Skelettmädchen - Karsten Klein-Ihrler - E-Book

Skelettmädchen E-Book

Karsten Klein-Ihrler

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Beschreibung

Als Tobias dem Skelettmädchen zum ersten Mal begegnete, konnte er nicht voraussehen, in welchen Strudel aus Gewalt er hineingezogen würde. Hätte er geahnt, was in dieser Nacht begann, wäre er vermutlich geflüchtet. Spätestens, als diese Begegnung eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt hatte, die nicht mehr aufzuhalten war. Tobias wusste nur, dass er ihr helfen wollte. Doch konnte er das überhaupt? Er musste herausfinden, wer ihren Tod wollte.

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Seitenzahl: 689

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Karsten Klein-Ihrler *1966 in Recklinghausen, † 2019 in Hilchenbach. Er lebte seit seinem Studium an der Ruhr Universität in Bochum. Nach einigen freien Tätigkeiten beim Grillo Theater in Essen und dem Bochumer Lokalradio, arbeitete er über 20 Jahre bei einem großen Logistikunternehmen. Er war verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn. Das Schreiben hat ihn seit seiner Jugend immer begleitet. Neben einem Theaterstück, wurden einige Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht.

Inhaltsverzeichnis

VORWORT VON LEO IHRLER

VORWORT VON KARSTEN KLEIN-IHRLER

VORHER

Kapitel EINS

Kapitel ZWEI

Kapitel DREI

Kapitel VIER

Kapitel FÜNF

Kapitel SECHS

Kapitel SIEBEN

Kapitel ACHT

Kapitel NEUN

Kapitel ZEHN

Kapitel ELF

Kapitel ZWÖLF

Kapitel MAGDALENA - EINS

Kapitel DREIZEHN

Kapitel VIERZEHN

Kapitel MAGDALENA - ZWEI

Kapitel FÜNFZEHN

Kapitel SECHZEHN

Kapitel SIEBZEHN

Kapitel ACHTZEHN

Kapitel NEUNZEHN

Kapitel ZWANZIG

Kapitel EINUNDZWANZIG

Kapitel ZWEIUNDZWANZIG

Kapitel DREIUNDZWANZIG

Kapitel VIERUNDZWANZIG

Kapitel FÜNFUNDZWANZIG

Kapitel SECHSUNDZWANZIG

Kapitel SIEBENUNDZWANZIG

Kapitel ACHTUNDZWANZIG

Kapitel NEUNUNDZWANZIG

Kapitel DREISSIG

Kapitel EINUNDDREISSIG

Kapitel ZWEIUNDDREISSIG

Kapitel DREIUNDDREISSIG

Kapitel VIERUNDDREISSIG

VORWORT VON LEO IHRLER

Als die Idee aufkam, eine weitere Geschichte zu veröffentlichen, gab es keine zwei Meinungen. Zu viel Leidenschaft und Kreativität investierte mein Vater in seine Bücher und ich wusste, dass das „Skelettmädchen“ bereits fertig war und kurz vor der Veröffentlichung gestanden hatte. Ich hatte mir schon kurz nach seinem Tod vorgenommen, mich dafür einzusetzen, mindestens ein weiteres Buch herauszubringen.

So bin ich nun umso stolzer darauf, dass es jetzt soweit ist. Es erschien mir wie eine Aufgabe, diese großartigen Geschichten und Charaktere der Öffentlichkeit zukommen zu lassen. Mein Vater hätte es genau so gewollt. Er war Autor mit Leib und Seele. Jede freie Minute verbrachte er an seinen Werken und jede der erschaffenen Figuren hatte etwas an sich, was jeden Leser sofort berührte. Mit Hintergrundgeschichten, die wohl jeden entweder kalt erwischten oder zu Tränen rührten. Ganz egal, ob es sich dabei um einen Haupt- oder Nebencharakter handelte. Keine Figur tauchte einfach so auf. Persönlichkeiten ohne Geschichte gibt es quasi nicht. Wir haben oft über diese Geschichten geredet, meistens nachts, auf dem Weg zurück von einem Konzert. Ob es sich um das grobe Konzept oder um wichtige Entscheidungen handelte. Immer hörte ich davon und half bei der Umsetzung. Das erfüllte mich jedes Mal mit Stolz, auch wenn ich damit das Ende vieler Geschichten schon vor den meisten anderen kannte. So bin ich bis heute wohl einer der wenigen, der alle Geschichten kennt, aber kaum ein Buch gelesen hat.

Aber das soll Sie nicht davon abhalten, dieses und weitere Bücher zu lesen. Gerade weil ich diese genialen Geschichten kenne. Es sind um diese Werke solche Universen entstanden, dass es extra, von meinem Vater angefertigte, Mixtapes gibt, mit Liedern, von denen er überzeugt war, dass sie zum Buch passten und ihn beim Schreiben inspirierten. Und wenn man diese Songs kennt, kann man den Zusammenhang verstehen. Ich habe viel gelernt in letzter Zeit. Das Wichtigste aber ist und bleibt, dass man sich seine Träume bewahrt. Egal ob man dafür auf Geschichten oder Musik hört. Man muss daran glauben. Auch wenn es manchmal schwer fällt. „Leider hat die Realität die Fiktion überholt: Für den Gott des Rock ’n’ Roll!“ - Karsten Klein-Ihrler

Ich wünsche Ihnen nun viel Spaß und Spannung beim Lesen dieses Buches.

Leo Ihrler, 2021

VORWORT VON KARSTEN KLEIN-IHRLER

Ich hatte diese Geschichte schon aufgegeben, konnte nicht mehr daran weiterarbeiten, doch manchmal geschehen noch kleine Wunder, die Unerwartetes bewirken können.

Für Bettina Wallmeyer, die mein langsames Arbeiten tapfer ertragen und diese Geschichte gerettet hat und mir beim Schreiben durch ihre Korrekturen, Ratschläge und vielen Ideen das Tor so weit geöffnet hat, dass ich hindurchgehen konnte.

Für Stephie und Leo, die immer mein sicherer Hafen waren und sind.

Karsten Klein-Ihrler, 2019

VORHER

Dieses seltsame Mädchen war nachts in ihrem Skelettkostüm durch den großen Bau gelaufen. Ein Skelett wandelt, das läuft nicht herum. Ich hörte ihre Stimme in meinem Kopf, sah sie vor mir, als sie mein Gesicht aus großer Nähe betrachtet hatte. Da hatte ich auf einer Stufe im Treppenhaus des Heimes gesessen und dieses Mädchen zum ersten Mal gesehen. Alles geschah so schnell, das Töten und die endlose Flucht. Ich hatte nicht viel, warum also nicht bei diesem Typen beginnen? Ich trank den Tee und verließ das Café. In der Nähe hatte sie ihren kleinen Weihnachtsstand mit den Bastelarbeiten gehabt. Dort hatte ich diese Frau kennengelernt, die nun dauernd in akuter Lebensgefahr schwebte.

Es war ein Scheißspiel.

*

Ich war schuld am Tod meiner Frau!

Deshalb saß ich hier am Fenster wie ein Voyeur und hing der Vorstellung nach, ich könnte etwas verändern, dabei war auch das nur der Egoismus der Rache. Die runde Perspektive hatte mich schon als Kind fasziniert, weil es nur einen Ausschnitt darstellte aus der verbotenen Zone. Wenn man den Mut gefasst hatte, diese Wand zu durchdringen, dann gab es plötzlich keine Grenzen mehr.

Die runde Perspektive wurde in der Jugend zu Weihnachten verschenkt in Form eines Teleskops. Doch die eigentlichen Sterne hingen auch damals im Nachbarhaus: Nicole Gerards mit dem Leberfleck auf der linken Pobacke. Niemand wollte eigentlich wirklich Nicole Gerards sehen, doch die runde Perspektive bot neben den Mondkratern am Himmel auch nur diesen Abgrund von einem Klischee. Doch das wäre zu einfach, leider sind unsere Schaltkreise etwas komplizierter angelegt. Abstumpfung war etwas, was man sich erarbeiten musste im Laufe der Jahre, nichts fiel einem in den Schoß. Doch ich wollte etwas ganz anderes, als das, was kommen sollte.

Ich war schuld am Tod meiner Frau!

Seit Fräulein Gerards Leberfleck waren mehr als 20 Jahre vergangen und alles, was mir neben Musik und Billigbier geblieben war, erschien in dieser runden Perspektive. Ich lebte in dieser anderen Welt, die gegenüber lag, also nicht zu weit fort. Ein Mietshaus, grau. In dieser Kackstraße waren die alle grau, als hätte sich die DDR in diesem Stadtteil wieder neu gegründet. Diese weichgespülten Politiker aus dem Rathaus nannten das eine multikulturelle Gesellschaft, schmierten es in ihre Parteibücher und verkauften die Schlüssel zum Garten Eden in großer Stückzahl. Ich nannte das die versoffene Idee einer besseren Welt in Grau mit Huren, einem Kiosk, Einwegspritzen, widerlichen Neonazis, Kauderwelsch aus aller Herren Länder mit dem gemeinsamen König Hartz dem Vierten und so viel Bildung wie in den Kopf einer mittelgroßen Mikrobe passte, die in der Zeitung mit den großen Buchstaben wohnte.

Aber ich war an diesem Ort, weil ich endlich etwas gefunden hatte.

Weil ich Rache wollte, nichts sonst, nur kalte, brutale Rache.

Ich hatte mein Leben in den Sand gesetzt, definitiv! Und das war noch eine Verniedlichung. Ein simpler Euphemismus für das, worin ich versinken sollte. Und nicht nur ich!

Ich glotzte durch diese runde Perspektive und fragte mich, wo ich meinen Zug verloren hatte. Irgendwo hinter dem Selbstmitleid.

Ich war schuld am Tod meiner Frau!

Die runde Perspektive eröffnete einen Ausgang und das würde der letzte sein in meiner Existenz.

Übrigens: ich sah höchstens durchschnittlich aus. War meistens unrasiert, trug das Haar recht kurz, weil die Jahre einige davon gefressen hatten. Mittelgroß, mitteldünn und mittelintelligent.

Vermutlich musste ich lügen als Teil meiner Existenz.

Jeder hatte etwas zu bewahren und zu schützen.

Ich wollte Rache, oh ja, ich wollte kalte, billige Rache!

Ich suchte den Mörder meiner Frau.

Endlich hatte ich eine Spur aufgenommen, im Haus gegenüber.

Ich schrieb kein verdammtes Buch, es war nur mein Leben oder was davon übriggeblieben war. Der neuerliche Irrsinn begann mit ein bisschen Luxus in Form von Tee, dem besten Getränk der Welt.

Wenn es irgendwo Weisheit gab, dann schwamm diese in einer Teetasse, ganz sacht und sanft gefangen in wohliger Wärme und einem zarten Aroma. In einer Welt der Düfte und einer Vielfalt wie die Insektenwelt eines Regenwaldes.

„Das ist eine zarte Mischung“, sagte Frau Lee und lächelte so schüchtern und hübsch, wie es nur asiatische Frauen vermögen.

„Mmh“, murmelte ich, in dessen großer Hand die filigrane Teetasse geradezu versank.

Ich nippte erneut an dem Gebräu, schloss kurz die Augen, als schwelgte meine Wenigkeit in irgendeiner guten Erinnerung. Die linke Hand leicht angehoben, vollführte sie leichte kreisende Bewegungen wie ein Dirigent. Als ich die Augen wieder öffnete, strahlten sie Frau Lee förmlich an. Diese lächelte immer noch in ihrer asiatischen Zierlichkeit.

„Mmh, das könnte es tatsächlich sein, Frau Lee. Zumindest kommt es dem sehr nahe.“

Frau Lee nickte geradezu begeistert und deutete auf das Stövchen mit dem durchsichtigen Kännchen darauf. Und wieder hielt ich ihr das Tässchen über die Verkaufstheke entgegen und es gab noch etwas Nachschub.

„Sie entschuldigen mich kurz“, sagte Frau Lee und huschte auch schon hinter dem Tresen hervor, um sich der anderen Kundschaft in Anne Lee’s Teashop zuzuwenden.

Ich wandte mich noch nicht dem Tee zu, sondern beobachtete die zierliche Ladeninhaberin, die wie immer eine Art Poncho trug, fernab der Mode, aber nicht reizlos, da diese Stücke immer aus weicher, farbiger Seide bestanden. An ihren kleinen Füßen trug sie Riemchensandalen, als gäbe es außerhalb dieser Zauberwelt aus Gerüchen und Aromen keinen kalten Winter. Selbst im Schneechaos bewegte sie sich in ihrer Welt förmlich barfuß. Vermutlich sperrte man solche kleinen Füße nicht in grobes Schuhwerk. Ich hatte es nie gewagt, sie nach ihrem Alter oder vergleichbar Intimen zu fragen. Meinen Schätzungen zufolge musste sie irgendwo vor der Vierzig liegen. Ihre Zartheit verlieh ihr eine Aura der Jugend. Ihr Teegeschäft trug vermutlich noch dazu bei. Manchmal fragte ich mich, ob ich wirklich nur wegen der Suche nach dem absoluten Tee hierherkam oder doch nicht eigentlich um Frau Lee zu sehen. Sie trug bis auf eine kleine Armbanduhr, die ihr linkes Handgelenk umschloss, keinerlei Schmuck. Keinen Ehering, was nichts bedeuten musste. Bevor der Tee ganz auskühlen konnte, leerte ich in drei genießerischen Schlucken die Tasse. Zumindest schien Anne Lee mehr über mich zu wissen, denn ihre eigenen Mischungen näherten sich immer mehr meiner Geschmackserfüllung. Nuance für Nuance näherten sich ihre Experimente meiner großen Leidenschaft an. Die Suche nach dem absoluten Tee würde natürlich niemals enden, was konnte es Besseres geben als eine fortwährende Leidenschaft? Und solange es Anne Lee’s Teashop gab, war es auch noch ein sinnlicher Genuss.

Sie fertigte eine Kundin ab, eine alte Frau, deren Falten so zahlreich waren wie der Goldschmuck, der sie förmlich zu Boden beugte wie ein altes Gesträuch. Der Lippenstift, der nicht ganz akkurat gezogen war, da die alten Finger zittrig geworden waren, leuchtete in einem unnatürlichen Rot. Desgleichen auf den spitzgefeilten Fingernägeln. Hätte diese in Pelz, vermutlich ein echter Export aus dem Osten, wo Naturschutz nur einen Witz darstellte, gehüllte Gestalt nach Backwerk, anstatt nach schwerem, fast muffigem Parfüm gerochen, man hätte an die Kindheitsmärchen glauben können von Hexen, Trollen und Zwergen. Diese Frau erwarb 250 Gramm einer vorgepanschten Mischung, die Anne Lee ebenfalls im Sortiment führte, wahrscheinlich nicht aus Überzeugung, aber aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, zumindest vermutete ich das. Die alte Frau bezahlte mit ihrer Kreditkarte, nahm mit zittriger Raubtierhand die Tüte und verließ das Geschäft. Hatten Gerüche einen Einfluss auf den Geschmack? Der Tee in der Tasse verlor etwas an Reiz und ich blickte fast hilfesuchend zu Anne Lee. Und dann geschah etwas Bemerkenswertes, denn Frau Lee verließ für einen kleinen Moment den geradlinigen Pfad der erfolgreichen Verkäuferin und undurchdringlichen Asiatin.

„Mein Vater hat immer gesagt, schlechter Geruch verdirbt den Tee“, sagte Frau Lee und pflückte mit ihrer kühlen, zarten Hand die Tasse aus meiner großen.

„Warum bieten Sie eigentlich diesen Müll an?“

Kurz blickte Frau Lee mich an, dann wandte sie sich ab und spülte meine Tasse in einem Waschbecken sorgfältig aus. Dann füllte sie frischen Tee hinein und reichte sie mir.

„Ich wollte nicht unhöflich sein, Frau Lee.“

„Für die Geschmacklosen tragen Sie so wenig Verantwortung wie ich.“

Sie lächelte, leider wieder wie die asiatische Verkäuferin, nicht wie Frau Lee. Es war absurd, doch ich bildete mir ein, dass ich der einzige Kunde wäre, mit dem sie jemals so – intim? - gesprochen hatte. Ich trank meinen Tee, der nun wieder richtig köstlich schmeckte, nachdem die Rauchsäule der Künstlichkeit verflogen war. Und natürlich kaufte ich etwas von dieser Mischung, trank abends ein ganzes Kännchen davon zu der alten Musik, die einen auf Reisen schicken konnte. Dabei dachte ich an Frau Lee, die mit mir so ganz anders sprach.

Dann trank ich noch etwas von dem Tee, den ich mir kaum leisten konnte. Anne Lee’s Teashop – es gab noch eingeschränkte Paradiese auf dieser Welt.

Ob Frau Lee neben einem Mann einschlief? Ich würde es niemals herausfinden, denn vermutlich hatte ich nicht mehr lange zu leben. In meinem Tee lag nicht unbedingt die Erleuchtung, aber das Gefühl, dass ich Rache üben könnte. Mein Irrsinn, Zufälle und die Vergangenheit bildeten dann eine ganz andere Mischung.

EINS

Wenn man in einer Scheißgegend wohnt, heißt das noch lange nicht, dass man keine Ordnung hält. Wie beim Auge des Orkans, in dem absolute Ruhe herrschte, so regierte im Innern der Müllhalde die Ordentlichkeit. Ich lebte von diesem Land, von den Steuern der Arbeitenden und es langte für mich völlig. Manchmal, wenn eine Anschaffung anstand, arbeitete ich im Getränkemarkt, gab Pfandbons heraus oder stapelte Kisten auf. Das genügte, mehr musste nicht sein. Irgendwo war ich vom Pfad der Normalität abgewichen und hatte mich für die runde Perspektive entschieden. Eine Tätigkeit, die nicht anerkannt war, obwohl sie durchaus lohnenswert erschien, wenn man etwas suchte. Das digitale Zeitalter machte nicht nur Menschen überflüssig, es machte alles so einfach. Eine digitale Kamera, PC und ein paar Objektive: Daten, Zahlen, Fakten. Das Teleskop war mehr ein Anachronismus und eine Gewohnheit, von der ich nur schwer lassen konnte. Kein Phallussymbol oder so ein Psychomist. Ich zog keinen sexuellen Lustgewinn aus der runden Perspektive. Das gehörte sich nicht und ich wollte nicht in die Ächz-und-Stöhn-Abteilung eingeordnet werden. Aber da war dieses Pärchen gewesen, das sich zwar jede Menge Requisiten leisten konnte, aber keine Vorhänge. Oder das lesbische Pärchen, das so sanft miteinander umging. Ich schämte mich immer noch, aber das waren zwei klassische Schönheiten, die gar nicht in dieses Viertel passten und deshalb nur drei Monate gegenüber wohnten. Vermutlich hingen sie deshalb kaum Gardinen auf.

Ich war kein Voyeur, ich war Sammler von Informationen. Ich sammelte Leben und Geschichten, die sich darin abspielten. Ich sammelte, katalogisierte, bewertete, verwarf und speicherte alles ab. Ich forschte nach, kam unbemerkt näher, um weitere Informationen zu erhalten. Nicht aufdringlich, nein, das stand mir nicht zu. Ich wartete auf die Rache, die kommen würde. Der Vorteil an einer Scheißgegend war zum einen fehlende Gardinen und Vorhänge, aber auch Fluktuation. Die meisten blieben nicht lange im Haus gegenüber, eine Art Durchgangslager. Ich war gekommen, um mich zu rächen, damit die Schreie in meinem Kopf endeten.

Mir ging auch noch eine ganz andere Sache durch den Kopf. Es war Mitleid gewesen, nichts weiter, doch jetzt hing es mir nach.

Kurz vor Weihnachten, stand diese Person mit ihrem Tapeziertisch am Rande des Weihnachtsmarktes, rieb ihre rotgefrorenen Hände aneinander und versuchte allein durch die Ausdruckskraft ihrer dunklen Kuhaugen die achtlosen Passanten zum Kauf diverser Basteleien zu bewegen. So bewegende wie nutzlose Dinge. Selbstgetöpferte, weihnachtliche Kerzenständer und Aschenbecher, Tannengestecke, Fensterbilder und sonstiger Weihnachtsschnickschnack. Der Erlös aus den Verkäufen käme einem Kinderheim zu Gute, verkündete ein Schild, auf dem ein schmuckloses Gebäude mit einer Horde Kinder davor zu erkennen war. Ich war stehengeblieben vor diesem Tapeziertisch, der mit einer grünen Filzdecke überzogen war, aber nicht um etwas zu kaufen, nein, aus Mitleid. Diese Frau sprach irgendwo in mir ein Modul an, das sich sofort wie Zuckerglasur über meinen Verstand legte. Ich war geschlagen und verloren in diesem rundlichen Gesicht mit einigen lustigen Sommersprossen und den tiefbraunen Augen. Die rotbraunen Haare waren zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, der hinten unter der grauen Strickmütze heraushing. Diese Frau war mittelgroß, trug einen olivfarbenen Mantel mit riesigen Seitentaschen, einen dreifarbigen Schal, der hervorragend zu ihrem verfrorenen Gesicht passte. Es war wirklich der perfekte Tag, um bei dieser Saukälte unnützes Zeug zu verkaufen. Das Mitleidsmodul schaltete mich noch einen Gang höher, als sie mich in der offensichtlichen Hoffnung auf Verkauf anlächelte. Ausgerechnet mich, der ich doch wusste, dass der Weihnachtsmann eine Erfindung der Spielzeugindustrie war, deren Lobby Jesus gekreuzigt hatte, um einen Verkaufsanlass zu haben. War das nicht Ostern gewesen? So einfach konnte man sich das Leben erklären. Vor mir stand eine Katholikin, erleuchtet von der guten Sache für irgendein Kinderheim. Dennoch war da dieses Mitleid für diese irregeleitete Person. Es war ungefähr 16:00 Uhr, es war fast dunkel, lausig kalt und diese Frau fror vermutlich jämmerlich für ihre unnützen Überzeugungen.

„Guten Abend“, lächelte sie mich an und rückte einen Kerzenständer mit ihren roten verfrorenen Händen in Position, als hätte ich tatsächlich die Absicht, so ein getöpfertes Teil zu kaufen.

„Sie könnten einen Glühwein vertragen“, erwiderte das Mitleidsmodul und in ihren Augen spiegelte sich die Überzeugung, dass ich kein Kunde sei, sondern einer von diesen irren Schwätzern, die auf jeder Art von Veranstaltung auftauchten, um über Politiker oder den Männchen aus den Steckdosen zu berichten. Ihre Reaktion war dann aber doch nicht vorhersehbar, schon gar nicht berechenbar. Sie griff nach einer kleinen Geldkassette, öffnete den Deckel und hielt sie dann derart, dass ich die Leere erkennen konnte. Das war nicht ihre Art, doch Kälte und Erfolglosigkeit mussten sie frustriert und verletzbar gemacht haben. Sie wollte mich loswerden, doch bei mir war bereits etwas fehlgeschaltet. Mitleid ist kein guter Baustoff, so eine Art Eisklotz in der Sahara. Ich ergriff zwei dieser abstrusen Basteleien und stellte mich dem Strom der Passanten entgegen. Hinter mir polterte die leere Geldkassette auf den Tisch und kurz darauf zerrte ihre Eishand bereits am Ärmel meiner gepolsterten Lederjacke. Doch ich hatte bereits ein mittelalterliches Pärchen an der Spendenangel. In den nächsten zwei Stunden räumte ich den Tisch fast zu einem Dreiviertel ab. Nötigte besonders älteren Menschen mit wahrhaftigen Trauermärchen die Tannengestecke auf. Der Verkaufsschlager wurde das Unfallopfer ohne Arme, das gelernt hatte mit seinen Füßen wahre Wunder zu vollbringen. Mit der richtigen Geschichte kaufen die Leute auch einen Eimer mit Müll. Geschäftsschluss, die Einkaufszone leerte sich, man zog sich zurück in die geheizten Stuben. Ich tauchte unter und erbeutete noch zwei Becher Glühwein und gelangte zurück zu Miss Mitleid. Sie hatte die Reste in eine große Klappkiste gepackt und blickte dann auf, als ich einen Becher auf den Tisch stellte.

„Sie sind unglaublich“, rief sie und lächelte mich an.

„Sie sind katholisch.“

Ihr Gesichtsausdruck spiegelte ein großes, leicht verwirrtes Fragezeichen. Diese großen braunen Augen waren völlig realistisch und ohne Frage das Beste an diesem Gesicht. Ein skeptisches Gesicht, hinter dessen Stirn vermutlich Gott wohnte. So einen alten Vampir wie mich konnte das nur abschrecken. Was für ein verrückter Gedanke! Die runde Perspektive war da viel sicherer und weiter fort. Nichts kam mir zu nah, nicht mal solche aufgeblasenen Luftballons wie Religion, Gott und Kirche.

Ich wollte töten! Ich wollte Rache! Das war garantiert nicht katholisch.

„Es ist nicht schlimm, dass Sie katholisch sind. Wir leben ja nicht in Nordirland. Man sieht Ihnen das an.“

Ihre Verwirrung wuchs, was mir sehr gefiel. Auch wie sie mit beiden Händen nun den Glühweinbecher hielt und vorsichtig davon trank.

Mir gingen so ferne Gedanken durch den Kopf. Wie sähe diese katholische Bastelartikelverkäuferin wohl unbekleidet aus? Männer-Spanner-Gedanken, der übliche Dreck.

Hätte ich geahnt, was in dieser Nacht begann, ich wäre vermutlich geflüchtet. Ja, ich wäre garantiert geflüchtet. Spätestens, als mir das Handeln von einem Skelett mit Herz aus der Hand genommen wurde.

„Ein katholisches Kinderheim. Sie haben gegen mindestens drei Gebote verstoßen, aber dennoch eine gute Tat begangen“, sagte sie, blickte mich über den Rand des Glühweinbechers hinweg an und ich bekam den Fluchtinstinkt mit voller Wucht ab.

Auf ihre katholische Art war diese Frau hübsch.

Predigten hielt ich nicht aus, da war mir der Aberglaube ja noch näher, aber über Moral brauchte niemand mit mir reden. Wenn einer auf diesem seltsamen Planeten eine Vorstellung davon hatte, wer er war, dann war ich das. Ich war Gift für dieses gläubige Fräulein mit den unglaublichen Augen und dem himmlischen Lächeln.

„Sie sind nicht gerade eine Verkäuferin.“

„Nein, das stimmt. Und Sie?“

„Ich auch nicht.“

Ihr Lachen erschlug mich fast, machte ihr Allerweltsgesicht mit den Sommersprossen zu einer Art Strudel, wie man sie aus Toiletten kennt. Es war kurz vor Weihnachten, vermutlich hing mir Lametta in den Haaren und, wo bei anderen unserer Gattung das Hirn hauste, brannten bei mir nur vier Adventskerzen. Vermutlich stellte ich mir in diesem Moment bereits vor, wie sie nackt in der runden Perspektive tanzte. Moment: tanzten Katholiken denn auch? Wuschen die nicht nur dem Prinzen von Rom die Füße? War nicht weit her mit meinem klerikalen Wissen kurz vor Weihnachten.

Nachdem ich die leeren Glühweinbecher zurückgebracht hatte, half ich ihr beim Tragen. Es war ein alter grauer VW-Bully, der so aussah, als hätte Nordkorea ihn für seine Atomtests genutzt. Ein weißer Aufdruck an der Fahrertür wies ihn als Dienstfahrzeug des Katholischen Kinderheimes aus. Das ließ hoffen, denn so ein 400 Jahre alter Schrotthaufen verkündete das Ende aller Religion.

„Alwin fährt, auch wenn er nicht so aussieht“, sagte sie und rammte die seitliche Schiebetür derart zu, dass dieses Gefährt bis zur letzten Schraube ächzte.

„Alwin ist Ihr Mann?“, fragte ich, obwohl mir nicht klar war, ob Katholiken wirklich so etwas wie eheähnliche Gemeinschaften praktizierten.

„Alwin, ich nenne ihn Alwin“, erwiderte sie lachend und ihr Glühweinatem streifte mein Gesicht.

„Die Rostlaube? Sie hängen daran, oder? Alwin ist ein seltsamer Name.“

„Alwin, wie Alwin Lee, den Gitarristen von Ten Years After.“

„Ohne Scheiß?“

Das ging doch nicht, Katholiken verbrannten Schallplatten, hielten die Stones für Satanisten und Judas Priest für den Teufel in Gruppenformation. War an dieser Durchschnittskatholikin etwas mehr als man auf dem ersten Blick vermutete? Ich sehnte mich immer mehr nach meinem Teleskop.

„Vielen, vielen Dank“, rief sie, schüttelte mit zwei kalten Händen meine rechte und lächelte nochmals.

„Hey! Und wenn ich Sie wiedersehen will?“, schrie ich ihr förmlich hinterher, als sie bereits auf der Fahrerseite des Wagens aus meinem Gesichtskreis verschwunden war.

„Das wollen Sie gar nicht!“

Die Fahrertür knallte zu, der Motor erwachte fürchterlich stotternd zum Leben, die Scheinwerfer funktionierten tatsächlich auch noch und zu allen Unwägbarkeiten dieser Welt gesellte sich dann auch noch, dass das Teil wirklich fuhr. „Du hast Recht, kleine unscheinbare Katholikin“, murmelte ich und rannte meinem Bus hinterher.

ZWEI

Grazyna Romanow war mein Geheimnis im Haus gegenüber. Sie hatte zwar Gardinen vor den Fenstern, doch nur oben am Rahmen und vermutlich zur Zierde. Keine Ahnung, auf welchem Flohmarkt es so etwas gab. Wahrscheinlich hatte sie auch ihren geschichtsträchtigen Namen daher, direkt zwischen Rasputin und dem ohne Ras davor.

Ob der Name echt war? Zumindest musste man das annehmen. Sie fuhr jeden Werktag mit dem Bus zur Universität, studierte oder putzte dort. Zweimal hatte ich mich zu nachtschlafender Zeit hochgequält und mit ihr den Bus bestiegen. Einmal direkt hinter ihr gesessen, um zu wissen, wie ihr Haar roch. Apfelshampoo, keine Sau benutzte das noch, aber es erinnerte mich an meine Kindheit, als der Panther noch rosa und das Schweinchen dick gewesen war. Im Osten war Apfelshampoo vielleicht noch ein Renner oder eine Fälschung verlockender westlicher Düfte. Ich mochte ihr schulterlanges Haar, das von echtem blond war, denn dafür hatte ich ein Verständnis entwickelt. Ich sah jeder Frau an, ob sie ihre Haare färbte. Meistens war ihr Haar zu einem lockeren Zopf gebunden, Frau Romanow benutzte schlichte Haargummis aus dem Ein-Euro-Shop. Es war nicht in Ordnung ihr hinterher zu spionieren, im selben Bus zu sitzen und auf ihren Zopf und Nacken zu blicken. Das überschritt Grenzen, machte mich völlig fertig. Meine größte Angst war, so ein sabbernder Spanner zu werden, der sich irgendwann nicht mehr mit der runden Perspektive zufriedengab und sein eigentliches Ziel vergaß. Der Trieb würde übermächtig und man ertappte sich bei einer Vergewaltigung und schließlich beim Töten. Ich war so nicht, versicherte ich mir immer wieder, ich sammelte nur Daten, speicherte sie ab und gab mich damit zufrieden. Wartete auf die Rache, denn ich jagte etwas ganz anderes.

Natürlich war Grazyna Romanow die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe, auch wenn ihr Gesicht eine Festwiese der Traurigkeit war. Sie lächelte nur, wenn sie auf dem großen Sofa saß, Fotos aus einem Kuvert auf ihren Schoß schüttete und sie längere Zeit betrachtete. Ich hatte alles versucht, mein Monsterobjektiv aufgeschraubt, damit ihre Zähne in erschreckender Größe herbeigezoomt, doch sie hielt die Fotos immer so, dass es unmöglich war, etwas zu erkennen. Sie gehörten ihr, ich hatte keine Chance. Vielleicht wartete irgendwo im Grau des Ostens ein Herr Romanow. Oder es waren einfach nur Fotos aus ihrer Heimat.

Insgeheim hoffte ich, von der Liebe leben zu können. Ja, ich hätte mich dieser unglaublichen Frau zu Füßen geworfen und das Vater Unser auf Ukrainisch gebetet oder was auch immer auf der Sprachschiene bei dieser Göttin ablief.

Doch da waren diese Schreie, die so allgegenwärtig waren.

Ich konnte sie nicht verraten, niemals!

Ich war ein kranker Idiot!

Ich hatte nicht viele Daten von Frau Romanow. Nach meinen Maßstabsberechnungen musste sie 178 Zentimeter groß sein, ohne Schuhe. Schuhgröße 40, diese Frau hatte relativ große Füße, die sie in ihrer Wohnung meist in dicken Wollsocken verbarg. Die Hände waren mit langen, schlanken Fingern versehen, die Nägel kurzgeschnitten und nicht lackiert. Sie verwendete etwas Eyeliner und Lippenstift, wenn der schwarze Mercedes sie in unregelmäßigen Abständen abholte. Dann zog sie eine enge Jeans, hohe nuttige Schaftstiefel, eine Bluse, unter der sich ihre prachtvollen Brüste abzeichneten, und diese noch nuttigere weiße Lederjacke an, trat vor die Haustür, wartete und stieg dann in diesen schwarzen Mercedes. Das ließ natürlich die Vermutungen wild ins Kraut schießen. Manchmal kam sie erst nach Tagen zurück, wobei es sich dann immer um ein Wochenende handelte, manchmal dauerte es nur ein paar Stunden. In der Wohnung zog sie sich dann aus, verstreute die Sachen überall, doch das alles ging schnell und die letzten Hüllen fielen vermutlich in ihrem, meiner runden Perspektive abgewandten, Schlafzimmer und dem Badezimmer. Es dauerte lange, bis sie dann im schlichten Jogginganzug und Wollsocken wieder auf dem Sofa auftauchte. Zuerst öffnete sie immer eine alte Blechdose, die mittig auf dem Tisch stand, zählte das Geld darin und legte weiteres dazu. Sie sparte es. Aber wofür? Für einen goldenen Traum? Für ein eigenes Auto? Für einen goldenen Strick, um sich daran zu erhängen? Das würde zu den schönen traurigen blauen Augen passen. Manchmal redete ich mir ein, über sie zu wachen, damit eben das nicht geschehen würde. Ja, ich würde sie vor einer Dummheit bewahren, sie lieben und ehren, bis unsere Tage grau und schließlich schwarz würden.

Aber sie bildete die einzige Spur, die ich für meine Rache hatte.

Ich hatte sie noch nie unbekleidet gesehen, auch wenn ich manchmal Stunden in der runden Perspektive wartete. Sie hatte immer etwas an, als wüsste sie von meinen Blicken und der Registrierung ihres Lebens. Sie aß gerne Dosensuppen von No-Name-Firmen, ließ fast den ganzen Tag den Fernseher laufen, blickte aber fast nie hin. Fast hätte ich darauf getippt, sie ließe ihn ohne Ton laufen. Sie ertrug keine Stille, das kam der Wahrheit vermutlich viel näher als alles andere. Und sie hatte noch eine völlig abwegige Neigung: sie schrieb Briefe. Jeden Tag holte sie einen Umschlag und einen Briefblock aus dem Schlafzimmer. Eine Zeremonie in grauem Jogginganzug, manchmal barfuß, manchmal mit diesen Socken, immer ein Glas Orangensaft daneben. Auch hier reichte die Technik nicht aus, ich konnte nichts davon lesen. Ihr Gesicht verzauberte sich dabei durchaus schon einmal zu einem Lächeln, meistens vor den Tränen. Ja, diese Romanow konnte lächeln, das schmolz bei mir die Hirnkappen weg. Da war noch Leben in ihren Augen, das sich in diesen raren Momenten zur Oberfläche durchfraß. Dieses Lächeln packte sie mit in den Umschlag und schickte es in eine mir unbekannte Richtung. Jeden Morgen warf sie einen Brief in den Kasten neben dem Döner-Imbiss und ging dann weiter zur Bushaltestelle.

Sie führte ein grausig langweiliges Leben, konsumierte keinerlei Drogen, außer hin und wieder ein Glas Rotwein aus dem Tetrapack und alte Schwarzweißfilme, die meistens auf Arte liefen. Dann saß sie auf dem Sofa, meistens im Schneidersitz und starrte auf diese alten Schinken, als ließe sich darin eine Antwort finden. Schauerlich, sie popelte nicht mal dabei oder bohrte sich im Ohr, nein, sie saß in dieser gequälten Stellung, starrte auf die Flimmerkiste und ließ manchmal ein paar Tränen fließen. Nur der schwarze Mercedes versprach ein Geheimnis und etwas, das ihrem sonstigen Lebensstil völlig widersprach. Und dieser Wagen löste in mir eine Hoffnung aus. Die Spur führte über diesen Mercedes zu etwas Größerem.

Manchmal humpelte sie, wenn der Wagen sie wieder ausspuckte, oder bewegte sich wie jemand, der unter Schmerzen litt. So eine Art Schweben und dem Vorheucheln von Gesundheit. Mein Großvater hatte das bis zur Perfektion beherrscht mit seinen Bandscheiben. Der musste verdammt viele davon gehabt haben. Als Kind hatte ich mir darunter nie etwas vorstellen können. Warte, wenn du älter wirst, dann kommen die Bandscheiben. Hilfe, die Bandscheiben greifen an. Warum erzählte man Kindern nur diesen Blödsinn? Sie humpelte ein bisschen, na und? In diesen Schaftstiefeln würde wohl jeder Frauenfuß irgendwann humpeln.

Ihre Stimme, ich hatte noch nie ihre Stimme gehört. Natürlich würde sie mit irgendeinem harten Ostakzent sprechen. Das R rollen wie ein Don Kosake und mit tiefer Stimme das Deutsche radebrechen. Manchmal fand ich das niedlich. Diese Vorstellung kratzte an dem Bild, das ich in meinem Laptop archiviert hatte.

Diese Frau Romanow war mein Weg zur Rache.

Der Tag, an dem sich die Jauche über mir bereits in einer Wolke sammelte, um sich später über mir auszukübeln, begann mit meiner Suche auf dem Weihnachtsmarkt nach dieser Katholikin. Zuerst redete ich mir gut zu, dass ich nur zufällig mit dem Bus in die Innenstadt gefahren wäre, auf keinen Fall, um sie zu suchen. Zuerst glaubte ich mir, doch als ich dann ziemlich unleidlich wurde, weil weit und breit keine Katholikin selbstgebastelten Mist verkaufte, gestand ich mir die Lüge ein. Ja verdammt, ich hätte diese Frau gerne wiedergesehen.

Ich fuhr zurück, verärgert genug, um mir im Supermarkt noch eine Billigpizza und ein paar Plastikflaschen Weißbier zu gönnen. Wut ging bei mir schon immer durch den Magen. Als ich in der Kühltruhe nach einer erschwinglichen Pizza wühlte, tauchten neben mir zwei Hände auf, die sich eine Salamipizza griffen. Als ich mich aufrichtete, bot mir Grazyna Romanow nur noch ihren Rücken an. Sie trug eine dicke Daunenjacke, einen schwarzen Schal und ihre dicken Winterboots, die schon bessere Tage gesehen hatten. Als mir die sechs Plastikflaschen mit Weißbier, die ich im linken Arm hielt, zu Boden fielen, drehte sie sich wieder zu mir herum. Sie hielt nur die Pizza und ein Tetrapack Wein in Händen. Ich kannte diese Hände, wie ich so vieles kannte. Wenn sie sich an diesem Tag nicht auch für eine Pizza entschieden hätte, wäre nichts von dem geschehen, was dann geschah. Es gibt kein Schicksal, nur die sinnlose Verkettung von Zufällen, die einen im Supermarkt eine Pizza kaufen lassen.

„Das wollte ich nicht“, sagte Grazyna Romanow zu mir und ich wäre fast in die Kühltruhe gefallen.

Sie hatte einen Akzent, mit Sicherheit auch osteuropäisch, aber ihre Stimme klang leise, weich und fast ergeben. Ihre schmalen Lippen verzogen sich kurz zu einem schüchternen, höflichen Lächeln, dann überwucherte es wieder mit Traurigkeit. Sie so nah vor mir zu haben, ohne die schützende runde Perspektive, war ein glatter Niederschlag. Sie im Bus heimlich zu verfolgen, aufregend, aber nicht niederschmetternd, denn ich hatte die Kontrolle behalten, aber jetzt stand ich dort und blickte diese Frau an, die gerade aus meinem Archiv ins Leben gesprungen war. Da ich nicht reagierte, setzte sie ihren Pizzakarton mit dem Tetrapack auf den Rand der Kühltruhe ab und ging in die Hocke. Sie sammelte meine Bierflaschen auf und stellte sie in einer Reihe ebenfalls auf den Rand der Kühltruhe.

„Schmeckt das Bier?“, fragte sie und deutete auf eine der Flaschen.

„Ist billig“, presste ich als Antwort aus meinem zugewachsenen Mund.

„Richtig“, erwiderte sie und zeigte mir kurz ihr Tetrapack mit Wein.

Wieder traf mich eine Breitseite ihrer Augen.

Ihre Haut war hell und weich, sie war nicht geschminkt, die Röte auf den Wangen hatte die Kälte draußen verursacht. Ich hatte noch nie solche Todesängste durchlebt wie in diesem Moment. Sie war nur ein Stück Weg zu meiner Rache, kein persönlicher Kontakt.

Dann kam es über mich, als ich die Verbände an ihren Handgelenken sah. Man hätte es auf den ersten Blick für den Saum eines Pullovers halten können. Pulsadern, natürlich, was denn sonst. Verdammt, sie hatte es versucht, diese osteuropäische traurige Frau. Ich hätte in der runden Perspektive bleiben müssen, ihr Retter sein. Sie bemerkte meine Blicke, vielleicht sogar meinen Schrecken, der wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihr liegen musste. Ich rechnete damit, dass sie hastig die Ärmel der Jacke herunterziehen würde, doch ihre Reaktion war ganz anders.

„Sieht aus wie Pulsadern, ich weiß. Alle gucken, aber das ist nix. Das ist Pulsadern“, sagte sie und zeigte mir erneut ihr Tetrapack mit Wein.

„Ich wollte Sie nicht so anstarren“, sagte der Voyeur und das Publikum lachte und glaubte ihm natürlich nicht.

„Ungeschickt“, sagte sie und ergriff wieder ihren Pizzakarton mit dem Tetrapack darauf.

„Ich dachte, das wäre mein Name“, antwortete ich und konnte endlich wieder etwas atmen.

Sie lächelte erneut und ich hätte mir den Kopf abhacken können dafür, dass ich keine Fotos davon machen konnte. Schon wandte sie sich von mir ab und ging gemächlichen Schrittes in Richtung Kasse.

Eine Gotteserscheinung mitten im Supermarkt, kurz vor Weihnachten.

Aber es sollte noch besser kommen in der Nacht vor dem Tag, an dem sich ganz Deutschland mit Geschenken überhäufte und das schlimmste Verbrechen beging: Weihnachtslieder. Ich stellte mir bei dem Heiligengesäusel immer Adolf Hitler im Weihnachtskostüm vor, wie das Arschloch durch ein KZ tanzte und Geschenke verteilte. War das glaubwürdig? Soviel zum Thema Weihnachtslieder. Vermutlich tat ich den Weihnachtsliedern Unrecht.

Ich blickte wieder durch die runde Perspektive: Da saß sie auf ihrem Sofa im grauen Jogginganzug, aß Pizzastücke und trank eine schiere Ewigkeit an einem Wasserglas mit dem billigen Rotwein. Natürlich schrieb sie einen Brief, weinte und lächelte, aß und trank und zeigte mir die bandagierten Handgelenke.

Ihre Worte waren mir nicht als Lüge erschienen, immerhin war ich ein Meister der Verschlagenheit, wenn auch nur im stillen Kämmerlein. Wer verletzte sich denn gleichzeitig an beiden Handgelenken? Schnitten Selbstmörderinnen sich beide Gelenke auf? Zur Sicherheit? Ob sie sich verbrannt hatte? Ein Topf hatte in der Regel zwei Henkel, die man hielt, wenn etwas überkochte. Zufall? Ein dummer Zufall: erst das linke Handgelenk beim Bügeln, Stunden später dann das rechte mit dem blöden Kartoffeltopf. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit einem Wunder zu begegnen? Geringer als sich unabhängig voneinander beide Handgelenke zu verletzen.

Ja, verdammt!

Ich hatte Angst. Ich durfte ihr nicht so nahekommen. Wenn es mich nun doch überkam und ich sie angriff! Nachher war ich doch verrückt, krank, pervers und schreckte auch vor Mord nicht zurück.

Ich suchte Rache. Ich brauchte nichts dringender als diese Befriedigung. Für die Schreie, für die Schreie in meinem Kopf musste ich es tun.

Ihre Stimme hatte mich fasziniert. Gab es so etwas wie Stimmenfetischismus?

DREI

Gefängnisse, Bordelle, Kinderheime und Irrenanstalten verlegte man immer außerhalb der Städte, damit niemand verstand, wer wir wirklich waren, falls mal einer aus einer anderen Galaxie vorbeischaute. Wir schaffen Kunstwerke, die uns berühren, aber wir verbuddeln auch Frauen zur Hälfte im Sand und bewerfen sie mit Steinen oder töten Menschen mit Giftspritzen für eine bessere Welt. Damit unsere Kinder es einmal besser haben. Diese könnten dann in Erklärungsnot geraten, wenn einer von einem entfernten Planeten sie fragt, warum die Gefängnisse, Bordelle, Kinderheime und Irrenanstalten so weit außerhalb lägen.

Abseits der Ruhr, über eine schmale Straße erreichbar, lag der graue Bau, der mich an eine Schule erinnerte, was nicht gerade zu meinen Favoriten gehörte. Vermutlich lag Graf Dracula mit seinem Sarg im Keller und leckte sich die Eckzähne, denn so viel jugendlich frisches Blut hatte es nirgendwo gegeben. Düstere Experimente im Namen der Pädagogik und irgendwelcher Götter. Eine Kapelle grenzte an Schloss Transsilvanien, daran ein Friedhof. Fehlte nur noch ein Schlachthof für die Resteverwertung. Eine grob gemauerte Mauer, die allerdings gerademal einen Meter hoch war, umgrenzte diese Anlage, das Kinderheim Der Mutter Maria. Herr, verschone mich mit diesem religiösen Kitsch! Was tat ich hier, mal davon abgesehen, dass ich genug Zeit hatte? Mir die Füße wundlatschen, denn der nächste Bus hielt in etwa einem Kilometer Entfernung? Wie kamen die kleinen Zombies denn zur Schule? Oder war so ein Kinderheim in dieser Beziehung autark?

Das eiserne, völlig verrostete Tor mit dem Schild zur Bezeichnung dieser Einrichtung war weit geöffnet, als wäre gerade erst die Kutsche mit dem Reisesarg des Grafen eingetroffen. Gleich würde ein undurchsichtiger Diener erscheinen und mich einladen mit der Herrschaft ein Gläschen Roten zu schnabulieren. Mit so einem Typen, der kein Spiegelbild besaß. Ich kannte schlimmere Wesen!

Der graue VW-Bus namens Alwin stand neben dem Eingang auf einem kleinen Parkplatz. Drei Treppen führten hinauf zu einer gigantischen Doppeltür, die zu der Gruselatmosphäre dieses Hauses passte. Ich stand vor der Treppe und fragte mich, warum ich meine Perspektive derart bewusst verließ. Wollte ich mir damit so etwas wie Normalität vorheucheln? Sieh da, ich bin kein Irrer, der Schreie in seinem Kopf hört! Hinauf und die Hand an der Klinke, aber nur weil es schneite und ich nicht gerade wasserdicht eingepackt war. Rein pragmatisch öffnete ich diese Tür und der Inbegriff des Elends befand sich vor mir.

Drei Mädchen standen in der erschreckend großen Halle und blickten mich synchron an, als wäre der Teufel stepptanzend in den Vatikan eingedrungen. Ganz normale Mädchen, keine Nonnen oder Novizinnen oder wie auch immer die Karriereleiter der Katholiken aussah. Zwischen 14 und 15 Jahren alt, obwohl das heutzutage nicht immer so einfach zu schätzen war. Die mittlere der drei sah ganz hübsch aus, blickte mich aber mit diesem unverkennbaren Oh-Gott-Ein-Mann-Augen an, die sich auch in den Gesichtern der anderen beiden fand.

„Der holt bestimmt Sandrine ab“, sagte das Mädchen links außen. Die anderen beiden flüsterten etwas, was ich nicht verstehen konnte, sich aber nicht besonders freundlich anhörte. Auch waren ihre Gesichter nun zu einem geradezu schmerzhaften Hass übergegangen. Wussten sie, was ich tat? Stand es mir auf der Stirn geschrieben, weil einer dieser gelangweilten Götter sich einen Spaß daraus machte, mich an den Pranger zu stellen? Falls ich überhaupt wusste, was ich tat!

„Sie sind vom Jugendamt“, ätzte jetzt die Schöne in der Mitte und es hörte sich an, als spräche sie über etwas Ekliges, das sie am liebsten zertreten würde.

„Ich …“

Was für eine Ignoranz mich jetzt traf, denn der Damenclub wandte sich einfach ab und ich blickte auf drei Rücken.

„Die holen uns alle hier weg“, sagte noch eines der Mädchen.

„Hört mal, ich bin nicht vom Jugendamt, höchstens vom Arbeitsamt. Ich suche jemanden, der hier arbeitet“, brachte ich zu meiner Verteidigung vor. Trotz Schnee hätte ich besser den Rückweg angetreten, doch irgendetwas hinderte mich daran, vermutlich Selbstüberschätzung.

Die drei drehten sich wieder zu mir herum und ihre Blicke hätten ein ganzes Dorf auslöschen können. Mich erinnerten sie an diese dunklen Reiter aus dem Herrn der Ringe oder an die Dementoren von Harry Potter.

„Ach ja?“

Eine Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl hätte nicht unangenehmer sein können. Drei Kandidaten für einen Amoklauf und ich schaute ihnen direkt in die blutunterlaufenen Augen.

„Eine Frau, mittelgroß, braunrötlicher Typ, dunkle Augen, Sommersprossen, verkaufte auf dem Weihnachtsmarkt irgendwelche Bastelartikel“, stieß ich im Stakkatostil hervor, bereit zur Flucht, falls diese Rächerinnen ihre Sturmgewehre zückten.

„Der meint den Doc“, sagte die hübsche Giftspritze, die immer noch die Mitte des Trios bildete.

„Den Doc?“, fragte ich verwirrt nach und erntete etwas mehr Beachtung. Man würde mich vielleicht doch nicht zertreten.

„Frau Dr. Britt“, erklärte man mir mit einem entspannteren Gesicht.

„Die Frau ist Ärztin?“

Herrlich, wie schnell in der Jugend Hass zu Hochmut und Spott wechseln konnte. Sie kicherten mich nun an und anstatt mit Abneigung überschütteten sie mich nun mit ihrer jugendlichen Arroganz. Am liebsten hätte ich ihnen gesagt, dass sie sich nicht zu früh freuen sollten, denn da draußen würden sie noch gerupft werden. Es gab dort Tiere, die nur auf sie warteten.

„Frau Dr. Britt leitet das Haus hier“, verschaffte das Mädchen links mir die finale Aufklärung. Das kam nun doch überraschend, denn so hoch hätte ich eine Verkäuferin von Bastelkram nun doch nicht in der Hierarchie eines Heimes Der Mutter Maria angesiedelt.

„Und wo finde ich Frau Dr. Britt?“

„In der Kapelle. Die gibt nie auf“, erwiderte die Hübsche und nun wechselte ihr Blick sogar noch zu Traurigkeit.

Höchste Zeit für den Rückzug: mit einem Kopfnicken verabschiedete ich mich und trat wieder hinaus. Ein Fehler, denn mittlerweile hatte sich ein fürchterliches Schneetreiben entwickelt, so dass man die Kapelle kaum noch erkennen konnte. Meine innere Stimme riet mir, so schnell wie möglich zu verschwinden, bevor der Graf sich aus seinem Sarg erheben konnte. Doch ich schlug den Kragen der Jacke höher und sprintete hinüber zur Kapelle.

Nach dem Wunder im Supermarkt geschah hier ein weiteres. Eines hätte ich besser an dieser Stelle schon begreifen sollen: zwei Wunder können nur Unglück bedeuten. Ich öffnete leise die schwere Tür der Kapelle und rettete mich vor dem Schnee in den Vorraum, wo die Gesangsbücher auf einem Tisch auslagen. Ich war vom Konkurrenzunternehmen, hätte mich trotzdem gerne bekreuzigt, wenn ich gewusst hätte, wie die Bewegung genau verlief. Das konnte im Zweifel gegen den Vampir helfen, selbst wenn es tiefsten Aberglauben darstellte. Es war eine kleine Kapelle, bot vielleicht 80 Gläubigen Platz vor einem schlichten Altar, über dem ein großes Kreuz mit dem Herrn Jesus hing. Wie auf so vielen Kreuzdarstellungen war der Schmerz fast fühlbar. Ich konnte nie verstehen, wie man an diese Hinrichtungsform glauben konnte, ohne Gewissensbisse zu bekommen, weil man sich innerlich darüber freute, dass einer gefunden worden war, den man derart zu Tode quälen konnte.

Schnee machte mich unheimlich depressiv, weil er viel zu schnell zu Matsch wurde. Im Mittelgang, der die Stuhlreihen teile, lag ein großer Tannenbaum. Links vom Altar standen drei große Kartons, als würde jemand – vielleicht Gott – umziehen. Rechts in der ersten Reihe saß diese Frau Dr. Britt und betete, zumindest vermutete ich das zuerst.

„Hör zu!“

Zuerst dachte ich, sie meinte mich damit, doch dann begriff ich, wer der Adressat war. So größenwahnsinnig, mich mit ihm auf eine Himmelsleiter zu stellen, war selbst ich nicht.

„Ich weiß nicht, was ich von dir halten soll, wenn du nicht hilfst. Heute haben sie Sandrine geholt, aber das weißt du ja bestimmt alles schon. Ich habe es den anderen noch nicht gesagt. Ich verstehe dich nicht mehr, wenn du nichts gegen diese Bürokratie ausrichten kannst. Du musst es aufhalten! Ich flehe dich an, lass es nicht zu! Es ist alles, was sie haben. Und wenn du nicht ein verflucht altes Herz hast, dann musst du etwas tun! Ich …“

Ich hatte völlig bewegungslos hinter dem Tannenbaum im Gang gestanden und fasziniert diesem Monolog gelauscht, konnte unmöglich ein Geräusch verursacht haben. Dennoch endete ihre Zwiesprache abrupt und sie sprang auf und starrte mich an.

„Ich wollte Sie nicht stören.“ Ich konnte schon höflich sein, wenn es angebracht war.

„Vielleicht haben Sie mich davor bewahrt, verflucht zu werden“, erwiderte sie, es klang aber nicht so souverän, wie sie es bestimmt beabsichtigt hatte. Sie trug dicke Schnürschuhe, eine Jeanshose, einen Rollkragenpullover und eine gefütterte Jeansjacke. Die rotbraunen Haare waren zu einem strengen Zopf geflochten, was ihr sommersprossiges Gesicht rundlicher wirken ließ.

„Ich wollte früher mal Geisterjäger werden, so wie diese Typen aus dem Film. Mit so einer Ausbildung kann man auch Flüche abwehren.“

Sie brachte kein Lächeln zustande, aber immerhin blickte sie mich nicht mehr so finster an. Jetzt stand mir der peinliche Moment bevor, meine Anwesenheit zu erklären. Da ich es selbst nicht genau wusste und nicht einmal die Chance auf die runde Perspektive bei ihr hatte, konnte ich eigentlich nur verlieren. Sie blickte mich an, bewegte leicht den Kopf in meine Richtung.

„Ich weiß es nicht“, antwortete ich ehrlich, was manchmal, meistens selten, den richtigen Weg darstellte.

„Könnten Sie sich vorstellen, die Antwort auf meine Brandrede zu sein?“

„Ich glaube nicht an ihn“, bekundete ich meinen Atheismus.

„Aber Er vielleicht an Sie.“

Normalerweise wäre mir so ein Satz so sauer hochgekommen wie eine Mischung aus Kot und Gewürm, aber aus ihrem Mund klang das fast schon nach Hoffnung. Ich fand diese Frau attraktiv, auch wenn ich nicht sagen konnte, warum das so war. Zumindest brachte sie mich dazu, etwas aus der Perspektive herauszutreten.

„Tut mir leid, ich will hier keine theologische Rede halten. Was auch immer Sie sind, Sie könnten mir helfen, den Schein zu bewahren.“

„Wie meinen?“

Fast hätte ich ein Lächeln erbeutet. „Sie könnten mir mit dem Baum helfen, ich bin gerade verlassen worden. Meine letzten beiden Angestellten sind geflohen. Ohne Geld hilft auch kein Gott. Ich habe keine Nerven mehr für unerforschte Wege. Ich werde diesen Baum aufstellen, ich werde mit einer Handvoll Mädchen in dieser Kapelle das letzte Weihnachtsfest feiern. Ich möchte Sie nicht mit meinen Problemen belasten.“

Aus diesen Worten klang eine ganze Palette von Emotionen mit, dass einem schwindelig werden konnte davon. Irgendwo bei dieser Frau hatte sich eine Ladeluke geöffnet und sie war bereit das Lager zu räumen. Und wie sie dort vor dem Altar stand, da wurde mir klar, dass ich bereit war die Grenzen der runden Perspektive zu sprengen. Was für jämmerliche Angst, was für ein erhebendes Gefühl. Ich konnte mir doch nicht sicher sein, wirklich ungefährlich zu sein. Zumindest brachte ich Unglück.

„Als gute Christin lade ich Sie danach zum Essen ein, das Sie mit mir zubereiten dürfen für etwa zwölf Personen“, sagte sie und es klang schon recht verzweifelt nach einer Bitte.

„Wären Sie auf dem Weihnachtsmarkt derart aufgetreten, dann hätte Ihnen so ein Typ wie ich nicht beim Verkauf helfen müssen“, erwiderte ich und kämpfte mit der Angst, dieser gottgläubigen Frau zu nahe zu kommen.

„Da war die Verzweiflung noch nicht so nah am Abgrund und die Hoffnung blühte noch sanft in der Ferne und mir war schweinekalt und Sie waren so unglaublich nett. Reicht Ihnen das jetzt, um mit mir diesen Baum hier neben dem Altar aufzustellen?“

Sie konnte sogar niedlich grinsen – unfassbar. Ich ging also an dem Baum vorbei und inspizierte den Ständer ohne jede Zweideutigkeit und stellte die Schrauben etwas weiter. „So könnte es passen!“

„Dann ans Werk, Fremder“, rief sie und klatschte in die Hände. Gemeinsam bugsierten wir den Baum in den Ständer und während ich ihn hielt, lag sie am Boden und drehte die Schrauben zu. Und tatsächlich stand die Tanne dann kerzengerade links neben dem Altar.

„Sie können alles, oder?“

„Sie haben mich noch nicht Stepptanzen gesehen.“

Sie lächelte, endlich lächelte Frau Doktor und trat dicht an mich heran. „Ann-Katrin, mit Bindestrich, aber ohne H“, stellte sie sich nun auch offiziell vor und schob für einen Moment ihre kühle Hand in meine. Ich bin und war nie der Typ für Berührungen, schon ein leichtes Schulterklopfen konnte meine fragile Welt zum Einsturz bringen. Aber diese kühle weiche Hand hätte ich zu gerne länger festgehalten, vielleicht strahlte etwas Normalität davon auf mich ab.

„Tobias Gornik, garantiert ohne Bindestrich.“

„Tobias ist ein schöner Name, mag ich gern.“

Was war ich doch für ein Glücksschwein, dass mich Mama und Papa Gornik nach einer Gestalt aus einem beliebten Kinderbuch benannt hatten. Man hätte es wirklich schlimmer treffen können, wenn es denn der Wahrheit entsprochen hätte.

So schmückte ich mit Frau Doktor den Baum, entknotete eine Lichterkette, turnte auf einer Leiter herum, um die Spitze anzubringen, und baute eine Krippe auf. Das ganze heilige Zeug war in den Umzugskartons gelagert worden, um jedes Jahr zu Weihnachten etwas an der Freiheit zu riechen. Hoffentlich wollte sie mich nicht missionieren, ich war garantiert glaubensresistent.

„Scotty, Energie“, rief ich im Übermut der ehrlichen Arbeit und stöpselte den Stecker der Lichterkette ein.

„Sind Sie einer von diesen Trekkies?“

„Zwar alles gesehen, aber nicht fanatisch. Es leuchtet, Frau Doktor.“

„Sie sagen das, als wäre ich Ärztin“, sagte sie und stapelte die leeren Kartons übereinander.

„Sind Sie nicht, oder?“

„Nee!“ Sie lachte und ihre Hand lag kurz auf meinem Unterarm. Ich musste hier schnellstens fort, sonst konnte ja wirklich Schlimmes passieren.

„Theologie?“

„Theologie“, bestätigte sie und grinste leicht schräg.

„Und damit wird man Leiterin eines Kinderheimes?“

„Autsch, Fettnäpfchen. Der Baum steht, wer hätte das gedacht? Interesse am zweiten Teil? Können Sie kochen?“, wich sie geschickt aus und verbot mir mit einem durchdringenden Blick weitere Nachfragen. Ihren wunden Punkt hatte ich demnach schon freigelegt.

Draußen tobte das, was in anderen Breitengraden immer als Schneesturm durchging, in diesem Land aber unter der Bezeichnung Heftiger Schneefall gehandelt wurde.

„Sind Sie mit dem Auto gekommen?“

„Bus“, erwiderte ich und eine Ladung Schnee wehte mir ins Gesicht. Wir stemmten uns gegen den Wind und eilten hinüber zum Hauptgebäude.

Ich habe lange darüber nachgedacht, was an diesem Tag und in der Nacht alles so geschah, einfach auf das Wetter zu schieben. Es war die elementarste Möglichkeit, passte so perfekt dazu und entließ einen aus jeglicher Schuld. Wenn dieser Schnee nicht gewesen wäre, dann hätte ich den Bus genommen, weil der noch gefahren wäre, um mich aus dieser Welt zu erretten. Doch ich versank immer mehr in einem Monolog von Frau Doktor Britt, während wir in einer maroden Küche Bratkartoffeln, Salat und Frikadellen zubereiteten, als wären wir ein Dreamteam aus irgendeiner Kochshow. Die zweifelnde Katholikin hielt mich für eine Art mobilen Beichtstuhl. Später saß ich mit dieser Frau und neun Mädchen in einem zugigen großen Speisesaal und fragte mich, ob es wirklich einen gelangweilten Gott gab, der mich in Versuchung führen wollte. Die drei Mädchen vom Nachmittag musterten mich und kicherten hinter vorgehaltener Hand. Frau Doktor hatte mich als alten Bekannten vorgestellt, nachdem nun wohl endgültig geklärt worden war, dass ich mit dem Jugendamt nichts zu tun hatte.

„Ladies, dies ist Tobias Gornik, ein Bekannter aus hoffnungsvolleren Tagen.“ Was war vorgestern auf dem Weihnachtsmarkt denn so hoffnungsvoll gewesen?

In Gegenwart von neun Mädchen und einer Frau Doktor zu essen, bildete für mich eine ungewohnte Anstrengung.

Doch zurück zu dem Monolog aus der Küche, der mich in etwas einführte, was sich vermutlich nur schwerlich archivieren und einordnen ließ. Hoffentlich tat sich die traurige Romanow nichts an in dieser Nacht. Ich durfte Kartoffeln schälen, ein Gebirge von Kartoffeln, während sie monologisierte.

„Das Mittagessen ist schon ausgefallen wegen Sandrine. Sie haben Sie geholt. Ja, ja, ich erkläre Ihnen das. Sie blicken mich an, als hätte ich Hörner und Hufe. Ich leide nur fürchterlich unter extrem kalten Füßen, eine Frauenkrankheit, für die keine Krankenkasse aufkommt. Ich rede eigentlich nicht so viel, aber da Sie nun mal so hereingeschneit sind …“, sie lächelte an dieser Stelle in ihrem ganzen Charme wie ein Weihnachtsmärchen, „… müssen Sie mich schon ertragen. Sie bringen Sandrine nach Köln, ob das nun Sinn macht oder nicht. Die übrigen zehn Mädchen werden sie wie mit einem großen Salzstreuer über das Land verteilen. Wo gerade Platz und Bett steht für jemanden. Das ist christlich, denn man kümmert sich. Sie können mir nicht so ganz folgen, oder? Ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Wenn ich Ihre Nerven zu sehr strapaziere, bewerfen Sie mich einfach mit Kartoffeln. Ein Kinderheim, ein paar Nonnen, ein Pfarrer, etwas Personal und eine studierte Theologin als Leiterin. Ich erspare Ihnen den Werdegang dieser Leiterin, die vor über drei Jahren hier aufschlug. Dreiundzwanzig Jungen und einunddreißig Mädchen. Ein eigener Schulbus, pädagogische Kniffe und ein gottesfürchtiger Einsatz. Es hat mir Freude gemacht, vielleicht hatte ich so etwas wie Erfüllung gefunden. Das hört sich an, was? Mir fällt dazu nichts Besseres ein im Moment. Dann kam der Punkt, wo man auf dem Berg steht, genüsslich nach unten schaut und gar nicht begreift, dass man nur einen kurzen Augenblick in der Höhenluft stehen darf. Schwester Ursula, ja, mit diesem alten Biest begann es vor zwei Jahren. Ich erwischte sie dabei, wie sie eines der Mädchen verprügelte. Da rutschte nicht mal eben die Hand aus, sie schlug mit einer Gardinenstange auf sie ein, prügelte mit hochrotem Kopf auf das Kind ein, das zusammengekauert und halbnackt in einer Ecke hockte und nur noch ihr Gesicht mit den Händen schützen konnte. Einige Mädchen hatten ein paar Jungs zu Hilfe geholt, doch auch diese wagten nicht, dazwischen zugehen. Sie hätte sie totgeschlagen, ehrlich. Ich habe es an ihrem Gesicht gesehen und an ihren grässlichen Worten: Gott hasst dich, Gott hasst dich.“

Ich wagte es nicht, ihren Sprechdurchfall zu unterbrechen, aber ich vergaß für eine Weile die Kartoffeln und starrte sie mit offenem Mund an. Vermutlich hatte sie mich längst vergessen, sich selbst in der Vergangenheit verloren. Ihre Hände kneten das Hackfleisch für die Frikadellen, ihr Blick ging weit darüber hinaus, durch mich hindurch, dorthin, wo eines der Mädchen von einer Nonne verprügelt wurde. Selbst Nonnen sind Menschen, warum sollte einem Pinguin nicht mal die Sicherung durchbrennen?

„Es kostete mich eine Menge Kraft, sie zum Aufhören zu bringen. Doch das war nur der Beginn, denn von nun an legte mir die Diözese nur noch Steine in den Weg. Ich schloss Schwester Ursula und die anderen aus, stellte Pädagogen ein und scheiterte glänzend. Der Pfarrer schwärzte mich an, der Bischof strich mir alle Gelder und zuletzt sogar dieses Gebäude. Keine neue Küche, keine Renovierung, alles steht zum Verkauf. Diese Einrichtung wird geschlossen, zum Jahresende endet alles. Die Jungen sind schon verteilt, die Mädchen folgen. Heute Sandrine, morgen vielleicht Birgit und übermorgen … Die Inquisition schlägt wieder zu, ich bin passend fast rothaarig dazu. Ich bin zu modern, meine Methoden sind nicht im Einklang mit der Gesinnung dieses Hauses. Ich konnte nicht gegen alle Traditionen anrennen. Der Bischof würde mich liebend gerne verbrennen lassen. Weil ich so hilflos wütend bin, erzähle ich einem Fremden all das und könnte fast weinen, was ich schon ausgiebig getan habe. Jetzt wissen Sie auch, warum ich so naiv bin zu glauben, ich könnte mit dem Verkauf von ein paar Basteleien dieses Heim retten. Das ist meine Welt, die hier verkauft wird. Das ist egoistisch, aber ich weiß, dass die meisten Kinder das ebenso erleben. Die katholische Kirche muss sparen, Immobilien verkaufen. Der Kapitalismus ist bei Gott angekommen. Ich bin naiv und blind, aber welchen Sinn hat das alles?“

Ich brauchte nicht darauf zu antworten, denn kurz darauf entschuldigte sie sich bei mir für ihren Redefluss und für das Abladen ihrer Probleme. Ich dürfte gerne mit ihr und den Mädchen essen.

Daraufhin wurde ich Tobias Gornik, der alte Bekannte. Die Stimmung beim Essen war nicht gut, man spürte bei diesen Mädchen, dass etwas zu Ende ging. Frau Dr. Britt beichtete ihnen, dass Sandrine bereits abgeholt worden war, was auch nicht gerade die Stimmung hob. Ein Platz blieb frei, doch das schien niemanden zu kümmern, denn es sagte auch niemand etwas dazu. Ich war mir aber sicher, dass sie von zehn verbliebenden Mädchen gesprochen hatte.

Nach diesem seltsamen Essen räumten einige Mädchen ab und wuschen das Geschirr in der Küche. Ich verlor Frau Doktor aus den Augen und fand diese Möglichkeit sehr passend für einen Abgang. So zog ich meine Jacke an, die diesem Schneetreiben nicht gewachsen sein würde, und schlich mich hinunter in diese große Halle. Hinter der schweren Tür befand sich die weiße Hölle, die mir einen recht unangenehmen Heimweg prophezeite. Ob der Bus noch fahren würde? Wie konnte in ein paar Stunden so verflucht viel Schnee fallen?

„Bin ich Ihnen auf die Nerven gegangen?“

„Fährt der Bus wohl noch?“, fragte ich mehr mich selbst, wandte mich aber trotzdem herum.

„Das sind nicht Ihre Probleme, ich weiß.“

„Dann werde ich wohl zu Fuß gehen müssen“, fuhr ich in meinem Selbstgespräch fort.

„Danke, dass Sie mir wenigstens zugehört haben.“

„Ich mach mich dann mal auf den Weg.“ Ich zog die eine Türhälfte auf und ließ Wind und Schnee hinein, um den Bühnenaufbau für meinen theatralischen Abgang herzurichten. Was auch immer mich hierhergetrieben hatte, in diesem Moment wollte ich nur noch fort. Nur die runde Perspektive bot noch Sicherheiten.

Ihre Hand krallte sich in meinen Ärmel und zog tatsächlich daran. Jetzt konnte ich sie auch wieder ansehen, was vermutlich den fatalsten Fehler an diesem Tag darstellte. Ich entkam ihren Augen nicht mehr, erlag ihrem sommersprossigen Lächeln und dem Angebot, das sie mir nun unterbreitete. Es gäbe mittlerweile genug leere Zimmer und ein Bett sei schnell gemacht. Das war es nicht und das wusste sie. Es fuhr kein Bus mehr oder hätte ich Verpflichtungen? Erst verstand ich nicht, was sie damit eigentlich meinte, doch dann verneinte ich die Verpflichtungen und gab zu, dass da niemand auf mich wartete. Höchstens eine traurige Frau aus dem Haus gegenüber, die sich womöglich nochmals suizidmäßig betätigte, wenn ich sie nicht überwachte. Ich sagte das natürlich nicht. Sie könnte Wein, Käse, Brot und gute Musik in Aussicht stellen. Ich solle noch eine Weile in ihren Räumen warten, sie hätte noch etwas zu erledigen.

In der dritten Etage schloss sie mir diese erwähnten Räume auf, lächelte immer noch und verschwand dann wieder.

„Du wirst sterben“, flüsterte ich und verschwand hastig in diesen Räumen. Ja, so hatte ich das erwartet: ein riesiges Büro, altmodisch und zweckmäßig. Vermutlich hatte hier schon Gott hinter dem wuchtigen Schreibtisch gesessen und sich so seine Gedanken zum Weltfrieden gemacht, bevor er befördert worden war. Alte Aktenschränke, ein Bücherregal, das vermutlich schon seit der Erfindung des Buchdrucks unter seinen Lasten litt und bereit war zusammenzubrechen. Ein altmodischer Computer, ein totes Relikt als Zeichen des Verfalls. Zu meiner Angst gesellte sich die glorreiche Aussicht auf einen Alptraumabend. Ich setzte mich auf einen der beiden Stühle, die vor dem Schreibtisch standen, und dachte darüber nach, was das für ein Gefühl darstellte mit einer Frau Doktor, neun sichtbaren und einem unsichtbaren Mädchen unter einem Dach zu hausen. Dass ich diesen Ort, diese Frau überhaupt aufgesucht hatte, grenzte schon an völlige Geistesverwirrtheit. Wozu war ich noch in der Lage? Bestimmt war ich gefährlich. Ob Frau Doktor schon die Polizei gerufen hatte, um den kranken Irren aus dem Verkehr zu ziehen? Sie war alles andere als dumm: angeschossen von der bevorstehenden Heimschließung, aber bestimmt nicht dumm. Ich saß wartend herum, stand zwischendurch auf und blickte aus dem Fenster, vor dem eine widerliche graue Gardine hing. Dahinter tobte weiterhin der Schnee, der die Landschaft schon gehörig überzogen hatte. Ich setzte mich wieder, glotzte aus dem Fenster, setzte mich wieder, betrachtete Buchrücken in den Regalen. Lauter pädagogische Fachliteratur, ein paar Kinderbücher und stapelweise Fachzeitschriften und Gemeindeblätter. Über der Tür hing ein Holzkreuz, das ich jetzt erst bemerkte und wieder meine Angst anstachelte. Ich wartete, blätterte in einigen Sachbüchern und erfuhr etwas über Autismus, gruppendynamische Prozesse und Hochbegabung, wobei ich natürlich völlig fehl am Platze war. Ich ging zum Fenster, setzte mich wieder, wartete und fragte mich, wohin wohl diese andere Tür führen mochte. Ein WC? Eine Rumpelkammer voller Kinderleichen in Aktenform? Nichts? Ich wartete. Und dann öffnete sich tatsächlich jene Tür und es erschien Frau Doktor und blickte mich mit einer Mischung aus Überlegenheit und Erwartung an. Sie trug nur noch dicke Wollsocken, natürlich noch den Rest der Kleidung, aber halt keine Schuhe mehr. Hinter ihr strahlte sanftes Licht aus einem Deckenfluter. Da lag offenbar viel mehr als das Nichts oder eine Rumpelkammer.

„Ich weiß eigentlich nichts über Sie, aber ich hätte gewettet, dass Sie zumindest mehr erforschen würden als dieses schmucklose Büro“, sagte sie mit ihrer zurückhaltenden Stimme, die zwar Gott beschimpfen konnte, aber dennoch kein rechtes Volumen zu erzeugen wusste.

„Bei Fachliteratur werde ich immer schwach. Die Hälfte der Regalwand habe ich geschafft, den Rest reime ich mir zusammen“, erwiderte ich und war nun neben den Stuhl getreten, da ich mir sitzend zu unbedeutend erschienen war.

„Meine Verspätung tut mir leid, aber es herrscht nicht gerade eine ausgelassene Stimmung in diesem Haus, wie Sie ja beim Essen feststellen konnten.“

„Eines Ihrer Schäfchen fehlte ja auch“, gab ich meiner Beherrschung des Zahlenraumes von 1 bis 10 Ausdruck.

„Nicht direkt“, antwortete sie knapp und verschwand dann aus dem Türrahmen. War das nun eine Einladung oder eine Abfuhr? Warum waren Menschen außerhalb der runden Perspektive immer so kompliziert?

Natürlich hätte ich diesen Raum niemals betreten dürfen, aber Fehler entstehen nun mal aus kleinen Schritten. Es waren zwei Räume, die aber nicht durch eine Tür unterbrochen waren, sondern mit einem offensichtlichen großen