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Der Weg von Tamara Maria Schikow, genannt Tammy, ist von Anfang an steinig, aber als ihre Tochter Helen geboren wird, scheint sich alles zum Besseren zu wenden. Für mehr als ein Jahrzehnt finden Tammy und Helen ein Zuhause in einer Gärtnerei in Bochum. Doch dieses Glück kann nicht ewig währen. Plötzlich verschwindet Helen spurlos. Tammy begibt sich auf eine lange Reise, um ihre Tochter zu finden, gegen alle Widerstände.
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Seitenzahl: 682
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Karsten Klein-Ihrler wurde 1966 in Recklinghausen geboren, lebt aber seit seinem Studium an der Ruhr Universität in Bochum. Nach einigen freien Tätigkeiten beim Grillo Theater in Essen und dem Bochumer Lokalradio, arbeitet er mittlerweile seit über 20 Jahren bei einem großen Logistikunternehmen. Er ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn. Das Schreiben hat ihn seit seiner Jugend immer begleitet. Neben einem Theaterstück, wurden bereits einige Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht.
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Epilog
Wenn man Tammy zu ihrer Geburtsstadt befragt hätte, dann wäre das ihre Antwort gewesen:
Ich weiß nicht viel über Recklinghausen, es war einfach da, als ich auf die Welt kam. Da gab es an einem Feiertag jedes Jahr ein großes Fest mit Rednern, Musik und Bratwurst. Und Festspiele, ja, mit ganz viel Theater. Ich war nie im Theater, aber wir hatten einen Fernseher. Zechen gab es auch, da hat Papa ja gearbeitet. Recklinghausen war gar nicht grau. Nur die Menschen waren grau, die das immer über das Ruhrgebiet gesagt haben.
Tammy hätte den Kopf etwas schief gehalten bei dieser Antwort und ihr Blick wäre in keine bestimmte Richtung gegangen. Ihre Worte wären sofort in Vergessenheit geraten, nur ihr geistesabwesender Gesichtsausdruck hätte sich in der Erinnerung festgesetzt.
Wenn man dort als einziges Kind der Spätaussiedler Olga und Watzlaw Schikow geboren wurde, dann war Recklinghausen schon so etwas wie der Nabel einer Welt. 1983 gab es dort noch Zechen und Bergbau. Ganze Straßenzüge waren mit Familien bewohnt, deren Väter auf der Zeche beschäftigt waren. Auf’m Pütt malochen hieß das in der Sprache des Ruhrgebiets. Auch Watzlaw Schikow war im Bergbau beschäftigt. Er war ein kräftiger Mann mit einem verhängnisvollen Hang zu Bier und Schnaps. Ein Säufer, der aber seinen Alkoholismus nicht an Frau und Kind auslebte. Auch funktionierte er in der Arbeitswelt weiterhin. Meistens saß er zu Hause in seinem Fernsehsessel, trank und lächelte, wenn seine Frau ihm ein Brot hinstellte. »Du musst etwas dazu essen«, sagte sie dann immer mit ihrem breiten russischen Akzent. Ein Brot mit Krakauer belegt. Familie Schikow wohnte in einem dieser Vierfamilienhäuser, die wie große Bauklötze etwas versetzt standen. Durch Wiesen mit eingezäunten Sandkisten getrennt. Alle Häuser sahen gleich aus, alle Familien lebten vom Bergbau, der aber schon auf der Intensivstation einer Kosten-Nutzung-Rechnung lag. Politiker nannten das Strukturwandel. Es war nur Gier, nichts weiter sonst.
Davon wusste Tamara Maria Schikow nichts, als sie am siebten Tag im August 1983 das Licht dieser Welt erblickte. Ein eher schmächtiges Kind, aber vollständig und vollkommen gesund. Ein schmales Gesicht mit der Königin aller Himmelfahrtsnasen mittendrin und braunen Augen, die der Welt entgegen blickten.
»Du musst nicht immer gleich heulen«, sagte ihre Mutter oft im Laufe der Jahre, wenn sie Suppe auf einen Teller schöpfte und die kleine Rotznase bereits am Tisch saß.
»Alles nicht so schlimm«, nannte ihr Vater das, wenn die Tochter mit aufgeschürftem Knie nach Hause kam. Dieser hätte sicherlich lieber einen Jungen gehabt, aber alle weiteren Zeugungsversuche versickerten kläglich. Vielleicht war es das eine Glas Bier zu viel, das nicht nur weiteren Nachwuchs verhinderte, sondern ihn zwei Tage vor Tamaras Einschulung im Sessel für immer einschlafen ließ.
Es gab nie eine richtige Einschulung für das Mädchen. Auch nachträglich gab es keine Schultüte mehr mit den besten Süßigkeiten der Welt. Daran erinnerte sie sich genau, weil sie sich darauf gefreut hatte. Aber auch an die schreckliche Beerdigung ihres Vaters, die sich tief in ihr Gedächtnis einbrannte. Als sie am geöffneten Grab stand, ein schwarzes Kleid aus einem kratzigen Stoff um den schmalen Körper, warf ihre schniefende Mutter mit einem Schäufelchen Erde auf den Sarg. Einige Männer vom Bergwerkschor stimmten das Steigerlied an. Sie drückte der kleinen Tamara die Schaufel in die Hand.
»Nein, Mama, nein!« Das Mädchen wiederholte es immer wieder. Mutter zerrte an ihrem Arm und griff nach ihrer Hand mit der Schaufel. Sie wollte ihre Hand führen und sie zwingen, endlich die Erde in die Grube zu werfen. Das machte man auf Beerdigungen so. Aus lauter Respekt beschmiss man den Verstorbenen mit Dreck. Tamara konnte das nicht. Niemals würde sie Papa Erde ins Gesicht werfen. Er lag dort in der Holzkiste und blickte vielleicht hinauf zu ihr. Es tat weh, wenn man etwas in die Augen bekam. Sie hatte schon Sand ins Gesicht bekommen, wenn sie in dem Sandkasten hinter dem Haus gespielt hatte. Gisela Peters hatte ihr mit beiden Händen Sand ins Gesicht geworfen. Andere hatten gelacht und ihr zugerufen, dass sie eine von diesen Polaken war. Weder Tamara noch Gisela Peters noch die anderen wussten, dass Familie Schikow eigentlich Russlanddeutsche waren. Aber den Begriff Polaken kannten alle. Es war nicht geografisch gemeint, sondern nur beleidigend. Mama hatte ihr den Sand aus den brennenden Augen waschen müssen.
»Musst nicht immer gleich heulen.« Daran erinnerte sie sich, als sie am Grab ihres Vaters stand und ihre Mama sie zwang, ihm Dreck in die Augen zu werfen. Sie hörte ihren Papa dort unten in der Kiste schreien. Er war nicht tot, er lag dort unten im Dreck. Sie rang nach Worten, doch es wurde nur ein Gestammel, als Mamas Hand sie nochmals zwang Dreck hinunter zu werfen. Tamara schrie nun fürchterlich. Sie konnte nicht mehr aufhören. Sie wusste, wie es in den Augen brannte. Ihr Geschrei wurde zuerst für Trauer gehalten. Dann für Hysterie. Da es nicht endete, wurde es recht schnell für die Trauernden eine Belästigung. Die Schwester ihres Vaters, die zum Glück nur jedes Jahr zu Weihnachten zu Besuch kam, fühlte diese Belästigung besonders stark. Da schrie dieses dumme Kind in die Stille hinein. Es war keine Szene aus einem Film, in dem der Hauptdarsteller einer schreienden Frau ins Gesicht schlug, um sie zurückzuholen in die Realität. Es war nackte Wut über dieses schreckliche Geschrei. Es war eine Bestrafung. Nichts weiter. Sie hatte dieses dumme Kind ihres Bruders noch nie besonders leiden können. Ihr Bruder hätte einen strammen Jungen verdient gehabt, nicht dieses dürre Mädchen mit dem ewig gleichen dämlichen Gesichtsausdruck. Immerhin hatte er schon früh das Haus verlassen und mit dem Vater gebrochen. Ihr war das nicht vergönnt gewesen. Jetzt noch dieses Geschrei am Grab. Das gehörte sich einfach nicht.
Tante Katharina schlug Tamara mit aller Kraft ins Gesicht. Zumindest war dann Ruhe, denn der Schock über diesen klatschenden Schlag, der die Wange nicht nur in ein brennendes Feuer tauchte, sondern sie auch fast augenblicklich anschwellen ließ, beendete dieses Geschrei, das eigentlich der Ausdruck vom Schmerz ihres Vaters gewesen war.
»Das wurde auch Zeit«, seufzte Pfarrer Birkenbrink leise und blickte zum Himmel hinauf. Seine Religion verbot ihm diese Züchtigung, aber manchmal schickte der Herrgott eine helfende Hand. Amen.
Tamara hing immer noch an der Hand ihrer Mutter. Das war auch gut so, denn der Schlag hätte sie sonst von den Beinen gerissen. Ihre Tränen waren nun still. So still wie die Fortsetzung der Trauerfeier.
Nach der Beerdigung ging es in ein nahegelegenes Gasthaus. Es gab Kaffee, Streuselkuchen und belegte Brötchen. Erzählungen über Watzlaw Schikow, den alle gern gehabt hatten. Einige sprachen mit vollen Mündern. Tamara saß neben ihrer Mutter, die ihre großporige Nase dauernd in ein Taschentuch vergrub. Auf dem Weg zum Gasthaus hatte sie ihre Tochter nur ein einziges Mal angesehen. Ein Blick aus geröteten Augen. Nun blickte sie andere an, sprach mit ihnen über ihren Watzlaw. Tamara überlegte, ob sie das kühle Wasserglas an ihre brennende Wange halten durfte. Selbst die Tränen brannten auf dieser Seite ihres Gesichts.
Es dauerte so lange, bis alle Kuchen und alle Brötchen gegessen waren. Eine Runde Schnaps auf den guten Watzlaw.
Sie haben Papa Dreck ins Gesicht geworfen, dachte Tamara immer wieder und wischte sich vorsichtig Tränen von der geschwollenen Wange. Es tat so doll weh. Sie sah einen Ritter vor sich, der durch den Raum ritt. So einen hatte es neulich im Fernsehen gegeben. Aber ihre Gedanken konnten mit dem Ritter nichts anfangen. Was sollte so ein Mann tun, der in einer Art Blechbüchse steckte? Ob er wenigstens ein Taschentuch für sie hätte? Tamara hielt ihre brennende, geschwollene Wange kaum noch aus. An der Hand ihrer Mutter verließ sie das Gasthaus. Am liebsten wäre sie davongelaufen, denn dort stand Tante Katharina. Sie hatte einen Wagen. Mama hatte Fahrscheine für den Bus.
»Katharina!«, rief ihre Mutter und steuerte mit energischen Schritten auf die Schwester ihres Bruders zu.
Tamara musste Schritt halten, wurde von der Hand der Mutter gezogen. Ob sie auch ihre andere Wange hinhalten musste? Das hatte mal eine Frau im Kindergarten aus einem Buch vorgelesen. Sie hatte den Namen des Buches vergessen. Sie vergaß viel, aber darüber machte sie sich keine Gedanken. Sie musste bestimmt jetzt die andere Wange hinhalten. Darüber machte sie sich natürlich schon Sorgen.
»Katharina«, rief ihre Mutter nun erneut.
Tamara war sich sicher, dass ihre andere Wange gleich einen gewaltigen Schlag abbekommen würde.
»Oh, Olga«, sagte Tante Katharina und kam auf ihre Schwägerin zu.
Tamara wusste, dass sie nicht schreien durfte. Auch wenn es wehtun würde. Sie wandte ihrer Tante die gesunde Wange entgegen, als ihre Mutter stehen blieb. Tamara schrie nicht, als der Schlag kam. Ihr Mund stand leicht offen, die dunklen Augen blickten knapp an der Realität vorbei. Für diesen Gesichtsausdruck warfen andere ihr Sand ins Gesicht oder bezeichneten sie als eine von diesen Polaken. Tamara vergaß sehr viel von dem, was Erwachsene Bildung nannten, aber diesen einen Schlag würde sie nie vergessen. Wie auch nicht die Worte ihrer Mutter nach diesem Schlag.
»Niemand schlägt meine Tochter! Ich schlage sie nicht! Nicht mal der liebe Gott im Himmel schlägt mein Kind! Und du auch nicht! Niemals!« Die Stimme ihrer Mutter wirkte mit ihrem schweren Akzent noch härter und lauter als ein Presslufthammer.
Tante Katharina wich zurück und hielt sich die Wange, auf der man sämtliche Finger der Mutter als roten Abdruck erkennen konnte. Tamara ging weiter an der Hand ihrer Mutter, sie lächelte. Tante Katharina blieb zurück und verschwand, als sie um die Ecke bogen.
Es fiel kein Wort, bis sie zu Hause waren. Dort saß Tamara auf der Arbeitsplatte in der Küche. Ihre Beine baumelten herab. Ihre Mutter öffnete das Gefrierfach des Kühlschranks und holte die Plastikform mit den Eiswürfeln heraus. Sie füllte einige in einen Gefrierbeutel, knotete ihn zu und wickelte ein Trockentuch darum. Sie drückte es in die Hand ihrer Tochter und führte beides an die geschwollene Wange.
»Ich will kein Dreck auf Papa werfen«, brach es nun aus Tamara heraus, gefolgt von weiteren Tränen.
»Ich weiß. Halt das Eis an die Wange.« Die Kälte der Eiswürfel war so schön. Ihre Mutter kochte Kakao. Tamara hatte gelernt, dass man leise zu trauern hatte, selbst wenn man Papa Dreck in die Augen warf.
Ernst Heimatshagen war sechs Jahre alt und weinte recht jämmerlich, als er dieses Mädchen zum ersten Mal sah. Eigentlich sah es ihn. Zumindest erschien ihm dies so. Das Mädchen war dünn, hatte kurze, ausgefranste Haare und einen Gesichtsausdruck wie der behinderte Sohn von Onkel Hubert aus Castrop Rauxel. Sie war etwas größer als er. Ob das daran lag, dass sie so dünn war? Wenn man keinen Bauch hatte, schoss man in die Länge. Sie trug rote Sandalen, Kniestrümpfe, einen hellen Rock und dazu eine blaue Bluse. Ihr Tornister wirkte riesig auf ihrem schmalen Rücken. Das Mädchen war erst an ihm vorbeigegangen. Nach einigen Metern war sie dann doch stehen geblieben und zurückgekommen. Sie stand fast direkt vor ihm und blickte ihn mit ihren komischen Augen an. Er war sich nicht mal sicher, ob sie ihn wirklich ansah oder doch nur das nächste Straßenschild.
»Was’n los?«, fragte sie mit einer Stimme, die leicht eierte wie ein Plattenspieler, bei dem die Abspielgeschwindigkeit nicht mehr stimmte.
Ernst Heimatshagen wischte sich hastig seine Krokodilstränen aus dem Gesicht. Die musste ja nicht sehen, wie er hier rumheulte. Es war erst sein siebter Tag in der neuen Schule, er wollte nicht gleich als Heulsuse gelten. Ihre Frage beantwortete er nicht. Hätte er diesem Mädchen sagen sollen, dass er vor vier Wochen in diese Stadt gezogen war, weil sein Vater hier Arbeit gefunden hatte. Dass er hier nicht einen einzigen Freund hatte und die neue Wohnung nicht leiden konnte. Er konnte diese Stadt nicht leiden. Er konnte die Straße, in der er nun wohnte, nicht leiden. Er konnte seine Eltern nicht mehr leiden. Er konnte die neue Schule nicht leiden. Die Einschulung war noch ganz nett gewesen. Er hatte ein Comic in seiner Schultüte gehabt und ganz viele Süßigkeiten. Aber schon am zweiten Tag war die Schule doof gewesen. Er hatte keine Freunde mehr, er war völlig allein in dieser Stadt.
»Sieh mal, wie praktisch wir hier wohnen, Schatz. Die Schule ist gleich um die Ecke. Da kannst du allein hingehen mit den anderen«, hatte seine Mutter ihm lächelnd erzählt.
»Welche anderen?«
»Deine neuen Freunde.«
Es gab keine neuen Freunde. Wahrscheinlich würde er nie wieder Freunde haben. Diese neue fremde Stadt würde ihn auffressen und für immer irgendwo in ihrem Magen einsperren.
Sollte er das diesem Mädchen sagen?
Die stand immer noch vor ihm und blickte ihn an oder das Straßenschild an der Ecke. Er war sich da immer noch nicht sicher.
Was hätte er ihr sagen sollen? Dass er neu war in dieser Stadt, auf der Schule? Dass er Angst hatte von der Stadt gefressen zu werden? Dass er Angst hatte vor einem neuen Leben? Dass er nie hierher gewollt hatte?
»Die Schule da?«, fragte das Mädchen und deutete mit ausgestrecktem Arm in die ungefähre Richtung, in der die Schule lag.
Nochmal wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht. Das Mädchen ergriff seine Hand. Sogar ihre Finger verschränkten sich mit seinen.
»Gehen wir mal los«, sagte sie, löste ihre dunklen Augen von dem Verkehrsschild oder auch seinem Gesicht und bewegte sich.
Ernst Heimatshagen ging Hand in Hand mit diesem Mädchen zur Schule. Vor der Schule zog er seine Hand weg und lief schnell in das Gebäude.
Es war nicht unangenehm gewesen von diesem Mädchen an der Hand gehalten zu werden. Aber das musste ja auch niemand sehen, dass er wie ein Baby noch an der Hand ging. Auf dem kurzen Weg zur Schule hatten sie nicht miteinander gesprochen.
In der Pause aß er sein Brot auf dem Schulhof und hielt nach dem Mädchen Ausschau. Sie saß auf der obersten Treppe, die ins Gebäude führte und aß ebenfalls ein Brot. Da er nichts Besseres zu tun hatte, beobachtete er sie. Das Mädchen brauchte viel länger für ihr Brot als er selbst. Sie aß fürchterlich langsam. Ernst fragte sich, in welche Klasse sie wohl ging.
Drei Jungen tauchten am Ende der Treppe auf, zeigten mit den Fingern auf sie und lachten dann. Was sie ihr da zuriefen, konnte er nicht verstehen. Aber er sah, dass sie nicht gerade lächelte, als die Jungen sich wieder abwandten.
Nach der Schule hatte er dieses Mädchen bereits vergessen, denn zwei Jungen aus seiner Klasse hatten ihn gefragt, ob er am Nachmittag zum Bolzplatz kommen würde.
Seine Mutter lächelte erleichtert, als er ihr das erzählte. Ernst Heimatshagen zog am Nachmittag mit seinem Lederball zum Bolzplatz, der direkt neben der Schule lag und spielte mit den beiden Jungen Fußball.
Am nächsten Tag verließ er in viel besserer Stimmung das Haus. Als er auf den Bürgersteig trat, blieb er erschrocken stehen. Das Mädchen blickte ihn an und lächelte etwas schief.
»Gehst du mit mir zur Schule?«, fragte sie und streckte ihre Hand aus.
Es war ein noch komischeres Gefühl, an der Hand des Mädchens zur Schule zu gehen, als am Vortag. Er brachte es aber auch nicht fertig, diese Hand abzulehnen. Aber vor der Schule zog er sie wieder ganz schnell zurück. Auch in ganz jungen Jahren hatte man schon einen Ruf zu verlieren.
Von nun an stand das Mädchen jeden Morgen auf dem Bürgersteig vor der Haustür und wartete auf ihn. Bald wusste er, dass sie Tamara hieß und in die zweite Klasse ging. Sie wohnte ein paar Straßen weiter in diesen Zechenhäusern. Er nahm ihre Hand, konnte das einfach nicht verweigern. Entzog sie ihr aber bald schon auf halber Strecke. Sie redeten immer nur ein paar Sätze miteinander. Ihre Antworten waren oft etwas komisch. Wenn man sie nach ihrem Vater fragte, dann sagte sie zum Beispiel solche Sachen: »Ich musste ihm Dreck ins Gesicht werfen.« Oder solchen Babykram, dass er auf einer Wolke im Himmel säße. Ihre Stimme eierte immer noch ein bisschen. Auch trug sie komische Sachen, die gar nicht zueinander passten.
»Mama macht die selbst.«
Da sollte ihre Mama aber besser noch etwas üben. Auch bei dem Haarschnitt.
Nur wenn Tamara lächelte, dann sah sie sogar hübsch aus. Ansonsten hatte sie schon einen zumindest gewöhnungsbedürftigen Gesichtsausdruck. Ernst wusste nie, ob sie ihn anblickte oder etwas, das es in dieser Welt gar nicht gab.
Sie gingen einfach zur Schule, mehr nicht. Auf dem Schulhof war Ernst mit anderen aus seiner Klasse zusammen. Tamara saß auf der Stufe oder stand am Ende der Treppe, wenn es zu kalt zum Sitzen war.
Nachdem er ihr auf dem gemeinsamen Schulweg mal erzählt hatte, dass er auf dem Bolzplatz Fußball spielte, hatte sie nachmittags am Zaun gestanden, der den Platz umgab, und hatte zugesehen. Ernst wusste nicht, ob er sich darüber freute oder nicht.
»Kennst du die?«, fragte Richard aus der Zweiten Klasse und deutete auf das Mädchen hinter dem Zaun.
»Tamara.«
»Das ist eine von den Polaken. Die klauen, sagt mein Vater. Die ist in meiner Klasse. Total doof. Was macht die hier?«
»Sie guckt zu«, antwortete Ernst, der die Frage auch nicht gerade für sonderlich klug hielt.
»Wenn der Zaun nicht wäre, würde ich der den Ball vor’n Kopp schießen.«
»Warum?«
Richard blickte ihn an, als hätte er Schneckenschleim im Gesicht.
»Weil die doof ist!«
»Ja, klar«, erwiderte Ernst und schnappte sich den Ball. Als er in Tamaras Richtung blickte, hob sie den Arm und winkte. Von den anderen hatte das keiner gesehen.
Den Nachmittag verbrachte Ernst mit der Angst, dass Tamara noch dort stehen würde, wenn es Zeit wäre nach Hause zu gehen. Dann würde jeder sehen, dass er eine von den Polaken kannte.
Doch Tamara war bereits fort, als sie ihr Spiel beendeten. Glück gehabt.
Am nächsten Morgen wartete sie vor dem Haus.
»Hör mal. Du kannst nicht einfach zum Bolzplatz kommen und zuschauen«, sagte er sofort.
»Das wusste ich nicht«, kam wieder eine ihrer komischen Antworten.
Dann schnappte sie sich seine Hand. Sie kam nicht mehr zum Bolzplatz. Am nächsten Tag kam sie gar nicht.
Er wartete auf sie, doch sie erschien nicht. Schließlich ging er allein zur Schule. Vielleicht war sie ja krank. Am Nachmittag auf dem Bolzplatz blickte er dauernd zum Zaun, doch da war niemand.
Am nächsten Morgen stand sie wieder vor der Haustür und wartete auf ihn.
»Ich war mit Mama bei einer Untersuchung«, sagte sie sofort und ihre Unterlippe zitterte komisch, als stünde sie kurz vorm Weinen.
»Bist du krank?«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Nein. Ich bin dumm.«
»Häh?«
»Da war so ein Test. Fragen und so. Ich musste auch was malen. Ich male gerne den Himmel mit der Sonne. Mama war hinterher sehr böse. Sie hat dem Mann gesagt, Tamara ist nicht dumm.«
»Dann ist es doch gut. Du bist nicht dumm.«
Sie legte den Kopf etwas schief, ihre Lippe zitterte nicht mehr. Als sie seine Hand nahm, schien die Welt für kurze Zeit wieder in Ordnung zu sein.
»Ich weiß nie viel. Warum darf ich nicht zum Bolzplatz kommen? Ich guck nur zu. Du spielst gut.«
»Das ist nichts für Mädchen.«
»Sind alle Mädchen so dumm?«, fragte sie und schien es wirklich ernst zu meinen.
»Du bist nicht dumm«, wiederholte er und war froh, dass sie nichts mehr sagte.
Vier Wochen später erwischte Richard ihn mit Tamara. Zum Glück hatte er kurz zuvor ihre Hand losgelassen.
»Was machst du denn mit dem Doofie?«
»Ich? Nichts. Die geht halt auch hier lang.«
Er folgte Richard und bemerkte wie Tamara zurückblieb. Am Schultor blickte er sich noch einmal um und sah, dass sie immer noch an der Stelle stand, an der Richard sie gemeinsam erwischt hatte.
»Mein Schuh ist auf«, sagte er und beugte sich hastig hinunter.
Richard sagte noch etwas und ging dann weiter. Ernst fingerte an seinem Schuh herum und richtete sich wieder auf. Tamara stand immer noch dort. Andere Kinder gingen an ihr vorüber, wie auch an ihm.
»Verdammt«, rief er und lief auf sie zu.
Ihr Lächeln behielt er in Erinnerung, denn schon am nächsten Tag sah er sie für längere Zeit zum letzten Mal. In diesem Lächeln, das eindeutig ihm und seiner Rückkehr galt, fühlte er sich mutig und stark. So nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn zum ersten und letzten Mal direkt auf den Schulhof.
Am nächsten Morgen stand sie wie immer vor dem Haus. Aber es war nicht wie immer.
»Ich komm nicht mehr«, sagte sie und blickte an ihm vorbei.
Erst jetzt bemerkte er, dass sie gar keinen Tornister trug.
»Wie meinst du das denn?«
»Ich muss in eine andere Schule.«
»Zieht ihr um?«
»Nee. Ich verstehe das hier auf der Schule nicht. Mama sagt, ich brauche nur einen kleinen Anstoß.«
»Aber …«
Er brachte kein weiteres Wort heraus, blickte sie nur an. Ganz langsam schien ihr Gesichtsausdruck in seine Welt zurückzufließen. Ihr Blick zeigte ihm ihre Angst. Er verstand nicht alles, dafür war er mit seinen fast sieben Jahren viel zu unerfahren, aber ihre Angst war gut sichtbar.
Ihre kühlen Finger berührten ihn an der Wange. Dann wandte sie sich um und lief mit großen, tollpatschigen Schritten davon. Doch sie blieb noch einmal stehen und kam zurück. Ganz dicht stand sie vor ihm. Ernst ließ es einfach geschehen, als sie ihn kurz und sehr unbeholfen umarmte.
Es war alles andere als unangenehm von einer dieser Polaken umarmt zu werden.
Tamara war nicht unglücklich. Sie lag nicht wie Papa in der Erde, sie war am Leben. Das Lernen in der Schule fiel ihr schwer, aber als sie den Jungen getroffen hatte, schien vieles leichter zu werden. Sie hatte verstanden, dass er sich wegen ihr vor den anderen schämte. Das war nicht schlimm, denn im Gegensatz zu den anderen, redete er mit ihr. Und sie hielt seine Hand. Aber er hatte nicht bemerkt, dass sie ihm trotz seines Verbots jeden Tag zum Bolzplatz gefolgt war. Sie hatte ihm aus sicherer Entfernung zugesehen. Das war schön und aufregend zugleich. Er durfte sie ja nicht entdecken. Selbst aus der Entfernung glaubte sie seine Nähe zu fühlen.
Mama ging es nicht gut. Seitdem Papa in dem Grab lag, war vieles anders geworden. Mama ging putzen, bekam noch etwas, dass sich Rente nannte. Mama nannte es Totengeld, aber Tamara konnte damit nichts anfangen. Sie nähte Kleidung für ihre Tochter, weil das billiger war. Ihrer Tochter war es völlig egal, was sie anzog. Es durfte nur nicht kratzen. Das war nicht schön, wenn es kratzte.
Nach diesem Test war Mama sehr böse geworden. Sie hatte mit dem Mann gestritten. Tamara hatte das Angst gemacht. Schon der Test war furchteinflößend gewesen. Viel schlimmer als Schule. Dabei hatte sie sich so angestrengt, wie ihre Mutter es von ihr verlangt hatte.
»Meine Tochter ist nicht dumm!«
Wenn die Großen dauernd darüber redeten, dann war es vielleicht doch die Wahrheit.
Tamara war sich da nicht sicher.
Auch wusste sie nicht, was dieser Test bedeutete. Eigentlich hatte sie auch nur eine sehr geringe Vorstellung davon, was ein Test überhaupt war.
Sie konnte sich keine Buchstaben merken. Von Zahlen wusste sie nur so viel, dass sie zehn Finger und Zehen, zwei Arme, zwei Beine und einen Kopf hatte. Genügte das denn nicht?
Fernsehen konnte man doch immer verstehen, auch ohne Buchstaben. Die Filme mit den Unterwasserwelten mochte sie besonders gern. In den Meeren musste es viel interessanter sein als in den Straßen von Recklinghausen. Nur das Zuschauen auf dem Bolzplatz war noch besser. Manchmal lag sie in der Badewanne, trug die Chlorbrille, die Mama ihr für den Schwimmunterricht gekauft hatte, und erforschte die Unterwasserwelt. Da begegnete sie sogar Haien und Walen aus Seife. Aus dem Badeschwamm wurde ein Krake, der Waschlappen war ein Rochen. Den Schwimmunterricht mochte sie sehr. Im Gegensatz zu den Buchstaben, war es kinderleicht Schwimmen zu lernen. Das Becken im Hallenbad war ja fast schon so groß wie ein Meer. Im Wasser war sie den anderen Kindern endlich einmal überlegen. Sie schoss wie ein Delphin durchs Wasser und hängte sogar die Jungen ab. Dafür nannte man sie Glibberaal. Ein Fisch zu sein war allerdings viel besser als ein Doofie oder Spasti.
»Tamara, hör mir zu. Du bist nicht dumm. Gleichgültig, was andere sagen. Du bist nicht dumm. Lass dir das niemals einreden. Versprichst du mir das, Kind?«
Sie hatte es Mama versprechen müssen. Da war es wieder dieses Wort: dumm. Sie konnte das alles nicht verstehen.
Tamara beschloss, niemals so zu werden wie die Erwachsenen, die so vieles offen ließen, nur andeuteten oder in Rätsel verpackten, die sie selbst nicht lösen konnten. Sollte sie einmal Mama werden, würde sie ihr Kind niemals versprechen lassen, nicht dumm zu sein. Dummheit schien nur für Erwachsene wichtig zu sein.
Sie wollte die Sonne jeden Abend in den Tag zurückwerfen.
Das konnte doch nicht dumm sein!
In den nächsten zwei Jahren kam sie auf vier verschiedene Förderschulen. Dort wollte man natürlich immer nur das Beste für sie. Das Beste war für die Erwachsenen das Lernen von Buchstaben, die zu Worten und Sätzen wurden. Für sie waren das nur endlos lange Schlangen, die keinen Sinn ergaben. Auch wenn sie sich alle Mühe gab, es blieb ein weißer Fleck in ihrem Kopf.
»Ihre Tochter hat LRS«, hatte der Mann nach dem Test gesagt.
»Meine Tochter ist nicht krank«, hatte Mama ihm geantwortet.
Tamara war froh, denn sie wollte nicht krank sein.
Sie dachte sich Geschichten aus, um nicht mehr alles zu sehen, was sich um sie herum abspielte. Lieber warf sie die Sonne am Abend in den Tag zurück. Denn sie wusste mit Sicherheit, dass die Sonne jeden Tag da war, auch wenn sie sich hinter Wolken versteckte. Wenn man seine Schuhe auszog, dann konnte man auf den Wolken laufen und nachsehen.
Nie erzählte sie Mama, dass zwei Jungen sie geschlagen hatten. Oder das drei Mädchen auf der Toilette ihren Kopf in das Klo gehalten hatten. Vermutlich gehörten Glibberaale ins Klo. Die Kinder auf diesen Förderschulen waren viel schlimmer als auf der Grundschule. Hier gab es keinen Ernst Heimatshagen, dessen Hand sie halten durfte. Sie versuchte es aber auch nicht. Aber sie merkte sich diesen Namen. Auch lief sie oft zum Bolzplatz und sah aus der Entfernung zu. Irgendwann kamen aber nur noch andere Jungs zum Bolzplatz. Sie wusste, wo er wohnte, doch sie traute sich einfach nicht, wieder vor seiner Haustür auf ihn zu warten. Vielleicht war das verboten. Doch sie konnte ihn durch ihren Kopf laufen lassen.
So erfand sie lieber einen Taucher, einen Fußballer, einen Ritter, die zu ihr kamen, wenn sie abends im Bett lag und nicht sofort einschlafen konnte. Alle hatten das leicht rundliche Gesicht dieses Jungen. Manchmal nahmen diese Gestalten sie mit in ihren eigenen Kopf. Man verlernte das Lächeln nicht, wenn man mit guten Gedanken einschlief und die Sonne in den Tag zurück warf.
Wenn es zu schlimm wurde, dachte sie ganz fest an den Jungen aus der Grundschule. Den Fußballspieler, der einmal zurückgekommen war zu ihr, um an ihrer Hand auf den Schulhof zu gehen. Da war er so mutig wie ein Ritter gewesen. Sie klammerte ihren Verstand an seinen Namen.
Offenbar half das, denn an einem kalten Herbstnachmittag stand er vor ihr. Tamara sollte noch Milch und Brot aus dem Supermarkt holen. Sie ging gerne einkaufen. Betrachtete die feinen Sachen in den Regalen und hätte gerne einiges davon probiert. An der Kasse durfte sie sich dann immer noch einen Schokoladenriegel kaufen.
»Vergiss nicht dieses Schokozeug für dich«, sagte ihre Mama jedes Mal.
»Ich vergess bestimmt, was ich mitbringen soll, aber nicht den Schokoriegel«, erwiderte sie daraufhin immer.
»Untersteh dich!«, rief ihre Mama ihr dann immer lachend hinterher.
Tamara liebte es, wenn ihre Mama lachte oder wenigstens lächelte. Sie schien immer durchsichtiger zu werden, seitdem Papa nicht mehr da war. Tamara hatte Angst, sie könnte sich ganz auflösen und verschwinden. Dann würde sie ganz allein sein.
An jenem Herbsttag trug sie den dicken, braunen Mantel und ihre Lieblingsturnschuhe. Im Supermarkt war es sehr voll, aber das machte ihr nichts aus. Sie war gerne im Supermarkt und sah sich in dem Gang mit dem endlos langen Regal voller Süßigkeiten um. Wer erfand nur all diese leckeren Dinge? Süßigkeitenerfinder musste wirklich ein zuckersüßer Beruf sein.
Sie hatte intensiv eine Packung mit Keksen angeschaut und sich vorgestellt, wie die wohl schmecken würden, als sie auf Ernst Heimatshagen traf. Sie wandte sich um und hätte fast die Packung Milch fallen gelassen. Er war es! Niemals hätte sie sein Gesicht vergessen. Dieses weiche Gesicht mit den blauen Augen unter einem Dach aus wildem, schwarzem Haar. Wenn sie in dieses Gesicht blickte, begann ihr Herz in der Brust heftig zu klopfen. Als er damals weinend vor dem Haus gestanden hatte, da war es unmöglich gewesen, einfach weiterzugehen. Es hatte ihren gesamten schmalen Mut erfordert, ihn an die Hand zu nehmen. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er es wirklich zulassen würde. In diesem Augenblick war er aus der Vergangenheit direkt vor sie gesprungen.
Er blickte sie nur kurz an und widmete sich dann den Schokoladentafeln im Regal. Hatte er sie denn gar nicht erkannt? Ihr Lächeln verschwand wieder aus ihrem Gesicht. Doch es kehrte zurück, als er sie erneut ansah.
»Tammy?«, fragte er und auf seinem rundlichen Gesicht erschien nun auch ein Lächeln.
Er hatte sie doch nicht vergessen. Aber wer war Tammy?
»Tammy?«, fragte sie nun auch und hielt ihren Blick an seinem Gesicht fest, als hätte sie Angst, er würde wie ihre Fantasiegestalten verschwinden. Er war etwas älter geworden, aber es war immer noch das Gesicht aus ihren Erinnerungen.
»So habe ich mir deinen Namen gemerkt«, erwiderte er und blickte sie weiterhin an.
»Tammy? Das bin ich? Das gefällt mir. Tamara … Tammy …«
Sie standen nun eine ganze Weile schweigend voreinander.
»Kaufst du auch hier ein?«, fragte Ernst schließlich und rieb sich das linke Auge.
»Ja. Milch und Brot für Mama und einen Schokoriegel für mich.«
»Ich muss Mehl mitbringen. Hat meine Mutter vergessen.«
»Ich geh gerne Einkaufen.«
»Ja, ich auch.«
Wieder standen sie längere Zeit voreinander. Tammy tänzelte nervös von einem Bein auf das andere. Ernst rieb sich wieder das Auge, verzog etwas das Gesicht.
»Wo gehst du denn zur Schule?«, fragte er und ließ die Hand sinken, mit der er sein Auge gerieben hatte.
Tammy, die diese Form ihres Namens sofort sehr gern gehabt hatte, blickte ihn nun hilflos an. Der Name der Schule fiel ihr nicht ein. Sie wusste nicht einmal den Namen der Straße. Ein kleiner Bus nahm sie jeden Morgen mit. Der Fahrer roch nach Zigarettenrauch und brummte den anderen Kindern zu, sie sollten gefälligst die Klappe halten, wenn der Glibberaal einstieg.
Zu ihr sagte er immer: »Beeil dich mal, Lahmarsch, ich hab nicht ewig Zeit. Und der Rest hält die Klappe. In meinem Bus herrscht Ruhe!«
Der Bus nahm unterwegs noch andere Kinder mit und hielt dann immer direkt vor der Schule.
»Glibberaal«, platzte es aus ihr heraus, nachdem Ernst sie nach ihrer Schule gefragt hatte.
»Was?«, fragte Ernst überrascht.
Erschrocken wandte sie sich um und lief los. Die Milch und das Brot hielt sie eisern fest. Tränen traten in ihre Augen, weil sie so entsetzlich dumm war.
Sie rannte an dem Regal mit den Konservendosen vorbei und prallte mit Ernst zusammen, der offenbar auf der anderen Seite des Regals entlanggelaufen war.
»Du weißt nicht, wie deine Schule heißt«, sagte er und rieb sich kurz wieder das Auge.
Tammy konnte nichts sagen, kämpfte gegen die Tränen und wäre am liebsten wieder weggelaufen.
»Macht doch nichts. Hast du gerade Glibberaal gesagt?« Tammy versuchte zu verstehen, ob er auch über sie lachen wollte. Sie hatte ihn so lange nicht gesehen. Vielleicht war er ja böse geworden. Oder er wusste, dass sie dumm war.
»Ich kann gut schwimmen. Das macht Spaß. Ich kann schnell schwimmen. Sehr schnell. Wie ein Delphin. Die anderen sagen … sie sagen Glibberaal zu mir.«
Sie ratterte die Antwort hinunter und blickte ihn an dabei. Nicht mal ihrer Mama hatte sie das bisher erzählt.
»Die ärgern dich immer noch, was? Mein Papa sagt immer, dass man sich wehren soll.«
»Ich muss jetzt einkaufen«, sagte sie hastig und wandte sich ab. Sie wollte nicht, dass er ihre Tränen sah. Zuerst hatte sie sich gefreut, dass sie ihn wiedergetroffen hatte. Doch jetzt war es nicht mehr schön. Meistens liefen ihre Gedanken vor den schlimmen Dingen davon, doch an diesem Tag ging das nicht mehr. Das Gesicht in ihrer Erinnerung war zu einer Fratze geworden. Jemand hatte Gift in ihren Kopf geschüttet.
Sie bezahlte Milch und Brot an der Kasse und vergaß den Schokoriegel. Draußen fiel ihr das erst auf, doch sie wollte nicht mehr zurück in den Supermarkt. Nicht mehr zurück zu Ernst Heimatshagen, dessen Gesicht zu Gift geworden war.
Langsam schlug sie den Weg nach Hause ein, wischte sich hastig mit dem Unterarm über die Augen. Sie verstand nicht alles, aber in dem Moment, in dem sie Ernst Heimatshagen vor dem Regal mit Süßigkeiten in dem Supermarkt gegenübergetreten war, hatte sie etwas begriffen. Etwas sehr Schmerzhaftes, über das sie sich bisher so gar keine Gedanken gemacht hatte. Ihre Welt war anders als die Welt der anderen. Ganz anders. Die Welt des Glibberaals.
Sie lief schneller, in der Hoffnung, dadurch könnte sie diesen Gedanken entkommen. Aber davor konnte nicht einmal der schnellste Mann der Welt davonlaufen.
»Magst du einen?«
Die Stimme war neben ihr, wie auch der Junge, der ihr eine geöffnete Tüte mit Weingummi hinhielt. Vielleicht waren da auch nur Gift oder Krankheiten in der Tüte. So was wie LRS.
»Ich darf mir einen nehmen?«, fragte sie und blieb stehen.
»Auch zwei«, antwortete er und ein breites Grinsen überzog sein rundliches Gesicht.
Tamara Maria Schikow, die fortan nur noch Tammy genannt werden wollte, lächelte diesen Jungen an, der wieder in ihr Leben getreten war.
»Hey Tammy, du bist kein Glibberaal. Glibberaale würde ich nie in meine Tüte greifen lassen.«
Tammy lächelte und nahm sich ein Weingummi. Nicht alles wurde schlecht. Einiges Gute blieb gut.
»Ich kann nicht schwimmen«, sagte Ernst und zog verlegen die Schultern hoch.
»Echt nicht? Ist ganz einfach. Ich kann kein Fußball spielen.«
»Ist ganz einfach.«
Sie lachten und aßen Weingummi.
Von diesem Tag an trafen sie sich regelmäßig. Sie spielten zusammen. Tammy war das glücklichste Mädchen in Recklinghausen, als er sie mitnahm auf den Bolzplatz. Das war so, als ließe sich die Sonne wirklich in den Tag zurückwerfen. Sie war sehr ungeschickt und tollpatschig, aber es machte ihr so großen Spaß. Andere Jungen lachten sie aus, aber Ernst schickte sie nicht weg. Im Gegenteil: wenn sie mit anderen Jungen spielten, wählte er sie in seine Mannschaft. Natürlich ließ der Streit nicht lange auf sich warten.
»Mädchen und Doofe gehen ins Tor«, sagte ein größerer Junge, der bestimmt schon in die vierte Klasse ging.
»Dann trab mal ab ins Tor«, rief Ernst ihm zu und stellte sich demonstrativ vor Tammy.
»Willst du Ärger, du Zwerg?«
»Nee, du?«
Tammy sah den weinenden Jungen vor sich, den sie an die Hand genommen hatte. Er sollte das nicht machen für sie, denn sie konnte ja gar nicht richtig Fußballspielen. Das würde nicht gut ausgehen. Sie musste ja auch nicht mitspielen, ihr genügte auch das Zusehen.
Der größere Junge verpasste Ernst eine fürchterliche Ohrfeige. Ernst fiel auf die rote Asche des Bolzplatz und begann zu weinen.
»Heulsuse! Heulsuse!«
Tammy sah ihre Mama vor sich, wie sie Tante Katharina ins Gesicht geschlagen hatte. Ernst saß am Boden, hielt sich die gerötete Wange und weinte wie damals, als sie ihn an die Hand genommen hatte. Das durfte nicht sein. Das war böse!
Ihre Hand knallte ins Gesicht des größeren Jungen. Es ging so schnell, dass sie nicht mal verstand, ob sie das wirklich gewollt hatte.
»Du doofe Kuh! Spinnst du?«
Leider saß der Junge nicht auf dem Hosenboden und weinte. Im Gegenteil, seine Wut strahlte geradezu aus den Augen. Tammy spürte den Schlag des Jungen kaum, denn nun erwachte etwas in ihr, das Ritter, Fußballer und Taucher erfinden konnte. Sie spürte keinen Schmerz, als der zweite Schlag sie traf und ihre Unterlippe aufplatzte.
»Du bescheuertes Miststück! Das hast du jetzt davon!« Tammy wählte instinktiv die sicherste Methode und trat ihm vor das rechte Knie. Sein dummes Gesicht verzerrte sich, wie damals das Gesicht ihrer Tante nach der Beerdigung ihres Vaters. Obwohl es sie ekelte, packte sie dem Jungen ins Haar, riss daran und klatschte ihm ihre andere Hand viermal ins Gesicht.
Es ging so schrecklich schnell, dass sie nicht einmal Angst verspürte. Jemand hatte dem Jungen wehgetan, der doch ihr Freund war. Sie teilten sich Weingummi und Schokoriegel, spielten zusammen und lachten. Ernst würde sie niemals Doofie oder Glibberaal nennen.
»Hör auf!«, quiekte der größere Junge und heulte nun doch.
»Niemand schlägt meinen Freund! Merk dir das!«
Er heulte nun so richtig erbärmlich, so dass Tammy ihn losließ.
Ernst stand neben ihr und gemeinsam verließen sie den Bolzplatz. Tammy bemerkte erst jetzt, dass sie weinte und ihre Unterlippe blutete.
»Bleib mal stehen. Du blutest. Du weinst. Tut es so weh?«, fragte Ernst hektisch und blickte sie an.
»Ich hab dem Jungen wehgetan.«
»Scheiße, ja.«
»Mama schimpft, wenn ich so was sage.«
»Was denn? Scheiße? Hast du ein Taschentuch oder so was?«
Sie zog ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche. Ernst tupfte vorsichtig das Blut von ihrer Lippe.
»Ich wollte dem Jungen nicht so wehtun«, quengelte sie und schon wieder liefen die Tränen.
»Das war der Hammer, Tammy. Seine Freunde haben das gesehen. Die werden ihn tüchtig auslachen. Du bist der Hammer. Soll noch mal einer wagen, Glibberaal zu dir zu sagen. Ich heul rum und meine kleine Tammy haut den Klotz in kleine Stückchen!«
Tammy blickte Ernst an, sah seine verheulten Augen. Ihre sahen bestimmt ebenso verweint aus. Erst jetzt wurde ihr richtig klar, dass sie sich gewehrt hatte. Auch wenn ihre Lippe brannte, sie fühlte sich plötzlich viel besser.
»Tammy? Alles klar?«
»Scheiße, ja!«
Die ganze Anspannung entlud sich in einem lauten gemeinsamen Lachen.
Abends im Bett, nachdem Mama wegen ihrer verkrusteten Lippe am liebsten die Polizei gerufen hätte, hörte sie in ihrem Kopf immer wieder diese drei Worte: Meine kleine Tammy.
An diesem Abend warf sie zum ersten Mal erfolgreich die Sonne in den Tag zurück.
Da war von nun an dieses Mädchen, ziemlich dünn, mittlerweile mit langen, glatten Haaren, dunklen Augen, die immer noch etwas vorbeisahen an der Welt. Sie war nicht hübsch mit ihrer gigantischen Himmelfahrtsnase und ihren linkischen Bewegungen. Keiner konnte so gut mit ihren Armen herumfuchteln wie sie. Auch trug sie immer noch das selbstgenähte Zeug von ihrer Mutter.
Da war dieser Junge, ziemlich gut gebaut, mit schwarzem, wildem Haarwuchs, einem nun schmalerem Gesicht und der Geschmeidigkeit eines Sportlers. Das Gegenteil der unscheinbaren Tammy. Auch konnte er lesen und schreiben.
Tammy sollte der lebende Beweis dafür werden, dass das Schulsystem zwar massentauglich, allerdings nicht bildungsfördernd war. Dummheit war kostengünstig, demnach genügte das in diesem Land.
Sie besuchte die Hauptschule und hatte, bis auf das Fach Deutsch, sogar respektable Noten. Der kulturelle Kampf gegen Windmühlen, warf immer wieder Schulabgänger wie Tammy ab. Sie lernte nie vernünftig Schreiben und Lesen und konnte doch irgendwann einen Schulabschluss vorweisen. Ernst übte immer wieder mit ihr, aber viel blieb nicht davon haften.
Aber erst mal trat Tammy in eine andere Welt ein. Sie fragte sich nie, warum Ernst sich mit ihr überhaupt abgab. Nein, sie nahm es einfach an und verbrachte viel Zeit mit diesem Jungen.
Sie besuchten sich gegenseitig und sowohl Tammys Mama als auch Ernsts Eltern verstanden wohl nicht, was dieses ungleiche Paar aneinander band. Natürlich war ihre Mama froh, dass ihre Tochter offenbar einen Freund gefunden hatte. Schließlich hatte sie schon mitbekommen, dass ihre Tammy bei anderen Kindern einen schweren Stand hatte. Offenbar hatte die Tochter das sonnige Gemüt ihres Mannes (Gott hab ihn selig) geerbt, ohne dessen Trunksucht.
Die Mutter von Ernst fand es befremdlich, als ihr Sohn dieses seltsame Mädchen in ihrer noch seltsameren Kleidung anschleppte. Aber offenbar spielten sie miteinander. Auch hörte sie das Gelächter aus dem Kinderzimmer.
»Das ist nur eine Phase. So eine Vogelscheuche wird ja nicht gleich unsere Schwiegertochter«, sagte sein Vater und lächelte dabei.
Tammy war sehr nervös, als Ernst sie mit zu seinen Eltern nahm. Sie grüßte höflich, so wie Mama es ihr beigebracht hatte. Aber sie bemerkte die Blicke von Ernsts Mama. Diese große, gutriechende und hübsche Frau sah in ihr den Glibberaal.
»Manchmal ist Mama komisch«, sagte Ernst in seinem Zimmer zu ihr.
Tammy hatte das bald vergessen, denn sie hörten Musik. Ernst hatte ein paar Langspielplatten und Singles. Und er hatte eine Gitarre.
»Ich muss einmal die Woche zum Unterricht«, sagte er und verzog das Gesicht.
»Du kannst Musik machen? Das ist ja supertoll.«
Tammy legte diese Jahre später in ihrem Kopf in das Fach mit der Aufschrift Musikzeit ab. Sie konnte nicht richtig lesen und schreiben, aber sie pflegte eine klinische Ordnung in ihrem Kopf, selbst beim Geschichten erfinden. Natürlich war sie dumm, was man ihr immer wieder oft genug sagte, zeigte und aufzwang, aber in ihrem Kopf herrschte nur sie.
In dieser Zeit entdeckte sie die Magie der Musik auf dem alten Dual-Plattenspieler von Ernst und in der Musiktruhe, die im heimischen Wohnzimmer stand. Irgendwann fand Ernst auch den Mut, ihr was auf der Gitarre vorzuspielen.
»Du musst Musiker werden!«, rief sie begeistert und klatschte in die Hände.
»Ich kann doch nix!«
»Ich habe gute Ohren, Ernst. Du musst Musiker werden.« Sie trafen sich nach der Schule, machten Hausaufgaben zusammen. Ernst ging zum Gymnasium, er konnte ihr helfen. Tammy war sich immer bewusst, dass sie ohne Ernst kaum ihre Hausaufgaben geschafft hätte.
In dem ersten Sommer, der dem zufälligen Wiedersehen im Supermarkt folgte, brachte sie ihm im Städtischen Hallenbad Schwimmen bei.
Tammy sah ihren ersten Kinofilm zusammen mit Ernst.
Es war unglaublich aufregend, roch nach Popcorn und schmeckte wie Eiskonfekt.
Das Fach in ihrem Kopf aus dieser Zeit war besonders groß und prall gefüllt. Bevölkert auch von anderen Kindern, die Ernst auf seiner Schule kennenlernte. Sie nahmen Tammy hin und machten sich höchstens über ihre Kleidung lustig, die immer meilenweit an irgendwelchen Moden vorbeisegelte. Nur Harald Biebermann, der im Sommer Surfen gelernt hatte, machte sich gerne über ihre Stimme lustig. Tammy sprach meistens recht leise und brauchte manchmal lange, um Sätze zu bilden. Aber nicht, weil sie ungeübt war beim Sprechen, sondern weil ihr Kopf erst alles ordnete, damit nicht zu viel Falsches herauskam. Harald nannte das ihre Spasti-Stimme. Sie mochte ihn nicht, aber Ernst fand ihn lustig. Sie hatte schon ganz andere ertragen, da machte ein Harald Biebermann mehr oder weniger auch nichts. Hinzu kam, dass er auch Gitarre spielte. Und Bass.
»Der muss nicht Musiker werden«, sagte Tammy zu Ernst, der das mit einem Lachen beantwortete.
Für Tammy hätte dieses Leben so noch hundert Jahre weitergehen können. Doch das Leben hatte andere Ideen.
Tammy war 14 Jahre alt, als eine Katastrophe alles änderte. Ein Polizeiwagen holte sie von der Schule ab. Es war natürlich eine unglaublich tolle Sache mal in einem Polizeiwagen mitzufahren, doch sie bekam es kaum mit. Die beiden Polizisten in ihren Uniformen waren ins Klassenzimmer gekommen und hatten kurz mit Frau Distelmeyer, ihrer Mathematiklehrerin gesprochen.
»Tamara, es ist etwas mit deiner Mutter. Du musst jetzt mit diesen beiden Beamten mitfahren.«
»Verhaften die jetzt den Doofie?«, rief ein Junge von hinten.
Tammy hörte es kaum. Die Worte von Frau Distelmeyer kreisten in ihrem Kopf.
Es war etwas mit ihrer Mama.
Zwei Tage saß sie am Bett ihrer Mama im Knappschaftskrankenhaus und umklammerte die Hand der Sterbenden. Ihre Mama war zu einer Maschine geworden. Es gab Verbände und es gab Schläuche und es gab Kabel und es gab Maschinen. Mamas Kopf sah aus wie eine Mumie. Sie konnte nie wieder in die Augen ihrer Mama sehen. Kein Lächeln mehr.
Ein Unfall.
Das arme Kind. Das Jugendamt.
Gesprächsfetzen, die keinen Sinn für sie ergaben.
Tammy hielt sich an der Hand ihrer Mama fest. Mama konnte sie doch nicht allein lassen. Nicht in dieser Welt, in der es nur Ernst gab und ein paar Menschen wie Harald Biebermann.
»Wir müssen jetzt gehen, Mädchen«, sagte eine dicke Frau, die nach Haarspray roch.
Doch Tammy ging nicht. Sie hielt die Hand ihrer Mama fest. Ein Unfall. Ein Wagen hatte sie angefahren. Fahrerflucht. Sie war regelrecht durch die Luft geflogen. Genau auf den Hinterkopf. Koma. Was war das? Tammy wusste es nicht. Schwere Hirnverletzungen. Keine Chance.
Am zweiten Tag starb Mama.
Die Maschinen wurden ausgeschaltet.
Zwei Assistenzärzte waren nötig, um Tammy aus dem Zimmer zu bringen. Sie schrie nach Ernst, doch er war nicht da. Jetzt brauchte sie ihn, sonst würde sie verrückt. Sie hatte ihm von der Sonne erzählt, die sie jeden Abend in den Tag zurückwarf. Er hatte nur gelächelt.
Sie schlug um sich und hörte erst auf, als einer der Ärzte die Geduld verlor und ihr in seiner Wut darüber, dass sie ihn an einer empfindlichen Stelle getreten hatte, ins Gesicht schlug. Wenn jemand starb, gab es Ohrfeigen. Eine Spritze.
»Ich hab Angst vor Nadeln«, sagte sie leise und dann wurde es dunkel.
Als sie auftauchte, war Mama bereits seit zwölf Stunden tot und die Frau, die so fürchterlich nach Haarspray roch, stand am Fußende eines Krankenbettes.
»Sie sind die einzige lebende Verwandte, Frau Schikow«, sagte diese Haarsprayfrau.
»Scheint so!«
»Sie können das Mädchen wirklich aufnehmen bei sich?«
»Das muss ich dann wohl«, antwortete Tante Katharina und trat nun auch näher ans Fußende des Bettes.
Tammy begriff, dass es immer noch schlimmer kommen konnte.
Ihre Tante hatte sich in den Jahren seit der Beerdigung und der Ohrfeige kaum verändert. Eine hagere Frau mit kurzen Haaren, die viel zu früh ergraut waren. So sahen Hexen aus. Wie konnte dieses Biest die Schwester von Papa sein?
»Ich tue das für meinen verstorbenen Bruder. Kann ich sie gleich mitnehmen?«, fragte ihre Tante und blickte sie nun an.
»Ich denke, dass wir das recht unbürokratisch regeln können, Frau Schikow. Um die Formalitäten kümmern wir uns später. Sie haben genug zu tun. Nochmal mein herzlichstes Beileid.«
Tammy schloss die Augen und beendete ihre herrlichen Jahre in der Musikzeit.
Sie begriff, dass Veränderungen niemals vorher an der Tür klingelten, sie sprangen einen direkt an und änderten ganze Welten in Sekundenschnelle.
Tammy war sich nicht sicher, ob sie jemals zuvor jemanden wirklich gehasst hatte. Nicht einmal Harald Biebermann, der sich immer wieder über ihre Stimme lustig machte. Oder den Jungen damals auf dem Bolzplatz, den sie geschlagen hatte. In den 14 Jahren ihres Lebens war sie nun am Tiefpunkt angelangt – zumindest dachte sie das zu diesem Zeitpunkt.
Tante Katharina besaß nicht nur eine große exklusive Modefirma, sondern auch ein riesiges Haus in einer Straße, die den schönen Namen Am Rosengarten trug und sicherlich zu Recklinghausens teuersten Wohngegenden zählte. Tammy hatte nie zuvor ein so schönes und großes Haus betreten. Glänzende Marmorböden, blitzblanke Möbel, in denen man sein Spiegelbild erkennen konnte. Sie begriff erst jetzt, wie wohlhabend Tante Katharina sein musste, wenn sie sich so etwas leisten konnte. Seit der Beerdigung ihres Vaters war sie nur noch eine böse Erinnerung gewesen. Es hatte keinen Kontakt mehr gegeben und auch Mama hatte ihre Schwägerin nie mehr erwähnt.
»Zieh dir gefälligst die Schuhe aus. Und lauf hier nicht barfuß herum, das macht Abdrücke auf dem teuren Boden.«
»Ich kann ja auch schweben«, dachte Tammy, die es nie gewagt hätte, das wirklich auszusprechen.
Tammy hatte nur zwei Koffer mitnehmen dürfen mit ihrer Kleidung und einigen anderen Schätzen. Wenigstens hatte sie das große grüne Fotoalbum mitnehmen können, um ihre Erinnerungen an Mama und Papa zu bewahren. Ihre Tante hatte Papiere und verschiedene Unterlagen, die Mama in einem Fach des Wohnzimmerschrankes verstaut hatte, kommentarlos eingepackt.
»Um die Wohnungsauflösung kümmert sich eine Firma. Das ist ja höchstens noch was für den Trödel.«
Für Tammy war es ein niederdrückendes Gefühl gewesen zum letzten Mal diese Wohnung, die ja ihr Zuhause gewesen war, zu betreten. Alles war noch so, als würde Mama gleich zurückkommen und Milchreis kochen. Tammy liebte Milchreis mit Zucker und Zimt. Hastig hatte sie sich von ihrer Tante abgewandt. Sie wollte nicht vor ihr weinen.
Jetzt standen ihre zwei Koffer in dem ausladenden Flur in diesem unbekannten riesigen Haus. Tammy hatte ihre Schuhe ausgezogen. Immer noch kämpfte sie tapfer gegen die Tränen.
Ihre Tante schien weit entfernt von Trauer oder gar Tränen. Ihren eisblauen Augen schien absolut nichts zu entgehen. Sie reichte Tammy ein Papiertaschentuch.
»Putz dir die Nase!«
Vermutlich hatte diese Frau nur Angst vor weiteren Flecken auf ihrem glänzenden, teuren Boden. Tammy schnaufte absichtlich laut in das Taschentuch. Am liebsten hätte sie es auf den Boden geworfen und darauf herumgetrampelt. Ihre Traurigkeit schlug langsam in Wut um.
»Oben sind zwei Gästezimmer. Such dir eines aus«, kam nun doch noch eine etwas überraschende Ansage, nachdem diese Eisaugen sie lange fixiert hatten.
Tammy hatte eher damit gerechnet im Keller wohnen zu müssen. Angekettet in einem fensterlosen Raum mit dicken Lappen an den Füßen, damit sie keine Abdrücke machten. Eine dicke Stahltür erstickte jegliches Affentheater. Zu essen gab es Reste aus der Mülltonne und jeden Abend eine Tracht Prügel, weil man nur eine Last war, die nicht mal richtig lesen und schreiben konnte.
Tammy ging auf Strümpfen die Treppe mit dem vergoldeten Geländer hinauf und blieb dort stehen.
»Weiter! Weiter! Bummel nicht herum! Dort!«, trieb ihre Tante sie vor sich her.
Tammy schaute erst in das rechte, dann in das linke Zimmer. Nie zuvor hatte sie solche Zimmer gesehen. In einer Welt, in der es Mama und Ernst noch gegeben hatte, hätte sie staunend in solchen Räumen gestanden und sich gefreut.
»Nun mach schon! Welches Zimmer?«
Tammy entschied sich für das rechte Zimmer, das nach hinten hinausging. Es besaß einen kleinen Balkon und gab den Blick in einen großen, erschreckend ungepflegten, Garten frei. Alles war zugewachsen und überwuchert mit Unkraut.
»Geil«, entwich ihr das Lieblingswort von Harald Biebermann.
»In diesem Haus wird nicht vulgär geredet. Das brauchst du gar nicht erst anfangen«, kam sofort die Reaktion ihrer Tante, die ihr zusätzlich einmal auf den Rücken klopfte. Tammy hatte keine Ahnung, was vulgär bedeutete, aber sie wusste mit Sicherheit, dass ihre Tante, bei der sie fortan leben musste, eine wirkliche Hexe war.
»Hol die Koffer hoch und pack deine Sachen in den Schrank. Du wirst ja jetzt wohl hierbleiben.«
Tante Katharina verzog das Gesicht und verschwand. Als Tammy ihre Koffer die Treppe hinaufschleppte, hörte sie die Stimme ihrer Tante. Offenbar war da noch jemand, denn sie hörte zwei Personen reden. Gab es hier noch mehr Hexen? Eine regelrechte Versammlung auf dem Blocksberg.
Tammy konzentrierte sich auf ihr Zimmer. Sie öffnete die Balkontür und trat hinaus in die kühle Luft. Der Garten sah so aus wie sie sich fühlte: chaotisch und traurig. Jetzt konnte sie erst mal in aller Ruhe weinen.
Das Zimmer bestand aus einem großen Bett mit herrlich bequemer Matratze und einer Decke, die mit echten Daunen gefüllt war. Es gab einen wuchtigen Schreibtisch, der neben der Balkontür stand. Einen großen Schrank, in dem ihre Sachen gerade mal einen kleinen Teil einnahmen. Links daneben war eine schmale Tür, die in ein kleines Badezimmer mit Dusche führte. Dann war da noch ein Regal, in dem sie ihre Schätze unterbrachte. Das Fotoalbum, ihre Schallplatten und CDs, ein paar Comics von Batman und Spiderman, die sie sich zu gerne ansah. Ein gerahmtes Foto mit einer lächelnden Mama. Eine Batmanfigur, die Ernst ihr geschenkt hatte. Ihr Lieblingsstofftier, einen Löwe. Ihre Chlorbrille, die sie seit Jahren wie ein Heiligtum aufbewahrte.
Ihre Sachen waren schnell ausgepackt und eingeräumt. Ihre zwei Koffer stellte sie neben den Schrank, hinter die Tür. In diesem Zimmer hätten noch zwei weitere Personen Platz gefunden. Es gab hier einen weichen Teppich. Ob man den allerdings barfuß betreten durfte, wusste sie nicht. Immerhin hatte sie ihre Hausschuhe eingepackt. In diese schlüpfte sie nun hinein und zuckte erschrocken zusammen. In der geöffneten Tür stand jemand.
Es war eine Frau, vielleicht eine weitere Hexe. Gerade frisch eingeflogen auf ihrem Besen, um die dumme Tammy in einem Kessel zu kochen. Nur sah diese Frau so gar nicht nach Hexe aus. Sie war schlank und eher zierlich. Sie trug dicke Wollsocken – offenbar durfte sie auch nicht barfuß in diesem Haus laufen. Eine enge Jeans und eine weite weiße Bluse. Ihr Gesicht erstrahlte in einem Lächeln, in dem man sich zu Hause fühlen konnte. Doch Tammy blieb lieber vorsichtig. Sie schien etwas jünger zu sein als Tante Katharina. Ihre blauen Augen blickten Tammy an und in ihnen spiegelte sich tatsächlich Mitgefühl. Das dunkle Haar wirkte etwas wild und erinnerte Tammy an Ernst Heimatshagen.
Sie konnte gar nicht sagen, wie sehr sie Ernst vermisste. Er hätte ihr bestimmt durch diese schwere Zeit geholfen. Tammy konnte es gar nicht erwarten, ihn wiederzusehen. Jetzt stand dort aber diese Frau und lächelte mitfühlend.
»Wenn das nicht die junge Lady Tamara ist«, sagte sie nun und machte einen Schritt in den Raum hinein.
Tammy hatte noch nie eine so tiefe Stimme bei einer Frau gehört.
»Tammy«, erwiderte sie vorsichtig und leise.
»Dein Glück. Seien wir ehrlich: Tamara ist nicht so toll, oder?«
Diese Frau mit der Brummstimme kam noch näher.
»Nee.« Mehr brachte Tammy daraufhin nicht heraus.
»Entschuldige, dass ich dich hier so überfalle. Ich bin Charlotte von Holland. Nicht adelig, falls du das denkst. Der Name macht mehr aus mir als ich wirklich bin. Du könntest mich Charlie nennen, wenn dir das recht ist? Ich bin so was wie das Faktotum hier. Ich putze, koche und sorge dafür, dass deine Tante nicht zu oft den Tag mit Schimpfen beleidigt«, redete diese Frau ohne Punkt und Komma.
Tammy starrte sie einfach nur an.
»Ich bin nicht gut darin, jemanden zu trösten«, sagte diese Frau mit dem Adelsnamen und kam noch näher.
»Was ist ein Faktotum?«
»Früher nannte man das Haushälterin. Das Wort geht gar nicht, oder?«
Tammy blieb vorsichtig, aber diese Frau schien wirklich nett zu sein.
»Wie auch immer. Ich würde gerne etwas kochen, was du magst. Was verdrückt denn die Jugend so heutzutage?« Tammy brauchte da nicht lange zu überlegen.
»Pommes mit Currywurst und Mayo«, kam ihre Antwort fast von selbst.
»Aua, das gibt Diskussionen. Wenn ich das gute Geschirr nehme, könnte es klappen«, erwiderte diese Frau mit ihrer tiefen Stimme und lächelte schon wieder.
Tammy blickte sie fragend an.
»Herzlich Willkommen in diesem Haus, Lady Tammy.« Tammy wurde zuerst stocksteif, als diese Frau sie in ihre Arme schloss. Doch dann kam alles heraus und sie begann zu schluchzen. Eine warme Hand strich dabei über ihren Rücken.
»Du schaffst das«, brummte diese Stimme sanft an ihrem Ohr.
Das war nicht unbedingt ein wirklicher Trost, aber es tat dennoch gut, es zu hören. Diese Frau mit der Brummstimme war bestimmt eine von den guten Hexen in diesem Haus.
Tammy löste sich aus der Umarmung und rieb sich die Augen. Die Frau wich bis zur Tür zurück.
»Ich werde jetzt etwas in der Küche zaubern. Leb dich erst mal etwas ein«, sagte sie noch, hob eine Hand wie zum Gruß und verschwand dann.
Offenbar gab es nicht nur ihre Tante in diesem Haus, sondern auch eine nette Frau. Das ließ Tammy zumindest etwas Hoffnung.
Wieder trat sie auf den Balkon und blickte auf den verwilderten Garten. In Gedanken stellte sie sich vor, was man aus diesem Dschungel machen könnte. Es passte zu ihrer Tante, dass sie den Garten so verkommen ließ. Diese Frau hatte keine Gefühle und hasste bestimmt alles Schöne. Ein Wunder, dass das Haus nicht dem Garten glich. Aber dafür sorgte bestimmt Charlie, das Faktotum. Tammy wollte sich noch nicht festlegen, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass Charlotte von Holland freundlich zu ihr gewesen war, weil diese es ehrlich mit ihr meinte.
Trotz der freundlichen Frau und dem schönen Zimmer, wäre sie lieber zu Hause gewesen in der Mietwohnung. Mama wäre noch da, hätte gelächelt und mit ihrem harten Akzent meine Tamara gesagt.
Tammy gehörte nicht in dieses riesige Haus, sie gehörte erst recht nicht zu Tante Katharina. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nirgendwo mehr hingehörte und völlig allein war. Alles, was einmal ihre Familie gewesen war, war gestorben. Sie blickte hinunter in den Garten und fühlte sich so überflüssig wie das Gestrüpp in den ehemaligen Blumenbeeten.
Sie riss sich los und ging ins Badezimmer. Kurzentschlossen duschte sie, ob das ihrer Tante nun gefallen würde oder nicht. Voller Trotz lief sie barfuß im Zimmer herum. Dabei fragte sie sich, ob sie Angst vor ihrer Tante hatte oder sie doch nur hasste, weil sie ein Aas war.
Hastig zog sie saubere Socken an, damit war die Frage auch beantwortet.
»Ernst, wo bist du nur?«, flüsterte sie und wünschte ihren Freund herbei.
Sie zog sich an und legte sich auf das Bett. Der Schlaf kam langsam angekrochen und beendete die Gedanken an ihre Mama. Tammy war der festen Überzeugung, dass der Tod ihrer Mama ungerecht gewesen war. Da hatte Gott etwas übersehen. Olga Schikow war noch nicht an der Reihe gewesen. Das war unfair, gemein und völlig falsch. Doch an welcher Stelle sollte man darum bitten, diesen Irrtum wieder gutzumachen?
Tammy akzeptierte den Tod nicht. Sie konnte den Sensenmann nicht ausstehen. Der Typ mit dem schwarzen Umhang sollte sich vorsehen. Irgendwann würde sie ihm ins Handwerk pfuschen und sich fürchterlich rächen für dieses unwürdige Ende ihrer Mama. Ja, sie würde ihn besiegen, wenigstens ein einziges Mal in ihrem Leben.
Neben Tante Katharina stand der Tod ganz oben auf ihrer Liste.
Es war längst dunkel geworden, als eine sanfte Hand sie an der Schulter schüttelte.
»Lady Tammy, das Essen ist angerichtet«, sprach die Brummstimme und ließ ein krächzendes Lachen erklingen.
Tammy blickte in die blauen Augen der Frau und richtete sich auf.
»Beeil dich lieber. Geduld zählt nicht gerade zur Grundausstattung deiner Tante.«
Tammy schwang sich aus dem Bett und folgte der Frau die Treppe hinunter.
Das Esszimmer glich mehr einer Halle mit dem wuchtigen Tisch und den dick gepolsterten Stühlen. An dem Tisch hätte eine ganze Fußballmannschaft samt Zuschauern Platz gefunden. Leider musste sie ihrer Tante gegenübersitzen. Es wäre angenehmer gewesen, wenn sie sich jeweils an den Tischenden verteilt hätten. So wie in einem Film, in dem die Reichen bei Tisch in einem Schloss kilometerweit entfernt von einander saßen.
»Steh da nicht dumm rum!«, erklang auch gleich wieder die Stimme ihrer Tante.
Tammy fragte sich, ob diese Frau jemals etwas Nettes in ihrem Leben gesagt hatte. Unvorstellbar! Da setzte sie sich lieber.
»Hände gewaschen?«
Tammy nickte. Sie hatte ja geduscht, da säuberte man die Hände ja gleich mit.
»Kannst du nicht sprechen?«
»Doch.«
»Reiz mich nicht gleich am ersten Tag! Hast du deine unnützen Hände gewaschen?«
Sie dachte an Ernst, der in so einer Situation bestimmt eine coole Antwort gegeben hätte. Er war so klug, Tammy beneidete ihn um seinen Kopf, der ein Gehirn besaß, wo sich bei ihr nur ein Schweizer Käse mit extra vielen Löchern befand.
»Ja, ich habe meine Hände gewaschen.«
»Ich erwarte vernünftige Antworten. Da ich im Gegensatz zu dir Verantwortung trage, ist meine Zeit begrenzt. Ich werde dir nicht alles aus der Nase ziehen, sondern erwarte Disziplin von dir. Dazu wirst du ja wohl in der Lage sein.«
»Ja.«