Der Kuckuck - Gina Mayer - E-Book

Der Kuckuck E-Book

Gina Mayer

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Beschreibung

Drei Frauen. Die eine besonnen, die andere stolz, die dritte verloren. Verbunden durch ein Geheimnis. Als ein Neugeborenes nachts auf ihrem Bauernhof abgelegt wird, ist Babett sicher, dass der kleine Junge der Sohn ihrer früheren Freundin Evelin ist. Als Kinder haben sie zusammen am Bach gespielt – Babett, die Gutsherrentochter Evelin und Rosl, die aus der ärmsten Familie im Dorf stammt – und von ihrem Leben als Erwachsene geträumt. Während Rosl in die Stadt ging und auf die schiefe Bahn geriet und Evelin mit ihrer Mutter das Dorf verließ, wurde Babett Bäuerin und blieb. Nun nimmt sie das Findelkind wie ein eigenes bei sich auf. Nicht ahnend, dass sie damit nicht nur das Leben des Jungen und ihrer eigenen Tochter, sondern auch das einer jungen Frau in der dritten Generation beeinflussen wird. Ein kluger, anrührender und mitreißender Roman über Zugehörigkeit, Heimat und Familie.  SPIEGEL-Bestsellerautorin Gina Mayer verwebt in ihrem neuen großen Roman die bewegende Geschichte dreier Frauen. Und zeigt meisterhaft, wie Träume und Taten im Ries zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kraft haben, bis ins Berlin der Neunzigerjahre Leben zu berühren und zu verändern. Ein Muss für Leserinnen und Leser von Alena Schröder und Sofía Segovia. Inspiriert von der Familiengeschichte der Autorin: Auf dem Bauernhof ihrer Mutter, die im Ries aufwuchs, lag wirklich eines Tages ein Findelkind auf der Schwelle.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

1

Frankfurt, 1994

2

Ries, 1919

3

4

Frankfurt, 1994

5

Ries, 1921

6

Ries, 1921

7

8

Frankfurt, 1994

9

Ries, 1921

10

Ries, 1921

11

Frankfurt, 1994

12

Ries, 1923

13

Ries, 1929

14

Ries, 1930

15

Frankfurt, 1994

16

Ries, 1930

17

Ries, 1930

18

Ries, 1931

19

Frankfurt, 1994

20

Ries, 1931

21

Ries, 1934

22

Ries, 1938

23

Frankfurt, 1994

24

Ries, 1938

25

Ries, 1938

26

Ries, 1938

27

Frankfurt 1994

28

Ries, 1938

29

Ries, 1938

30

Ries, 1938

31

Bamberg, 1994

32

Thüringen, 1938

33

Stuttgart, 1938

34

Ries, 1964

35

Ries, 1964

36

Pittsburgh, 1938

37

Ries, 1994

38

Ries, 1964

39

Ries, 1964

40

Ries, 1964

41

Ries, 1994

42

Ries, 1964

43

Ries, 1994

44

Berlin, 1994

Epilog

Frankfurt, 1995

Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für Agnes und Konrad Mayer, meine Eltern

1

Frankfurt, 1994

Vor dem Bürofenster ratterte ein Presslufthammer. Er klang wie die Nähmaschine ihrer Mutter, nur viel, viel lauter. Als ob fünfzig Mütter an fünfzig Nähmaschinen säßen und in perfekter Synchronität Vorhänge säumten. Das metallische Stottern bohrte sich in Ellas Kopf und nähte ihre Gedanken schief und krumm zusammen. Sie presste ihre Fingerspitzen gegen die Ohren. Das Rattern verstummte nicht ganz, aber es wurde sehr viel leiser.

Sie starrte auf ihren Computerbildschirm, auf dem der Cursor aufblinkte und wieder verschwand, in einem steten Rhythmus. Wie das kleine Herz auf dem Ultraschallmonitor. Sechste Woche. Herzlicher Glückwunsch.

Ein Schweißtropfen löste sich aus Ellas kurzen Haaren, rann über ihre Stirn und dann ihre Wange entlang. Sie wischte ihn mit dem Handrücken weg und legte die Finger sofort wieder über die Ohren.

Impulse Water Melon. It’s magic.

Sie war am Morgen vor der Arbeit zur Frauenärztin gegangen. Der erste Termin war immer der beste, da kam man direkt dran. Nun saß sie seit einer Stunde im Büro, aber mehr als die fünf Worte hatte sie nicht geschrieben. Es war der Slogan der Deo-Marke, für die sie die neue Kampagne entwickeln sollten. Am Nachmittag gab es ein Meeting, bis dahin brauchte sie eine Idee. Oder eigentlich zwei. Eine mittelmäßige und eine gute. Die mittelmäßige Idee war nur für Mike zum Abschießen. Nachdem er etwas vernichtet hatte, war es einfacher, einen anderen Ansatz durchzubringen.

Im Moment hatte Ella allerdings weder eine mittelmäßige noch eine gute Idee. Dieses Deo interessierte sie nicht. Ihr Körper startete gerade seine eigene Kampagne, und sie wusste noch nicht, wie sie das finden sollte.

In der Praxis hatten sie ihr einen Mutterpass ausgestellt. »Am 10. Februar sind Sie ausgezählt«, hatte die Sprechstundenhilfe verkündet, als sie Ella das Dokument überreichte.

Es klang bedrohlich.

Es war besser, sich auf das Deo zu konzentrieren. Aber ihre Gedanken waren verklebt. Sie musste sie auseinanderreißen und dann neu zusammenfügen wie ihre Mutter die Patchworkdecken. Eine Kampagne aus Gedankenfetzen.

Im Zimmer vibrierte die Luft. Ella spürte die feuchten Schweißflecken unter ihren Achseln, die immer größer wurden. Es war der heißeste Sommer seit Jahren, die Sonne hörte gar nicht mehr auf zu scheinen. Und der lauteste Sommer, den sie jemals erlebt hatte. Vor dem Altbau, in dem die Werbeagentur untergebracht war, hatte sich noch vor wenigen Wochen eine zweispurige Straße befunden. Morgens und abends stauten sich dort die Autos, mittags meistens auch.

Jetzt war die Straße weg, und die Autos und der Stau waren auch verschwunden. Es sah aus wie im Krieg. Die Presslufthammer hatten die Weltherrschaft übernommen. Die Straße sollte unter die Erde verlegt werden. Vier Jahre würde das Ganze dauern. Vielleicht auch sechs.

Sie schnupperte an ihren Achseln, ohne dabei die Finger von den Ohren zu nehmen. Kein Schweißgeruch, immerhin. Ihr Deo wirkte. Was sie wieder zum Thema brachte.

Impulse Water Melon. Der Duft von morgen, stand im Briefing. Wollten die Frauen von morgen wie Wassermelonen riechen? Wie rochen Wassermelonen überhaupt?

Ella starrte auf den Bildschirm. Der Cursor blinkte erwartungsvoll. Ihr Kopf reagierte nicht.

Sie nahm die Finger von den Ohren, löschte die Worte und tippte stattdessen Ich bin schwanger. Während draußen der Presslufthammer ratterte, betrachtete Ella den Satz, der wie eine Lüge klang. Vielleicht war es ja ein Irrtum. Ihre Frauenärztin hatte nicht mal einen Test gemacht. »Der Ultraschall reicht«, sagte sie. »Da sieht man alles.«

Sie hatte Ella das Ultraschallbild mitgegeben. »Damit Ihnen Ihr Mann auch glaubt.« Aber auf dem Bild sah man nichts als Schlieren. Das war doch kein Beweis.

Außerdem war Matthias gar nicht ihr Mann.

Sie hielt sich wieder die Ohren zu, und dabei stieg ihr Kaffeegeruch in die Nase.

Als sie den Kopf zur Tür drehte, stellte sie fest, dass sie offen war. Jan stand auf der Schwelle und lächelte entschuldigend.

Ella ließ die Hände sinken.

»Sorry«, sagte Jan. »Ich hab geklopft.«

»Was gibt’s?«, fragte Ella.

»Ich hab Kaffee gemacht«, sagte Jan. »Wollt ich nur sagen.«

»Cool«, sagte Ella.

»Und?« Er lehnte sich gegen den Türrahmen. »Hast du schon was?«

Er nickte in Richtung ihres Computers. Sie guckte unwillkürlich auf ihren Bildschirm, auf dem immer noch Ich bin schwanger stand.

»Nein«, sagte sie, während sie auch diese Worte löschte, obwohl Jan sie von der Tür aus nicht sehen konnte.

Jan war neu in der Agentur, noch neuer als Ella, die ebenfalls noch kein Jahr hier arbeitete. Er kam frisch von der Uni und war blond und unschuldig und unglaublich eifrig. Wie ein junger Hund, der die ganze Zeit auf- und abhüpfte und unablässig wedelte.

»Wir sind auch noch nicht so weit«, sagte Jan.

Das Impulse-New-Business hatte höchste Priorität in der Agentur, drei Teams, die erst mal parallel Ideen entwickeln sollten, waren auf die Präsentation angesetzt. Ella und Werner, Jan und Konstantin, Jürgen und Heike.

»Wenn du Lust hast, können wir gleich mal zusammen brainstormen«, sagte Jan. »Ich mein, wir sind ja jetzt keine Konkurrenz oder so.«

Keine Konkurrenz. Ella hätte fast laut gelacht. Alles in der Agentur war auf Konkurrenz ausgerichtet, und natürlich arbeiteten die drei Teams auch gegeneinander. Es ging immer darum, die eigenen Ideen durchzusetzen.

Ella nickte. »Ich komm nachher mal rüber«, versprach sie.

Jans Büro hatte ein Fenster zum Innenhof, bei ihm war es leiser und kühler. Würde er ihr nicht so auf die Nerven gehen, hätte sie sich dauerhaft zu ihm an den Schreibtisch gesetzt.

»Danke fürs Kaffeemachen«, sagte sie.

Er machte die Tür wieder zu.

Auf der Baustelle verstummte der Presslufthammer. Ella stieß erleichtert die Luft aus. Endlich Ruhe.

Im nächsten Moment dröhnte ein Betonmischer los.

Sie ging in die kleine Kaffeeküche und schenkte sich einen Kaffee ein. Die Milch, die im Ausguss stand, war verdorben. Dann eben schwarz.

Mit der Tasse in der Hand trat sie ans Fenster und guckte auf den Innenhof hinunter, in dem eine Hollywoodschaukel stand. Das Polster war einmal orangefarben gewesen, jetzt war es schwarz verschimmelt. Niemand saß jemals darauf.

Ella nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. Total bitter. Durfte sie so was überhaupt noch trinken? Oder war Kaffee genauso schädlich für das Kind wie Alkohol und Zigaretten? Ratten fraßen alles Mögliche, aber um Kaffee machten sie einen Bogen, das hatte sie neulich gelesen. Sie ging zum Ausguss, schüttete den Kaffee weg und stellte die Tasse in die Spülmaschine.

»Morgen.« Mike schlurfte in die Küche, die Zigarette im Mundwinkel, und griff nach der Kaffeekanne. »Alles frisch?« Er selbst sah alles andere als frisch aus. Sein Dreitagebart schimmerte gräulich, und er wirkte noch dünner als sonst. Die Brille mit der dicken schwarzen Fassung betonte seine Augenringe. Er trug ein schickes Designerjackett über einer schwarzen Jeans. Ella hatte den Eindruck, dass ihn nur die gepolsterten Schultern der Jacke aufrecht hielten und er ohne das Jackett in sich zusammengesackt wäre.

»Danke«, sagte sie knapp. »Und bei dir?«

»Muss gleich zu Osram.« Er verzog das Gesicht. Der Osram-Etat wackelte wie alles andere in der Agentur auch. Letzte Woche waren drei Leute entlassen worden. Kein Kreativer dabei, noch nicht. »Na, wir sehen uns heute Nachmittag im Meeting. Haut rein.« Mike blies einen Schwall Zigarettenrauch in die Kaffeeküche, bevor er im Flur verschwand.

Ellas Cousine Heide hatte ihren positiven Schwangerschaftstest damals in einen Blumenstrauß gesteckt, den sie ihrem Mann mit einem Augenzwinkern überreichte. Thorsten hielt das Ganze jedoch für einen Wink mit dem Zaunpfahl, weil er in der Woche zuvor ihren Hochzeitstag vergessen hatte. Und da er das kleinlich und nachtragend fand, wurde er erst mal sauer.

Ella beschloss, auf eine ähnliche Inszenierung zu verzichten. Sie rief Matthias an und verabredete sich mit ihm für die Mittagspause.

Matthias war Architekt. Das Büro, für das er arbeitete, lag genau wie Ellas Agentur in der Innenstadt. Das war praktisch, sie aßen oft zusammen.

Heute holten sie sich in einer Metzgerei Möhrengemüse mit Bratwurst und setzten sich auf eine Parkbank. Ella war nervös.

Die Schwangerschaft war nicht geplant, aber Matthias wusste, dass Ella vor einem halben Jahr die Pille abgesetzt hatte, weil sie sie nicht vertragen hatte. Seitdem verhüteten sie mehr oder weniger experimentell und ganz offensichtlich nicht sehr wirkungsvoll.

Dennoch hatte Ella keine Ahnung, wie Matthias reagieren würde. Erfreut, bestürzt, erschrocken, stolz, panisch, entsetzt – alles war möglich. Sie hätte ja selbst nicht sagen können, wie sie sich fühlte.

»Ich war heute beim Frauenarzt«, sagte sie. »Ich bin schwanger.«

Matthias ließ seinen Plastikteller sinken und wischte sich mit der Serviette den Mund ab. Dann schob er seine Brille zurück auf die Nasenwurzel. Die Gläser hatten eine rote Kunststofffassung, die ständig nach unten rutschte.

»Wow«, sagte er nach einer Weile.

Ellas Magen sackte weg, so als wäre sie mit dem Auto in großer Geschwindigkeit über eine Bodenschwelle gerast.

»Schlimm?«, fragte sie.

»Nein.« Er legte seinen Arm um sie und zog sie an sich. »Ich bin total überwältigt.«

Sie holte das Ultraschallbild aus der Tasche und reichte es ihm.

Er rückte die Brille zurecht und starrte lange auf die Schlieren, als wäre es eine detaillierte Bauzeichnung.

»Das sieht super aus«, sagte er dann.

Er würde ein begeisterter Vater werden, so viel war sicher.

Das Meeting war auf fünf Uhr angesetzt, pünktlich zum allgemeinen Feierabend. Aber das interessierte in einer Werbeagentur keinen.

Ella und Werner hatten in letzter Sekunde eine Idee entwickelt, in der eine überdimensionierte Wassermelone durch eine sommerliche Stadt rollte und eine Welle an Frische und Fröhlichkeit verbreitete. Überall, wo die Melone vorbeirollte, hellten sich die Gesichter auf, begannen die Menschen zu singen, wurde die Welt besser. Werner stellte das Ganze vor, Ella hörte zu und merkte, wie die Sache noch während der kurzen Präsentation unterging wie eine kaputte Luftmatratze.

»Find ich jetzt nicht so stark«, sagte Mike und blies einen Rauchkringel zur Decke. »Da müsst ihr noch mal ran.«

Sein Gespräch mit Osram war gut gelaufen, er sah ein bisschen besser aus als am Vormittag.

Herr Söndmann verschränkte die Arme vor der Brust. Er war glatzköpfig, braun gebrannt und muskulös wie Meister Propper.

Herr Söndmann hatte die Werbeagentur vor fünfzehn Jahren gegründet und tauchte nur noch sporadisch auf. Heute war er da, weil er mit Mike beim Kunden gewesen war, ansonsten überließ er das Tagesgeschäft den Creative Directors.

Die durften ihn auch Dieter nennen, für die Texter und Art Directors war er Herr Söndmann, während er ihre Vornamen verwendete, sofern sie ihm einfielen.

Jan und Konstantin waren als letztes Team an der Reihe. Sie hatten drei Ideen entwickelt und sogar schon Storyboards erstellt.

Eines der Keyvisuals war eine schwarzhaarige Schönheit an einem Marktstand, die Wassermelonen verkaufte. Um sie herum war die Hölle los, aber sie geriet dennoch nicht ins Schwitzen. Dank Impulse Water Melon.

»Das hat was«, sagte Herr Söndmann. »Ich seh die schon vor mir. So eine exotische Uschi mit echten Melonen.« Er formte mit beiden Händen einen Atombusen, während er Jan und Konstantin anerkennend zunickte.

»Jaaa«, sagte Mike gedehnt und drückte seine Zigarette aus. »Könnte funktionieren.«

Konstantin zündete sich sofort eine neue an. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz, dass im Konfi stets eine Kippe qualmen musste. Oder besser noch drei oder vier. Früher hatten sie bei den Meetings wenigstens die Fenster geöffnet, aber seit es die Baustelle gab, blieben sie geschlossen.

»Dann verfolgen wir diesen Ansatz weiter, und die anderen Teams gehen zurück auf Start«, entschied Herr Söndmann.

Jan reckte die geballte Faust nach oben wie ein Marathonläufer beim Zieleinlauf. So viel zum Thema keine Konkurrenz.

»Sind wir dann fertig?«, fragte Ella und schob ihren Stuhl zurück.

»Willst du etwa schon nach Hause?«, fragte Mike missbilligend.

»Ich muss dann auch«, sagte Herr Söndmann und stand auf.

Ellas und Matthias’ Wohnung war nicht weit vom Zentrum entfernt, das war praktisch, weil sie beide zu Fuß zur Arbeit konnten. Das Apartment war allerdings winzig. Mit Baby würde das nicht lange funktionieren, dachte Ella, während sie die Wohnungstür aufschloss und in den schmalen Flur trat.

Zwei Zimmer, Küche, Bad. Ein kleiner Balkon, immerhin. Für die Miete hätten sie in Matthias’ Heimatdorf ein ganzes Haus haben können. Matthias wäre gerne rausgezogen, nicht unbedingt in dasselbe Dorf, aber eben aufs Land oder zumindest in die Vorstadt. Ella zögerte. Sie hatte ihr Leben lang in der Stadt gewohnt.

In der Wohnung staute sich die warme Luft, die Sonne hatte den ganzen Nachmittag gegen die Glastür im Wohnzimmer geschienen. Überall in der Nachbarschaft waren die Jalousien geschlossen, das hätten sie am Morgen auch mal tun sollen.

Ella machte die Tür zum Balkon auf, die heiße Luft schlug ihr ins Gesicht wie eine Faust. Dabei war es gerade mal Anfang Juni. Es ging kein Wind. Die Geranien, die sie vor drei Wochen in die Blumenkästen gesetzt hatte, ließen die Köpfe und Blätter hängen. Ella griff nach der Gießkanne und schüttete lauwarmes Wasser auf die getrocknete Erde, das am Rand der Kunststoffkästen hinunterlief und durch die Löcher im Boden wegfloss, ohne die Wurzeln der Pflanzen zu berühren.

Matthias hatte noch einen Termin in der Stadt, er würde nicht vor sieben nach Hause kommen. Ella zog einen Plastikstuhl in den Schatten der Hauswand und setzte sich. Unten rauschte der Verkehr. Sie schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass es das Meer wäre.

Sie schreckte zusammen, als das Telefon klingelte.

Der Apparat stand neben dem Fernseher. Die Schnur war ziemlich lang. Ella nahm ihn mit nach draußen auf den Balkon, bevor sie den Hörer abnahm.

»Hallo?«

»Gabi?«, fragte ihre Mutter.

Gabriele war Ellas richtiger Name, zumindest war sie darauf getauft worden.

Matthias war für den Namen Ella verantwortlich. Am Anfang hatte er sie im Spaß so genannt, dann hatte Ellas Freundin Ute den Spitznamen aufgegriffen und danach der Rest ihrer Freunde. Inzwischen stand sie sogar im Telefonbuch als Ella Hüls. Nur ihre Eltern und der Rest der Verwandtschaft nannten sie weiterhin Gabi.

»Mama«, sagte Ella. »Was gibt’s?« Normalerweise telefonierten sie und ihre Eltern immer am Wochenende. Heute war Donnerstag.

»Ach, eigentlich nichts«, sagte ihre Mutter. Ihre Stimme klang seltsam atemlos, als wäre sie zum Telefon gerannt. Dabei war sie es doch, die angerufen hatte.

»Ist was mit Papa?«, fragte Ella misstrauisch.

»Nein, nein«, sagte ihre Mutter. »Ich wollte nur mal deine Stimme hören.«

Das war noch merkwürdiger. Ellas Vater rief manchmal einfach so an, um mit Ella zu plaudern, aber Lisbeth meldete sich niemals ohne Grund. Ihre Telefonate dauerten auch selten länger als zehn Minuten, ihre Mutter telefonierte nicht gerne.

»Bist du krank, Mama?« Ella wickelte die Spiralschnur des Telefons um ihren Zeigefinger. Jetzt war sie wirklich beunruhigt.

»Alles okay, wirklich!« Ihre Mutter lachte nervös. »Ist denn bei euch alles in Ordnung?«

»Klar.« Ella hatte das mit ihrer Schwangerschaft eigentlich noch ein paar Tage für sich behalten wollen, aber nun entschloss sie sich, es zu erzählen. Sie war ein Einzelkind, es wäre der erste Enkel für ihre Eltern. 10. Februar. Bis dahin waren es noch acht Monate. So viel Zeit. So wenig Zeit. Doch bevor Ella fortfahren konnte, räusperte sich ihre Mutter.

»Sollen wir uns am Samstag mal treffen? Nur du und ich, meine ich«, fragte Lisbeth wieder in diesem leicht gehetzten Tonfall.

Ella hatte plötzlich einen bitteren Geschmack im Mund. Hier stimmte was nicht. Vielleicht war doch jemand krank.

»Klar«, sagte sie. »Wann soll ich kommen?« Ihre Eltern wohnten ebenfalls in Frankfurt, aber ein Stück außerhalb.

»Wir treffen uns um drei im Hertie«, sagte ihre Mutter.

2

Ries, 1919

Herr Wiefelspitz hatte sein Jackett schief geknöpft. Der oberste Knopf steckte im zweitobersten Knopfloch. Normalerweise hätte das für große Heiterkeit in der Klasse gesorgt, aber heute fiel es keinem auf.

Denn als der Lehrer heute vor die Klasse trat, war er nicht allein, sondern hatte Evelin Gruber bei sich, die Tochter des Gruber-Bauern. Dem Gruber-Bauern gehörte das gesamte Land auf der anderen Seite des Baches und der See und der Wald darum. Sowie der Gutshof auf dem Hügel mit Herrenhaus, Scheuer und etlichen Ställen.

Evelin war bisher von einem Hauslehrer unterrichtet worden, nun sollte sie in die Volksschule im Dorf gehen. Den Grund dafür kannte Herr Wiefelspitz nicht. Man munkelte so einiges im Dorf, aber auf das Gerede der Leute hatte er noch nie etwas gegeben.

Evelin kam in die untere Klasse, obwohl sie vom Wissensstand her auch bei den Älteren hätte mitmachen können, die im ersten Stock des Schulhauses saßen. Das hatte Herr Wiefelspitz bereits überprüft. Aber Evelin wollte auf keinen Fall zu den Großen. Sie wollte überhaupt nicht in die Dorfschule, das war ihr deutlich anzusehen, sie war ganz bleich und zitterte wie die Hände von Herrn Mangoldsheimer, der im oberen Klassenzimmer war und so laut brüllte, dass man es bis nach unten hören konnte.

Herr Wiefelspitz stellte Evelin kurz vor, dann blickte er sich nach einem freien Platz für sie um, den es natürlich nicht gab. Das Klassenzimmer war proppenvoll.

»Zita, du setzt dich nach hinten neben die Agnes«, befahl er.

Dass die kleine Gruber in die erste Reihe musste, war selbstverständlich. In der ersten Reihe saßen die besten Schüler. Die Edelbauer Zita gehörte da ohnehin nicht hin, sie war viel zu schwach im Rechnen. Sie verzog dennoch gekränkt das Gesicht, während sie ihre Sachen zusammenraffte und sich in die zweite Reihe verzog.

»Bitte schön«, sagte Herr Wiefelspitz zu Evelin und wies mit der Rechten auf den freien Platz, während er mit der Linken über sein Jackett strich und dabei bemerkte, dass es schief geknöpft war. Er korrigierte das Versehen hastig, während Evelin sich setzte.

Die Horlacher Maria, die den Platz neben Evelin hatte, lächelte Evelin an, aber diese erwiderte das Lächeln nicht, weil sie es gar nicht bemerkte. Ihr Blick war fest auf die Tafel gerichtet, auf der noch die Rechenaufgaben vom Vortag standen. Ihre Hände klammerten sich um die Tischkante, als wäre es die Reling auf einem schwankenden Schiff.

Normalerweise wurde im Klassenzimmer immer gewispert, gekichert, geflüstert oder gemurmelt. Jetzt schienen alle die Luft anzuhalten.

Es waren einundfünfzig unterschiedliche Kinder im Raum, sie waren klein, groß, dick, dünn, vorlaut, schüchtern, hässlich, schön, fröhlich oder ängstlich. Aber an diesem Morgen waren sie alle gleich, nur Evelin war anders.

Seit Herr Reufel eingezogen worden und gefallen war, war Herr Wiefelspitz der einzige Lehrer in der Dorfschule. Am Anfang war er angewiesen worden, beide Klassen getrennt zu unterrichten. Die Älteren waren morgens in die Schule gekommen, die Jüngeren am Nachmittag. Das war allerdings nicht lange gut gegangen, weil die Bauern Sturm gelaufen waren. Die Kinder wurden am Nachmittag schließlich auf dem Feld gebraucht.

Also hatte man einen Hilfslehrer eingestellt, Herrn Mangoldsheimer, der eigentlich Bäcker gelernt hatte. Er konnte wegen seines Kriegszitterns keinen Teig mehr kneten. Aber den Jungen den Hintern zu versohlen oder den Mädchen Tatzen zu geben, wenn sie störten, das schaffte er. Brüllen konnte er auch hervorragend.

Den Rest übernahm Herr Wiefelspitz. Der Lehrer und der Hilfslehrer eilten im schnellen Wechsel vom ersten Stock ins Erdgeschoss und wieder zurück. Herr Wiefelspitz erklärte und verteilte Aufgaben. Herr Mangoldsheimer sorgte für Ruhe und verteilte Strafen.

Babett Rosch saß in der vierten und letzten Reihe im Klassenzimmer. Eigentlich gehörte sie da nicht hin.

In der letzten Reihe saßen die Kinder, die Wiefelspitz aufgegeben hatte oder die das ganze Dorf aufgegeben hatte wie Rosl Bößwanger.

Da Rosl Babetts beste Freundin war, saßen sie nebeneinander, obwohl sie beide keine schlechten Schülerinnen waren.

Evelin Grubers Platz war schräg vor Babett und Rosl, deshalb hatten sie einen guten Blick auf sie. In den ersten Tagen sahen sie sie fast ununterbrochen an.

Evelin hatte ein herzförmiges Gesicht, eine zierliche Stupsnase, große dunkle Augen, einen kleinen Mund, die Oberlippe war voller als die Unterlippe und schön geschwungen, was ihr einen Ausdruck stetiger Verwunderung verlieh. Sie blinzelte oft. Sie war kurzsichtig, und in ein paar Jahren würde sie eine Brille tragen, aber das wusste keiner, noch nicht einmal sie selbst.

Evelin meldete sich nie, doch wenn Herr Wiefelspitz sie aufrief, kannte sie immer die richtige Antwort. Achtundfünfzig mal sieben macht vierhundertsechs. Karussell schreibt man mit einem r, zwei s und zwei l. Der Ipf ist die höchste Erhebung in der Umgebung des Nördlingers Ries.

Sie sprach ganz leise, sodass Herr Wiefelspitz ihre Worte noch mal für alle wiederholen musste.

Sie war wunderschön angezogen. Ihr Rock raschelte beim Gehen, die Bluse hatte einen gestärkten Kragen. Ihre Schürze war blütenweiß und nicht schwarz oder grau oder gar mehrfach geflickt wie die von Rosl. Sie hatte drei verschiedene Paar Schuhe. Eines aus dunkelrotem, glänzendem Leder und mit silbernen Schnallen verziert, das gefiel Babett am besten.

An Evelins drittem Tag in der Dorfschule waren ihre langen dunkelbraunen Haare zu einem komplizierten Zopf geflochten, der lang über ihren Rücken fiel und mit einer glänzenden weißen Seidenschleife verziert war. Babett fragte sich den ganzen Vormittag lang, wer ihr die Haare so schön geflochten hatte. Ihre Mutter? Vielleicht hatte Evelin ja auch eine persönliche Zofe, die sich allein um Evelins Bedürfnisse kümmerte.

Babetts Haare wurden nur einmal in der Woche geflochten, am Samstag nach dem Baden.

Am nächsten Samstag fragte Babett ihre Mutter, ob sie dieses Mal auch einen Einzelzopf haben könnte. Die Roschin dachte eine Weile darüber nach, während sie mit dem Kamm so fest durch Babetts nasse Haare fuhr, dass es ziepte. Ein einzelner Zopf war unüblich, und unübliche Dinge waren für gewöhnlich unpraktisch oder sie missfielen dem Pfarrer.

Babetts Mutter konnte jedoch beim besten Willen nichts erkennen, was gegen einen einzelnen Zopf gesprochen hätte. Also teilte sie Babetts blondes Haar in drei dicke Stränge und flocht diese genauso straff und fest, wie sie es sonst mit zwei Zöpfen machte.

Babett spürte den nassen, schweren Zopf auf ihrem Rücken. Und spürte auch, wie die Frisur sie veränderte. Ihre Augen wurden dunkler und größer, ihre Oberlippe wölbte sich zu einem Ausdruck der Verwunderung. Sie wurde zu Evelin, genauso schön und zart.

Sie wartete, bis die Haare getrocknet waren, bevor sie einen Blick in den Spiegel am Waschtisch warf. Sie sah aus wie immer, das runde Gesicht, die roten Wangen, ihre Augen, die nicht blau oder grün waren, sondern irgendwas dazwischen. Nur eben mit einem Zopf anstatt zweien.

In der großen Pause gingen sie immer auf den Schulhof. Evelin holte ihr Brot aus einer silbernen Dose und aß es mit kleinen Bissen. Niemand wusste, was darauf war, Wurst oder Käse oder kalter Braten oder Gsälz.

Kauend sah Evelin den anderen Mädchen beim Seilspringen zu.

An Evelins siebtem Tag in der Dorfschule hielten Gerda Boy und die Hilfinger Maria aus der Sechsten das Seil. Sie schwangen es mit großen, gleichmäßigen Armbewegungen, die anderen Mädchen rannten hinein, und wenn das Seil heransauste, sprangen alle gleichzeitig nach oben.

»Willst du es auch mal probieren?«, rief Gerda Evelin zu.

Evelin kniff die Augen zusammen und blinzelte nervös. Es war offensichtlich, dass sie noch nie Seil gesprungen war, da hatten die anderen ihr mal was voraus. Aber sie hätte gerne mitgemacht, auch das sah man ihr an.

Evelin trat vom linken auf den rechten Fuß, dann legte sie das halb aufgegessene Brot zurück in die silberne Dose und nickte zaghaft, aber im selben Moment rief Ottilie: »Aber du darfst nur mitmachen, wenn du es auch kannst.«

»Halt doch dein dummes Maul, Ottil’!«, schrie Rosl sofort zurück. »Wir mussten es doch alle erst lernen!«

Babett wollte auch etwas sagen, sie wollte Evelin anbieten, dass sie zusammen springen konnten, denn wenn man zu zweit sprang, war es einfacher.

Doch Evelin hatte sich bereits umgedreht und war weggegangen.

Danach stand sie in der Pause neben dem Schultor. Sie holte ihr Brot aus der silbernen Dose und aß es in winzigen Bissen. Dabei schaute sie durchs Tor auf die Straße. Vielleicht hoffte sie darauf, dass jemand käme und sie abholte. Vielleicht überlegte sie, ob sie einfach wegrennen sollte. An der Kirche und am Friedhof vorbei, aus dem Dorf bis zum Herrenhaus auf dem Hügel. Dorthin, wo sie hingehörte.

Das waren die Dinge, die Babett über Evelin wusste: Sie hatte eine ältere Schwester und zwei große Brüder, die aus der ersten Ehe des Gutsherrn stammten. Evelins Schwester hieß Margaret und hatte im letzten Jahr geheiratet. Es hatte ein riesiges Fest auf dem Gruberhof gegeben, die Musik hatte man bis ins Dorf gehört.

Nachdem die erste Frau Gruber gestorben war, hatte der Gruber-Bauer die jetzige Frau Gruber geheiratet, die sehr viel jünger war als er.

Evelins Mutter war genauso schön wie Evelin. Man sah sie selten im Dorf, eigentlich nur, wenn die Grubers sonntags in die Dorfkirche kamen. Aber das geschah selten, weil sie die Messe für gewöhnlich in der kleinen Kapelle auf dem Gutshof feierten. Frau Gruber hatte ebenso glänzendes dunkelbraunes Haar wie Evelin, das zu einem eleganten Dutt zusammengesteckt war. Sie trug runde Hüte mit breiten Krempen und schwingende Röcke, die nur bis zu den Waden gingen. Im Winter Pelzmäntel und einen passenden Muff für die Hände. Frau Grubers Gesicht war immer ernst, sie schien von einem inneren Schmerz verzehrt zu werden, genau wie Evelin.

»Was sie wohl denkt?«, fragte Rosl. Babett und sie saßen auf der Bank unter der Kastanie und betrachteten Evelin, die am Schultor stand. »Das möchte man wirklich gerne wissen.«

»Das wird sie uns nie erzählen«, sagte Babett. Wenn ich nur ein bisschen wie sie wäre, dachte sie sehnsüchtig.

»Man muss sie nicht beneiden«, sagte Rosl, als hätte Babett den Gedanken laut ausgesprochen. »Sie ist womöglich todunglücklich, obwohl sie so reich ist.«

Sie ist auf eine so wundervolle Art todunglücklich, dachte Babett. So wie Rosl und ich es niemals sein könnten.

Evelin Gruber starrte durch das Schultor auf die Straße wie ein Gefangener aus seinem Zuchthausfenster.

»Das ist ja nicht zu ertragen«, sagte Rosl. Sie schob den Rest ihres Schmalzbrotes auf einmal in den Mund, stand auf und ging zu Evelin hinüber.

Babett hielt den Atem an. Was hatte Rosl vor?

Am Anfang passierte gar nichts. Rosl hatte den Mund voll und versuchte irgendwie, ihr Schmalzbrot runterzuwürgen. Und Evelin schien sie gar nicht zu bemerken, auf jeden Fall beachtete sie sie nicht. Sie hatte ihr Brot aufgegessen und holte einen Apfel aus der Schürzentasche.

Ein Apfel, im Mai! Man fragte sich wirklich, woher der kam. Auf dem Roschhof gab es jedenfalls keine Äpfel mehr, und wenn da noch welche gewesen wären, wären sie verschrumpelt und alt gewesen, aber nicht knackig und frisch wie der Apfel in Evelins Hand.

Rosls Mund war endlich leer. Und nun sagte sie etwas zu Evelin, das Babett leider nicht verstand. Evelins Antwort kam nach ein paar Sekunden, sie war ebenfalls nicht zu verstehen. Immerhin wandte Evelin sich dabei von der Straße ab und Rosl zu. Sie musste den Kopf heben, um Rosl ins Gesicht zu blicken.

Rosl Bößwanger war sehr groß. Obwohl sie noch keine zehn war, überragte sie alle Kinder in der unteren und viele in der oberen Klasse. Alles an ihr war dünn, die Arme, die Beine, selbst die Haare. Ihre Zöpfe sahen aus wie Rattenschwänze.

Jetzt sagte sie wieder was. Wenn Babett sie nur verstanden hätte!

Sie sah, wie Evelin nickte.

Rosl hob einen langen, dünnen Arm und zeigte durch das Tor.

Evelin lächelte. Ihre Zähne waren klein und strahlend weiß, es war das erste Mal, dass Babett sie sah.

Gerade als sie sich endlich entschloss, zu den beiden rüberzugehen, läutete die Glocke. Die Pause war zu Ende.

3

»Sie kommt bestimmt nicht«, sagte Babett. »Ich wusste gleich, dass sie nicht kommt.«

»Sie hat es aber versprochen«, sagte Rosl.

»Vielleicht darf sie nicht«, meinte Babett.

»Warum sollte sie nicht dürfen?«, fragte Rosl. »Glaubst du, sie muss arbeiten? Bestimmt nicht. Die haben doch für alles Dienstboten.«

»Ja, aber ihre Leute kennen uns doch gar nicht.« Babett stand auf und schaute über die Brombeerhecke auf den Feldweg, der die Wiesen und Felder zerteilte wie ein Schnitt. Man konnte bis zum Dorf gucken. Wenn Evelin unterwegs gewesen wäre, hätte man sie gesehen.

Dann warf sie einen Blick zum Himmel. Ihr Bruder Sepp sagte immer, dass er am Stand der Sonne die Uhrzeit ablesen könnte, aber wie das ging, wollte er ihr nicht verraten. Vermutlich gab er auch nur an und konnte es gar nicht. Auf jeden Fall war es nach vier, die Kirchenglocken hatten schon vor einiger Zeit geläutet.

Babetts Gänse hatten sich weit über die Wiese verstreut, einige von ihnen watschelten unten am Bach entlang, wo das Gras saftiger und grüner war. Solange sie die Tiere sehen konnte, war alles in Ordnung.

Rosels vier Gänse standen bei den beiden Geißen mitten auf der Wiese. Die sechs Tiere blieben immer beieinander wie eine merkwürdige Familie. Eigentlich hätte Rosl sie gar nicht hüten müssen. Bussarde oder Füchse wagten sich nicht an die Gänse heran, solange die Geißen in der Nähe waren. Aber verlassen konnte man sich natürlich nicht darauf.

Außerdem war Babett froh, dass Rosl die Gänse hüten musste, denn so konnten sie die Nachmittage zusammen verbringen.

Im Dorf hatte jedes Kind seine Pflicht.

Babetts Brüder Anton und Ludwig gingen dem Vater auf dem Feld zur Hand. Sepp war für die Hühner und Schweine zuständig. Maria, die fünfzehn war und die Schule im letzten Jahr beendet hatte, half der Mutter in Haus und Garten. Sie ersetzte die Ahne, die nicht mehr mit anpacken konnte, seit sie beim Heimtreiben der Kühe gestürzt war. Babett hütete die Gänse. Ihre kleine Schwester Afra passte auf Eugen auf, der zwei Jahre alt war und als Einziger noch keine Aufgabe hatte, außer dass er den Großen nicht zur Last fallen durfte.

Seit sie in der Schule waren, trieben Babett und Rosl die Gänse auf die Felder am Bach, und nach dem Angelusläuten ging es wieder zurück ins Dorf. Sie nahmen ihre Bücher und Hefte mit und machten draußen ihre Hausaufgaben. Aber die hatten sie heute schon erledigt.

»Sie kommt!«, rief Rosl, die hinter Babett getreten war, ohne dass diese es bemerkt hatte. »Dahinten kommt sie.« Sie streckte den langen Arm aus und deutete mit dem Zeigefinger auf die Häuser, und da war sie wirklich.

Evelin Gruber kam zu ihnen aufs Feld.

»Hallo, hier sind wir!«, schrie Rosl und winkte dabei mit beiden Armen.

Evelin zuckte erschrocken zusammen.

Babett versetzte Rosl einen Stoß mit dem Ellenbogen. Doch nicht so laut! Hoffentlich drehte Evelin auf den letzten Metern nicht noch um und lief wieder nach Hause.

Sie kam jedoch weiter auf sie zu. Sie trug heute die schwarzen Schuhe mit den kleinen Absätzen und hatte einen Strohhut auf dem Kopf.

Als sie Babett und Rosl endlich erreicht hatte, lächelte sie wieder, aber mit geschlossenen Lippen.

»Da bist du ja«, sagte Rosl. »Komm mit.« Sie marschierte zu dem Platz hinter der Hecke, auf dem sie und Babett gerade noch gesessen hatten. Evelin folgte ihr und blickte sich um, als ob sie nach einem Stuhl suchte.

»Das sind unsere Gänse.« Rosl wies mit einer großzügigen Armbewegung über die Wiese. »Die beiden Geißen gehören mir.«

Evelin nickte. Auf ihrer linken Schläfe glitzerten winzige Schweißtropfen wie Edelsteine. Sie rieb ihre Hände an ihrem Rock.

Babett fragte sich, ob Evelin überhaupt ihren Namen wusste. Sie waren so viele Kinder in der Klasse, und Evelin und sie hatten noch kein Wort miteinander gewechselt.

»Ich heiße Babett«, stellte sie sich vorsichtshalber vor.

»Ich weiß«, sagte Evelin.

Rosl wickelte das dünne Ende eines Zopfes um ihren dünnen Zeigefinger.

Die Gänse schnatterten leise, als machten sie sich über sie lustig.

»Was habt ihr denn da?«, fragte Evelin und deutete mit dem Kopf auf den Korb, in dem Dorle und Traudl lagen.

Zu Weihnachten hatte Babett eine Puppe bekommen. Die Ahne hatte sie aus einem vergilbten Bettlaken genäht und mit Lumpen gestopft. Dorle, wie Babett sie getauft hatte, hatte Haare aus rotbrauner Wolle auf dem Kopf. Das Gesicht war aufgestickt. Ein lachender Mund, eine spitze Nase, zwei Knöpfe als Augen.

Traudl war Dorles Puppenschwester. Die hatten Babett und Rosl zusammen genäht, denn Rosl wollte auch eine Puppe, aber sie hatte keine Ahne, die so was für sie gemacht hätte.

Traudl war ein bisschen kleiner als Dorle, und ihre Haut war hellbraun wie der Strumpf der Ahne, aus dem sie gemacht war. Sie hatte Haare aus rabenschwarzer Wolle und dieselben fröhlichen Gesichtszüge wie Dorle, dabei hatte die Ahne ihnen nämlich geholfen.

Traudl wurde von Rosl genauso geliebt wie Dorle von Babett. Dorle schlief in einer ausgepolsterten Schublade, Traudl schlief bei Rosl im Bett. Und damit der Franz Traudl nichts antun oder sie gar wegwerfen konnte, stopfte Rosl sie jeden Morgen in ihren Ranzen und nahm sie mit zur Schule. Während des Unterrichts musste Traudl in der Tasche bleiben, nur Babett wusste, dass sie dabei war.

Als es im Frühjahr wieder losging mit dem Gänsehüten, nahmen Babett und Rosl ihre Puppenkinder mit aufs Feld. Und dort begannen sie, ihnen neue Kleider zu machen.

Das mit dem Stoff war natürlich ein Problem. Bei den Bößwangers gab es nichts, das man hätte verwenden können. Und auch auf dem Roschhof wurden die Kleider von einem Kind zum anderen weitergegeben, und wenn etwas nicht mehr zu retten war, diente es als Putzlumpen.

Aber zum Glück gab es ja die Ahne, die selbst gerne nähte und stickte und stopfte, sodass es oft gar nicht mehr viel zu tun gab, wenn im Herbst die Näherin ins Haus kam. Die Ahne steckte Babett immer wieder Stoffreste zu und manchmal auch größere Stücke oder zerlumpte Kleider.

Babett nahm alles mit aufs Feld. Sie nähten Kittel, Blusen, Schürzen, Jacken, Mützen und sogar Unterhosen für ihre Puppen. Am Anfang wurde alles krumm und schief, deshalb trennten sie die ersten Kleider später wieder auf und nähten sie neu. Doch sie wurden immer geschickter, und wenn Babett die Sachen der Ahne zeigte, hatte die kaum noch etwas zu bemängeln.

Sobald sie ein Kleidungsstück fertig hatten, legten sie es in den Korb zu den anderen Sachen, und Babett nahm alles mit nach Hause. Bei den Bößwangers wusste man ja nie.

Dorle und Traudl lagen im Korb auf ihren Puppenkleidern und glotzten mit ihren Knopfaugen in den wolkenlosen Frühsommerhimmel. Babett war noch nie zuvor aufgefallen, wie schäbig die beiden aussahen.

»Das sind unsere Puppen«, sagte Rosl.

Als sie Traudl hochhob, tat sie es nicht so behutsam und zärtlich wie sonst. Sie packte die Puppe an einem Arm wie ein ungezogenes Kind. Dorle rutschte dabei vom Kleiderberg zu Boden, und Babett ließ sie liegen.

»Darf ich sie mal haben?«, fragte Evelin.

Sie betrachtete Traudl lange und gründlich. Auf dem hellbraunen Puppenbein war ein lang gezogener bräunlicher Fleck. Das grüne Kleid, dessen Rock Rosl mit einem Hohlsaum verziert hatte, war so verschossen, dass man das Blumenmuster kaum noch erkennen konnte, mit dem der Stoff einmal bedruckt gewesen war.

Evelin strich über das pechschwarze Wollhaar, das Rosl zu zwei Zöpfen geflochten hatte.

In ihrem Herrenhaus hatte sie bestimmt prächtiges Spielzeug. Puppen mit Porzellanköpfen und Schlafaugen, die kunstvolle Ballkleider trugen. Ein Puppenhaus und einen Puppenwagen mit richtigen Rädern.

»Und was ist in dem Korb?«, wollte Evelin jetzt wissen.

»Kleider«, sagte Rosl. »Wir haben alles selbst genäht.«

Evelin gab ihr Traudl zurück und nahm sich den Korb vor. Sie betrachtete jedes einzelne Kleidungsstück mit ernstem Gesicht. Ihre Finger fuhren prüfend über die Nähte und Falten, als wollte sie die Sachen kaufen.

»Das ist nichts Besonderes.« Babetts Stimme war heiser vor Aufregung.

»Ich möchte auch so eine Puppe haben«, sagte Evelin.

Babett und Rosl wechselten einen schnellen Blick. Evelin hatte so viele Dinge, die sie gern gehabt hätten, aber nun hatten sie etwas, das Evelin wollte. Babett wurde heiß vor Stolz und Freude.

Evelin wollte am nächsten Tag wieder aufs Feld kommen, und dann sollte sie ihre Puppe bekommen.

Zum Glück war Babett inzwischen so geschickt und flink im Nähen, dass sie den Puppenkörper am selben Abend nach dem Vesper zuschneiden und stopfen konnte.

Die Großen waren noch im Stall und auf dem Feld. Die Ahne saß mit Babett, Afra und Eugen in der Stube. Babett arbeitete an der Puppe, Afra spielte mit Eugen, die Großmutter stopfte.

Der Puppenkörper war gerade fertig, als die Mutter in die Stube kam und die Kinder ins Bett schickte. Die Ahne stickte der Puppe rasch noch das Gesicht auf, das konnte keiner so gut wie sie, und gab Babett auch zwei Knöpfe für die Augen mit.

Am nächsten Nachmittag auf dem Feld nähte Babett die Knöpfe an, Rosl schnitt derweil die Wolle für die Haare zurecht, denn die Puppe sollte nicht kahlköpfig bleiben. Babett knüpfte die Fäden auf dem Kopf fest. Danach flochten sie ihr einen dicken Zopf.

»Sie sieht Evelin ein bisschen ähnlich«, fand Rosl.

»Hoffentlich gefällt sie ihr«, sagte Babett.

Sie lehnten die neue Puppe neben Dorle und Traudl an einen Baumstamm. Evelins Puppe war wie Traudl aus einem hellbraunen Strumpf genäht und hatte dunkelbraune Haare. Die Wolle stammte von einem alten Pullover des Vaters, den die Ahne aufgeribbelt hatte, deshalb war sie schön gewellt. Die neue Puppe trug einen hellgelben Kittel von Dorle, den Babett mit einem roten Kreuzstichmuster verziert hatte.

Evelin war nirgends zu sehen.

»Gestern ist sie auch später gekommen«, sagte Babett.

»Wenn sie heute nicht kommt, nach der ganzen Mühe, dann werde ich aber bös’«, erklärte Rosl.

Ihr linkes Auge war von einem großen blauen Fleck umgeben. In den nächsten Tagen würde er sich erst lila, dann grünlich und schließlich gelb verfärben, das kannte Babett bereits. Das kannten alle. Ein blaues Auge war nichts Ungewöhnliches bei Rosl.

Rosls Vater war kurz nach ihrer Geburt gestorben. Die Mutter hatte den Hof danach einigermaßen über die Runden gebracht.

Doch dann hatte die Bößwangerin einen neuen Knecht eingestellt, mit dem sie sich zusammengetan hatte. Es war ein Skandal, die beiden waren nicht verheiratet und lebten doch wie Mann und Frau unter demselben Dach.

Franz hieß der Knecht. Er kommandierte Rosls große Brüder herum, als wäre er der Herr auf dem Hof. Die beiden ließen sich das nicht gefallen, und es gab ständig Streit. Das wütende Geschrei war im ganzen Dorf zu hören.

Erst schmiss der älteste Bruder hin und verschwand, ein halbes Jahr später war auch der zweite weg.

Die Bößwangerin schaute dabei zu und sagte nichts. Niemand wusste, warum sie den Franz nicht wenigstens heiratete. Ob er nicht wollte oder ob es an ihr lag.

Der Hof ging jedenfalls langsam in die Binsen.

Den spärlichen Gewinn, den der Bauernhof abwarf, trug der Franz ins Wirtshaus. Wenn er betrunken war, fing er an zu politisieren. »Die neue Republik verkauft uns alle für dumm!«, schrie er. »Die Sozis wollen uns das Land abnehmen!« Die Politiker steckten mit den Unternehmern unter einer Decke, einen Prügel her und kräftig draufschlagen, bis sich nichts mehr rührt, das wäre die Lösung. Er wollte den Kaiser wieder zurück. Oder einen richtigen Kerl wie den Ludendorff, der den Waschlappen Ebert zum Teufel jagte.

Wenn das Wirtshaus schloss, wankte der Franz nach Hause. Und dann kam man ihm besser nicht in die Quere. Alles, was sich ihm in den Weg stellte, kriegte was ab. Die Küchenstühle, die Katze, die Bößwangerin, die Rosl. Gestern Abend war es eben mal wieder so weit gewesen.

Mit ihrer liederlichen Art sei die Bößwangerin selbst schuld an ihrem Unglück, sagten die Leute. Wer sich auf ein solches Sündenleben einließ, wie sie es mit dem Franz trieb, musste sich nicht wundern. Aus der Tochter würde auch nichts werden, das wusste man jetzt schon.

Herr Wiefelspitz sah das auch so.

»Du hast nichts, kannst nichts und weißt nichts«, hatte er einmal zu der Rosl gesagt, als sie eine Rechenaufgabe nicht herausbekommen hatte.

Sobald die Worte ausgesprochen waren, hatten sie ihm auch schon leidgetan. Die Rosl war ja noch ein Kind und konnte nichts für ihr Elend, und diesem Franz, dem Haderlump, hätte er gerne eine verpasst, jedes Mal, wenn er ihn sah. Aber der Satz ließ sich nicht mehr zurücknehmen, und eine Entschuldigung kam natürlich nicht infrage.

Rosl reagierte auf die Bemerkung des Lehrers wie auf die Ohrfeigen vom Franz. Ihr Gesicht blieb starr und unbewegt, nur die Mundwinkel hoben sich zu einem spöttischen Lächeln. Ihre Zähne waren ein bisschen schief, der linke vordere Schneidezahn stand ein kleines Stück nach vorn.

Sie war fast so groß wie Herr Wiefelspitz. Wenn sie kleiner und niedlicher gewesen wäre, wäre es leichter für sie gewesen. Doch ihre Größe und dieses spöttische Lächeln brachten den Franz regelmäßig dazu, gleich noch einmal zuzuschlagen, und zwar härter.

Rosls Lächeln überzeugte Herrn Wiefelspitz davon, dass Rosl abgestumpft war und ihn gar nicht richtig gehört hatte.

Aber die Rosl hatte ihn gehört. Und sie vergaß nichts.

Auch heute tauchte Evelin auf dem Feld auf, als Babett und Rosl die Hoffnung fast aufgegeben hatten.

Babett hielt den Atem an, als Evelin ihre Puppe hochhob und ihr über den dicken braunen Zopf strich. Sie drehte sie einmal um und hielt sie dann kopfüber, vielleicht wollte sie sehen, ob die Füllung herausfiel oder ob die Puppe die Augen zumachte.

»Und?«, fragte Rosl.

»Gut«, sagte Evelin mit flacher Stimme. Sie guckte zu den anderen beiden Puppen und dann wieder auf ihre. Womöglich fand sie Dorles helle Haut doch besser oder Traudls rabenschwarze Haare. Babetts Herz klopfte fast zum Zerspringen.

»Du musst ihr einen Namen geben«, sagte Rosl.

Evelin musterte sie einen Moment lang gedankenverloren, dann nickte sie. »Wir werden sie taufen«, erklärte sie.

Rosl war der Pfarrer, Babett der Ministrant und Dorle und Traudl waren die Gemeinde.

Für die Zeremonie musste Evelin den Täufling umziehen. Leider fand sich in Dorles und Traudls umfassender Garderobe kein einziges weißes Kleid. Also zog sie der Puppe einen grauen Rock über und band ihr ihr Spitzentaschentuch um die Schultern.

Mit ihrem Kind auf dem Arm trat sie vor den Wassereimer, aus dem sonst die Ziegen tranken, der nun ein Taufbecken war und hinter dem Rosl und Babett Aufstellung genommen hatten. Traudl und Dorle lehnten an der Brombeerhecke und glotzten mit ihren Knopfaugen.

Rosl und Babett falteten die Hände und sprachen ein Vaterunser und ein Ave-Maria.

»Nun wollen wir dieses dein Kind taufen«, sagte Rosl daraufhin zu Evelin. »Bist du damit einverstanden? Dann antworte mit Amen.«

»Amen«, sagte Evelin.

Rosl schöpfte mit der hohlen Hand etwas Wasser aus dem Gänseeimer. »Ich taufe dich auf den Namen …« Sie unterbrach sich, weil ihr erst jetzt bewusst wurde, dass sie noch gar keinen Namen festgelegt hatten.

»Schosefin«, säuselte Evelin leise.

Was für ein wundervoller Name! Babetts Herz schlug schneller vor Bewunderung und Neid. Wieso war sie selbst nicht auf die Idee gekommen, ihrer Puppe einen besonderen Namen zu geben? Dorle, so hießen bestimmt zehn Kinder im Dorf. Traudl ebenfalls. Aber den Namen Schosefin hatte sie noch nie gehört. Das klang fast so schön wie Evelin.

»Schosefin«, wiederholte Rosl ungerührt und träufelte das Wasser auf die hellbraune Puppenstirn. »Benedictus magnus magnus. Halleluja. Incipt präceps canistula hosianna. Wir singen nun ein Lied.«

Rosl stimmte Großer Gott, wir loben dich an, und die anderen beiden fielen ein. Ihre Stimmen waren hell und klar und schön, besonders die von Rosl, die auch alle Strophen auswendig konnte.

Als das Lied beendet war, hob Rosl ihre Hände zum Himmel. »Maria Jesus Christus Amen!«, sagte sie feierlich und zeichnete ein Kreuz in die Luft. Und besiegelte damit ihren Bund.

Evelin brachte neue Stoffe mit aufs Feld. Keine Lumpen und Fetzen, sondern große Tuchstücke, die sich wunderbar zuschneiden ließen. Sie waren bedruckt und leuchteten himmelblau, rosenrot, sonnenblumengelb oder purpur wie die Messgewänder des Pfarrers. Babett, Rosl und Evelin nähten einen ganzen Stapel Kleider für Schosefin. Evelin lernte schnell, sie war beim Nähen bald so geschickt wie sie.

Alles, was an Stoffresten abfiel, verarbeiteten Babett und Rosl zu Kleidern für Dorle und Traudl. So entstanden Streifenröcke, die bunt leuchteten wie die Blumen am Bach, was früher oder später natürlich auch der Ahne auffiel.

»Woher habt ihr diese Stoffe?«, fragte sie Babett an einem Juniabend, als diese den Rock säumte.

»Evelin hat sie mitgebracht«, sagte Babett. »Sie spielt jetzt mit uns.«

»Die Gruber Evelin?«, fragte die Ahne.

»Sie geht doch in unsere Klasse«, sagte Babett. »Und am Nachmittag kommt sie zu uns aufs Feld.«

»Ist es denn schon so weit gekommen, dass sie nun Gänse hüten muss?«

Die Ahne sah sie überrascht an. Ihre blaugrünen Augen waren ein bisschen milchig. Als junges Mädchen hatte die Großmutter ausgesehen wie ihre Enkelin, und als alte Frau würde Babett ihr aufs Haar gleichen. Beide waren schön und wussten es nicht.

Babett schüttelte den Kopf. »Nein, Evelin hütet keine Gänse. Wir spielen nur Puppen. Und sie bringt Stoff.«

Die Ahne nickte. Ihre Kiefern mahlten. Nach der Kirche redete die Ahne mit den anderen alten Weibern im Dorf, Heierles halten, nannte sie das. Sie erfuhr Dinge und gab sie weiter. Sie wusste vieles, was Babett nicht wusste, aber wissen wollte. Es hatte jedoch keinen Sinn, sie danach zu fragen. Mit ihr tauschte die Ahne keine Geheimnisse aus.

Die Kiefer mahlten und mahlten, die Ahne kaute auf etwas herum und wusste nicht, ob sie es ausspucken oder runterschlucken sollte.

Babett nähte weiter an ihrem Saum. Es war besser, die Neugierde nicht zu deutlich zu zeigen.

»Halt dich von dem Gruber-Mädchen fern«, sagte die Ahne schließlich mit ihrer tiefen, ein bisschen brüchigen Stimme.

»Was?« Vor Verblüffung stach Babett sich in den Finger. »Wieso denn?«

»Die Gruber haben ihren Stand. Und wir haben den unseren. Es ist nicht gut, wenn sich die Dinge vermischen.«

»Aber wir spielen zusammen.« Babett schob ihren Finger in den Mund und schmeckte den metallischen Geschmack von Blut. »Wir sind Freundinnen.«

»Freundinnen«, sagte die Ahne leise. »Sie gibt euch ihre Reste.« Sie nahm Babett den bunten Puppenrock aus der Hand, in dem noch die Nadel steckte. Ihre Hand mit den knotigen Adern sah aus, als hätte man die Knochen mit dünnem Stoff überzogen und dann blau bestickt. Die Finger fuhren über die aneinandergenähten Stoffbahnen.

»Der Rock ist doch schön«, sagte Babett. »Die Rosl hat Traudl auch so einen genäht. Es sind unsere besten Puppenkleider.«

Die Ahne nickte. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken wie viele kleine Zahnräder. Wenn Babett sie nur hätte lesen können.

»Die Rosl und ich haben auch nicht denselben Stand«, fügte sie hinzu, während sie der Ahne den Puppenrock wieder abnahm. Ihr Finger blutete immer noch. Sie musste aufpassen, dass es nicht auf den Rock tropfte. Blutflecken gingen nie mehr raus.

Babett wusste, dass ihre Eltern nicht begeistert davon waren, dass sie so viel Zeit mit Rosl verbrachte. Ausgerechnet Rosl Bößwanger, es gab doch wirklich genug andere Mädchen im Dorf. Aber sie nahmen es hin, weil es nun einmal so war und weil Rosl ihnen leidtat.

»Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden«, sagte die Ahne, während sie Babett mit ihren schönen, ein wenig milchigen Augen ansah.

Was sollte das denn heißen?

»Ich spiele nicht aus Barmherzigkeit mit der Rosl«, sagte Babett.

Die Ahne lächelte.

»Warum hast du das vorhin gesagt?«, fragte Babett und schob den Finger wieder in den Mund. »Das mit Evelin. Dass es nun schon so weit mit ihr gekommen ist?«

»Wieso ist sie wohl in der Dorfschule?«, fragte die Ahne zurück.

Babett zuckte mit den Schultern und hoffte, dass die Ahne die Frage selbst beantworten würde, aber die schüttelte nur den Kopf, nahm ihre eigene Stopfarbeit wieder auf, vernähte den Faden und biss ihn dann ab.

»Hochmut kommt vor den Fall«, murmelte sie leise.

Babett und Rosl spielten weiterhin mit Evelin. Erst nähten sie Puppenkleider, dann richteten sie ein Haus für die Puppen ein. Sie bauten ihnen Betten aus Ästen, die sie zusammenbanden. Aus einer Schachtel wurde ein Herd. Ein kleines Holzscheit war die Bank, ein größeres der Tisch. Weil sie mit den Gänsen immer nur ein paar Tage lang an einem Platz waren und dann auf ein anderes Feld weiterzogen, mussten sie abends den gesamten Hausrat einpacken und mitnehmen.

Manchmal spielten sie auch mit anderen Kindern. Magda, August, Walzhauers Agnes, Ottilie, Xaver und die beiden Marias mussten ebenfalls Gänse hüten. Wenn die Wiese groß genug war, trieben die Kinder die Tiere zusammen und setzten sich in einen Kreis. Auch Sepp kam dazu, sobald er mit der Stallarbeit fertig war. Babett hatte den Verdacht, dass er vor allem wegen Evelin kam, er guckte sie immer so an. Als sie ihn darauf ansprach, schüttelte er empört den Kopf.

Evelin mochte Sepp auch, da war Babett sich genauso sicher. Er war hübsch und schon mit zwölf groß und kräftig. Babett träumte davon, dass die beiden sich ineinander verliebten. Dann gäbe es wieder eine Hochzeit auf dem Gruberhof, mit Blaskapelle und herrlichem Essen und Tanz bis in den Morgen. Und diesmal wäre Babett als Brautjungfer dabei.

Auf dem Schulhof stand Evelin nicht mehr am Rand, sondern sprang mit den anderen Seil oder spielte mit ihnen Himmel und Hölle.

Aber am schönsten war es immer noch, wenn sie zu dritt waren. Babett, Rosl und Evelin.

4

Frankfurt, 1994

Der Hertie auf der Zeil war nur mit Mühe zu erkennen. Die Fassade war eingerüstet, Metallpfosten, Holzplanken und Plastikplanen verhüllten die graue Front mit den waagerechten Lamellen. Die Renovierung würde ein Jahr dauern und das Haus nicht schöner machen. Innen sollte sich allerdings einiges verändern, das hatte Ella in der Zeitung gelesen. Mehrere unrentable Abteilungen würden geschlossen werden, neue programmatische Schwerpunkte sollten entstehen, um die Marke Hertie in Richtung Zukunft zu transportieren.

Die Marke in Richtung Zukunft transportieren. Ella schnaubte leise, während sie den provisorischen Holzsteg betrat, der zum Eingang des Kaufhauses führte. Selbst ihre Gedanken klangen bereits wie ein Werbetext. Das mit der Marke Hertie war ohnehin Quatsch, die gesamte Warenhauskette war vor Kurzem an Karstadt verkauft worden. Oder war es Kaufhof? Auf jeden Fall hatte der Name Hertie keine Zukunft.

Ella zog den Kopf ein, um einer tief hängenden Plastikplane auszuweichen, die sich von einer Holzleiste gelöst hatte. Mein ganzes Leben ist eine Baustelle, dachte sie, und auch das klang wie ein Satz aus einem Werbetext.

Im Erdgeschoss des Warenhauses war die Parfümabteilung. Daneben waren früher Schreibwaren verkauft worden, jetzt wurde die Abteilung umgebaut, deshalb war dort alles leer. Ella strebte mit großen Schritten zur Rolltreppe.

»Mal schnuppern?«, fragte eine Frau mit blondierten Haaren und einem geschminkten Lächeln im Gesicht. Sie besprühte eine kleine Karte aus einem Parfümflakon, wedelte sie durch die Luft und streckte sie Ella dann hin. »Idiot.«

»Nein, danke.« Hatte die Frau wirklich Idiot gesagt? War das der Name des Parfüms? Egoïste, Poison, Arrogance. Jetzt also Idiot. Vielleicht hatte Ella sich aber auch verhört. Sie war inzwischen an der Rolltreppe. Das Restaurant lag in der vierten Etage, dort waren sie und ihre Mutter verabredet.

Es gab so viele nette Läden in der Stadt. Vor einem halben Jahr hatte in Ellas und Matthias’ Viertel ein neuer Italiener eröffnet – täglich drei Gerichte zur Auswahl, alle frisch zubereitet. Ellas Vorschlag, sich dort zu treffen, hatte Lisbeth sofort abgewehrt. Im Hertie sei es doch praktisch, hatte sie gesagt. Da kriegt man alles. Auch Nudeln.

Jedes Mal, wenn sie und Robert in der Innenstadt waren, gingen sie hier essen.

Und man konnte in der Hertie-Tiefgarage parken. Die Parkgebühren wurden an der Kasse zurückerstattet. Wenn das kein Argument war.

 

Lisbeth wartete schon auf Ella. Sie saß an einem der quadratischen Tische, die von Sitzbänken mit rotem Kunstlederbezug umgeben waren. Über jedem Tisch hing eine quadratische Leuchte, die gleißend helles Neonlicht verbreitete. Die schmalen Fenster waren wegen der Renovierung zugehängt.

Das Ganze wirkte wie eine Mischung aus Kirmeskarussell und Raumschiff Enterprise.

Als sie Ella erblickte, stand Lisbeth auf und kam auf sie zu. Sie war eine kleine Frau mit einem runden Gesicht und kurz geschnittenen Locken, die sie dunkelbraun färbte. Nicht häufig genug, der hellgraue Ansatz war nicht zu übersehen.

Sie begrüßten sich mit einer etwas steifen Umarmung. Zärtlichkeiten, Liebkosungen und Gefühle, für diese Dinge war in ihrer Familie der Vater zuständig, Lisbeth blieb lieber auf Abstand.

»Hier ist vielleicht was los«, sagte Ellas Mutter, obwohl außer ihnen nur acht oder neun Leute im Speisesaal waren. Alle im Rentenalter. »Du glaubst es nicht, wenn du das hörst.«

»Was denn?«, fragte Ella.

»Wir holen uns erst mal was zu essen«, sagte Lisbeth.

 

Vor der Essensausgabe griffen sich beide ein Plastiktablett.

»Ich nehme die Bratkartoffeln und ein Schnitzel«, erklärte Lisbeth, während sie sich ein Glas aus der Ablage griff und am Getränkeautomaten ein Glas Fanta zapfte. Man konnte kostenlos nachfüllen, ein weiteres Argument für Hertie. »Und du?«

»Nur einen Salat. Ich hab gerade erst gefrühstückt.« Außerdem war Ella schlecht, nicht wegen der Schwangerschaft, die sich überhaupt nicht bemerkbar machte, sondern wegen ihrer Anspannung. Was wollte Lisbeth ihr sagen? Warum hatte sie Papa nicht mitgebracht? Ella konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals allein mit ihrer Mutter essen gegangen war.

Dann saßen sie in einer der roten Sofaecken. Ella stocherte in ihrem Salat herum. Karotten, Tomaten, Mais, grüner Salat. Die weiße Cocktailsoße, die sie darübergeschüttet hatte, glänzte im künstlichen Licht wie frische Wandfarbe.

Lisbeth schnitt ihr Fleisch in winzige Stücke.

»Schmeckt der Salat?«, fragte sie, dabei hatte Ella noch keinen Bissen genommen. Sie nickte trotzdem.

Bis jetzt hatte sie noch nichts von ihrer Schwangerschaft erzählt. Es war der Trumpf, den sie für sich zurückhielt. Wenn das Gespräch eine gar zu düstere oder bedrohliche Richtung nahm, würde sie ihn ausspielen.

»Tja, wer weiß, ob ich heute nicht zum letzten Mal hier bin«, sagte Lisbeth, während sie mit der Gabel eine Bratkartoffel zerdrückte.

Ellas Herzschlag beschleunigte sich. Jetzt ging es los. Ich habe Krebs, Robert verlässt mich, wir haben unser komplettes Geld verloren und müssen das Haus verkaufen.

»Wieso?«, fragte sie, obwohl sie es eigentlich gar nicht wissen wollte.

»Die machen die Stoffabteilung zu«, sagte Lisbeth. »Stell dir das mal vor! Jetzt gibt es in ganz Frankfurt keinen Ort mehr, wo man einigermaßen preiswerten Stoff kaufen kann. Das ist doch zum Heulen.«

Das war alles? Die Stoffabteilung? Für Lisbeth war es natürlich ein Schlag, sie kaufte den Großteil ihrer Materialien hier ein.

Seit Ella denken konnte, nähte ihre Mutter Quilts.

Ihre ersten Patchworkdecken hatte sie noch aus alten Klamotten und Stoffresten gefertigt. Sie hatte die Stoffe in gleich große Quadrate geschnitten und Kante auf Kante zusammengenäht. Doch inzwischen hatte sie die Technik perfektioniert. Ihre Muster waren immer aufwendiger geworden, die Formen komplizierter, die Designs anspruchsvoller. Sie kombinierte unterschiedliche Materialien, Plüsch mit Leinen, Chintz mit Wollbouclé, Loden und Satin. Und sie nähte längst nicht mehr nur Quadrate aneinander. Sie malte mit ihrer Nähmaschine leuchtend bunte Blumen, Sterne, Spiralen, sogar Tiere und Fabelwesen erschienen auf ihren Decken.

Im Laufe der Zeit waren an die hundert Patchworkarbeiten entstanden, und natürlich behielt Lisbeth sie nicht alle selbst. Zuerst hatte sie die Quilts an Verwandte und Freunde verschenkt. Vor einigen Jahren hatte sie dann begonnen, ihre Werke zu verkaufen. Die Leute rissen sie ihr förmlich aus den Händen. Lisbeths Warteliste war lang, von der Bestellung eines Quilts bis zu seiner Lieferung dauerte es inzwischen fünf oder sechs Jahre. Oder vielleicht auch sieben – Ella war gar nicht mehr genau auf dem Laufenden.

Einträglich war das Geschäft trotzdem nicht. Lisbeth arbeitete wochen-, manchmal auch monatelang an einer Decke und verkaufte sie dann für ein paar Hundert Mark. Vermutlich hätte sie ihre Preise bedenkenlos verdoppeln oder vervierfachen können. Aber Geld hatte sie noch nie besonders interessiert.

Ella und Matthias hatten einen Quilt von ihr bekommen, als sie vor knapp zwei Jahren in ihre erste gemeinsame Wohnung eingezogen waren. Er war viel zu kostbar, um ihn als Überdecke zu benutzen, deshalb hatten sie ihn über dem Sofa aufgehängt. Ella liebte die leuchtenden Farben, Matthias war das Ganze zu grell, das wusste sie, obwohl er es niemals gesagt hatte.

Lisbeth verwendete noch immer alte Kleider und Stoffreste für ihre Arbeit, aber sie brauchte auch neuen Stoff. Deshalb fuhren sie und Robert alle paar Monate zum Hertie. Sie gingen zuerst essen, dann verschwand Lisbeth in der Stoffabteilung, und Robert kaufte in der Stadt CDs oder Bücher und trank Kaffee, bis Lisbeth fertig war.