Der letzte Auftrag - Reinhard Rohn - E-Book

Der letzte Auftrag E-Book

Reinhard Rohn

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Beschreibung

Er nennt sich Hank, obschon er in Wahrheit einen anderen Namen trägt. Früher war er ein Soldat, ein brillanter Scharfschütze, doch nun ist er ein Mörder – im Zeichen der Gerechtigkeit. Sein ehemaliger Chef, ein pensionierter Gerichtspräsident, übergibt ihm seine Aufträge. Hank soll Menschen töten, die vor Gericht davongekommen sind, obschon sie schuldig waren.

Bisher hat er diese Befehle nie hinterfragt, doch dann bekommt er die Diagnose, dass er unheilbar krank ist und seinen letzten Auftrag. Er soll eine junge Frau töten, die jeden Tag am Rhein joggen geht. Doch welche Schuld kann diese Frau auf sich geladen haben?

Hank beschließt, selbst zu recherchieren – und was er herausfindet, führt ihn zu der Frau, die er einst geliebt hat, und bringt ihn selbst in Fadenkreuz ...

Ein packender Roman über einen Mann, der sein Gewissen entdeckt und begreift, dass es für die Liebe nie zu spät ist.

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Über das Buch

Er nennt sich Hank, obschon er in Wahrheit einen anderen Namen trägt. Früher war er ein Soldat, ein brillanter Scharfschütze, doch nun ist er ein Mörder – im Zeichen der Gerechtigkeit. Sein ehemaliger Chef, ein pensionierter Gerichtspräsident, übergibt ihm seine Aufträge. Hank soll Menschen töten, die vor Gericht davongekommen sind, obschon sie schuldig waren.

Bisher hat er diese Befehle nie hinterfragt, doch dann bekommt er die Diagnose, dass er unheilbar krank ist und seinen letzten Auftrag. Er soll eine junge Frau töten, die jeden Tag am Rhein joggen geht. Doch welche Schuld kann diese Frau auf sich geladen haben?

Hank beschließt, selbst zu recherchieren – und was er herausfindet, führt ihn zu der Frau, die er einst geliebt hat, und bringt ihn selbst in Fadenkreuz ...

Ein packender Roman über einen Mann, der sein Gewissen entdeckt und begreift, dass es für die Liebe nie zu spät ist.

Über Reinhard Rohn

Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman »Rote Frauen«, der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.

Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über »Matthias Brasch«. Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.

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Reinhard Rohn

Der letzte Auftrag

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

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Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Impressum

Nessun dorma

Niemand schlafe! Niemand schlafe!

Auch du, Prinzessin,

in deinem kalten Zimmer

siehst die Sterne, die beben

vor Liebe und Hoffnung!

Aber mein Geheimnis ist verschlossen in mir,

niemand wird meinen Namen erfahren!

Nein, nein, auf deinem Mund werde ich ihn nennen,

wenn das Licht glänzt!

Und mein Kuss wird das Schweigen beenden,

durch das ich dich gewinne!

Chor

Seinen Namen wird niemand erfahren …

Und wir müssen sterben, sterben! …

Calaf

Verschwinde, oh Nacht! Geht unter, Sterne!

Geht unter, Sterne! Zum Sonnenaufgang werde ich siegen!

Werde ich siegen! Werde ich siegen!

1.

Der Auftrag und die Diagnose kamen am selben Tag. Dafür konnte er nichts. Den ersten Termin bei seinem Hausarzt hatte er schon vor fünf Wochen gemacht. Die Nackenschmerzen ließen sich kaum mehr aushalten. Hank hatte alles versucht – Gymnastik, warme Umschläge, Salben –, er war sogar schwimmen gegangen, obwohl er Schwimmbäder hasste, hatte sich an einem Donnerstagmorgen zwischen Schulkindern und Rentnern im Agrippabad herumgedrückt.

Nichts half. Die Verspannungen im Nacken lösten sich nicht auf.

Der Arzt war freundlich gewesen, er hatte ihm eine Spritze verpasst – »zur Lockerung« der verspannten Körperpartie – und ihn dann noch zum Röntgen geschickt.

»Brauchen Sie eine Krankschreibung?«, hatte er zum Abschied gefragt.

Hank hatte verneint, wie er es immer tat. »Nein«, hatte er gesagt, »ich bin Privatgelehrter.«

Privatgelehrter – das Wort hatte er einmal aufgeschnappt, und es gefiel ihm. Es hörte sich nach 19. Jahrhundert an, nach intensiven Studien, nach langen Aufenthalten in Bibliotheken und ein paar ausgewählten Schülern, die an seinen Lippen hingen.

Nie hatte sich jemand nach Einzelheiten erkundigt – allenfalls tauchte die Frage auf: »An der Universität zu Köln?«

Hank verneinte stets. »In Bonn.«

Aber seine längere Antwort war er nur einmal losgeworden – ausgerechnet bei einer wunderschönen Zahnarzthelferin mit kirschroten Lippen. »Ich bin Biologe. Ich forsche mit einem kleinen Team über den Quastenflosser, auch Coelacanthimorpha. Ein Knochenfisch aus der Klasse der Fleischflosser.«

Die Zahnarzthelferin hatte beeindruckt gelächelt. Sie zu einem Abendessen einzuladen, hatte er nicht gewagt.

Eine Zeit lang hatte er sich tatsächlich mit dem Quastenflosser beschäftigt – wie mit exotischen Fischen überhaupt. Er ging gern in das Aquarium am Zoo, mitunter drei Tage hintereinander, besonders wenn es regnete. Dann wieder spielte er an den Vormittagen in einem Café in der Südstadt Schach gegen einen Computer, oder er saß einfach im Museumscafé und schaute sich die Leute an.

Hank hatte Zeit.

Je nach Auftragslage. In den letzten zwei Jahren hatte er zwei Aufträge im Jahr erledigt.

Hieß vier Morde insgesamt. Jeder brachte ihm fünfundzwanzigtausend Euro. Viel mehr brauchte er nicht. Er lebte ein unauffälliges, bescheidenes Leben, und der Richter hatte ihm versichert, dass die Morde alle gerechtfertigt seien. Hank tötete mit seinem Präzisionsgewehr oder mit einer unregistrierten alten Militärpistole nur Menschen, die der Justiz entkommen waren. Der erste Tote war ein Vergewaltiger gewesen, den man nicht hatte verurteilen können, weil die Kriminaltechnik mit unsauberen DNA-Spuren gearbeitet hatte. Hank hatte dem leicht verfetteten Mann, den er auf dem Parkplatz eines Möbelhauses in der Abenddämmerung erwischt hatte, die Schuld auch hundert Meter gegen den Wind angesehen.

Außerdem konnte er sicher sein, dass der Richter keine Fehler machte – er war schließlich vor seiner Pensionierung Kammergerichtspräsident gewesen, ein honoriger Mann, den die Lücken in den Gesetzen zur Weißglut brachten.

Hank hatte schon gedacht, er könne das Jahr gemütlich ausklingen lassen, als die SMS angekommen war. Sie lautete immer gleich: »Ihre Brille kann abgeholt werden.«

Er wusste gar nicht mehr, wie der Richter auf diese Losung verfallen war. Das bedeutete, dass Hank um sechs Uhr morgens im Volksgarten an einem bestimmten Papierkorb ein kleines Paket vorfinden würde. Da war dann alles für ihn zusammengestellt: Fotos der betreffenden Person, ein kurzer Steckbrief, eine Adresse und ein paar Gewohnheiten – sowie eine Zeitangabe, bis wann er seinen Auftrag erledigt haben sollte, und die ausführliche Begründung für die Tat. Darauf legte der Richter stets besonderen Wert. »Du bist mein Soldat«, hatte er einmal gesagt, »und ein guter General schickt seine Soldaten nur in einen gerechten Krieg.«

Es war der zwölfte Dezember, als Hank das Paket abholte. Wie immer war es ordentlich in braunes Packpapier eingeschlagen. Er steckte es sich in die Innentasche seiner Lederjacke und ging dann zum Chlodwigplatz, um sich einen Morgenkaffee zu gönnen.

Der Arzttermin war um Punkt acht Uhr. Er wäre der erste Patient. Das Paket würde er erst danach öffnen.

Der Kaffee tat ihm gut. In den letzten drei Nächten hatte er wegen der Nackenschmerzen so gut wie nicht geschlafen. Die Spritze beim Arzt hatte nur kurz für Linderung gesorgt.

Ich werde alt, dachte Hank. Er würde in fünf Wochen fünfzig werden. Bis auf gelegentlich einen Auftrag hatte er in den letzten zwei Jahren nichts zu tun gehabt. Es waren zwei gute Jahre gewesen. Gelegentlich lag er bei einer Frau. Leider wurde nie eine ernste Sache daraus, aber er war gewiss kein Kostverächter – und seinen Mann stand er immer noch.

Die Letzte hatte Manja geheißen, er hatte sie in einer Bar in der Südstadt kennengelernt. Sie hatte ihn gleich in ihre Wohnung nach Bayenthal mitgenommen. Er hatte sie mit einem langen Liebesakt beglückt, obwohl er da schon Schmerzen im Nacken gespürt hatte. Hinterher hatte sie ihm gestanden, dass sie zwei Kinder hatte – sechs und neun –, die sie für eine Nacht bei ihrer Mutter geparkt hatte, um sich mal wieder etwas zu amüsieren. So hatte sie sich ausgedrückt – »um sich mal wieder zu amüsieren«. Ja, gegen Amüsieren hatte er nichts, aber Kinder – nein danke.

Sein Vater hatte ihn in seiner Kindheit windelweich geprügelt, während seine Mutter keinen Handschlag für ihn getan hatte. Nein, mit Kindern hatte er es nicht so. Wenn er an seinen Vater dachte, kam ihm immer noch die Galle hoch. Der Alte war schließlich an seiner Trunksucht grausam verreckt, aber wie schwer hatte dieser Vater ihm das Leben gemacht! Mit dreizehn hatte er zum ersten Mal daran gedacht, sich umzubringen. Spring in der Stadt von einem Parkhaus, und du hast alles hinter dir. Wie gern hätte er ein Instrument gelernt, Gitarre am besten – in einer Band spielen, singen und Mädchen beeindrucken, aber der Alte hatte das alles verhindert. Als er sich einmal heimlich eine Gitarre besorgt hattee, hatte sein Vater sie im Suff kurz und klein geschlagen. Zweihundert Mark hatte das Instrument gekostet, die er sich mit dem Verteilen von Werbeblättchen mühsam verdient gehabt hatte.

Wut auf seinen Vater ergriff ihn plötzlich, auch wenn der Alte schon über vier Jahre tot war. Seine Mutter war zwei Jahre vor ihrem verhassten Mann gestorben, als hätte sie vor ihm aus ihrem dunklen Leben fliehen müssen. Darmkrebs im Endstadium – keine schöne Sache, aber sie hatte alles tapfer ertragen. Heute diente ihm das Grab der beiden als Versteck für seine Waffen – ausgerechnet. Dort, war Hank sicher, würde niemand nach einem Präzisionsgewehr und einer Pistole suchen.

Er war früh dran, und ihm blieb noch Zeit für zwei weitere Tassen Kaffee. Dass der Richter ihm so kurz vor Weihnachten noch einen Auftrag zuspielte, erstaunte ihn. In der Regel war nach Ende September nichts mehr zu erwarten.

Bei seinem letzten Auftrag hatte er nach Berlin fahren müssen. Es war eine heikle Angelegenheit gewesen, war dann aber sein Meisterstück geworden. Er hatte den Boss eines Rockerclans, an den die örtliche Polizei sich nicht mehr herantraute, vor einer Tankstelle mit seiner Pistole – einer guten alten Makarow ostdeutscher Bauart – erschossen, von einem Standpunkt aus, an dem ihn die Kameras nicht erfassten. Ein Fehlschuss in einen der Tanks, und die ganze Tankstelle wäre vielleicht in die Luft geflogen. Zudem hatte der Mord bundesweit für Aufregung gesorgt. Die Polizei im ganzen Land war in Alarmstimmung versetzt worden. Überall erwartete man, dass die diversen Rockerbanden aufeinander losgehen würden. Tatsächlich gab es in Berlin, Frankfurt und Gießen das eine oder andere Scharmützel. Der Mann, den er getötet hatte, war angeblich für drei Auftragsmorde sowie Drogen- und Mädchenhandel verantwortlich gewesen. Hatte der Richter also wieder den Richtigen ausgesucht.

Um zehn vor acht betrat er die Praxis. Die Frau an der Rezeption, eine abgehärmte rothaarige Matrone, schaute ihn mürrisch an und nannte fragend seinen Namen. Er nickte stumm. »Gehen Sie schon durch ins Sprechzimmer … der Doktor kommt gleich.«

Hank nickte erneut. So gefiel es ihm. Er musste nicht einmal im Wartezimmer Platz nehmen.

»Na, da ist ja unser Privatgelehrter«, sagte der Arzt beinahe vergnügt, als er hereinkam. Er war noch keine vierzig, trug ein weißes Hemd und Jeans, keinen Kittel. Er gehörte zu der neuen Generation cooler Ärzte, die ihre Patienten ernst nahmen und ihnen möglichst viel erklärten. Zum ersten Mal bemerkte Hank die Fotos auf dem Schreibtisch des Mediziners: zwei Kinder – Mädchen und offensichtlich Zwillinge – auf einem Trampolin in einem weitläufigen Garten. Das Bild einer Idylle. Er musste unwillkürlich lächeln.

»Herr …«, begann der Arzt. Nun runzelte er die Stirn. »Ich fürchte, die Gründe für Ihre Verspannungen sind doch ein wenig ernster, als wir angenommen haben. Sind Sie Raucher? Wie viele Zigaretten rauchen Sie am Tag?«

Hank verstand die Frage nicht sofort. Was sollten Zigaretten mit seinen Verspannungen im Nacken zu tun haben?

»Früher«, sagte er und wollte schon fortfahren: »… bevor ich Chauffeur am Gericht wurde«, aber dieser Beruf hätte schlecht mit seiner vorgetäuschten Existenz als Privatgelehrter zusammengepasst, also sammelte er sich kurz und sagte: »Ich habe es mir abgewöhnt, vor ein paar Jahren schon. Hat mich bei meinen Studien gestört.«

»Sehr löblich«, erwiderte der Arzt. »Nur leider haben wir … also, kurz gesagt, die Verspannungen rühren von Metastasen im Rückenmark her. Sie leiden an einem Lungenkarzinom, das schon einigermaßen fortgeschritten ist. Es gibt eine Therapie, natürlich gibt es die, aber wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Das Wort »Lungenkarzinom« hallte so laut nach, dass er die anderen Worte gar nicht mehr richtig wahrnahm.

Er hatte Krebs, bedeutete das. Lungenkrebs, daher seine Schmerzen, daher vielleicht auch die Kurzatmigkeit, die ihn schon vor recht langer Zeit befallen, die er jedoch auf mangelnde Bewegung geschoben hatte.

2.

Ein Wort schockierte ihn noch mehr als jedes andere: Metastasen. »Sie haben Metastasen im Rückenmark.« Metastasen – das waren kleine, gierige Käfer, die sich in seinen Körper geschlichen hatten, um seine Knochen zu zerfressen. Man konnte sie nicht abschütteln, man musste sie vernichten und konnte dabei selbst vernichtet werden.

Als er die Praxis verließ – mit dem ersten Termin für eine Chemotherapie ausgestattet –, fühlte er sich, als wäre er um Jahre gealtert. Ein halbwegs gesunder neunundvierzigjähriger Mann war in die Praxis gegangen, ein todgeweihter Achtzigjähriger schlich hinaus.

Für den Moment wusste er gar nicht, wohin er sich wenden sollte. In seine Mansardenwohnung in der Metzer Straße? Nein, er streunte die Severinstraße hinunter, durch all den Trubel und Lärm eines gewöhnlichen Vormittags. Sonst nahm er an diesem Getriebe auch immer teil – nicht ganz so voller Hektik und Geschäftigkeit wie die anderen, aber er hatte dazugehört, zumindest hatte er sich so gefühlt. Nun war er ein Außenseiter, ein Todgeweihter. Schmerzhaft spürte er die Metastasenkäfer in seinem Rücken – sie fraßen und fraßen, waren unersättlich. Aber er würde sich wehren, sagte er sich und spürte gleichzeitig bereits eine tiefe Erschöpfung, die ihn bis ins Mark erfasst hatte.

Erst als er die Spitzen des Doms sah, wusste er, wohin er gehen würde. Er war nicht gläubig, das nicht – seine Mutter hatte ihn ihn taufen lassen, ihn zur Kirche geschickt, und zur Erstkommunion war er auch gegangen, aber einen Gott hatte er noch nie in seiner Nähe gespürt. Und doch … eine Kerze im Dom aufstellen – ein Licht gegen die schwarzen Todeskäfer. Schaden konnte es nicht.

Seine Einsamkeit fiel ihm auf, während er sich der Kathedrale näherte.

Wem sollte er von seiner Krankheit erzählen? Wer würde sich dafür interessieren?

Musste er dem Richter Bescheid geben? Nein, seit er diese Geheimaufträge ausführte, war ihm jeder Kontakt verboten worden.

Er könnte zu Rita gehen, in die Bäckerei in der Bonner Straße, wo er dreimal in der Woche mittags Suppe aß. Rita, eine echte Kölnerin, würde ihn mit ein paar warmen Worten trösten.

Oder Ludwig, der Friedhofsgärtner von Melaten … Mit Ludwig hatte er bisher nur über Fußball gesprochen, aber der Gärtner würde ihm gewiss auch zuhören, zumindest für ein paar Minuten.

Oder er rief Markus an, den Hausmeister in Ehrenfeld, den er aus dem Schützenverein kannte, zu dem er einmal im Monat ging, um im Training zu bleiben. Markus hatte sieben Kinder, er kannte alle Sorgen und Nöte der Welt, doch eigentlich hatte er nie auch nur eine Sekunde Zeit zu verschenken.

Oder aber … er würde zu Anna gehen – der Frau, die er seit über dreißig Jahren liebte. Die Frau auf dem Steg – da hatte er sie zuerst gesehen, unten am Bootshaus in Rodenkirchen, bevor sie wenig später auf seine Schule gekommen war. Dort, auf diesem grauen, hölzernen Steg, an dem man die Boote zu Wasser ließ, hatte sie sich an einem Tag im Juni gesonnt – lange, lockige schwarze Haare, das Gesicht einer Madonna und ein Lachen, das die Sterne vom Himmel holte. Sie spielte nicht in seiner Liga – das hatte er natürlich gewusst, aber er konnte nichts dafür: Er hatte sich haltlos in sie verliebt. Zweimal hatte er es sogar geschafft, sie ins Kino einzuladen. Am Ring – die teuren Plätze. »Flashdance« – eine echte Schnulze. Und »Yentl« – ein Film, der ihr besser gefallen hatte. Sie war die Tochter eines Anwalts, er war der Sohn eines Bierbrauers. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, sie zu sich nach Hause einzuladen. Später hatte er mit Eifersucht gesehen, wie sie sich in einen Jungen aus der Oberprima verliebt und ihn auf dem Schulhof geküsst hatte. Er hatte sie nur einmal, nach dem ersten Kinobesuch, geküsst, eher aus Verlegenheit, aber diesen Kuss spürte er heute noch auf den Lippen, wenn er daran dachte.

Er könnte zu Anna gehen. Vor zwei Jahren war sie wieder in seinem Leben aufgetaucht – er hatte ihr Bild in der Zeitung gesehen, sie war mit einem Musikprofessor verheiratet, der zum Dekan der Musikhochschule ernannt worden war. Darüber hatte es einen großen Bericht im Stadtanzeiger gegeben – leider mit einem Foto, das recht unscharf gewesen war. Sie selbst war Lehrerin geworden und arbeitete im Schiller-Gymnasium in Köln-Sülz. Kurz nachdem der Artikel über ihren Mann erschienen war, war Hank nach der großen Pause über den Schulhof gegangen und hatte sie in einem Klassenzimmer gesehen. Anscheinend war sie Französischlehrerin, jedenfalls hatte sie französische Vokabeln an die Tafel geschrieben.

Anna – die große, ferne Liebe. Sie war älter geworden, natürlich, aber ihr Haar war noch genauso schwarz und lockig.

Anna, erinnerst du dich noch an mich? Ich bin nun krebskrank und ein Mörder.

Ach, wie lächerlich!

Sie war die Frau eines berühmten Professors. Bestimmt führten die beiden eine Musterehe, nur Kinder schienen sie nicht zu haben, zumindest waren sie in dem Artikel nicht erwähnt worden.

Es tat ihm nicht gut, ausgerechnet jetzt an Anna zu denken. In ein paar Tagen war Weihnachten, und er hatte noch einen Auftrag zu erledigen. Er spürte das Paket mit den Instruktionen in seiner Jacke, doch bevor er es öffnete, würde er erst eine Kerze im Dom aufstellen – für sich, ja, zum ersten Mal in seinem Leben würde er ganz allein für sich eine Kerze entzünden.

Wie immer herrschte reger Betrieb im Dom. Ein-, zweimal in der Woche kam er hierher, nicht um zu beten. Er saß gern da und blickte zum Richter-Fenster hinauf, beobachtete, wie das Sonnenlicht die einzelnen Farbfelder hervorhob, und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Manchmal dachte er auch an Musik – Musik war ihm das Wichtigste im Leben. Einmal pro Woche ging er ins Konzert, gern auch donnerstagmittags in die Philharmonie, wenn man gratis dem Rundfunkorchester bei der Generalprobe zuhören konnte.

Er liebte eigentlich Gitarrensound, die alten Rocker, Bruce Springsteen, Led Zeppelin, Van Morrison, aber wenn er Bach hörte, traf die Musik ihn besonders – dann konnte es schmerzhaft werden, weil er plötzlich begriff, dass er sein Leben verwirkt hatte. Nichts von dem, was er hatte tun wollen, hatte er getan. Er war kein Musiker geworden, er hatte keine Familie, keine Kinder; er war ein Soldat der Pflicht und zudem ein Mörder, auch wenn er mit seinen Taten heimlich ein wenig Gerechtigkeit in die Welt brachte – so zumindest hatte es der Richter ausgedrückt.

Und nun fraßen die schwarzen, gierigen Metastasenkäfer in ihm, fraßen sein Leben auf oder das, was davon übrig geblieben war.

Er sah die Frau, als er sich vorbeugte, um nach einem Kerzenlicht zu greifen. Sie kam ihm zuvor – wandte den Kopf und lächelte ihn an. »Pardon«, hauchte sie und griff gleichfalls nach diesem letzten Kerzenlicht.

Hank zuckte zurück, überließ ihr das Licht. Schwarze, lange, lockige Haare, ein Lächeln, das schneeweiße Zähne entblößte. »Anna«, flüsterte er, aber es war natürlich Unsinn – diese Frau hier war nicht die junge Anna, nicht die Schülerin vom Steg, sondern eine Frau von vielleicht fünfundzwanzig, dreißig Jahren.

Er beobachtete, wie sie das Licht an einem anderen entzündete, es dann auf der obersten Reihe des kleinen Kerzenpodests platzierte und sich auf eine Bank setzte. Während er sie aus den Augenwinkeln im Blick behielt, schob er sich ein Stück weiter, fand da ein anderes Kerzenlicht, das er mit einiger Mühe entzündete und ein wenig achtlos in einen freien Metallring einsetzte.

Die Frau hielt den Kopf gesenkt, als bete sie. Sogar die Augen hatte sie geschlossen. Ja, sie war die Anna von früher, und sie war wunderschön.

Ihm pochte das Herz bis in den Hals. Konnte er sie ansprechen? Durfte man einer Frau einfach sagen: »Hören Sie, Sie sind wunderschön, wissen Sie das?«

Er spürte, dass er schwankte, dann ließ er sich in eine Bank fallen, aber so, dass er die schwarzhaarige Frau weiterhin im Blick behielt.

»Was«, hatte eine Frau, die er zum Essen eingeladen hatte, ihn einmal gefragt, »war das Schlimmste, was Sie jemals im Leben getan haben?«

Damals hatte er bereits zwei Morde begangen. Er hatte einen Vergewaltiger getötet und einen Mann, der wegen Mordes vor Gericht gekommen und freigesprochen worden war. Hinterher hatte sich herausgestellt, dass er doch der Täter gewesen war. Man hatte ihn wegen ein und derselben Sache aber nicht zweimal vor Gericht bringen können. Deshalb hatte der Richter ihn beauftragt, die Sache zu lösen.

»Das Schlimmste in meinem Leben«, hatte er geantwortet, »ist, dass ich der Frau, die ich liebte, es nie gesagt habe. Sie weiß es bis heute nicht.«

Die Frau, an deren Namen er sich nicht mehr erinnern konnte, hatte ihn auf die Wange geküsst. »Eine kluge Antwort«, hatte sie gesagt. »Sie sind offenbar ein guter Mensch.«

Nein, er war kein guter Mensch, er war schwach – zu schwach, um das Leben zu führen, das er hatte führen wollen.

Einen Moment lang hatte er die junge schwarzhaarige Frau nicht im Blick gehabt, und dann war sie fort. Panisch schaute er sich um. Irgendwo im Zwielicht des Kirchenschiffs war sie verschwunden. Er überlegte, noch ein Kerzenlicht zu entzünden, da er gar nicht auf seines geachtet hatte, doch stattdessen stand er auf und verließ den Dom. Er musste sein Paket öffnen, nachschauen, welchen Auftrag der Richter für ihn hatte. Es würde sein letzter sein, ganz gewiss. Mehr würden die schwarzen Metastasenkäfer in seinem Rücken nicht zulassen. Er wusste es genau.

Sein Vater hatte tatsächlich geglaubt, dass Hank in seine Fußstapfen treten werde. Schon als er acht war, hörte er dreimal am Tag: »Du wirst Bierbrauer – das ist krisensicher. Bier wird immer getrunken.«

Er hatte Bier stets gehasst und vor allem den Geruch, den sein Vater jeden Tag mit nach Hause brachte.

Und dann war der Tag unten am Rhein gewesen – Anna, das schwarzhaarige Mädchen auf dem Steg. Sie hätte sich niemals mit einem Bierbrauer eingelassen.

Er hatte es tatsächlich geschafft, ein ordentliches Abitur abzulegen, aber dann hatte er Anna und alles andere aus den Augen verloren. Bei der Bundeswehr hatte er herausgefunden, dass er ein ziemlich guter Schütze war. Sie überredeten ihn, länger zu bleiben – bei einer Sondereinheit. 2001 war er einer der ersten deutschen Soldaten in Afghanistan gewesen. Was kaum jemand wusste – er gehörte zu den handverlesenen Männern, die im Dezember an der Seite einer amerikanischen Eliteeinheit in der Schlacht von Tora Bora dabei gewesen waren. Etwa zweihundert Al-Qaida-Kämpfer hatten den Tod gefunden, und er war angeschossen worden. Ein Durchschuss am linken Arm, und das war das Ende gewesen. Danach hatte er die Uniform für immer ausgezogen und war nach Köln zurückgekehrt.

Sein Vater war schon damals ein Wrack gewesen, nach dem Tod der Mutter war es noch schlimmer geworden. Er hatte nicht mehr nur drei Liter Bier am Tag getrunken, sondern härtere Sachen – billigen Korn und manchmal, wenn er sich etwas Besonderes hatte gönnen wollen, eine halbe Flasche Gin. Mitunter hatten sie sogar zusammen getrunken. Nein, seine Erinnerung trog – sie hatten ein-, zweimal zusammen getrunken. Wenn er einen gewissen Pegel erreicht hatte, hatte sein Vater begonnen, auf alles zu schimpfen – die Ausländer, die Reichen, die Leute, die bei der Bank arbeiteten, die unfähige Verwaltung. Als sein Vater einmal betrunken gestürzt war, hatte er ihn liegen lassen und war aus der Wohnung geflohen. Das Sterben seines Vaters hatte da längst begonnen, ohne dass er es wahrgenommen hatte.

Etwa zu dieser Zeit hatte er den Job bei Gericht angenommen. Fahrer des Gerichtspräsidenten. Ganz diszipliniert, wie man es von ihm verlangt hattee, hatte er keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt und keine Zigarette mehr geraucht.

Der Richter hatte gleich den Soldaten in ihm gesehen. Er hatte wenig geredet auf den Fahrten, die sie gemeinsam unternommen hatten, von einem Termin zum nächsten, und wenn, hatte er sehr leise gesprochen. »Warum haben Sie keine Frau, Hank?«, hatte er ihn einmal gefragt. Von Anfang an hatte er ihn Hank genannt – nicht Johannes Galka, wie sein richtiger Name lautete. »Weil Sie ein Elitesoldat waren? Oder haben Sie viele Frauen – jede Nacht eine andere?«

Der Richter sah aus, wie man sich einen Richter vorstellte – eine aufrechte Gestalt, volle, graue Haare, die er nach hinten kämmte. Er trug eine dunkle, modische Hornbrille, und gelegentlich, wenn er müde oder erschöpft war, verfiel er in ein Lispeln, das verriet, dass er auch einmal ein Mann mit Fehlern gewesen war.

Seine Frau war eine brünette Schönheit, ein paar Jahre jünger, tatsächlich eine ehemalige Weinkönigin von der Mosel, die auch Jura studiert hatte. Hank hatte sie nur ein paarmal zu Gesicht bekommen, und jedes Mal hatte sie ihre Fingernägel in einer anderen Farbe lackiert. Der Richter hatte einen Sohn, der irgendwann nach London verschwunden war, und dann, kurz vor seiner Pensionierung, war seine Frau gestorben. Sie war vor eine Straßenbahn gelaufen, offenbar hatte sie vollkommen unachtsam eine SMS geschrieben – an ihn. »Komme später. Muss noch ein Geschenk abholen.« Das waren ihre letzten Worte gewesen. In einer schwachen Stunde hatte der Richter ihm die Nachricht gezeigt, als sie einmal spät von einer Tour zurückgekehrt waren und in einem Schnellimbiss gesessen hatten. Dabei hatte er Tränen in den Augen gehabt.

Danach war der Richter nicht mehr derselbe gewesen – er war hartherzig und kalt geworden. Einen Monat, nachdem man ihn pensioniert hatte und Hank arbeitslos geworden war, weil der neue Präsident seinen eigenen Chauffeur mitgebracht hatte, war der erste Auftrag gekommen.

Er hatte eine Zeit lang gedacht, der Richter sei ein freundlicher, gütiger Mensch; so hatte er zumindest gewirkt, wenn er mit ihm von Termin zu Termin gefahren war – ob bei Gericht, in der Stadtverwaltung, bei Vereinen: Der Richter hatte zugehört, kluge Kommentare abgegeben und philosophische Reden über Moral, Recht und Gerechtigkeit gehalten. Dabei hatte er immer irgendwelche Philosophen – Sokrates oder Nietzsche oder Kierkegaard – zitiert. Es hatte stets sehr klug und weise geklungen, was der Richter sagte. Man hatte ihm auch wiederholt Angebote gemacht, in die Politik zu gehen, doch die hatte er abgelehnt.