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Eine alte Legende, eine verlorene Hoffnung. Eine Stadt mit der Sehnsucht nach Erlösung. Zwei junge Männer und ein Artefakt auf der Suche nach der Wahrheit. Willkür und Gewalt wüten auf den Straßen Ja'harums. Die Hoffnung auf die Wiedergeburt Leilarims, der höchsten Gottheit, als Mensch, ertrank in Blut und Leid. Der Straßenjunge Rasaan wird mit dem Leben seiner Schwester erpresst, das kostbarste Artefakt aus dem verhassten Sahishaantempel zu stehlen – und wird von dem Priesteranwärter Shahim erwischt, der als verlorenes Kind der Unruhen im Tempel aufgewachsen ist. Shahim vermag Rasaan nicht an den grausamen Koshra und damit dem sicheren Tod auszuliefern, obwohl er sein eigenes Leben damit riskiert. Doch warum sollte Rasaan das Artefakt stehlen? Und warum will Koshra, dem kein Leben heilig ist, unbedingt, dass Shahim unversehrt zu ihm zurückkehrt? Und ist der Leilarim wirklich nur eine alte Legende? Auf der Suche nach der Wahrheit geraten Shahim und Rasaan immer tiefer in ein Netz von Intrigen, Machtspielen und alten Rivalitäten.
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Seitenzahl: 558
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Aidan C. Wannske
Der Leilarim
Fantasyroman
© Copyright 2024 Aidan C. Wannske
Coverdesign: Canvas / KI unterstützt / Aidan C. Wannske
Verlagslabel:
Mara’Eh
Idehult 311
38899 Påryd / Südschweden
E-Mail: [email protected]
www.maraeh.eu
ISBN: 978-3-759831-78-1
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Neopupli GmbH
Köpenicker Straße 154a
10997 Berlin
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Für alle, die anders sind.
Man erzählt sich
1 – Shahim
2 - Rasaan
3 - Shahim
4 - Rasaan
5 - Shahim
6 - Shahim
7 - Rasaan
8 - Shahim
9 - Rasaan
10 - Shahim
11 - Rasaan
12 - Rasaan
13 - Shahim
14 - Rasaan
15 - Shahim
16 - Rasaan
17 - Shahim
18 - Shahim
19 - Rasaan
20 - Rasaan
21 - Shahim
22 - Shahim
23 - Rasaan
24 - Shahim
25 - Rasaan
26 - Shahim
27 - Shahim
28 - Rasaan
29 - Rasaan
30 - Shahim
31 - Shahim
32 - Rasaan
33 - Shahim
34 - Rasaan
35 - Shahim
36 - Rasaan
37 - Shahim
38 - Rasaan
39 - Shahim
40 - Rasaan
41 - Shahim
42 - Rasaan
43 - Shahim
44 - Rasaan
Übersicht
Die wichtigsten Religionen/Orden:
Danksagung
Man erzählt sich, aber niemand weiß, ob es wirklich so geschehen ist…
… eine Geschichte aus einer dunklen Zeit, in der diejenigen, die das Recht hatten keine Macht besaßen, und diejenigen, die die Macht besaßen kein Recht hatten. Dunkelheit lag über der weißen Stadt Ja’harum. Hoffnungslosigkeit zog durch die Straßen und den Geist der Menschen. Doch in der dunkelsten Stunde wurde ein neuer Funken geboren, der langsam das Licht in sich fand, um die Menschen zu erinnern. Denn die Eine, die Ist, vergaß ihre Kinder nicht. Und jene, die ihren Glauben nie verloren, trugen ihre Liebe und ihr Licht in der Kälte der Nacht.
Der weiße Marmor des Bodens glänzte im Licht der aufgehenden Sonne und an den Stellen, wo das Wasser noch nicht getrocknet war, spiegelten sich die hohen Säulen. Shahim schaute sich um. Die Schatten waren noch lang und alles schien friedlich. Und dennoch spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Ein leises Geräusch, wie Blätter, die vom Wind bewegt sanft über den Boden glitten, schien aus Richtung des inneren Heiligtums zu kommen. Doch es gab keinen Wind und auch keine losen Blätter.
Zu sehen war nichts. Es konnte sich fast nur um ein Tier handeln, das sich verirrt hatte. Vermutlich eine der halbwilden Katzen, die es in der Stadt so viele gab. Die anderen Priester waren noch mit ihren Diensten für Sahishaan beschäftigt oder kontrollierten die Ein- und Ausgänge der Tempelanlage, außer ihm sollte gerade kein anderer Mensch hier zugegen sein. Shahim bewegte sich langsam und leise, um einen anderen Blickwinkel zu bekommen.
Aus der Richtung des Altarraumes raschelte es wieder. Shahim schlüpfte hinter die nächste Säule, die nun zwischen ihm und den Altarraum stand. Er beugte die Knie, neigte leicht den Kopf, so dass er eben gerade an der Säule vorbeischauen konnte. Im Spiegel des frisch gewischten Bodens bewegte sich ein Schatten. Und er war größer als eine Katze, auch wenn er sich ähnlich geschmeidig bewegte. Der Schemen war ein Mensch.
Shahim verengte die Augen, um besser sehen zu können. Es war schwer, etwas zu erkennen, der Schemen trug einen weißen Mantel, nur dort, wo das Sonnenlicht durch die Säulen schien, entstand ein leichter Schattenwurf und im Spiegel des Marmors zeigten sich minimale Anzeichen, dass etwas nicht ganz zusammenpasste. Shahim selbst war im Schatten der Säule, seine dunkle Robe machte es ihm dennoch schwer, sich auf dem hellen Grund zu verstecken. Ein weißer Mantel hatte hier auf keinen Fall Zutritt. Der Schemen verschwand im inneren Heiligtum. So leise wie möglich glitt Shahim in Richtung des Einganges. Ein leises Geräusch verriet ihm, dass der Schemen die Tür aus kristallinem Quarz geöffnet hatte, hinter der sich der kostbarste Gegenstand des inneren Heiligtums befand: Ku’hariam Shi-Esh-Shaha, das Artefakt der Macht von Sahishaan, das von niemanden berührt werden durfte.
Shahim hielt den Atem an. Wenn die Geschichten stimmten, müsste der Dieb sich in schlimmsten Schmerzen winden, die Sahishaan ihm zur Strafe zukommen lassen könnte. Doch es war nichts zu hören, was darauf hindeuten würde.
Ein leises Rascheln. Shahim wich ein Stück zurück, hinter einen Vorsprung, damit der Dieb ihn nicht sofort wahrnehmen würde. Er musste ihn aufhalten, auch wenn die Dreistigkeit, in das innerste Heiligtum des strafenden Gottes einzudringen und sein höchstes Symbol zu stehlen, schon ausgesprochen bemerkenswert mutig war. Oder wahnsinnig. Er spürte, dass sich der Schemen näherte, und hielt den Atem an. Er würde ihn überraschen, indem er vorsprang und ihn erst einmal zu Fall brachte. Dann würde er ihn irgendwie festhalten und das Artefakt wieder entwenden, ohne es zu berühren. Das war das Wichtigste. Und er durfte kein Mitgefühl mit dem Dieb haben, dass er erwischt wurde und die Härte der Strafe zu spüren bekommen sollte.
Kurz bevor der Schemen bei ihm ankam und an ihm vorbei musste, sprang Shahim vor, in die Richtung des Diebes. Er traf ihn seitlicher als beabsichtigt. Beide kamen durch den Stoß ins Straucheln und stürzten zu Boden. Shahim nutzte den winzigen Vorteil, den er durch die Überraschung bekommen hatte, und griff zu. Er bekam ihm mit seiner rechten Hand am rechten Arm zu fassen, rollte sich halb über ihn. Der Dieb wand sich geschickt, aber Shahims Griff war fest und er schaffte es, durch sein Körpergewicht den anderen noch weiter nach unten zu drücken. Als der Dieb merkte, dass er sich nicht herauswinden konnte, packte er Shahim mit der freien linken Hand an der rechten Schulter. Gleichzeitig stellte er sein linkes, freies Bein auf und versuchte Shahim von sich runterzurollen. Shahim erhöhte den Druck, sein rechtes Bein lag zwischen den Beinen seines Gegners.
Nie im Leben, nie, war er einem Menschen so nah gewesen. Bein zwischen Beinen, Becken auf Becken. Es verwirrte ihn, aber das durfte ihn nicht ablenken. Das Gesicht des Diebes war das eines kaum erwachsenen Jungens, der alle Kraft zusammennahm, bevor er einen weiteren Versuch machte, sich mit Shahim so zu rollen, dass er oben liegen würde. Es glückte. Shahim verspürte einen Schmerz im linken Arm, als er darüber rollte, aber dann war der Arm frei und er schlang ihn um den schmalen Körper des Diebes.
Beide keuchten. Der Dieb versuchte wieder, sich zu befreien, Shahim umschlang mit seinem linken Bein das rechte des Diebes. Hitze stieg in ihm auf. In dem Versuch zwischen Befreiung des einen und das Festhalten des anderen rieben sich ihre Körper aneinander. Shahim fühlte eine Erregung von der Mitte aufsteigen, wie er sie nie gekannt hatte. Scham stieg mit ihr auf, aber gleichzeitig der blinde Wunsch, dass es weiter gehen möge.
Sie rollten noch einmal umeinander. Nun lag er wieder oben, der Dieb unten. Keuchend. Wer hielt sich an wem fest? Shahim wusste es nicht mehr zu sagen. Nur dass etwas geschah, von einer tiefen inneren Kraft, von der er wusste, dass er sie gar nicht spüren dürfte, aber das war alles gerade unwichtig. Sie hielten einander fest, bewegten sich miteinander, nicht mehr gegeneinander. Rollten zurück. Der Junge über ihm hob den Kopf und für einen Moment sahen sie sich tief in die Augen. Braune Augen, wie Kastanien. Fast schwarz. Augen, die ihm so wundersam vertraut erschienen, als hätte er sie schon immer gekannt, dabei sah er diesen Jungen zum ersten Mal in seinem Leben.
Eine dunkle Locke stahl sich unter der weißen Kapuze hervor und betonte den jungen Charakter des schmalen, braunen Gesichtes. Ein dunkler Flaum bedeckte die Wangen. Nie, nie würde Shahim dieses Gesicht wieder vergessen können. Die Weichheit des Blickes in den warmen Augen. Den Atem, den er in seinem Gesicht spürte. Das Klopfen ihrer Herzen. Diesen Moment außerhalb von Zeit und Raum.
Der Junge beugte seinen Kopf über ihn. Weiche, warme Lippen berührten seine. Shahim schloss die Augen. Er konnte nicht anders, er erwiderte den Kuss. Eine neue Welle der Erregung erfasste ihn und er wusste, dem Jungen ging es genauso. Sie stöhnten und keuchten. Dann - war es vorbei. Und doch auch wieder nicht.
Shahims Blut pulsierte wild in seinen Adern. Das, was gerade geschehen war, würde ausreichen, um beiden eine qualvolle Strafaktion durch Koshra einzuhandeln. Vielleicht würde er, Shahim, nicht bis zum Tode gequält werden, aber Koshra würde es ihn sich wünschen lassen. Und der Junge mit den Augen, in denen man sich verlieren konnte, würde qualvoll sterben, wenn er gefangen würde. Shahim konnte ihn nicht mehr festhalten. Die Arme fühlten sich schwer an, als wären sie aus dem gleichen Marmor, wie der Boden, auf dem er lag. Er ließ los.
Kälte umfing ihn, als der Junge schwer atmend von ihm glitt, seinen Beutel ergriff, den er beim Kampf verloren hatte, und mit dem Weiß des Marmors zu verschmelzen schien. Shahim schloss die Augen und atmete durch. Er musste aufstehen, Meldung machen. Den Dieb verfolgen. Ihn aufhalten.
Sein Körper weigerte sich, sich zu bewegen. Das Beinkleid klebte an ihm. Wieder stieg Scham in ihm auf. Er hatte getan, was er niemals hätte tun dürfen. Und das war nicht nur, dass er den Dieb des heiligsten Artefaktes hatte entkommen lassen. Mindestens ebenso schlimm war es, dass er Lust gespürt hatte und es ihr erlaubt hatte, sein Handeln und Denken zu bestimmen. Dass er sich an einem Körper gerieben hatte.
Auch wenn er das sichere Gefühl hatte, dass sie beide das gleiche gefühlt hatten, fühlte er sich schuldig. Schuldig, sich an dem Körper eines anderen erregt zu haben. Ihn vielleicht angeekelt zu haben. Beschmutzt. Beschämt.
Er wusste nicht im Detail, was für Strafen dafür verhängt wurden, wenn ein Angehöriger des Sahishaantempels - er wusste nicht mal, wie er es benennen sollte - sich auf diese Weise ergötzte. Als Kind hatte er erlebt, dass zwei seiner Priesterbrüder von Koshra dabei erwischt worden waren, als sie dieses Verbot, das zu den höchsten und wichtigsten der vielen Verbote gehörte, verletzt hatten. Alle Tempelangehörigen hatten in die große Halle der Gerechtigkeit kommen müssen, ihre Augen verbinden, damit sie sich nicht mit dem Anblick von nackter Haut verunreinigen mussten, und zuhören, wie Koshra die beiden bestrafte. Die Schmerzensschreie verfolgten Shahim immer noch manchmal in seinen Träumen. Und der Anblick von dem Blut auf dem Marmor, dass als Mahnung drei Tage nicht weggewischt werden durfte. Einer von ihnen hatte die Folgen der Strafe nicht überlebt, obwohl die Heilkunst im Sahishaantempel genauso meisterhaft angewendet wurde, wie die Kunst der maximal schmerzhaftesten Strafe ohne Todesfolge.
Übelkeit stieg in ihm hoch. Nur einer durfte sich auf diese Weise anderen nähern - Pedare Koshra. Als oberster Priester durfte seine Macht über andere auf diese Weise demonstrieren.
Shahim rollte über die Seite und richtete sich auf. Er musste Meldung machen. Bevor einer der anderen feststellen würde, dass Ku’hariam Shi-Esh-Shaha nicht mehr an ihrem Platz war und er Ärger bekam, weil er in der fraglichen Zeit wie üblich gewischt hatte. Auch wenn jeder hier regelrecht eingebläut bekam, den Blick von der Echsenskulptur abzuwenden, war er sich sicher, dass nicht nur er heimlich versucht hatte, einen Blick darauf zu erhaschen. Und er hatte als Kind schmerzlich gelernt, dass es gefährlich war darauf zu hoffen, dass niemand ausgerechnet dann, wenn es gerade besonders unangenehm war, seine Nase irgendwo hineinsteckte, wo er diese sonst gepflegt fernhielt. Wie auch immer die älteren Priester das machten, sie schienen es genau zu wissen, wann jemand auszuprobieren versuchte, wie weit man die Regeln dehnen und den scharfen Augen Sahishaans entkommen konnte. Und wenn Ku’hariam Shi-Esh-Shaha ihm wirklich irgendwas bedeutete, müsste Sahishaan schon den halben Tempel auf den Weg hierhergeschickt haben. Doch noch war niemand zu sehen.
Shahim biss sich auf die Lippen. Möge Sahishaan seine Gedanken bloß nicht hören. Was war nur mit ihm los? Auf diese Weise hatte er schon seit Jahren nicht mehr gewagt zu denken. Man zweifelte nicht an den Worten der hohen Lehre! Nie!
Er hätte sich gerne ein wenig gereinigt und die Beinkleider gewechselt. Doch er wagte es nicht. Und wenn Sahishaan zugeschaut hatte und genau wusste, was geschehen war? Würde er Koshras Blick leiten, damit dieser Anzeichen erkennen möge, was außer dem Diebstahl noch geschehen war?
Shahim stand ganz auf, glättete die Kleidung und machte probeweise ein paar Schritte, überlegte kurz und ging dann Richtung des innersten Heiligtums. Erstmal schauen, was der Dieb wirklich gestohlen hatte. Er hatte es ja nur aus den Geräuschen geschlossen. Der Dieb - bei dem Gedanken an den jungen Mann wurde ihm gleichzeitig heiß und kalt. Er atmete tief durch. Er sollte ihn besser vergessen.
Im Innersten Heiligtum war es hell. Die Fenster in der runden Kuppel waren so eingerichtet, dass zu jeder Tageszeit die Sonnenstrahlen hinein strahlen konnten und zum Altar gelenkt wurden. Dorthin, wo aus kristallinem, durchsichtigem Quarz eine Pyramide aufgestellt war, deren eine Seite wie eine Tür geöffnet werden konnte. Und wo für gewöhnlich die etwa eine Handlänge große Echsenskulptur aus dem dunkelpurpurnen Horn im Licht schimmernd und schillernd stand. Die Pyramide war nicht leer, es lag etwas anderes darin.
Shahim näherte sich langsam, vorsichtig darauf bedacht, nicht direkt auf den Altar zu schauen. Auch er hatte hier als einfacher Pahaanshare nichts verloren. Kurz vor dem Altar blieb er stehen. Er hatte Angst. Angst, noch näher zu kommen. Angst davor, was er vorfinden würde. Er blinzelte in Richtung Altar. Was es auch immer genau war, in der Pyramide lag ein flacher, runder Gegenstand.
Shahim zitterte. Er hatte genug gesehen. Er musste fort von hier. Trotz des Sonnenlichtes und der Helligkeit im Raum, fühlte er sich, als würde er sich durch dunklen Schatten bewegen. Wie ein feines, klebriges Netz, das sich über ihn legte.
Shahim wandte sich ab und verließ den Raum so zügig er konnte, ohne zu rennen.
Rasaan hielt inne, als er den Grenzbereich der inneren und der äußeren Tempelanlagen erreicht hatte, der einige Nischen bot, in denen er kurz verschnaufen konnte. Er schaute sich vorsichtig um. Es war niemand zu sehen. Der direkte Weg nach draußen führte durch die reich verzierten Säulen in den Hof, wo die ängstlichen Gläubigen abends die Anlage betraten, um ihre Abgaben zur Besänftigung des strafenden Gottes Sahishaan zu leisten. Jetzt würde es auffallen, wenn ein Fremder sich dort aufhalten oder den Hof überqueren würde.
Hinter einer Ecke am anderen Ende des Säulenganges, das wusste Rasaan, war einer dieser vielen runden Türme deren Verzierungen Möglichkeiten boten, auf eine höhere Ebene zu klettern sich von dort aus weiter zu hangeln. Er musste nur noch den Säulengang bis dorthin unbemerkt passieren. Nur noch. Noch einen kurzen Moment konzentrieren. Stattdessen lehnte er sich an die kühle Marmorwand, die ihm Schatten und einen kleinen Schutz vor Blicken bot. Seine Hand hielt den Beutel fest, in dem seine kostbare Beute steckte. Er hasste sie. Und dennoch - Der Auftrag hatte ihn hierhergeführt, wo er niemals freiwillig einen Fuß hingesetzt hätte, und ihn in die wundersamsten blauen Augen schauen lassen, die er je im Leben gesehen hatte. Blau wie der Himmel über Ja’harum.
Rasaan lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Er würde diese Augen nie vergessen. Und durch sie würde er ihn immer erkennen, den Mann in der schwarz-purpurnen Robe aus dem weißen Tempel, den er bis eben noch nie gesehen hatte und der ihm doch so vertraut war, als hätte er seinen Geliebten nach endlos langen Zeiten endlich wieder gefunden.
Rasaan hatte sich nie Gedanken darum gemacht, dass auch die Priester der widerwärtigen Gottheiten Menschen waren. Für ihn waren sie nur die Abscheulichen. In jener Robe der Abscheulichen steckte ein echter Mensch.
Vor seinem inneren Auge sah er wieder in das seltsam helle Gesicht. Es war nicht nur blass wie bei einem Menschen, der viel zu selten die Sonne sah. Es war hell, so hell wie man es selten in Ja’harum sah. Ein Abkömmling des alten Seefahrervolkes. Und die Züge weich, weicher und sanfter als bei anderen Männern. Ein leichter Windhauch streifte Rasaans Gesicht. Ein Windhauch, wie der Atemzug des Priesters. Ein Wonneschauer rieselte durch ihn hindurch.
Er musste los. Weg hier. Bald würde der Mann, der ihn er-wischt hatte, seinen Tempelbrüdern Bericht erstatten. Und dann würden die Abscheu…, die Priester wie purpurne Totenkäfer über den weißen Marmor huschen und ihn suchen. Spätestens dann sollte er nicht mehr in der Nähe sein, sondern im Schutz der Menschenmassen der Stadt untertauchen.
Ein Gefühl, als würde er beobachtet, beschlich ihn und seine Nackenhaare stellten sich auf. Vorsichtig blinzelte er. Auf einem Podest aus weißen Marmor saß gelassen eine ebenso weiße Katze und schaute ihn an.
„Verrat mich nicht, bitte!” murmelte Rasaan.
Dann richtete er seinen Blick und seine Aufmerksamkeit auf den Weg, der vor ihm lag.
Rasaan gelang es, unbemerkt den Säulengang entlang zu huschen und den Rundturm hinauf zu klettern. Vorsichtig und geduckt lief er an der Balustrade entlang. Noch immer gab es keine Anzeichen, dass der Priester seine Glaubens-brüder alarmiert hatte.
Er schaute sich um. Auf der einen Seite ging es in den Hof mit dem Ausgang, auf der anderen Seite lag ein Innenhof, der gegenüber von hohen, fensterreichen Mauern begrenzt wurde. Ob das die Zimmer der Priester waren? Vielleicht wohnte er auch dort?
Rasaan zuckte zusammen, als etwas seinen Fuß berührte. Die Katze. Sie schaute ihn groß und mahnend an.
„Ja, ich… verschwinde ja schon.”
Er drehte sich um. Im Hof unter ihm gingen ruhig ein paar der Robenträger. Er musste zusehen, dass er von der Balustrade runterkam. Raus aus dem Tempel.
Die Katze lief ein paar Schritte vor ihm her und schaute sich um. Was wollte sie? Misstrauisch folgte er ihr. Sie führte ihn flink hinter einen weiteren Rundturm. Unter ihm hörte er Stimmen. Dann ertönte ein Gong, der ihm bis in die Knochen fuhr. Die Katze schaute ihn drängend an. So schnell und so leise wie er konnte hastete er zu ihr. Dann sah er, wo sie ihn hingeführt hatte. Etwas abschirmt von dem Eingangsbereich machte die Mauer einen Knick. Wenn er achtgab, konnte er sich dort herunter hangeln.
Er wollte der Katze zunicken, doch sie war schon verschwunden. Vorsichtig und dennoch zügig schwang sich Rasaan über die Balustrade, seine Füße fanden an einem Vorsprung halt. Dann kletterte er mit klopfenden Herzen eine Säule hinunter. Seine Füße berührten festen Boden. Dichte Büsche säumten die Mauer. Sie würden ihm Deckung geben.
Rasaan nahm den weißen Mantel ab und schlüpfte tief ins Buschwerk. Langsam und vorsichtig schob er sich an der Mauer entlang Richtung Ausgang.
Wieder ertönte der Gong.
Die Mauer hörte auf, der Buschstreifen setzte sich weiter fort und zog sich um die Kante herum. Er war bei dem Eingang des ersten Hofes angekommen. Die Wächter hatten ihren Blick von ihm abgewandt in Richtung der eigentlichen Tempelanlage. Rasaan nutzte die Gelegenheit und schlüpfte ins Freie.
Der Ausblick auf die Stadt vom Tempelberg aus hätte ihn begeistert, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, ihn zu genießen. Stattdessen überwand er so zügig wie möglich die letzte freie Fläche, bevor er in den Schutz der ersten Häuser der eigentlichen Stadt entkommen konnte.
Er hielt erst inne, als er die Brücke des Me’hearan-Flusses erreichte, die das alte, inzwischen etwas heruntergekommene Adelsviertel, dessen Krönung der Tempelberg bildete, mit der unteren Stadt verband. Er atmete tief durch, dann ließ er sich mit dem Strom der Menschen mittreiben, die wie er über die Brücke und ihren täglichen Geschäften nachgehen wollten. Er würde erst einmal das Haus aufsuchen, wo Rahi und er ihre wenigen Habseligkeiten versteckt hatten. Er brauchte seine andere Hose.
Das Morgengebet unter Leitung Koshras war noch nicht beendet. Shahim lauschte kurz der Liturgie. Offensichtlich hatte Koshra sich entschieden, seine Priesterschaft etwas länger in der unbequemen Gebetshaltung verharren zu lassen: knieend auf dem harten Marmor, die Stirn auf den Boden abgelegt, die Arme gespreizt und die Handflächen auf dem Boden. Shahim nutzte die Gelegenheit und huschte schnell in seine Kammer. In ihm reifte ein Plan, der ihn gleichzeitig verlegen machte, weil es fast schon eine Lüge sein würde, gleichzeitig erleichterte, da ihm die volle Wucht der Strafe für ein unterbrochenes Gebet abmildern würde.
So schnell wie noch nie zog er sich um und reinigte sich. Seine Kleidung würde er später waschen, er legte sie eilig zu einem Schmutzbündel zusammen und verstaute sie tief in dem Korb mit der getragenen Kleidung. Dann lief er so schnell wie möglich in Richtung des inneren Bereiches. Das Gebet war immer noch nicht fertig. Shahim rannte durch die Gänge zu den äußeren Wachen. Er schämte sich dafür, dass er so ein Schauspiel veranstaltete, aber Paschram, der die Wachaufsicht an diesem Morgen hatte, durfte keinen Verdacht bekommen, dass er, Shahim einen Umweg gemacht hatte. Als er Paschram fand, war er außer Atem.
Nach Luft japsend sprudelte er seinen Bericht raus.
„Paschram, jemand ist ins Innere Heiligtum eingedrungen!”
Paschram sah ihn verdutzt an.
„Was sagst du, Shahim? Was ist denn mit dir los?”
„Jemand ist ins Innere Heiligtum eingedrungen. Ich habe wie üblich die Böden gewischt. Ich - ich konnte ihn nicht aufhalten, er war zu schnell, aber er hat…”
Erst jetzt wurde Shahim die ganze Ungeheuerlichkeit des Diebstahles bewusst.
„Er hat Ku’hariam Shi-Esh-Shaha entführt!”
Schon allein, dass er den Namen ausgesprochen hatte, war fast schon eine Gotteslästerung.
„WAS?” Paschram sah ihn ungläubig an. „Jemand hat – SIE - geklaut?”
Shahim nickte. Dann fing er an zu zittern. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Aber hätte er einfach schweigen können? Bis jemand anderes es gemerkt hätte? Nein.
Schockiert schnappte Paschram ihn bei der Hand und zog ihn zur Alarmglocke.
Der Alarm ging Shahim durch und durch. Hoffentlich hatte der Junge es geschafft, das Gelände zu verlassen. Hoffentlich war er in Sicherheit. Er durfte so nicht denken. Götter, bitte, schützt ihn. Er wusste selbst nicht, welchen der Götter er ansprach. Sicher nicht Sahishaan, der hatte für so ein Gebet kein Verständnis.
Eilige Schritte stürmten heran. Paschram und Shahim tauschten einen Blick. In den Augen des älteren Pahaan sah Shahim Mitgefühl. Er hatte Angst. Angst vor dem, was auf ihn zukam.
***
Shahim wartete in seiner Kammer auf das, was geschehen würde. Es würde nichts Gutes sein, dass wusste er. Er hatte sich auf seine Schlafmatte gesetzt, die Beine angezogen und fror. Auch die warmen Sonnenstrahlen, die durch das Fenster genau auf sein Gesicht fielen, konnten ihn nicht wärmen. Es war sehr still geworden, nachdem der vor Wut tobende Koshra ihn in die Kammer geschickt hatte, wo er auf seine Strafe warten sollte. Es war schon immer schlimm gewesen darauf zu warten, die Strafe zu empfangen, die Koshra im Namen Sahishaans festlegte und ausführte, aber diesmal fühlte sich Shahim besonders trostlos und leer. Vor diesem Morgen gab es nichts anderes als Arbeit, Schmerzen, Strafen, weißer Marmor, purpurne Roben, und irgendwo weit weg eine Welt da draußen, wie ein seltsamer Traum. Doch heute war die Welt da draußen in seine Welt hier drinnen eingedrungen. Wie der erste Sonnenstrahl eines neuen Morgens. Nur, dass es für ihn keinen „neuen Morgen” geben würde in dieser ewigen Nacht des Tempellebens.
Er durfte nicht so denken. Musste dankbar sein für die Gnade, dass der strenge Gott ihn trotz seiner Verfehlungen und Fehlerhaftigkeit dennoch in seine Dienste nahm. Musste er? Musste er wirklich? Er war nie gefragt worden, ob er überhaupt hier sein wollte.
Draußen erklangen Schritte. Koshra näherte sich. Shahim atmete nochmal durch. Dann öffnete sich die Tür. Er brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, dass es wirklich Koshra war.
„Shahim!” Die Stimme klang beinahe sanft.
„Shahim, warum hast du mich so enttäuscht?”
„Ich, Herr, es tut mir leid.”
„Wie konntest du es zulassen, dass so ein dreckiges Nichts in unserer Allerheiligstes eindringen und das stehlen konnte, was uns am kostbarsten ist?” Die Stimme wurde lauter und alle scheinbare Sanftheit war aus ihr verschwunden. „Das, was das Symbol der Macht Sahishaans darstellt!”
Koshras kalte Stimme dröhnte durch den Raum.
„Du hättest ihn aufhalten müssen, Ku’hariam Shi-Esh-Shaha ihm wieder abnehmen!”
„Herr, ich habe es versucht, aber ich habe ihn nicht aufhalten können. Er war…”
Shahim stockte. Hätte er ihn aufhalten können, wenn er nicht…? Ja. Vermutlich. Der Junge, dessen Namen er so gerne wissen würde, war flink und wendig, aber Shahim war stärker gewesen.
„Er war zu schnell. Ich habe ihn nicht festhalten können.” Shahim senkte den Kopf noch tiefer. Er hatte gelogen. Er hatte Koshra belogen!
„Steh auf!”
Shahim gehorchte. Das erste Mal schaute er Koshra an. Seinen Ziehvater, wie dieser sich selbst manchmal nannte, wenn er Shahim daran erinnern wollte, dass dieser dankbar zu sein hatte. Koshras Haare bekamen langsam graue Strähnen in dem tiefen Schwarz. Shahim hatte das Gefühl, als würde er ihn zum ersten Mal richtig sehen. Das hagere Gesicht mit den dunkelgrauen Augen, verengt vor Wut. Die helle Haut, die in so einem starken Kontrast mit den schwarzen Haaren und dem gepflegten Bart stand. Hatte er ihn jemals lächeln gesehen? Außer diesem gehässigen Lächeln, dass ankündigte, dass Gefahr in Verzug war? Hatte Koshra je den sanften Atemhauch eines anderen auf der Wange und die Wärme eines liebenden Blickes gespürt? Lippen, die…
„Zieh dich aus!”
Die Schärfe des Befehls riss Shahim aus den Gedanken. Koshra hob leicht die rechte Hand an. Shahim lief ein Kälteschauer über den Rücken. In der Hand hatte Koshra die Vashruwa-Peitsche, einen Stab, an dem die frischen und biegsamen Zweige der Vashruwastaude befestigt waren. Die Blätter und Stängel dieser Staude waren mit feinen Härchen ausgestattet. Bei Berührung sonderten sie eine klebrige, brennende Flüssigkeit ab. Durch die spitzen Härchen wurde die Haut angeritzt und die Flüssigkeit konnte eindringen. Nein, mit dieser Peitsche wurde nicht geschlagen, sie war viel wirksamer, wenn sie über die Haut gezogen und gestrichen wurde. Die Schläge würden später folgen, wenn der Körper eh schon brannte wie Feuer.
„Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Zieh dich aus und verbinde deine Augen.”
Shahim tat, was ihm befohlen war. Alles andere würde es nur noch schlimmer machen.
Rasaan strich durch die Straßen. Er war im Handwerkerviertel angekommen. Langsam bekam er Hunger. Die Händler auf dem Markt fingen an, ihre Stände zusammen zu räumen. Das war zumindest eine Möglichkeit, sich etwas Nahrhaftes zu besorgen. Rasaan befestigte die Tasche mit seinem kostbaren Diebesgut sicher mit den Bändern um seine Taille. Dann suchte er Jumach auf. Der alte Händler, der sich mühsam mit seinem kleinen Angebot an frischen Broten, Kräutern, Datteln und Nüssen über Wasser hielt, begrüßte ihn mit einem Lächeln.
„Na, Rasaan, magst du einem alten Mann mal wieder helfen und dir ein Mittagessen verdienen?”
Rasaan nickte. „Wenn ich dir helfen kann?”
„Kannst du. Meine Enkelin hat heute andere Aufgaben und zwei zusätzliche Hände schaden nie.”
Rasaan machte einen Schritt auf den Stand zu, als er beinahe umgerannt wurde.
„Pass doch auf, du Ratte! Was hast du hier zu suchen? Kusch dich. Wir brauchen hier keine Diebe!”
Rasaan wich dem Schlag des unfreundlichen Händlers aus.
„Lass den Jungen zufrieden” schimpfte Jumach. „Das ist ein ehrlicher Kerl, der gekommen ist, um mir zu helfen.”
„Ehrlich? Ach ja? Diese Rattenkinder hängen doch überall rum und stehlen uns die Suppe aus dem Topf.”
Jumach wollte was erwidern, doch Rasaan winkte ab. Der finstere Händler ging kopfschüttelnd und schimpfend weiter zu seinem Stand.
Jumach atmete tief durch. „Tut mir leid, mein Junge. Wenn ich wüsste, wie ich dich versorgen könnte und deine Schwester, ihr wärt schon lange nicht mehr auf der Straße. Aber… es reicht gerade mal so für die Blüte meines Herzens und für mich.”
„Es ist gut, Jumach. Wir sollten anfangen aufzuräumen. Sonst kommen die Wachen und du bekommst Ärger.”
Rasaan half Jumach dabei die wenigen nicht verkauften Waren auf den klapprigen Handkarren zu verladen und das Zelt abzubauen. Er beobachtete den alten Mann. Er hatte offensichtlich Schmerzen. Er biss die Zähne zusammen, aber Rasaan sah, wie er sich anstrengen musste.
„Ich danke den Göttern, die dich immer wieder hier vorbeischicken. Schau, ich habe hier ein paar Sachen für dich eingepackt.”
Jumach legte Rasaan zwei in große Blätter gewickelte Päckchen in einen Beutel.
„Ganz frisch. Brot für dich und Rahi. Und geröstete Nüsse. Die mag sie doch so gerne. Und bis ich hier wieder auf dem Markt stehe, sind sie nicht mehr frisch genug. Und noch einen Beutel mit Datteln und Trauben. Mehr kann ich dir leider nicht bieten.”
Rasaan lächelte traurig. „Es ist ein Festmahl.”
Er senkte den Blick und atmete tief durch.
„Was ist mein Junge?”
„Rahi ist verschwunden. Sie wurde entführt und ich weiß nicht, wo sie ist.”
Jumach sah ihn ernst an. „Das ist schlimm! Ich werde die Augen und die Ohren für euch offenhalten!”
„Danke, Jumach. Wenn ich wenigstens zur Wache gehen könnte, aber die kümmern sich nicht um Kinder wie wir.”
Jumach nickte. „Schlechte Zeiten sind das, Junge. Das war mal anders. Aber ich werde es wohl nicht mehr erleben, dass sich etwas ändert.”
„Danke auf jeden Fall, dass ich dir helfen durfte.”
Jumach lächelte. „Ich habe zu danken. Bis bald!”
Sie nickten sich zu, dann nahm Jumach die Griffe seines Wagens und zog los.
Rasaan schaute sich um. Der missmutige Suppenhändler kämpfte mit seinem Zelt. Rasaan hatte ihn noch nicht oft gesehen. Er befestigte die von Jumach eingepackten Waren ebenfalls an dem Band um seine Taille, dann schlenderte er am Stand des Suppenhändlers vorbei. Eine Windböe griff unter das Zeltdach und riss es aus den Händen des Händlers, der beinahe von seinem Hocker fiel, den er sich hingestellt hatte, um an die Plane zu kommen. Rasaan fasste instinktiv zu, als der lose Zeltstoff an ihm vorbeifliegen wollte. Es hätte ihm egal sein können, aber unabhängig wie unfreundlich der Händler war, es würde nichts bessern, wenn er genauso unfreundlich wäre.
„Hier, dein Zelt.”
Der Händler schnaufte. Dann starrte er ihn an.
„Du bist doch die Ratte…”
„Nein, ich bin ein Junge. Theoretisch sogar schon ein Mann, aber da will ich nicht so kleinlich sein. Ratten laufen auf vier Pfoten und sind kleiner als ich.”
„Hmpf.”
Missmutig nahm ihm der Händler den Stoff ab.
Die barsche Stimme eines Wächters erklang im Hintergrund.
„Los, los, was stehst du hier herum. Sieh zu, dass du deinen Stand abbaust. Oder sollen wir dir Beine machen?”
Der Händler schluckte. „Nein, nein, ich mache schon.”
„Ich könnte dir helfen. Dafür bekomme ich eine gute Schale Suppe von dir. Du kannst sie morgen eh nicht mehr verkaufen, kommst aber in der Zeit noch vom Platz. Und ich habe eine warme Mahlzeit”, bot Rasaan an.
Der Händler knurrte. „Hm, in Ordnung. Aber…”
Den Rest sprach er nicht aus, angesichts der grimmigen Mienen der Wächter.
Mit Rasaans Hilfe war der restliche Stand schnell auf dem Wagen verladen. Der Suppenhändler hatte sogar einen Esel, den er vor den Wagen spannte. Mürrisch füllte der Mann eine der größeren Holzschalen mit Suppe.
„Hier, hast auch noch einen Löffel, wenn du mit sowas umgehen kannst.”
„Ich habe immer versucht, Suppe mit den Fingern zu essen, aber jetzt, wo du es sagst, so ein Löffel könnte hilfreich sein”, erwiderte Rasaan mit einem freundlichen Lächeln.
„Bist frech.”
„Und du hast Vorurteile. Aber danke, ich freue mich tatsächlich über einen Löffel. Und über die Suppe. Und ein kleiner Tipp, siehst du die Jungen dort hinten?”
Der Händler folgte Rasaans Hinweis. „Hm.”
„Von denen lässt du dir besser nicht helfen. Denen geht man besser aus dem Weg.”
„Hm. Danke.”
Rasaan nickte. Dann nutzte er den Sichtschutz eines anderen Händlers, der mit seinem Karren vorbeikam, um ungesehen von der Bande Jungen mit seiner Suppe einen Platz zu erreichen, wo er geschützt sitzen und essen konnte.
Die Suppe zusammen mit dem einen Brot von Jumach hatte gut getan. Rasaan saß in der Nische und beobachtete den Platz. Er hatte noch zu viel Zeit, bis er sein Diebesgut abliefern konnte. Er wurde erst am nächsten Morgen erwartet. Hoffentlich ging es Rahi gut. Und dem Priester. Er fühlte sich allein.
Langsam stand er auf. Er musste sich bewegen. Die Bande hatte sich verkrümelt. Gut so. Nachdenklich bog Rasaan in eine Nebenstraße ab. Er ließ sich treiben. Vor einem Haus sah er eine vertraute Gestalt sitzen. Die alte Josh’aria. Rasaan lächelte. Heute konnte er ihr eine besondere Freude bereiten.
Sie lächelte, als er näherkam.
„Rasaan, mein Junge.”
„Wie kannst du das immer schon so früh wissen, Josh’aria?”
„Ich sehe dich nicht mit meinen Augen, aber mit meinem Herzen, mein Junge.”
Sie tastete nach seiner Hand. Er reichte sie ihr und hockte sich zu ihr. Dann löste sie ihre Hand von seiner und strich ihm langsam durch das Gesicht.
„Es wird nicht mehr lange dauern, und dann bist du ein richtiger Mann, Rasaan. Dein Bartwuchs wird immer stärker. Und…”, sie zögerte, „die Liebe ist in dein Herz eingezogen.”
Rasaan schluckte. Liebe. Ja, er liebte. Und das verwirrte ihn. Er schmiegte seine Wange in Josh’arias Hand und lächelte traurig.
„Du weißt so viel. Aber - es ist keine glückliche Liebe. Ich kenne ihn ja nicht einmal wirklich, ich habe ihn noch nie vorher gesehen. Und ich vermag nicht daran zu glauben, dass ich ihn wieder sehe.”
„Die Wege liegen den körperlichen Augen im Verborgenen. Aber das Herz kennt sie. Und manchmal treffen wir jemanden, mit dem wir schon durch viele Leben gemeinsam gegangen sind und erkennen einander wieder. Dein Herz ist schwer heute. Ist es nur der junge Mann, den du in ihm trägst?”
„Nein. Es ist nicht nur er. Rahi wurde gefangen genommen und entführt. Und ich habe Angst um sie.”
Josh’aria strich ihm durch das Haar.
„Du hast die Haare deiner Mutter geerbt, mein Junge. Rahi die ihres Vaters, zumindest vermute ich das. Sie fühlen sich anders an als die deiner Mutter. Ich fühle, dass du Rahi wieder sehen wirst. Sie ist kein kleines Kind mehr. Sie findet ihren Weg.”
„Sie ist erst dreizehn.”
„Ja, aber sie hat einen Bruder, der ihr gezeigt hat, wie man auf den Straßen überlebt.”
Rasaan spürte, wie die Tränen in ihm aufstiegen.
„Deine Mutter wäre stolz auf dich. Kaum ein Junge schafft es so früh so viel Verantwortung für ein kleines Mädchen zu tragen.”
„Ich wünschte, sie wäre noch da. Aber dann würde sie jetzt vor Angst um Rahi sterben.”
Rasaan seufzte.
„Aber sie ist nicht mehr da. Aber weißt du, was da ist?”
„Du. Und ich.”
Rasaan lächelte. „Ja. Und ich habe etwas für dich. Hat mir heute Jumach gegeben, weil ich ihm geholfen habe.”
Er kramte in dem Beutel.
„Weiches Brot. Und ein paar Datteln und Trauben. Die Nüsse kannst du ja leider nicht mehr kauen.”
„Du bist so ein lieber Junge, Rasaan. Du musst mir das nicht geben. Du hast doch sicher selbst Hunger.”
„Ich habe eine warme Suppe bekommen. Die ist leider schon alle. Und ein Brot habe ich auch schon gegessen. Und ich weiß, du freust dich, wenn du mal wieder etwas anderes als Hirsebrei bekommst.”
Er reichte ihr das Essen. Sie roch genüsslich daran. Rasaan sah, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Dankbar drückte sie seine Hand.
„Gerne, Josh’aria. Ich… werde dann mal weiter gehen. Vielleicht finde ich ja doch noch eine Spur von Rahi.”
„Ja. Pass auf dich auf, mein Junge. Und auf sie.”
Rasaan stand auf. Dann wurde ihm klar, dass Josh’aria nicht Rahi gemeint hatte.
„Wen… meinst du? Rahi ist doch…”
„Ich spüre ihre Präsenz. Du trägst sie bei dir. Und das gibt mir Hoffnung.”
„Was, meinst du?”
Josh’arias blinde Augen blickten in die Ferne. Sie lächelte versonnen.
„Große Veränderungen kommen auf uns zu. Und große Entscheidungen.” Josh’aria schwieg.
„Was… Josh’aria?”
„Du solltest gehen, Rasaan. Sie suchen dich. Vertraue deinem Herzen. Es wird dich führen.”
Rasaan schaute sich um. Ein Gefühl von nahender Gefahr kroch seine Wirbelsäule hoch.
„Danke, Josh’aria. Bis bald.”
„Bis bald, ich habe dir zu danken, Sohn Erishems.”
Verwirrt machte sich Rasaan auf. Aber es wäre wohl auch nicht Josh’aria, wenn er sie einmal ohne Verwirrung verlassen würde.
Shahim wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er hatte sich auf seinem Bett zusammengerollt. Irgendwann war eingeschlafen, nachdem Koshra endlich von ihm abgelassen und ihn allein gelassen hatte. Noch immer war er nackt. Jede noch so leichte Bewegung und Berührung tat weh. Er würde sich anziehen müssen. Und aufstehen. Es war kühl in der Kammer. Die Sonne war weitergewandert und schaute nun in andere Fenster hinein. Zögernd nahm er die tränenfeuchte Augenbinde ab.
„Mach dir keine Sorgen um den Dieb, den bekommen wir schon zu fassen”, hatte Koshra gesagt, bevor er ging. „Ich habe die auf die Suche geschickt, die am besten dazu in der Lage sind. Du wirst hierbleiben! Das ist mein Befehl!”
Shahim fühlte sich in keinster Weise beruhigt.
Wie hinter einer Nebelwand ertönte dreimal die Glocke, die zum Essen rief. Es wurde Zeit aufzustehen. Ein zu spätes Erscheinen beim Essen stand unter Strafe. Missachtung der Gaben und der Gnade der Götter. Selbst, wenn es für einen selbst kein Essen gab. Shahim hoffte, dass er heute nichts essen musste. Ihm war übel.
Als er sich aufsetzte, wurde ihm schwindelig. Er wartete kurz, dann stand er auf. Es ging. Wackelig, aber er konnte stehen und gehen. Pahaan Deha’karum, ein älterer der heilkundigen Priester, hatte ihn einmal gewarnt, dass er sehr langsam aufstehen müsse, wenn er mit der Vashruwa gestraft worden war. Durch die vielen Schwellungen der Haut konnte man ohnmächtig werden, wenn man nicht aufpasste.
Nachdem er sich notdürftig und unter Schmerzen gereinigt und angezogen hatte, die Glocke hatte inzwischen zweimal geklingelt, fühlte er sich zwar sicherer auf den Beinen, doch die Übelkeit blieb. Und das beschämende Gefühl, beschmutzt zu sein. Langsam ging er Richtung Speiseraum. Auf dem Weg begegneten ihm nur wenige Pahaani. Koshra musste viele der geweihten Priester auf die Suche geschickt haben. Diejenigen, denen Shahim begegnete, sahen an ihm vorbei. Es war ihm lieb.
Sein Platz war nicht gedeckt. Er hatte Glück. Er musste nichts essen. Nur auf dem harten Stuhl sitzen, was schlimm genug war.
„Wie ihr wisst, ist heute etwas ungeheuerliches passiert.” Koshras Stimme hallte durch den Raum.
„Noch habe ich keine Nachricht, dass der Dieb gefasst worden wäre oder wer seine Auftraggeber waren. Da ein einzelner Dieb nichts mit einem solchen Artefakt anfangen kann, er kann es nicht verkaufen, sich nicht damit rühmen, denn das würde ihn unweigerlich des Diebstahls überführen, und selbst für die Spinner Tuha’eans mit ihrem verdrehtem Rechtsverständnis ist so ein Diebstahl eindeutig Unrecht, gehen wir davon aus, dass er einen Auftraggeber aus den Reihen der anderen Tempel oder des Adels hat. Ich werde noch heute aufbrechen, Erkundungen einholen und eventuell ein paar Tage von dem Tempel fernbleiben. Seit wachsam, haltet die Augen und Ohren offen. Die Gerechtigkeit Sahishaans wird siegen!”
***
Die Nacht war hereingebrochen. Shahim wusste nicht, wie er liegen sollte, und kam nicht zur Ruhe. Er war froh, dass Koshra für ein paar Tage wegbleiben würde. Die Pahaani neigten in solchen Zeiten zwar immer zu einem gewissen Übereifer, um sich selbst zu ersparen, am Ende gerügt zu werden, aber sie verhängten nur verhältnismäßig kleine Strafen. Das dicke Ende kam erst dann, wenn Koshra wieder zurück war, aber das kam letztlich immer. Es war nahezu gleichgültig, was man in der Zeit tat. Irgendeinen Grund gab es immer für Strafen. Und wenn es mal keinen gab, dann schadeten vorsorgliche Strafen auch nicht, laut Koshra, schließlich waren Menschen ja immer fehlerhaft.
Shahim stand wieder auf und trat an sein Fenster. Der volle Mond hüllte die Tempelanlage in sanftes, weißes Licht. Stille. Die Nachtluft war frisch und klar. Er stützte sich auf seine Unterarme. Hinter ein paar Mauern, die tiefer als seine Kammer lagen, konnte er das Meer im Mondlicht schimmern sehen. Und ein wenig weiter die Lichter der Brücken über den Fluss Me’hearan, der den Tempelberg von Sahishaan von der eigentlichen Stadt trennte, oder durch die Brücken beides miteinander verband, je nach Sichtweise.
Irgendwo da unten würde er jetzt vermutlich sein. Ob er seine Beute schon abgeliefert hatte? Warum hatte er sich auf diese Wahnsinnstat eingelassen? Warum - die Frage, die hier im Tempel nie gestellt werden durfte. Ob die anderen sich immer im Stillen daran hielten? Oder standen sie auch manchmal in der Nacht am Fenster und fragten sich, warum alles so war und sein musste, wie es war?
Viele der Pahaani waren aus eigener Entscheidung in den Tempel gekommen, oder waren von ihren Eltern mit ihrem Einverständnis geschickt worden, und hatten ihren Eid abgelegt. Sie genossen die Macht, die ihnen ihre Position gab. Shahim kannte kein anderes Leben. Er hätte nie gewusst, was er anderes tun sollte. In dieser Nacht mutete es ihm seltsam an sich vorzustellen, den Tempel nie ernsthaft zu verlassen. Nie zu erfahren, wie das Leben da draußen schmeckte. Vor allem, da er vermutlich nie die Prüfung für die Priesterweihe abzulegen vermochte. Er war zu schwach und zu weich dazu. Hatte zu viel Mitgefühl. Er kannte jeden der Jungen, an denen er eine harte Strafe ausführen müssen würde. Er konnte es nicht. Konnte nicht in ihre schmerzerfüllten, verzweifelten Augen schauen. Dazu wusste er nur zu gut, wie sie sich fühlten.
Gab es da draußen ein Leben ohne Angst? Was taten die Menschen in der Stadt? Es gab mehrere Tempel und verschiedene Götter. Selbstverständlich verbreiteten sie alle falsche Lehren, hatte man ihm erzählt. Aber, was, wenn ihre Anhänger genauso überzeugt von ihren Göttern waren wie Koshra? Was, wenn es mehr als eine Sicht gäbe? Hier geschah alles im Namen von Sahishaan. Aber er hatte noch nie erlebt, dass dieser selbst eingegriffen hätte. Und heute hätte er ernsthaft Anlass dazu gehabt. Oder hatte er sich von seinen Anhängern abgewandt? Oder - Shahim wagte kaum, den Gedanken Raum zu geben - gab es ihn vielleicht gar nicht? War er ein Konstrukt machthungriger Männer und Frauen, deren Lebensziel es war, andere zu quälen und sich immer neue Strafen auszudenken? Gab es vielleicht gar keine Götter? Oder nur ganz andere? Als die Seefahrer vor hunderten Jahren hier ankamen, brachten sie ihre Bräuche und ihren Glauben mit, und trafen hier auf andere Überzeugungen. Es hieß, dass daraus wieder etwas Neues entstand, auf Basis der alten Riten und Religionen. Aber wieso sollten sich die Götter dem Glauben der Menschen anpassen?
Auf der anderen Seite der Bucht leuchtete das erste der drei Leuchtfeuer von Ja’harum, die den vereinzelten Schiffen den Weg weisen sollten, die doch des Nachts ihr Glück versuchten, ihren Weg durch die Felsen, Berge und Klüfte, die aus dem Meer ragten, zu finden. Errichtet von den ersten Siedlern des neu gegründeten Ja’harum vor rund fünfhundert Jahren. Als Zeichen der Hoffnung, dass sie geführt und geschützt wurden auf all ihren Wegen und stets zu dem sicheren Heimathafen zurückfinden würden.
Eine tiefe Sehnsucht überkam Shahim. Die Sehnsucht nach einem Leuchtfeuer, dass ihm seinen Weg leuchten könnte. Einem Weg, fort von der Enge und der Angst des Tempels. Den Schmerzen. Dem… Ekel. Freiheit, was auch immer dieses Wort wirklich bedeutete.
Eine Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Vielleicht zwei Manneslängen von ihm entfernt bewegte sich etwas auf dem Sims, dass auf Höhe des Bodens seiner Kammer rund um den Teil des Tempels führte. Er schaute genauer hin.
Langsam und mit einer selbstbewussten Gelassenheit, die ihn den Atem anhalten ließ, trat eine Katze von dem Sims auf eine Mauer ins Licht des Mondes. Ihr weißes Fell schimmerte silbrig und hob sie deutlich von dem dunklen Nachthimmel dahinter ab.
Die Katze hielt inne und schaute ihn direkt an. Leuchtende blaue Augen, die ihm direkt in die Seele zu sehen schienen. Dann sah sie wieder auf ihren Weg, ging zwei Schritte, blieb wieder stehen und sah ihn erneut an. Als wolle sie ihn auffordern, ihr zu folgen. Hinaus. Nicht über die offiziellen Wege aus dem Tempel, sondern über die Dächer und Mauern, dorthin, wo, wie er wusste, eine verborgene Stelle den Abstieg von der Mauer in den Wald außerhalb des Tempels ermöglichte. Er hatte sie als Kind einmal zufällig entdeckt, als er heimlich die Bereiche des Tempels erkundete, die kaum je genutzt wurden. Hinter der Tempelanlage, dort wo der Berg steil anstieg, lag der Boden keine Manneslänge unter der Mauerkante.
Als Kind konnte er dort noch nicht hinunter steigen - und vor allem nicht wieder zurückkommen, aber jetzt müsste er es können. Im Dunkel durch den Wald zu tasten, würde sicher nicht angenehm und die Kletterei bis zu der Stelle nach den Schlägen des Tages herausfordernd und schmerzhaft werden, aber so eine Gelegenheit wie heute Nacht den Tempel zu verlassen, würde sich lange nicht mehr ergeben.
„Ich komme”, flüsterte er in die Richtung der Katze. „Ja, ich komme.”
Shahim hatte nicht viel, was er mitnehmen konnte. Wirklich persönlichen Besitz hatte er fast keinen. Ein Notizbuch, noch aus den Zeiten, wo er im Tempel unterrichtet wurde. Er hatte es kaum gebraucht, weil er sich das meiste so gemerkt hatte. Einen Stift aus gepresster Kohle und einen aus Kreide, eine Steinplatte, auf der er als Kind schreiben geübt hatte, sorgfältig eingewickelt, alles in einem Stoffbeutel zum umhängen. Vielleicht war es nicht verkehrt, diese Dinge mitzunehmen. Außerdem besaß er noch die Kleidung für unter der Robe, zwei Roben, und sein Symbol, dass ihn als Angehörigen und Pahaanshare des Sahishaantempels auswies. Der Wasserschlauch, den er auf seiner Kammer hatte, wie jeder andere auch, gehörte zwar nicht direkt ihm, aber es machte Sinn, ihn mitzunehmen. Wasser war kostbar. Selbst im Tempel. Und der Schlauch war noch fast vollständig gefüllt.
Er legte einen Satz Ersatzkleidung in einen Beutel, nach kurzem Überlegen entschied er sich, eine Robe anzuziehen, er würde sie ablegen, sobald er das Tempelgelände verlassen hatte. Dann wickelte er noch ein Apfel und ein paar Datteln, die er sich vor kurzem in seine Kammer genommen hatte, in ein sauberes Tuch. Als letztes nahm er sich noch die kleine Talglampe, die jeder in seiner Kammer für den Fall hatte, dass er doch mal im Dunklen durch den Tempel gehen musste, das Gefäß mit noch etwas zusätzlichem Talg und ein paar Feuerhölzchen mit Stein. Mehr hatte er nicht.
Shahim atmete tief durch. Dann trat er an sein Fenster. War es undankbar, was er nun tat? Würde es eine Rückkehr geben? Nur, wenn er bis zum Morgen wieder zurückkäme. Sobald es bekannt würde, dass er unerlaubt und entgegen Koshras explizite Anordnung den Tempel verlassen hätte, würde die Rückkehr vermutlich einem langwierig vollstreckten, qualvollen Todesurteil gleichen.
Die Katze saß noch an der gleichen Stelle. Sie schien auf ihn zu warten. Angst schnürte ihm die Kehle zu, doch dann dachte er nochmal an die Grausamkeit Koshras am vergangenen Tag und an den Mann, dem er heute das erste Mal begegnet war, und der seine Welt aus den Angeln gehoben hatte.
Es war ein leichtes, auf das Fenstersims zu kommen und von dort vorsichtig auf das schmale Bord, auf dessen Verlängerung vorhin die Katze entlanggelaufen war. Schwieriger war es, sich auf dem Bord weiter zu bewegen. Viele Möglichkeiten sich festzuhalten, gab es nicht.
Shahim schob langsam einen Fuß vor, holte den anderen nach. So hangelte er sich vorsichtig und möglichst leise voran. Hier an dieser Mauer musste er zumindest nicht befürchten, dass irgendwer ihn sehen könnte. Das würde sich ändern, wenn er um die nächste Rundung, gebildet durch einen der vielen kleineren Türme, kommen würde. Dort musste es ein paar Fenster geben, wenn er sich nicht täuschte. Unter anderem das Fenster von Koshras Kammer. Nun, da durfte ja niemand drin sein, ansonsten wäre dieser sicher ebenso darauf bedacht, nicht gesehen zu werden. Er selbst hatte noch nie die Gelegenheit gehabt, in diese Kammer hineinzuschauen.
Langsam ging es weiter. Zum Glück gab es bei dem Turm etwas über Kopfhöhe einen zweiten Sims, an dem er sich festhalten konnte. Bevor er ganz um die Rundung schlich, die ihn von den Fenstern sichtbar machen musste, blieb er nochmal stehen, atmete durch und lauschte. In der Nähe, vermutlich dem ersten Fenster, kamen Schnarchgeräusche. Das war schon mal vorteilhaft. Zum einen bedeutete das, dass derjenige im Raum schlief. Zum anderen würde es seine eigenen Geräusche übertönen.
Vorsichtig spähte Shahim um die Turmrundungen herum. Eine Wolke schob sich vor den Mond und mit einem Mal war es gespenstisch dunkel. In dem zweiten der Fenster brannte ein flackerndes Licht. Da hatte jemand seine Kerze angelassen. Es hieß vorsichtig zu sein.
Noch vorsichtiger als vorher tastete Shahim sich weiter. Kein Geräusch machen! Die paar Manneslängen zum ersten Fenster hatte er bald hinter sich gebracht. Das Schnarchen war ein Segen! Shahim duckte sich, so dass sein Kopf nicht im Fensterrahmen zu sehen sein würde, falls der Schläfer aufwachte. Mit den Fingern hielt er sich am Fenstersims fest, dann schob er sich weiter. Fingerbreit für Fingerbreit. Endlich hatte er es geschafft.
Er richtete sich auf und atmete kurz durch. Die Wolke vor dem Mond war weitergezogen. Die Welt aus weißem Marmor im silbernen Licht lag ihm schimmernd zu Füßen. Leider nicht so, dass er sie jetzt schon auf sicheren Grund hätte stellen können. Zwischen dem Sims und der nächsten unteren Decke befanden sich mindestens zwei Manneslängen.
Noch einmal durchatmen.
Die größere Herausforderung lag nicht weit vor ihm: das erleuchtete Fenster.
Wieder schob er sich weiter. Dann hörte er gedämpfte Stimmen. Zwei oder mehr Pahaani in einer Kammer in der Nacht? Das war ungewöhnlich. Langsam glitt er immer näher.
„Meinst du, es hat etwas zu bedeuten, dass Ku’hariam Shi-Esh-Shaha uns heute verlassen hat?”
„Hm, mit Sicherheit, es fragt sich nur, was. Und wer sie hat verschwinden lassen und warum.”
„Was denkst du?” fragte eine dritte Stimme.
Shahim fiel es schwer, die leisen Stimmen zuzuordnen, wem sie gehören könnten. Die zweite konnte die von Ta’hawin sein, derjenige, der damals mit Ish’harim erwischt worden war, als sie das Verbot der Liebe brachen, und der überlebt hatte. Shahim hatte ihn seitdem nicht mehr viel sprechen hören. Noch heute hinkte Ta’hawin leicht.
„Ich bin nicht der einzige hier, dem Koshra… nun, wie euch auch, fällt es mir schwer, ihm dankbar für - das zu sein, was er sich an Strafen zu unserem höchsten Wohle ausdenkt.” Nett ausgedrückt, dachte Shahim. Und vorsichtig. Erstaunlich, dass Ta’hawin es überhaupt aussprach.
„Nun, wir verstehen, was du meinst.” Der erste räusperte sich und sprach dann weiter:
„Lies in ihren Gesichtern und du siehst, was in den letzten Sonnenläufen unter Koshras Herrschaft aus der Gemeinschaft geworden ist. Selbstverständlich muss jeder auf sich selbst achten, aber wir waren immer noch eine Gemeinschaft. Jetzt redet keiner mit den anderen aus Angst, er könne etwas Falsches sagen oder verdächtigt werden, unzüchtige Nähe zu einem anderen zu suchen. Unsere Jungen wissen nicht mal mehr, warum sie Sahishaan verehren sollten, warum es sich lohnt, ein Pahaan zu werden. Der Glaube verliert an Kraft.”
„So, wie der Tempel jetzt, da Ku’hariam Shi-Esh-Shaha entwendet wurde.” Ta’hawin atmete hörbar durch. „Glaubt ihr, ich meine, könnt ihr euch vorstellen, dass jemand von uns, ich meine…”
„Nein, trotz allem kann ich mir DAS nicht vorstellen”, sagte die erste Stimme mit Nachdruck.
„Koshra hat zwar laut die Vermutung geäußert, dass der Auftrag an den Dieb von den Fa’earan oder Shem’tahaan Anhängern ausging, aber ich weiß, dass er noch etwas anderes in Erwägung zieht.” Der dritte machte eine Pause.
„Ja?”
„Schon so lange schwelt in der Bevölkerung Unzufriedenheit. Seit den großen Unruhen damals ist nie wirklich Ruhe eingekehrt. Das Gerücht, Leilarim sei wieder geboren worden, hält sich hartnäckig. Aber niemand kann es belegen, keiner weiß, wer und wo dieser Mensch, wenn es ein Mensch ist, sein soll. Koshra hat mir gegenüber gesagt, er sei sich sicher, dass es nur Geschwätz ist, das irgendwer verbreitet, um Unruhe zu stiften.”
„Glaubst du ihm das?” Ta’hawins Stimme schwankte.
„Ehrlich? Nein, das tue ich nicht. Ich kenne Koshra schon so lange, da war er noch ein Pahaanshare. Ich habe ihn unterrichtet. Wenn er sich sehr sicher ist, hat seine Stimme einen anderen Klang.”
„Ein Leilarim…” Die Stimme des ersten klang sehr leise und ehrfurchtsvoll. „Das könnte… Das könnte alles verändern. Koshra muss Angst haben, wenn er auch nur eine Chance sieht, dass etwas Wahres daran sein könnte. Wenn es ihm nicht gelingt, den oder die Leilarim zuerst zu finden und auf seine Seite zu ziehen oder wie auch immer nutzbar zu machen, könnte es anderen gelingen.”
„Oder die Menschen bestärken, sich gegen die Herrschaft der Tempel aufzulehnen und sie zu schwächen…”
„Der Dieb als jemand, der versucht, die Machtpositionen der Tempel zu schwächen? Sie zu verunsichern oder dafür zu sorgen, dass ihre Pedares in ihrer Position in Frage gestellt werden?”
„Vielleicht? Wir wissen es nicht. Aber wir sollten uns jetzt trennen. Auch wenn es gute Gründe gibt, warum wir uns besprechen, schließlich bin ich der Stellvertreter Koshras in seiner Abwesenheit und muss einiges organisieren, aber es ist immer noch besser, wenn wir keine Fragen provozieren. Und ich muss nochmal eine Kontrollrunde machen.”
„Ja, wir sehen uns morgen!”
In der Kammer entstand Bewegung. Shahim presste sich an die Wand und versuchte noch stiller als still zu sein.
„Laru…” Die Stimme von Ta’hawin klang unsicher. „Danke! Danke, dass du uns in deine Gedanken eingeweiht hast.”
„Es ist wichtig, wieder eine Gemeinschaft zu werden. Ich danke dir, Ta’hawin und dir Shirun für eure Offenheit.”
„Danke, euch! Die Zeit für eine Wende ist reif. Doch Vorsicht! Koshra ist stark. Und er hat trotz allem viele Anhänger, die ihm treu bleiben werden. Unruhige Zeiten kommen auf uns zu.”
Das Licht in dem Fenster erlosch. Shahim wartete noch einen Moment. Auch wenn es langsam anstrengend wurde, sich auf dem Sims zu halten. Er hätte nie vermutet, dass die drei Pahaani zusammenstanden und über Dinge sprachen, die besser nie jemand hörte. Sie mussten sehr vorsichtig sein. Ob er in der Stadt mehr dazu erfahren könnte, was es mit dem inkarnierten Leilarim auf sich hatte? Leilarim, die Gottheit des Seins, der Schöpfung, der auf- und untergehenden Sonne, von Leben und Tod. Der höchste Gott oder Göttin, der in ganz Elleasha verehrt wurde. Selbst bei dem nüchternen Vortrag von Laru damals schwang etwas mit, was ihn jedes Wort aufnehmen ließ. Während Sahishaan großen Wert darauf legte, dass Männer und Frauen in den Tempeln getrennt wurden, warum hatte sich Shahim nie erschlossen, sie hatten jeweils ihren eigenen Tempel, auch wenn Koshra der Pedare von beiden war, hieß es, dass Leilarim beide Geschlechter in sich vereine und keinen Unterschied zwischen ihnen machen würde. Shahim hätte gerne gewusst, worin überhaupt die Unterschiede bestanden. Frauen hatten keine Bärte und kleideten sich anders. Er hatte noch nie viele von ihnen gesehen, aber so von außen sahen Männer und Frauen nicht so extrem unterschiedlich aus.
Nun, für solche Gedanken und Beobachtungen würde er sicher noch ausgiebig Zeit finden, wenn er erst einmal den Tempel verlassen hatte. Denn trotz des Gespräches, das er gerade gehört hatte, verspürte er keinen Drang, seine Pläne zu ändern. Im Gegenteil. Unruhige Zeiten im Tempel und einen Koshra, der Angst um seine Position und Macht hatte, das verhieß nichts Gutes.
Vorsichtig und leise schlich Shahim sich weiter, bis er an die Stelle kam, wo die Katze den Sims verlassen hatte und er nicht mehr so vorsichtig balancieren musste. Er konnte auf der Decke eines Säulenganges entlang huschen, halbwegs vor neugierigen Blicken durch eine Balustrade geschützt. Auf seinem Weg zu der Stelle, wo er in den Wald huschen konnte, hatte er öfter das Gefühl, einen silbernen Schimmer zu sehen, als würde die Katze weiterhin vor ihm herlaufen.
Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er über die Mauern, Vorsprünge, Simse, an reich verzierten Säulen und Türmchen vorbei zu der Mauer kam, die das letzte Hindernis auf dem Weg in die Freiheit bildete. Sollte er doch wieder zurückkehren wollen müsste er es sofort tun, denn die Nacht war schon fortgeschritten. Noch konnte er sich anders entscheiden.
Nein. Entschlossen begann er, sich an der Wand herunter gleiten zu lassen. Gepriesen sei die elende Schufterei für den Tempel, die tausende Holzscheite, Körbe und Krüge, die er hatte tragen müssen und die seine Arme so gekräftigt hatten, dass er sich halten konnte und sich nicht herunterfallen lassen musste. Seine Füße berührten den weichen Waldboden. Er hob den Blick. Er konnte gerade so über die Brüstung der Mauer schauen.
Der Tempel schimmerte im Mondlicht. Von hier aus und mit diesem sanften Leuchten sah die Anlage nicht monströs pompös aus, sondern wie aus einer anderen, fernen Welt hierhergestellt. Das Dunkel, das Shahim innerhalb der Mauern gespürt hatte, war von dieser Perspektive unsichtbar. Die Anlage war ursprünglich nicht als Tempelanlage gebaut worden. Doch das lag schon mindestens hundert oder mehr Jahre zurück. Ob die Priesterschaft mal so viel größer gewesen war, dass die hinteren Räume, die jetzt still lagen, alle genutzt worden waren? Sein Blick wanderte in die Richtung, wo der Haupteingang sich befinden musste. Seltsam weit weg und klein leuchteten die sonst so großen Fackeln, die den Bereich nachts erhellten, und warfen ein flackerndes, gelbes Licht über die Mauern.
Shahim fühlte die Angst in sich aufsteigen. War es richtig, was er hier tat? Was würde ihn erwarten? Er wusste nichts von der Welt da draußen. Koshra hatte ihn immer gewarnt, es wäre hart dort, außerhalb des Tempels, wenn er es gewagt hatte zu fragen, ob er andere, die hinausgingen, begleiten dürfte. Was sollte er tun, wenn er dort draußen in der großen Stadt nicht zurechtkam? Wenn er überfallen werden würde? Einen Rückweg würde es dann nicht mehr geben. Wie lange würde er mit den paar Datteln und dem Apfel, die ihm vor kurzem noch das Gefühl von Reichtum gegeben hatten, auskommen?
Plötzlich kamen ihm seine wohlgehüteten Schätze wie Sand im Wind vor. Würde er nicht auffallen? Und dann? Würden sie ihn zurück zwingen? Vor dem inneren Auge tauchte Koshras zorniges Gesicht auf. Zornig und enttäuscht. Und dann, wie er ihn durch die große Halle führen würde, vorbei an den versammelten Priestern, die sich die Augen verbanden und das Gesicht verhüllten, damit sie bei der Strafe dabei sein würden, seine Schmerzenslaute hören, aber nicht die Scham erleiden mussten, einen nackten Körper zu sehen. So wie damals bei Ta’hawin und Ish’harim.
Nein. Das würde nicht geschehen. Nein!
Shahim zwang sich, sich umzudrehen. Dann setzte er sich auf den Boden und vergrub das Gesicht in den Armen. Jetzt, wo die Anspannung und Anstrengung der Kletterei verflogen, spürte er die Schmerzen in seinem Körper wieder. Auch wenn die Schwellungen von der Vashruwa nachließen, wirkten das Sekret und die Schläge immer noch nach. Er hatte Angst. Vor beiden Wegen, für die er sich entscheiden konnte. Würde er zurückkehren, dann wusste er was ihn erwartete. Jeden Tag. Jeden Mondlauf. Jeden Sonnenlauf. Bis er eines Tages nicht mehr aufstehen würde. Selbst wenn die Drei in ihrer Kammer recht behielten und sich etwas verändern würde, es würde, zumindest erst einmal, nur schlimmer, nicht besser werden. Würde er weiter gehen, dann… er wusste es nicht. Würde er dem Dieb wieder begegnen? Würde der ihn wieder erkennen und überhaupt wieder begegnen wollen? Oder hatte er es einfach nur ausgenutzt, dass Shahim sich von seinen Gefühlen ablenken ließ?
Etwas berührte ihn am Bein. Sanft und doch bestimmt. Shahim schaute auf und sah in die blauen Augen der weißen Katze vor sich. Sie mauzte, dann rieb sie ihren Kopf an seinem Bein, strich an ihm entlang, drehte sich um und strich zurück. Schnupperte an seiner Hand und rieb ihren Kopf dann daran. Vorsichtig öffnete Shahim seine Finger und strich ihr über den Kopf. Das Fell war so erstaunlich weich und warm. Sie schloss die Augen und hielt still. Dann hüpfte sie plötzlich auf seinen Unterarm, der noch auf seinen Knien lag, balancierte sich aus und schmiegte ihren Kopf an seine Stirn.
Shahim verharrte und traute sich nicht, sich zu bewegen. Nie in seinem Leben hatte er ansatzweise so etwas erlebt. Die Katze brummte seltsam, ihr ganzer Körper vibrierte dabei. Es wirkte aber nicht aggressiv, sondern im Gegenteil, als ob sie sich wohlfühlen würde. Die Zeit schien still zu stehen.
Dann hüpfte sie wieder von ihm herunter auf den Waldboden, setzte sich, leckte sich die Pfoten, dann schaute sie ihn erwartungsvoll an. Warum zögerte er? Er hatte sich schon entschieden, bevor er sich auf den Weg gemacht hatte. Es gab bereits jetzt schon keinen Weg mehr zurück.