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Nicht viele Menschen sind am Roten Platz aufgewachsen. Marina Rumjanzewa ist eine von ihnen. Ihr Essay über den Kreml erzählt eine einzigartige Geschichte: Es ist nicht nur der persönlich erlebte Kreml, nicht nur der an eigener Haut erlebte russische Staat, sondern auch eine ganz private Auseinandersetzung mit Russlands Vergangenheit und Gegenwart. Dabei berichtet der Essay von Ereignissen und Zusammenhängen, von denen die meisten Leser und Leserinnen wohl nie auch nur ahnten. Marina Rumjanzewas Essay Der Kreml ist ein Auszug aus ihrem geplanten Buch über den Roten Platz.
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Seitenzahl: 35
Veröffentlichungsjahr: 2018
Marina Rumjanzewa
Der Kreml
Ein Essay
DÖRLEMANN
Bei diesem Essay handelt es sich um einen Auszug aus Marina Rumjanzewas Buch Der Rote Platz, das im Dörlemann Verlag erscheinen wird. eBook-Ausgabe 2018 Alle Rechte vorbehalten © Copyright 2018 Dörlemann Verlag AG, Zürich Satz und eBook-Herstellung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN (epub) 978-3-908778-70-7
Inhalt
Vor Kurzem fand ich im Internet ein Bild mit dem Titel »Unser Stolz – der Kreml«. Es stammt von einem Jungen namens Michail, einem der Sieger des Allrussischen Kinder-Malwettbewerbs »Meine Heimat 2014«. Auf diesem expressiven Aquarell sieht man den blutroten Erlöserturm mit der Mauer; der Turm hat den hohen grünen Spitz und den Stern oben, die Mauer trägt Zinnen, die dem Sechsjährigen eher als eine Art Dinosaurier-Rückenkamm gelungen sind – ich bin nicht sicher, ob die Erbauer des Kremls auf diesem Bild ihr Werk erkannt hätten.
Doch wenn sie heute auf dem Roten Platz stehen würden, hätten sie wohl im ersten Moment auch Mühe, ihn zu erkennen. Der Kreml ragt jetzt in die Höhe, seine Türme sind fast doppelt so hoch wie am Anfang, im oberen Teil sind sie reich ausgeschmückt, weswegen der Kreml ein bisschen an ein Fantasieschloss erinnert. Diese hohen dekorativen Spitzen wurden viel später zur Verzierung aufgebaut, man muss sie wegdenken, um sich den Kreml vorzustellen, wie er bei seiner Fertigstellung aussah: Es war eine klassische militärische Festung. Genauer, eine typische norditalienische Festung. Denn es waren Architekten aus Norditalien, die um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert den Kreml nach Vorbild ihrer einheimischen Burgen errichteten.
Von dieser Tatsache haben zur Sowjetzeit die meisten Russen, wenn überhaupt, nur vage gewusst, die italienische Abstammung des Kremls – das Symbol Russlands und »unser Stolz« – wurde nicht an die große Glocke gehängt und, wo es nur ging, gänzlich verschwiegen. Deshalb, als die Russen nach der Perestrojka zu reisen begannen, staunten sie nicht schlecht, als sie entdeckten, dass die Burgen irgendwo in der Lombardei, in Veneto oder Emilio Romana bei der näheren Betrachtung auf verblüffende Weise an unseren Kreml erinnern. Noch heute findet sich im Internet reichlich Austausch zu dem Thema, wieso die italienischen Burgen die Kreml-Zinnen haben.
Diese Zinnen haben beinahe eine M-Form, sind nur oben etwas breiter als unten und ähneln ein bisschen aufgeschlagenen Flügeln. Und für alle Russen sind diese Zinnen so heimisch-vertraut, so untrennbar mit der Kreml-Mauer verbunden, mit dem Kreml, mit Moskau, dass sie längst selbst ein Symbol für das Herz unserer Heimat geworden sind. Da kann man sich vorstellen, wie schwer sich für einen Russen irgendwo in Verona ein Julia-Balkon und Kreml-Zinnen zusammenreimen lassen.
Für die Italiener sind es aber nicht die Kreml-, sondern Ghibellinen-Zinnen, und auch in vielen anderen Sprachen heißen sie so, nach den italienischen Papst-Gegnern im Mittelalter. Die andere gängige Zinnenform jener Zeit, die rechteckige, erhielt den Namen von ihren politischen Gegnern, den Anhängern der Papst-Macht, den Guelfen. Warum die italienischen Architekten sich dafür entschieden, den Kreml mit den »Ghibellinen« zu bauen, ist nicht bekannt. Möglicherweise aus rein ästhetischen Gründen. Ich persönlich bin über diese Entscheidung sehr froh, der Kreml mit dem langweiligen »Guelfen«-Staket oben würde mir sicherlich viel weniger gefallen. Als Kind hatte ich den Kreml, da ich sehr nah wohnte, immer vor Augen gehabt, ich sah ihn auch aus meinen Fenstern, und seine Zinnen waren ein markantes Detail meines Alltags. Im Winter, mit Schnee oben auf den Flügeln, fand ich sie besonders schön. So schneegekrönt habe ich sie auch meist gezeichnet.