat sie auf Jugoslawisch angebrüllt.«

»Also Serbokroatisch wahrscheinlich«, unterbrach Gruber.

»Keine Ahnung. Was die halt sprechen. Deswegen dachte ich wahrscheinlich sofort, es muss irgendwie Familie …«

»Hätte auch seine Frau sein können.«

»Ja, aber von der Statur, die Tennissocken … Das war für mich ein Mädchen, ganz klar.« Nach einer kurzen Pause sagte er: »Ich glaube, ich sollte mal wieder, sonst dreht der Chef durch.«

»Schicken Sie ihn uns doch bitte noch mal rein. Und vielen Dank, Herr Riehs.«

Er nickte ihnen zu. »Viel Erfolg.«

Als er hinausging, bemerkte Nick, dass Holger Riehs leicht hinkte. Bevor er sich mit Gruber austauschen konnte, stürmte Heilig schon herein. »Was für ein Tag! Und der Sepp ist auch noch nicht aufgetaucht. Ausgerechnet heute.«

»Stjepan Ursa und der Sepp«, sagte Nick, »wie gut kennen die sich?«

»Das sind richtig enge Freunde. Sind ja beide Jugos … Ich glaub, die kennen sich noch von früher.«

»Sepp klingt jetzt nicht besonders jugoslawisch«, fand Gruber.

»Der heißt eigentlich Josip.«

Nick und Gruber tauschten einen Blick.

»Würden Sie ihn bitte mal anrufen?«

»Wollte ich sowieso machen.« Heilig schlug sein Adressbuch auf. »Ausgerechnet heute, verdammt noch mal«. Er hatte die Nummer gefunden und griff zum Telefon. Nick und Gruber sahen gespannt zu, wie er wählte. Sie hörten das Tuten am anderen Ende der Leitung. Heilig ließ es lange klingeln, dann legte er auf. »Keiner da.«

Nick notierte sich die Adresse von Josip Šušak. »Danke, Herr Heilig.«