Der Krieg der Knöpfe. Roman - Louis Pergaud - E-Book

Der Krieg der Knöpfe. Roman E-Book

Louis Pergaud

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Beschreibung

Jedes Jahr wieder herrscht zu Schulbeginn ›Krieg‹ zwischen den Jungs zweier benachbarter Dörfer: Sie beschimpfen einander, stellen Fallen und prügeln sich, dass die Fetzen fliegen. Wer einen Gegner besiegt, schneidet ihm als Zeichen der Schande die Knöpfe von der Kleidung. Weil das zu Hause jedes Mal mächtig Ärger gibt, kommt einer der ungestümen Kämpfer auf einen tollen Einfall … Im Krieg der Knöpfe geht es heftig zur Sache, derb-witzig, spannend und sehr unterhaltsam.

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Seitenzahl: 339

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Louis Pergaud

DER KRIEGDER KNÖPFE

Roman meines zwölften Lebensjahres

Aus dem Französischen übersetzt

von Carolin Wiedemeyer

Anaconda

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Titel der französischen Originalausgabe: La Guerre de Boutons (Paris 1912). Die Übersetzung von Carolin Wiedemeyer erschien erstmals 2015 im Anaconda Verlag.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-641-29848-7V001

© 2022 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen

der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Cecil Howard Lay (1885–1956): »The Observers«,

Bridgeman Images/Michael Parkin Gallery; Knöpfe aus Dingbats-Font:

LCR Lesley‘s Crafts

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: www.paque.de

www.anacondaverlag.de

Inhalt

Vorwort

ERSTES BUCH – Der Krieg

ERSTES KAPITEL – Die Kriegserklärung

ZWEITES KAPITEL – Diplomatische Spannungen

DRITTES KAPITEL – Ein großer Tag

VIERTES KAPITEL – Erste Niederlagen

FÜNFTES KAPITEL – Die Folgen einer Katastrophe

SECHSTES KAPITEL – Schlachtplan

SIEBTES KAPITEL – Vergeltung

ACHTES KAPITEL – Gerechte Vergeltung

ZWEITES BUCH – Geld!

ERSTES KAPITEL – Die Kriegskasse

ZWEITES KAPITEL – Geldmangel, aller Leiden größtes du!

DRITTES KAPITEL – Tintins Buchhaltung

VIERTES KAPITEL – Wieder siegreich

FÜNFTES KAPITEL – Am Marterpfahl

SECHSTES KAPITEL – Grausames Rätsel

SIEBTES KAPITEL – Das Pech eines Schatzmeisters

ACHTES KAPITEL – Andere Verbindungen

DRITTES BUCH – Die Hütte

ERSTES KAPITEL – Der Hüttenbau

ZWEITES KAPITEL – Die großen Tage von Longeverne

DRITTES KAPITEL – Das Festgelage im Wald

VIERTES KAPITEL – Erzählungen aus heldenhaften Zeiten

FÜNFTES KAPITEL – Interne Querelen

SECHSTES KAPITEL – Die Ehre und die Hose von Tintin

SIEBTES KAPITEL – Der geplünderte Schatz

ACHTES KAPITEL – Der bestrafte Verräter

NEUNTES KAPITEL – Tragische Heimkehr

ZEHNTES KAPITEL – Letzte Worte

Meinem Freund Edmond Rocher

Schert euch fort von hier,

Heuchler und Frömmler,

scheinheilige Mönche,

Duckmäuser und Gimpel …

François Rabelais

Vorwort

Diejenigen, die gerne Rabelais lesen, diesen großen, wahrhaft genialen Franzosen, werden auch Freude an diesem Buch haben, das sich trotz seines Titels weder an kleine Kinder noch an junge Mädchen richtet.

Zum Teufel mit den (angeblichen) Schamgefühlen einer vergangenen Zeit, die voll der Heuchelei ist und oft genug nur nach Neurosen und Gift riecht! Und zum Teufel auch mit den Sprachpuristen – ich bin ein Kelte!

Ich wollte ein gesundes Buch schreiben, ein gallisches, episches Buch, im Geiste von Rabelais, ein Buch voller Elan, Leben und Enthusiasmus. Und voll des fröhlichen Lachens, das unsere Väter geschüttelt hat, diese gichtgeplagten, edlen Trinker.

Ich hatte weder Angst vor Kraftausdrücken, vorausgesetzt, sie waren deftig, noch vor deutlichen Gesten, vorausgesetzt, sie waren tiefgründig.

Ich wollte einen Teil meiner Kindheit wiedererleben, einen Teil unseres enthusiastischen, wilden Lebens als kleine Draufgänger, die aufrichtig, heldenhaft und frei von Heucheleien in Familie und Schule waren.

Es ist wohl klar, dass man sich bei einem solchen Vorhaben nicht mit dem Wortschatz von Racine begnügen kann.

Als Entschuldigung für die Kraftausdrücke und Schimpfworte meiner Helden könnte ich meinen Wunsch nach Wahrhaftigkeit anführen. Aber niemand ist gezwungen, mein Buch zu lesen. Und nach diesem Vorwort und dem Zitat von Rabelais gestatte ich keinem Kritiker, ob weltlich oder religiös, sich unter dem Vorwand einer mehr oder weniger abscheulichen Moralvorstellung zu beschweren.

Alles in allem, und das ist meine beste Entschuldigung, habe ich dieses Buch mit viel Freude geschrieben, mit Lust und Wonne, es hat einige meiner Freunde amüsiert und meinen Verleger zum Lachen gebracht.* Ich habe das Recht zu hoffen, dass es den »Menschen, die guten Willens sind«, wie es im Evangelium heißt, gefällt, und was den Rest betrifft, so halte ich es mit Lebrac, einem meiner Helden, das ist mir sch…egal.

L. P.

*So hoffe ich wenigstens.

ERSTES BUCH

Der Krieg

ERSTES KAPITEL

Die Kriegserklärung

Was den Krieg angeht … es ist amüsant zu überlegen, aus welch unwichtigen Gründen er begonnen wird und aus welch nichtigen Gründen beendet. Ganz Asien verliert und erschöpft sich im Krieg, nur für die Vielweiberei von Paris.

Montaigne, Zweites Buch, Kapitel XII

»Warte auf mich, Grangibus!«, rief Boulot, seine Bücher und Hefte unter dem Arm.

»Dann mach schnell, ich habe keine Zeit herumzutrödeln!«

»Gibt’s was Neues?«

»Könnte sein!«

»Was denn?«

»Komm jetzt!«

Als Boulot die beiden Brüder Gibus, seine Klassenkameraden, endlich eingeholt hatte, setzten die drei Seite an Seite ihren Weg in Richtung Gemeindehaus fort.

Es war an einem Oktobermorgen. Ein mit grauen Wolken verhangener Himmel begrenzte die Aussicht bis zu den nahegelegenen Hügeln und verlieh der Landschaft eine melancholische Stimmung. Die Pflaumenbäume waren kahl, die Apfelbäume gelb und die Blätter der Nussbäume segelten langsam wie im Gleitflug auf die Erde, dann, wenn der Fallwinkel steiler wurde, herabstürzend wie ein Sperber. Die Luft war feucht und lauwarm. Von Zeit zu Zeit kamen Windböen auf. Das monotone Brummen der Dreschmaschinen untermalte das Ganze dumpf. Wenn eine Garbe verarbeitet war, steigerte sich das Brummen zu einem schaurigen Klagelaut, wie ein verzweifeltes Schluchzen oder ein Schmerzensschrei.

Der Sommer ging zu Ende, der Herbst begann.

Es war so gegen acht Uhr morgens. Die Sonne versteckte sich traurig hinter den Wolken und eine Art Beklommenheit, undefinierbar und vage, lag über dem Dorf und der ganzen Landschaft.

Die Feldarbeiten waren beendet und seit zwei, drei Wochen sah man die kleinen Schäfer einzeln oder in kleinen Gruppen zur Schule zurückkehren, mit sonnengegerbten Gesichtern, das dichte Haar mit der Schermaschine geschoren (übrigens derselben, die man für die Ochsen nahm), in ausgebeulten Hosen aus Wollstoff, an den Knien und am Gesäß über und über mit Flicken übersät, aber sauber, mit neuen, grauen und steifen Wollkitteln, die noch abfärbten und ihnen in den ersten Tagen die Hände schwarz machten wie Krötenfüße, so hieß es.

An jenem Tag schlenderten die Jungs die Straßen entlang und ihre Schritte waren ganz schwer vor Melancholie, wohl wegen des Wetters, der Jahreszeit und der Landschaft.

Einige von ihnen, die Größeren, waren schon auf dem Schulhof und diskutierten lebhaft. Vater Simon, der Lehrer, mit seinem Käppchen auf dem Hinterkopf und der Brille auf der Stirn, die seine Augen betonte, stand vor dem Tor, das auf die Straße ging. Er beobachtete den Eingang und rügte die Bummler. Nach und nach trudelten die kleinen Jungs ein, nahmen ihre Mütze ab und gingen an ihm vorbei auf den Schulhof.

Die beiden Gibus-Jungen und Boulot, der sie unterwegs eingeholt hatte, ließen sich von dieser leisen Melancholie, die ihre Mitschüler trödeln ließ, nicht anstecken.

Sie waren sicher fünf Minuten früher in der Schule als sonst und Vater Simon hielt sich rasch seine Uhr ans Ohr, um zu prüfen, ob sie nicht nachging und er womöglich den ordnungsgemäßen Unterrichtsbeginn verpasst hatte.

Die drei Freunde betraten mit besorgten Mienen rasch den Schulhof und gingen sofort zu jenem Platz hinter den Klosetts, der durch das Haus von Vater Gugu (August), dem Nachbarn, geschützt war. Dort trafen sie auf die meisten der größeren Schüler, die schon vor ihnen angekommen waren.

Lebrac war da, der Anführer, den sie auch den »Großen Braque« nannten, ebenso sein erster Offizier Camu, oder Camus, ein toller Kletterer, der so genannt wurde, weil es kaum einen besseren gab, um Vogelnester auszuheben, und in der Gegend wurden Vogelnester Camus genannt. Auch Gambette, der am Berg wohnte, war da, dessen Vater, ein erzkonservativer Republikaner, selbst Sohn eines Revolutionärs von 1848, in schweren Stunden Gambetta verteidigt hatte. Dann war da noch La Crique, der alles wusste, und Tintin, sowie Guignard, der Schielende, der sich zur Seite drehen musste, um seinem Gegenüber ins Gesicht zu sehen, und Tétas oder Tétard, mit seinem massigen Kopf, kurzum die Stärksten des Dorfes, die eine ernsthafte Angelegenheit zu besprechen hatten.

Die Gruppe ließ sich durch das Dazukommen der beiden Gibus-Brüder und Boulot nicht stören. Aber die Neuankömmlinge waren offensichtlich auf dem Laufenden, was diese Geschichte anging, und mischten sich sofort in die Unterhaltung ein. Sie hatten wichtige Neuigkeiten.

Die anderen verstummten.

Der ältere der beiden Gibus-Brüder, den man Grangibus nannte, um ihn von seinem kleinen Bruder P’tit Gibus oder Tigibus zu unterscheiden, erzählte:

»Als wir am Grundstück der Menelots vorbeikamen, tauchten plötzlich die Velraner nahe den Mergelgruben bei Jean-Baptiste auf. Sie brüllten wie Kälber, schmissen Steine und richteten ihre Knüppel auf uns. Sie nannten uns Arschlöcher, Dummköpfe, Diebe, Schweine, stinkend, verfault, Kotzbrocken, Weicheier …«

»Weicheier«, wiederholte Lebrac mit gerunzelter Stirn, »und was hast du ihnen geantwortet?«

»Gar nichts, wir sind abgehauen, mein Bruder und ich, weil wir nur zu zweit waren und die bestimmt fünfzehn. Sie hätten uns sicher verprügelt.«

»Sie haben euch Weicheier genannt!«, rief der große Camus, augenscheinlich entrüstet, verletzt und wütend über diese Beschimpfung, die sie alle betraf. Die beiden Gibus-Brüder waren ganz sicher nur angegriffen und beleidigt worden, weil sie zur Gemeinde und zur Schule von Longeverne gehörten.

»Also«, sagte Grangibus, »das eine sag ich euch jetzt, wir sind keine Dummköpfe, Taugenichtse und Feiglinge und wir werden denen schon zeigen, dass wir keine Weicheier sind.«

»Was genau sind eigentlich Weicheier?«, fragte Tintin.

La Crique überlegte.

»Weicheier! … Eier, das wissen wir ja, die hat ja jeder, auch der Miraut, die sehen aus wie Kastanien ohne Schale, aber Weicheier! … Weicheier! …«

»Das heißt sicher, dass man nicht viel taugt«, warf Tigibus ein, »denn gestern Abend, da habe ich mit Narcisse, unserem Müller, herumgealbert und ihn aus Spaß Weichei genannt, einfach so. Und da kam mein Vater, den ich gar nicht gesehen hatte, und hat mir ein paar Ohrfeigen verpasst. Also …«

Das Argument war recht überzeugend, das sahen alle ein.

»Ja, verdammt, da brauchen wir nicht länger abwarten, da müssen wir uns doch rächen, oder?«, fasste Lebrac zusammen.

»Und ihr, was meint ihr dazu?«

»Haut ab, ihr Bettnässer!«, raunte Boulot den Kleineren zu, die sich ihnen neugierig näherten.

Sie nahmen den Vorschlag des großen Lebrac einstimmig an, wie sie es nannten. In diesem Moment tauchte Vater Simon in der Türöffnung auf, klatschte in die Hände und gab damit das Signal für den Unterrichtsbeginn. Als die Jungs ihn sahen, stürmten sie alle plötzlich zu den Klosetts, weil sie mit den natürlichen Bedürfnissen immer bis zur letzten Minute warteten.

Dann stellten die Verschwörer sich ruhig in die Reihe, mit gleichgültigem Gesichtsausdruck, als wenn nichts passiert wäre und als wenn sie nicht gerade eine große und schreckliche Entscheidung getroffen hätten.

Der Unterricht verlief nicht sehr gut an diesem Morgen, der Lehrer musste laut schreien, um die Aufmerksamkeit seiner Schüler zu erringen. Nicht, dass sie besonders viel Lärm machten, die Schüler schienen alle vielmehr mit den Gedanken ganz woanders zu sein und zeigten absolut kein Interesse für die Bedeutung der Entwicklung des metrischen Systems, so wie es junge republikanische Franzosen eigentlich sollten.

Besonders die Definition eines Meters schien ihnen furchtbar kompliziert zu sein: Der zehnmillionste Teil eines Viertels, der Hälfte … der … »Ach, Scheiße!«, dachte der große Lebrac.

Er beugte sich zu seinem Nachbarn und Freund Tintin und flüsterte ihm vertraulich zu:

»Heuerkart!«

Der große Lebrac wollte sicher »Heureka!« sagen.

Er hatte schon mal was von Archimedes gehört, der sich in früheren Zeiten mit Linsen beschäftigt hatte. La Crique hatte ihm mühsam erklärt, dass es sich nicht um Gemüse handelte, denn Lebrac verstand allenfalls, was man mit Erbsen machen konnte, nämlich mit einem hohlen Federhalter durch die Gegend schießen, aber das ging nicht mit Linsen.

»Und überhaupt«, sagte er, »es geht nichts über Apfelkerne oder Brotkrumen.«

La Crique hatte ihm erzählt, dass Archimedes ein berühmter Gelehrter sei, der Probleme in der Badewanne gelöst hatte. Dies erfüllte Lebrac, der völlig unempfänglich sowohl für die Schönheit der Mathematik als auch für die Regeln der Orthografie war, mit großer Bewunderung für diesen Kerl.

Lebrac war wegen anderer Qualitäten seit einem Jahr der unangefochtene Anführer der Longeverner.

Stur wie ein Maulesel, clever wie ein Affe, flink wie ein Hase, es gab keinen Besseren, um Fensterscheiben auf zwanzig Meter Entfernung mit einem Stein einzuschmeißen, egal, wie er den Stein warf: mit der Hand, mit einer Schleuder mit einfachem Faden, mit einem gespaltenen Stock oder mit einer Gummischleuder. Er war im Nahkampf ein gefürchteter Gegner, er hatte den Patern, dem Lehrer und dem Feldhüter schon schlimme Streiche gespielt; er bastelte wunderbare Spritzen aus dicken Holunderzweigen, mit denen man fünfzehn Schritte weit Wasser spritzen konnte, ja, mein Freund, perfekt! Und Waffen, die wie echte Pistolen knallten, die Kugeln aus Flachs fand man nie wieder. Beim Murmelspielen war er der Geschickteste, er konnte wie kein anderer zielen und die Murmeln werfen, er zog allen das Fell über die Ohren, es war zum Verzweifeln! Aber manchmal, ganz ohne Hochmut und ungekünstelt, gab er seinen unglücklichen Mitspielern einige der Murmeln, die er ihnen abgeluchst hatte, wieder zurück und galt deshalb als ungemein großzügig.

Tintin, dem sein Anführer und Kamerad etwas zugeflüstert hatte, legte die Ohren an oder bewegte sie vielmehr wie eine Katze, die etwas Böses im Schilde führt, und wurde ganz rot vor Aufregung.

Ah!, dachte er. Das ist toll! Ich wusste es doch, dass dieser Lebrac einen Weg finden würde, es ihnen heimzuzahlen!

Und er blieb versunken in seinen Gedanken, verloren in unzähligen Fantasien, unempfänglich für die Thesen von Delambre, Méchain, Machinchouette und anderen, für die Messungen in verschiedenen Breiten, Längen oder Höhen … Ach ja! Das war ihm alles herzlich egal und er pfiff drauf!

Na, die würden was erleben, die Velraner!

Was die Aufgaben angeht, die dieser ersten Stunde folgten, das erfahren wir später; es genügt zu wissen, dass diese kleinen Kerle alle ihre eigene Methode hatten, das auf höheren Befehl hin geschlossene Buch heimlich wieder zu öffnen, um sich so gegen Gedächtnisschwächen zu schützen. Dennoch geriet Vater Simon am darauffolgenden Montag in helle Wut. Aber wir wollen nicht vorgreifen.

Als es im Turm der alten Pfarrkirche elf Uhr schlug, warteten sie alle ungeduldig auf das Pausenzeichen. Denn alle wussten schon auf unerklärliche Weise, ob durch Infiltration, Strahlung oder sonst wie, dass Lebrac sich bereits etwas ausgedacht hatte.

Wie üblich gab es einiges Gerangel im Flur, ein paar vertauschte Mützen, verlorene Schuhe, ein paar heimtückische Fausthiebe, aber die Obrigkeit brachte alles wieder in Ordnung und das Verlassen des Schulgebäudes ging einigermaßen geordnet vonstatten.

Kaum hatte der Lehrer sich zurückgezogen, stürzten sich alle auf Lebrac wie ein Spatzenschwarm auf frische Pferdeäpfel.

Unter den gewöhnlichen Soldaten und den Normalsterblichen befanden sich die zehn Hauptkrieger von Longeverne, begierig darauf, sich an den Worten ihres Anführers zu weiden.

Lebrac erläuterte seinen Plan, der ebenso einfach wie unverfroren war. Dann fragte er, welche Helden ihn am kommenden Abend begleiten würden.

Alle trachteten nach dieser Ehre, aber vier Krieger waren genug und man einigte sich auf Camus, La Crique, Tintin und Grangibus. Gambette, der am Berg wohnte, konnte nicht so lange wegbleiben, Guignard sah nachts nicht so gut und Boulot war nicht ganz so flink wie die anderen.

Daraufhin trennte man sich.

Am Abend trafen die fünf Krieger sich beim Angelusläuten.

»Hast du die Kreide?«, fragte Lebrac La Crique. Dieser saß in der Nähe der Tafel und hatte die Aufgabe übernommen, zwei, drei Stücke Kreide aus der Kiste von Vater Simon zu stibitzen.

La Crique hatte es gut gemeint – er hatte fünf Kreidestücke geklaut, große Stücke. Er behielt eins für sich und verteilte die anderen an seine Mitstreiter. Wenn einer von ihnen auf dem Weg sein Stück verlieren sollte, konnten die anderen ihm so leicht aushelfen.

»Also dann, gehen wir!«, rief Camus.

Die breite Dorfstraße entlang, dann auf den Kaminweg, der bei der großen Linde auf die Straße nach Velrans mündete. Dumpfe Trittgeräusche in der Nacht. Die fünf Jungen marschierten schnell dem Feind entgegen.

»Wir brauchen ungefähr eine halbe Stunde«, hatte Lebrac gemeint, »wir können also eine Viertelstunde drinnen verbringen und rechtzeitig zurück sein.«

Sie liefen in Dunkelheit und Stille, die Hälfte ihres Weges gingen sie auf geteerter Straße, wo sie gut laufen konnten, aber sobald sie im Feindesgebiet angelangt waren, hielten sich die fünf Verschwörer an den Straßenrand und marschierten auf dem Seitenstreifen weiter, den ihr alter Freund Bréda, der Straßenwärter, in Schuss hielt, allerdings nur sehr, sehr selten, so hieß es. Als sie kurz vor Velrans waren und die Lichter hinter den Fenstern heller wurden und das Hundebellen bedrohlicher, hielten sie an.

»Ziehen wir unsere Schuhe aus«, riet Lebrac, »und verstecken wir sie hinter dieser Mauer.«

Die vier Krieger und ihr Anführer zogen sich die Schuhe aus und stopften ihre Strümpfe hinein. Sie vergewisserten sich, dass sie ihre Kreidestücke noch bei sich hatten. Dann begaben sie sich auf den Kriegspfad, einer hinter dem anderen, mit weit aufgerissenen Augen, gespitzten Ohren und bebenden Nasen, um so schnell wie möglich zur Kirche des verfeindeten Dorfes zu kommen, dem Ziel ihrer nächtlichen Unternehmung.

Sie achteten auf jedes noch so kleine Geräusch, krochen in Gräben, drückten sich an die Mauern oder suchten Schutz in der Dunkelheit der Hecken. Sie fürchteten nur das unerwartete Aufleuchten der Lampe eines Einheimischen, der auf Patrouille war, oder einen verspäteten Durchreisenden, der sein Pferd tränkte. Aber nichts störte, nur das Gebell des Hundes von Jean des Gués, ein ununterbrochen kläffender Köter.

Schließlich erreichten sie den Kirchplatz und näherten sich dem Glockenturm.

Der Platz war leer und still.

Der Anführer blieb stehen, während die anderen vier ein wenig zurückgingen, um Schmiere zu stehen.

Lebrac nahm die Kreide ganz fest in die Hand und stellte sich so weit wie möglich auf die Zehenspitzen. Dann schrieb er auf die schwere, dunkle Eichentür, die diesen heiligen Ort verschloss, diesen einen lapidaren Satz, der am nächsten Morgen zur Zeit der Frühmesse einen Eklat auslösen sollte, mehr wegen seiner heroischen und provokanten Rohheit, als wegen seiner unvollkommenen Orthografie:

Alle Velraner sint dumme arschlöcher!

Nachdem er sein Werk aus einiger Entfernung eingehend betrachtet hatte, um zu prüfen, ob es auch die richtige Wirkung hatte, ging er zurück zu seinen vier Komplizen auf ihren Lauschposten und mit gedämpfter, aber fröhlicher Stimme sagte er:

»Hauen wir ab!«

Diesmal gingen sie ganz frech mitten auf der Straße und kehrten ohne unnötigen Lärm zu dem Ort zurück, wo sie ihre Schuhe und Strümpfe gelassen hatten.

Aber als sie ihre Schuhe wieder angezogen hatten, warfen sie alle Vorsicht über Bord und liefen lauten Schrittes nach Longeverne und ihrem jeweiligen Zuhause zurück, um dort in Ruhe die Wirkung ihrer Kriegserklärung abzuwarten.

ZWEITES KAPITEL

Diplomatische Spannungen

Die Botschafter der zwei Mächte haben ihre Ansichten zur Marokkofrage ausgetauscht.

Die Zeitungen, Sommer 1911

Als die Glocke der Dorfkirche das zweite Mal schlug, eine halbe Stunde bevor das letzte Mal zur Sonntagsmesse geläutet wurde, lehnte der große Lebrac, ja, der große Lebrac, sage ich, in einer Jacke, die aus einem alten Gehrock seines Großvaters geschneidert war, in einer neuen Stoffhose, in Schnürstiefeln, die durch die dicke Fettschicht ganz stumpf waren, an der Mauer des öffentlichen Waschhauses und wartete auf seine Truppen, um sie auf den neusten Stand über den Erfolg ihrer Aktion zu bringen.

Unten vor der Tür von Fricot, dem Gastwirt, standen einige Männer mit Tabakstummeln zwischen den Zähnen, um noch schnell vor dem Kirchgang einen zu heben.

Camus kam auch bald, mit an den Knien abgewetzter Hose und roter Krawatte wie ein Gimpel. Sie lächelten sich zu. Die Brüder Gibus kamen hinzu, gespannt wie ein Flitzebogen, dann kam auch Gambette, der noch von nichts wusste, und schließlich Guignard, Boulot, La Crique, Guerreuillas, Bombé, Tétas und alle weiteren großen Krieger von Longeverne, insgesamt ungefähr vierzig.

Bestimmt zehn Mal musste jeder der fünf Helden vom Vorabend immer wieder ihr Abenteuer erzählen. Mit feuchten Mund und glänzenden Augen hingen die Freunde an ihren Lippen, spielten die Szenen nach und applaudierten jedes Mal stürmisch.

Schließlich fasste Lebrac die Situation mit seinen Worten zusammen:

»So haben sie kapiert, dass wir keine Weicheier sind! Sie werden sicherlich heute Nachmittag durch die Büsche an der Saute heranschleichen, um Rache zu nehmen. Aber wir werden alle da sein, um sie ›in Empfang‹ zu nehmen. Also, nehmt alle Steinschleudern und sonstigen Schleudern mit. Keine Knüppel, wir wollen uns nicht mit ihnen schlagen. Mit unseren Sonntagsklamotten müssen wir aufpassen, dass wir nicht zu dreckig werden, sonst bekommen wir zu Hause Ärger. Wir werden uns nur kurz mit ihnen unterhalten.«

Als die Glocke zum dritten (und letzten) Mal in voller Lautstärke erklang, setzten sie sich in Bewegung und gingen langsam zu ihren gewohnten Plätzen in der Sankt Josephs-Kapelle, gegenüber den Plätzen der Marienkapelle, wo die Mädchen sich niederließen.

»Mist!«, fluchte Camus, als er an der Kirche angelangt war. »Ausgerechnet heute bin ich der Messdiener und muss mich vom Schwarzen anschnauzen lassen!«

Und ohne seine Hand in das Weihwasserbecken zu tauchen, so wie es seine Freunde im Vorbeigehen taten, durchquerte er im Sauseschritt das Kirchenschiff, um sich das Chorhemd eines Weihwasserschwenkers überzustreifen.

Als er bei beim Taufgedächtnis mit seiner Weihwasserschale, in die der Pfarrer seinen Weihwasserwedel eintauchte, durch die Bänke ging, konnte er nicht anders, als zu seinen Waffenbrüdern hinüberzuschauen.

Er sah wie Lebrac Boulot ein Bild zeigte, dass ihm die Schwester von Tintin gegeben hatte, eine Tulpen- oder Geranienblüte, oder vielleicht auch nur ein Stiefmütterchen, darunter das Wort »Andenken«, und wie er dabei wie ein Don Juan mit dem Auge zwinkerte.

Auch Camus dachte an seine Freundin Tavie, der er letztens ein Lebkuchenherz geschenkt hatte, das er – für zwei Sous immerhin – auf dem Wochenmarkt in Vercel gekauft hatte. Ein sehr hübsches Lebkuchenherz mit roten, blauen und gelben Zuckerkügelchen, auf dem ein Spruch geschrieben stand, den er sehr treffend fand:

Ich lege Ihnen mein Herz zu Füßen,

Nehmt es an, es ist Eures!

Er versuchte, Tavie auf den Mädchenbänken auszumachen und bemerkte, dass sie zu ihm herübersah. Die Würde seines Amtes gestattete ihm kein Lächeln, aber sein Herz pochte und er errötete leicht, als er sich mit der Weihwasserschale fest in der Hand aufrichtete.

Diese Bewegung entging seinem Freund La Crique nicht, der Tintin zuraunte:

»Schau nur, wie Camus sich streckt. Man merkt doch gleich, dass Tavie zu ihm herübergeschielt hat.«

Und Camus seinerseits dachte: Jetzt, wo die Schule wieder angefangen hat, werden wir uns wieder öfter sehen! Ja, schon … aber nun war der Krieg erklärt worden!

Nach dem Vespergottesdienst versammelte Lebrac seine Truppen um sich und gab die Anweisung:

»Zieht eure Jacken an und nehmt eine große Scheibe Brot mit. Wir treffen uns unten an der Saute, an den Pepiot-Steinbrüchen.«

Sie schwärmten wie eine Schar Vögel auseinander und fünf Minuten später liefen sie hintereinander, den Brotkanten zwischen den Zähnen, zu dem Ort, den ihr General angegeben hatte.

»Ihr dürft nicht über die Wegkehre hinaus«, riet Lebrac, der sich seiner Verantwortung für seine Truppe voll bewusst war.

»Glaubst du wirklich, dass sie kommen?«

»Sonst wären sie echte Hosenscheißer.« Und er fügte hinzu, um seinen Befehl zu erläutern:

»Einige von uns sind nicht gerade flink, geradezu Lahmärsche, nicht wahr, Boulot? Es soll keiner geschnappt werden! Steckt euch ein paar Kiesel in die Taschen, diejenigen, die eine Gummischleuder haben, bekommen die schönsten Kiesel. Passt auf, dass ihr sie nicht verliert. Wir gehen bis zum Großen Busch hinauf.«

Die Ebene der Saute, die sich vom Wald von Teuré im Nord-Osten bis zum Wald von Velrans im Süd-Westen erstreckte, war ein großes, aufgeschüttetes Rechteck, wie ein Damm, ungefähr 1500 Meter lang und 800 Meter breit. Die beiden Waldränder bildeten die Schmalseiten des Rechtecks, eine Steinmauer mit einer parallel dazu verlaufenden Hecke, die wiederum durch einen dicken Gebüschwall geschützt war, schirmte das Rechteck am unteren Ende zu den Feldern hin ab. Die etwas ungenaue Begrenzung am oberen Ende war gekennzeichnet durch verlassene Steinbrüche, in unwegsamem Gehölz mit dicken Haselnusssträuchern, die niemals geschnitten wurden. Das ganze Terrain war im Übrigen mit Gebüsch überzogen, mit Gehölz und einzelnen Bäumen oder Baumgruppen, was es zu einem idealen Kampfplatz machte.

Eine gepflasterte Straße schlängelte sich ab dem Dorf Longeverne halb schräg das Massiv hoch. Fünfzig Meter vor dem Waldrand bei Velrans machte sie eine Spitzkehre, damit auch schwer beladene Wagen ohne Mühen den Gipfel erreichen konnten.

Das Massiv war voll mit Eichen, Schlehen und Haselnusssträuchern – das nannte man den Großen Busch.

Offene Steinbrüche, wo der krummbeinige Pepiot und Laugu von der Mühle, die sich nach einigem Alkoholgenuss »Unternehmer« nannten, sowie Abel, die Ratte, Steine abbauten, säumten den Weg nach unten.

Für die Kinder stellten die Steinbrüche einfach nur wunderbare, unerschöpfliche Munitionslager dar.

Auf diesem schicksalsträchtigen Gebiet, genau in der Mitte zwischen den beiden Dörfern, beschimpften und verprügelten sich seit Jahrzehnten Generationen von Jungs aus Longeverne und Velrans, sie bewarfen sich sogar mit Steinen. Jedes Jahr im Herbst und Winter begann es wieder.

Die Longeverner rückten gewöhnlich bis zur Wegbiegung vor und hielten die Straßenkuppe im Auge, obwohl die andere Seite sowie der Wald von Velrans noch zu ihrer Kommune gehörten. Aber der Wald lag nahe am feindlichen Dorf und diente den Gegnern als Rückzugsgebiet und als Schutz vor eventuellen Verfolgern. Das brachte Lebrac jedes Mal zur Weißglut:

»Man hat immer das Gefühl, der Feind habe einen schon überfallen, verdammte Sch…!«

Nur fünf Minuten nachdem alle ihr Brot aufgegessen hatten, signalisierte der Klettermax Camus, der auf einem Ast der großen Eiche seinen Wachposten bezogen hatte, verdächtige Bewegungen an der Feindesgrenze.

»Wie ich euch gesagt habe!«, stellte Lebrac fest. »Los Jungs, versteckt euch! Sie sollen glauben, dass ich alleine bin! Ich werde sie reizen und provozieren … Los! Fass! Und wenn sie losstürmen, um mich zu schnappen – hopps, seid ihr da!«

Kaum hatte Lebrac seine Deckung in den Dornenbüschen verlassen, begannen wie gewohnt die diplomatischen Gespräche:

(Es sei mir gestattet, dem Leser oder der Leserin an dieser Stelle einen guten Rat zu geben. Im Bemühen um historische Genauigkeit muss ich Ausdrücke benutzen, die nicht wirklich am Hofe oder in den feinen Salons üblich sind. Ich empfinde aber keinerlei Reue oder Skrupel, sie dennoch zu benutzen, und beziehe mich auf meinen Herrn und Meister Rabelais, der mir die Erlaubnis erteilt hat. Die Herren Fallières oder Bérenger lassen sich ebenso wenig mit Franz I. vergleichen wie ich mit meinem berühmten Vorbild, außerdem haben sich die Zeiten geändert. Ich rate also allen mit empfindlichen Ohren, fünf oder sechs Seiten zu überspringen. Und nun zurück zu Lebrac.)

»Zeig dich doch, Drecksack, Mistkerl, Schwächling, Stinksack! Wenn du nicht zu feige bist, dann zeig doch deine dreckige Fresse, Arschloch, los!«

»Hey, du stinkendes Aas, komm du doch näher und zeig dich!«, antwortete der Feind.

»Das ist Aztec von Gués«, sagte Camus, »aber ich sehe außerdem noch Touegueule, Bancal, Tatti und Migue, den Mond – die ganze Saubande.«

Mit dieser wichtigen Information fuhr Lebrac fort:

»Ach du bist es, Scheißkerl, der uns Longeverner Weicheier genannt hat. Na, da habe ich dir wohl gezeigt, ob wir Weicheier sind oder nicht! Wahrscheinlich habt ihr alle eure Hemden gebraucht, um das von eurer Kirche wegzuwischen, was ich draufgeschrieben habe! So Hosenscheißer wie ihr hätten sich das nicht getraut.«

»Dann komm doch ein bisschen näher, wenn du dich traust, Großmaul! Aber du hast nur eine große Schnauze … und Beine, um abzuhauen!«

»Du kommst ja noch nicht mal den halben Weg hoch! Lumpenhändler! Davon, dass dein Vater auf den Jahrmärkten die Hoden der Kühe befummelt hat, bist du bestimmt nicht reich geworden!«

»Und du erst! Das Drecksloch, in dem ihr wohnt, ist doch voll mit Hypotheken!«

»Selber Hypothek, du Bettler! Wann ist es denn so weit, dass du den Bettelstab von deinem Großvater nimmst, um an die Kirchentüren zu schlagen?«

»Bei uns ist es nicht wie in Longeverne, wo die Hühner mitten in der Erntezeit verhungern.«

»Und in Velrans krepieren die Läuse auf euren Köpfen, wobei man nicht weiß, ob sie verhungern oder vergiftet werden.«

Velrack

Drecksack

Langsam wie eine Schnecke

kommt er um die Ecke

Oau! … Oau! … Oau! … jaulte der Chor der Longeverne-Krieger hinter ihrem Anführer, unfähig, ihre Wut und Aufregung noch länger zurückzuhalten.

Aztec antwortete:

Longeverner,

Dreckstecher

Mistfresser

Auf allen Vieren,

wird der Teufel dich führen!

Und der Chor aus Velrans spendete seinerseits ihrem Anführer mit langen Ohs und Ahs euphorischen Beifall.

Die beiden Seiten tauschten einen Schwall von Beleidigungen aus, wie Sturmböen gingen sie auf den Gegner nieder. Die beiden etwas überreizten Anführer ergingen sich erst in klassischen wie modernen Beschimpfungen:

»Ihr könnt nur Phrasen dreschen!« – »Ihr erwürgt eure Katzen mit dem Schwanz!« usw., usw.

Dann schleuderten sie sich mit der gewohnten Gehässigkeit die haarsträubendsten und furchtbarsten Beschuldigungen an den Kopf, die ihr Repertoire zu bieten hatte:

»Hey, erinnerst du dich, wie deine Mutter in den Eintopf gep… hat, damit du mehr Sauce bekommst?«

»Und du, erinnerst du dich, wie deine Mutter die Hodensäcke von kastrierten Stieren genommen hat, um dir einen Salat daraus zu machen?«

»Denkst du noch manchmal an den Tag, als dein Vater gesagt hat, er würde lieber ein Kalb aufziehen, als so einen hässlichen Vogel wie dich?«

»Und du? Weißt du noch, wie deine Mutter sagte, sie würde lieber eine Kuh säugen als deine Schwester, denn so wüsste sie wenigstens, dass sie keine Hure aufziehen würde!«

»Meine Schwester rührt Butter an«, antwortete der andere, der gar keine Schwester hatte, »aber wenn sie mal Sch… rührt, dann kommst du direkt, um den Löffel abzulecken. Aber sie ist mit Platten behängt, damit so kleine Kröten wie du nicht an ihr hochklettern können!«

»Achtung!«, warnte Camus, »da ist Touegueule mit seiner Steinschleuder!«

Und schon sauste ein Kieselstein über die Köpfe der Jungs hinweg, was diese mit Hohngelächter beantworteten. Nicht lange und ein ganzer Schwarm von Projektilen schwirrte durch die Luft von einer Seite zur anderen, während der unendliche Schwall an wüstesten Beschimpfungen und Beleidigungen ohne Unterlass zwischen dem Großen Busch und dem Waldrand hin und her wogte, wobei das Repertoire auf beiden Seiten ebenso ausgewählt wie reichhaltig war.

Aber es war Sonntag und beide Parteien trugen ihre Sonntagskleidung. Und niemand, sei er Anführer oder gemeiner Soldat, wollte sich in ein gefährliches Handgemenge verwickeln lassen.

Und so beschränkte sich der Kampf an jenem Tag auf diesen Meinungsaustausch, wen man das so bezeichnen will, und auf Artilleriebeschuss, der weder auf der einen noch auf der anderen Seite ernsthafte Verletzungen hervorrief.

Beim ersten Läuten der Kirche von Velrans, das zur Andacht rief, gab Aztec seiner Truppe das Zeichen zum Rückzug, nicht ohne vorher mit einer letzten Beleidigung und einem letzten Stein den Gegnern diese Provokation zuzurufen:

»Morgen sehen wir uns hier wieder, ihr Weicheier von Longeverne!«

»Aha! Du haust also ab, du Feigling!«, spottete Lebrac, »Wart nur ab, ja, bis morgen, dann wirst du sehen, was wir mit Mistkerlen wie euch machen!«

Und eine letzte Salve an Kieselsteinen ging als Abschiedsgruß auf die Velraner nieder, die durch den Graben den Heimweg antraten.

Bei den Longevernern ging die öffentliche Uhr wohl etwas nach oder vielleicht war der Beginn der Andacht einfach etwas verschoben worden, jedenfalls hatten sie noch Gelegenheit, vom frühzeitigen Verschwinden ihrer Gegner zu profitieren und die nötigen Kampfvorbereitungen für den nächsten Tag zu überdenken.

Tintin hatte einen genialen Einfall:

»Fünf oder sechs von uns verstecken sich in dem Gebüsch dort, bevor die Velraner kommen, und verhalten sich mucksmäuschenstill. Und wenn der erste von ihnen sich zu weit vorwagt, stürzen wir uns auf ihn und schnappen ihn uns.«

Er wurde sofort als Chef dieser Unternehmung bestätigt und wählte sich fünf der flinksten Mitstreiter aus, die ihn dabei unterstützen sollten, während die anderen den Frontangriff führen würden. Dann gingen sie alle zurück nach Hause, vor Kriegseifer glühend und nach Vergeltung dürstend.

DRITTES KAPITEL

Ein großer Tag

Vae victis! (Wehe den Besiegten!)

Ausspruch eines gallischen Heerführers an die Römer

Am darauffolgenden Montagmorgen lief es nicht gut in der Schule, schlimmer noch als Samstag.

Camus wurde von Vater Simon in der Staatsbürgerkundestunde aufgefordert, zu wiederholen, was er ihnen vor zwei Tagen über den Begriff »Staatsbürger« beigebracht hatte. Er handelte sich einen gar nicht freundlichen Anpfiff ein.

Kein Wort wollte Camus über die Lippen kommen, sein ganzes Gesicht drückte ein sehr schmerzhaftes Bemühen um geistige Einfälle aus. Aber es war, als sei sein Gehirn zugemauert.

»Staatsbürger! Staatsbürger!«, dachten die anderen, die etwas weniger verwirrt waren, »Was für ein Mist kann das wohl sein?«

»Ich, ich, Herr Lehrer!«, rief La Crique und schnippte mit den Fingern.

»Nein, nicht du.« Der Lehrer wandte sich wieder zu Camus, der mit gesenktem Kopf und verschrecktem Blick vor ihm stand:

»Nun, du weißt also nicht, was ein Staatsbürger ist?«

»Ähhh …«

»Ich werde euch allen eine Stunde Nachsitzen heute Abend aufbrummen!«

Ein kalter Schauer lief den Schülern über den Rücken.

»Also, was meinst du – bist du ein Staatsbürger?«, fragte der Lehrer wieder, der unbedingt eine Antwort von Camus haben wollte.

»Ja, Herr Lehrer!«, antwortete Camus, der sich daran erinnert hatte, wie er mit seinem Vater bei einer Wahlveranstaltung gewesen war, wo der Herr Marquis, der Abgeordnete, allen seinen Wählern ein Gläschen spendiert hatte, ihnen die Hand geschüttelt und zu Camus Vater gesagt hatte:

»Ist das Ihr Sohn, dieser Staatsbürger da? Er scheint intelligent zu sein!«

»So, du bist also ein Staatsbürger?«, fuhr ihn der Lehrer mit zorngerötetem Gesicht an. »Na, ein schöner Staatsbürger, ein sauberer Staatsbürger bist du mir!«

»Nein, Herr Lehrer«, sagte Camus, der letztendlich doch nicht an diesem Titel hing.

»Also, warum bist du kein Staatsbürger?«

»Ähhh …«

»Sag ihm«, flüsterte La Crique ihm genervt zu, »sag ihm, weil du noch keine Haare am S… hast!«

»Was hast du gesagt, La Crique?«

»Ich … ähhh … dass …«

»Was genau?«

»Dass er zu jung dafür ist!«

»Na also! Und, habt ihr es jetzt?«

Ja, sie hatten es. Die Antwort von La Crique war wie erfrischender Morgentau auf den ausgedörrten Feldern ihres Gedächtnisses. Satzteile, Fundstücke, Einzelteile des Staatsbürgers wurden zurechtgerückt und setzten sich nach und nach zu einem Gesamtbild zusammen. Auch Camus, der sich aus seiner Erstarrung gelöst hatte und La Crique zutiefst dankbar für die Rettung war, trug dazu bei, den »Staatsbürger« zusammenzusetzen.

Schließlich war auch das geschafft.

Aber als es dann an die Korrektur der Aufgaben in Sachen »Dezimalsystem« ging, war der Spaß ganz schnell vorbei. Da ihre Gedanken in der letzten Stunde mit ganz anderen Sachen beschäftigt waren, hatten sie völlig vergessen, beim Abschreiben einzelne Wörter zu ändern und eine dem jeweiligen Wissensstand angepasste Menge an orthografischen Fehlern einzubauen. Eine Menge, die sich leicht aus den zweiwöchentlichen Diktaten errechnen ließ. Im Gegenteil, sie hatten Wörter ausgelassen, Großbuchstaben eingefügt, wo sie nicht hingehörten, und unsinnige Satzzeichen gesetzt. Die Abschrift von Lebrac war besonders jämmerlich ausgefallen, die schweren Sorgen des Anführers waren offensichtlich.

So war es natürlich Lebrac, der von Vater Simon an die Tafel gerufen wurde, mit zornrotem Kopf und Augen, die hinter seinen Brillengläsern funkelten wie Katzenaugen in der Nacht.

Natürlich war klar, dass Lebrac, wie alle seine Mitschüler, abgeschrieben hatte, das bezweifelte niemand, aber der Lehrer wollte zumindest wissen, ob er trotz dieser allen Prinzipien der modernen Pädagogik zuwiderlaufenden Methode irgendetwas gelernt hatte.

»Was ist ein Meter, Lebrac?«

»Ähhh …«

»Was ist das Dezimalsystem?«

»Ähhh …«

»Wie errechnet man die Länge eines Meters?«

»Ähhh …«

Lebrac spitzte mit gerunzelter Stirn die Ohren zu La Crique hin, aber er stand zu weit entfernt. Er schwitzte Blut und Wasser bei dem Bemühen, sich an irgendetwas, sei es noch so wenig, zu diesem Thema zu erinnern. Endlich kamen ihm vage, sehr vage zwei Namen in den Sinn: Delambre und La Condamine, berühmte Wissenschaftler, die sich mit der Gradmessung beschäftigt hatten. Unglücklicherweise geriet da in Lebracs Gehirn etwas durcheinander, vermischte sich mit den Schaumpfeifen, die in der Auslage vom Tabakhändler Léon lagen, und so stotterte er mit entsprechender Unsicherheit dem Ernst der Lage gegenüber:

»Das war … Lécume und Lecon … Lecon!«

»Wie bitte? Wer?«, fragte Vater Simon, am Rande eines Nervenzusammenbruchs. »Jetzt beleidigst du auch noch die Gelehrten! Du bist wirklich dreist! Und ein Gedächtnis wie ein Sieb, meine Güte! Ich gratuliere, mein Freund!«

Und um dem Unglücklichen noch eins draufzugeben, fügte er hinzu: »Weißt du eigentlich, dass dein Vater mir geraten hat, dich mir mal vorzuknöpfen? Es scheint, dass es dich einen feuchten Kehricht interessiert, was sie zu Hause sagen. Immer streunst du auf der Straße herum, wie ein Taugenichts, ein Gauner, statt dich um eine Säuberung deines Gehirns zu kümmern. Aber gut, mein Freund! Wenn du mir bis elf Uhr heute Vormittag nicht alles aufsagen kannst, was ich dir und deinen Kameraden, die nicht einen Deut besser sind, jetzt wiederhole, dann verspreche ich dir, werde ich euch von vier bis sechs nachsitzen lassen, jeden Tag, bis es sitzt! So!«

Hätte Zeus seinen Donner auf die Versammlung niedergeschleudert, hätte die Wirkung nicht schlimmer sein können. Die Jungs waren wie erstarrt angesichts dieser furchtbaren Drohung.

Lebrac und seine Mitschüler, ob groß oder klein, lauschten an diesem Tag mit angespannter Konzentration den Worten des Lehrers, der ihnen wutschnaubend die Irrtümer des alten Systems von Gewichten und Maßeinheiten und die Notwendigkeit eines einheitlichen Systems erläuterte. Und auch wenn sie die Messung des Meridians zwischen Dünkirchen und Barcelona nicht wirklich verinnerlichten und sich über die Schwierigkeiten von Delambre und Méchain amüsierten, behielten sie doch alle Ereignisse und Ergebnisse sorgfältig im Gedächtnis, zu ihrem eigenen Nutzen und für ihre sofortige Rettung. Aber Camus, Lebrac, Tintin und selbst La Crique, ein Verfechter des Fortschritts, sowie auch alle anderen schworen sich hoch und heilig, dass sie angesichts dieser Heidenangst immer lieber in Fuß- und Zollmaß messen würden, so wie es schon ihre Väter und Großväter getan hatten, die auch nicht schlecht damit gefahren waren, als dieses dumme System anzuwenden, dass sie fast wie Weicheier in den Augen ihrer Feinde hätte dastehen lassen.

Der Nachmittag war ruhiger. Die Geschichte der Gallier, dieser großen Krieger, die sie sehr bewunderten, konnten sie sich leichter einprägen. Und weder Lebrac noch Camus noch sonst jemand musste bis vier Uhr nachsitzen. Alle, speziell ihr Anführer, hatten sich redlich bemüht, Vater Simon, diesen alten Armleuchter, zufriedenzustellen.

Diesmal sollte es so sein.

Tintin und seine fünf Krieger, die in weiser Voraussicht mittags ihr Pausenbrot in die Tasche gesteckt hatten, gingen vor, während die anderen ihre Brote holten. Als dann, kurz bevor die Feinde auftauchten, der Kriegsruf der Longeverner: »Nieder mit den Velranern!« erklang, waren sie schon gut versteckt und bereit für den bevorstehenden Nahkampf.

Sie hatten alle die Taschen voller Steine, manche hatten sogar ihre Mützen oder Kopftücher gefüllt. Die Kämpfer mit den Steinschleudern überprüften sorgfältig die Gummis ihrer Waffen. Die Größeren waren mit Stöcken aus Baumästen bewaffnet, mit abgeflämmten Zweigen und gehärteten Spitzen. Manche Stöcke waren durch Schnitzereien mit naiven Zeichnungen verziert, grüne und weiße Ringe wechselten sich ab wie bei einem Zebra oder bei afrikanischen Tätowierungen. Boulot fand das beständig und schön, aber sein Geschmack war nicht ganz so fein ausgeprägt wie seine Lanze.

Nachdem beide Seiten durch ihre jeweilige Vorhut Kontakt aufgenommen hatten, indem sie eine Flut von gegenseitigen Beleidigungen ausgetauscht und sich mit angemessen vielen Steinen beworfen hatten, trafen die Haupttruppen aufeinander.

Kaum fünfzig Meter voneinander entfernt schwärmten die Steineschleuderer aus, versteckten sich hinter den Büschen und sprangen nach rechts und nach links, um den Geschossen auszuweichen. Die streitenden Parteien provozierten sich, beleidigten sich, forderten sich zum Näherkommen auf, beschimpften sich als Feiglinge und Angsthasen und bewarfen sich aufs Neue mit Steinen.

Aber es gab kein Vorankommen. Einmal waren die Velraner im Vorteil, dann kämpften sich die Longeverner mit hochgereckten Knüppeln wieder vor, wurden aber bald darauf wieder von einem gegnerischen Steinhagel gestoppt.

Ein Velraner wurde von einem Stein am Knöchel getroffen und humpelte hinter einen Busch. Auf Seiten der Longeverner hatte Camus, der auf seiner Eiche saß und mit affenartiger Geschwindigkeit seine Schleuder bediente, ein gegnerisches Geschoss, wahrscheinlich von Touegueule, nicht abwehren können und hatte nun eine blutende Wunde am Kopf.

Er musste sogar seinen Baum verlassen, um sich mit einem Taschentuch die Wunde zu verbinden. Aber der Kampf war immer noch nicht entschieden. Doch Grangibus wollte unbedingt die Falle von Tintin nutzen, um einen der Gegner zu schnappen. Er besprach sich kurz mit Lebrac und machte sich auf zu dem Gebüsch, wo Tintin versteckt war. Er tat so, als wolle er sich alleine anschleichen, um die feindliche Flanke anzugreifen. Dabei stellte er es so an, dass einige Kämpfer aus Velrans ihn dabei gut sehen konnten, ohne seine Absicht zu durchschauen. Er schlich und kroch auf allen Vieren bis zu der Anhöhe und lachte sich ins Fäustchen, als er Migue mit zwei anderen Velranern bemerkte, die ihn in der Überzeugung, dass sie zu dritt einem Einzelnen gegenüber in der Mehrzahl seien, überfallen wollten.

So bewegte er sich scheinbar unvorsichtig nach vorne, während die drei anderen an seine Seite schlichen.

In dem Moment führte Lebrac einen massiven Angriff durch, um die gegnerischen Truppen abzulenken, und Tintin, der alles von seinem Versteck aus beobachtete, bereitete seine Mitstreiter vor:

»Es geht los, meine Freunde! Achtung!«