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Und die Uhr tickt … Ein Spiel, bei dem es um Leben und Tod geht
Der rasante Thriller mit Nervenkitzel-Garantie!
Auf der Suche nach seinem verschwundenen Bruder entdeckt Journalist Noah eine verschlüsselte Nachricht, deren Bedeutung er nicht versteht. Mithilfe von Übersetzerin Catalina geht er dem Ursprung der Botschaft nach und entziffert sie Schritt für Schritt. Dabei stößt er nicht nur auf eine Taschenuhr, deren Besitzer immer wieder auf unerklärliche Weise gestorben sind, sondern erkennt auch, dass er und Catalina nicht die Einzigen sind, die danach suchen. Als sie endlich erfahren, was mit Noahs Bruder geschehen ist, hat der Wettlauf gegen die Zeit bereits begonnen …
Erste Leser:innenstimmen
„Hier wurde ein hochinteressanter und fesselnder Thriller geschaffen, der spannende Lesestunden garantiert!“
„Wer auf der Suche nach einem guten Adrenalinkick ist, ist bei diesem Thriller genau richtig! Die Story ist nervenaufreibend gut, und die smarten Charaktere runden dieses Buch zu einem absoluten Lesevergnügen ab!“
„Man fiebert sofort mit Noah mit und ist gespannt, was wirklich mit seinem Bruder passiert ist und was er mit der mysteriösen Uhr zu tun hat.“
„Ich bin völlig in diese Geschichte eingetaucht. Gemeinsam mit Noah und Catalina zu ermitteln und das Rätsel zu lösen, war absolut mitreißend!“
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Seitenzahl: 412
Veröffentlichungsjahr: 2023
Auf der Suche nach seinem verschwundenen Bruder entdeckt der Journalist Noah eine verschlüsselte Nachricht, deren Bedeutung er nicht versteht. Mithilfe der Übersetzerin Catalina geht er dem Ursprung der Botschaft nach und entziffert sie Schritt für Schritt. Dabei stößt er nicht nur auf eine Taschenuhr, deren Besitzer immer wieder auf unerklärliche Weise gestorben sind, sondern erkennt auch, dass er und Catalina nicht die Einzigen sind, die danach suchen. Als sie endlich erfahren, was mit Noahs Bruder geschehen ist, hat der Wettlauf gegen die Zeit bereits begonnen …
Erstausgabe Januar 2023
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-924-7 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-159-9
Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © olgers, © Undrey, © Ursa Major depositphotos.com: © xload, © alexroz, © ivanvbtv Lektorat: Cara Kolb
E-Book-Version 19.09.2024, 12:23:24.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Noch nie war ihm der Weg von der Bibliothek nach Hause so lang vorgekommen. Vierzig Minuten dauerte es normalerweise, wenn er schlenderte, dreißig, wenn er in der Früh spät dran und keine Straßenbahn in Sicht war.
Aber heute hatte Ben das Gefühl, er laufe rückwärts. Dieses Gebäude mit der barocken Fassade und den Fensterscheiben, die dringend geputzt werden müssten – an dem war er zwei Häuserblocks zuvor schon vorbeigekommen, oder?
Ben bemühte sich vergebens um einen langsameren Schritt. Es war Mitte November und die Temperaturen in Wien lagen bereits unter zehn Grad, doch in seiner Jacke wurde ihm warm und Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
Im Gehen warf er einen Blick auf seine Armbanduhr, ein unauffälliges Uhrwerk an einem rissigen Lederband, das dringend ausgewechselt werden sollte. Eine Viertelstunde blieb ihm noch; das war weniger, als er gehofft hatte.
Verbissen heftete er seinen Blick wieder auf den Bürgersteig und folgte der Straße bergab, die ihn nach Hause führen würde.
Wenn er recht hatte, und davon ging er aus, dann befand sich seit fast fünfzehn Minuten eine Möglichkeit in seinem Rucksack, sie zu finden. Wenn sich sein Verdacht bestätigte … Allein der Gedanke daran beflügelte ihn, und anstatt eine kurze Pause einzulegen, um Luft zu holen, hastete Ben weiter die Straße entlang und schnaufte dabei wie eine Dampflok.
Der Wind fuhr ihm ins Gesicht und trieb ihm die Tränen in die Augen, bis er abbog und in den Tiefen des neunten Bezirks verschwand. Hier war seine Wohnung, diese Gassen waren ihm inzwischen vertraut.
Einige seiner neuen Freunde wohnten auch hier, die vielen Lokale in den Erdgeschossen der Gebäude, die nachts zum Fortgehen einluden, waren bestechend für sie.
Wieder ein Blick auf die Uhr. Zehn Minuten, dann sollte er eine Antwort haben.
Noch bevor Ben den Altbau erreichte, in dem er seit zwei Monaten lebte, kramte er in seiner Jackentasche nach dem Schlüssel für das Haustor. Er ertastete Taschentücher und einen Müsliriegel, aber der Schlüssel war nicht da. Hatte er vergessen, ihn einzustecken, als er heute Morgen die Wohnung verlassen hatte?
Ben biss die Zähne zusammen, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Auch der Zweitschlüssel kam nicht infrage, seine Nachbarin, die ihn bei sich aufbewahrte, arbeitete immer bis spätabends, sie war bestimmt nicht zu Hause.
Wenn in der Mappe in seinem Rucksack war, was er vermutete, dann könnte er schon morgen abreisen. Noch mal von vorn beginnen.
Ben verscheuchte die Gedanken, die ihn ablenkten, nahm den Rucksack von den Schultern und zog seine Jacke aus, um sie zu durchsuchen.
Die Taschentücher und der Riegel fielen auf den Bürgersteig, ansonsten waren die Taschen leer. Der Wind ergriff die federleichten Taschentücher und Ben trat einen beherzten Schritt nach vorn, bedeckte sie mit seinem Schuh und sammelte auch den Riegel wieder ein, bevor er auf Nimmerwiedersehen davonrollen konnte.
Kein Schlüssel.
Er starrte auf das schwarze Haustor vor seiner Nase, das einen gebogenen Rahmen ausfüllte und klapperte, wenn eine Windböe von der Seite darauf traf.
In dem Moment hörte er die Schiebevorrichtung, mit der das Tor im Inneren des Gebäudes entriegelt werden konnte.
Ben seufzte erleichtert, dann griff er nach seinem Rucksack und wartete neben der Tür, bis das Tor nach außen aufschwang und eine Hundeschnauze aus der Dunkelheit auf die Straße lugte. Ein kleiner, braun-weiß gefleckter Hund trippelte auf den Bürgersteig, und die Dame mittleren Alters, die ihm in einem eleganten Wintermantel folgte, hatte das Tor fest im Griff.
„Entschuldigen Sie, darf ich? Ich wohne hier“, murmelte Ben und legte seine Hand auf das Türschloss, damit die Tür auf keinen Fall einrasten konnte.
Die Dame, deren schwarze Haare durch die Luft flogen, als wären es Windsäcke und keine Locken, kümmerte sich nicht um Ben.
„Danke.“ Ben huschte ins Innere des Gebäudes und ließ das schwere Tor hinter sich zufallen. Seine Augen brauchten einige Sekunden, um sich an das Dämmerlicht im Eingangsbereich zu gewöhnen. Er zwinkerte fest, drehte dabei den Kopf hin und her und warf dann wieder einen Blick auf die Uhr.
Sechs Minuten.
Da wurde Bens Aufmerksamkeit von einer schaukelnden Bewegung eingefangen, die er rechts von sich im Augenwinkel sah. Er wandte den Kopf und stieß erleichtert die Luft aus. Vom Windstoß bei seinem Eintreten bewegt, baumelte sein blaues Schlüsselband samt Schlüssel an seinem Briefkasten, den er heute Morgen geleert hatte.
Ben schüttelte den Kopf über seine Unachtsamkeit, zog den Schlüssel aus dem Schloss und begab sich auf den Weg nach oben.
Vom Eingangsbereich führten zwei gegenüberliegende Treppen zu den zwei Treppenhäusern des Hauses, wobei Bens Wohnung auf der rechten Seite lag.
Er nahm mehrere Stufen auf einmal, stützte sich am Geländer ab und erreichte schließlich den dritten Stock, der verlassen vor ihm lag. Als er in seine Wohnung kam, warf er seine Jacke in die Ecke des Vorraums und lief zu seinem Schreibtisch, auf dem sich Bücher und Zeitschriften stapelten. Mit einer forschen Handbewegung verschaffte er sich Platz auf der Arbeitsfläche, wo er seinen Rucksack schließlich abstellte und an dem Reißverschluss des hinteren Faches zog. Dann endlich holte er die Mappe heraus, etwa zwanzig Seiten Papier, die er in der Bibliothek ausgedruckt hatte. Sein Blick wanderte zur Fußzeile des ersten Blattes und ein Name sprang ihm ins Auge.
Catalina Dunai.
Das musste sie sein, sie musste Bescheid wissen.
Er schloss einen Moment die Augen, bevor er an seinem Schreibtisch Platz nahm. Irgendwo zwischen diesen Seiten …
Schrill läutete sein Telefon, und Ben ließ das erste Blatt fallen, als ob er sich daran verbrannt hätte. Zehn Minuten, wenn er nur zehn Minuten länger Zeit gehabt hätte …
Ben fuhr sich über das Gesicht und schob die Mappe zur Seite, um seine Ellbogen auf die Tischplatte legen zu können, bevor er das Handy aus der Tasche fischte. Die Nummer war wie üblich unterdrückt.
Es wird funktionieren, erklärte er sich selbst in Gedanken, richtete sich auf und nahm das Gespräch an.
Es ist nichts geschehen, schalt sich Noah zum wiederholten Mal an diesem Tag, während er auf den Bildschirm seines Computers starrte.
Keine neuen Nachrichten, informierte ihn sein E-Mail-Programm fast vorwurfsvoll, weil Noah erneut in seinen Ordner gesehen hatte. Einen kurzen Blick zum Telefon, das neben ihm lag, konnte er sich ebenfalls nicht verkneifen, doch auch hier waren keine Nachrichten oder Anrufe erschienen.
Oft hatte er sich Ruhe gewünscht, aber jetzt, wo er auf eine Antwort wartete, war sie unangenehm wie ein Sessel ohne Kissen. Noah rutschte hin und her und versuchte, sich selbst das Versprechen abzunehmen, keinen Blick mehr auf das Telefon zu werfen. Zumindest nicht für die nächsten dreißig Minuten, doch dann ertappte er sich wieder bei einem kleinen Seitenblick, weil er dachte, das Display habe geleuchtet.
Seufzend sah er aus dem Fenster und beobachtete die obere Etage eines knallroten Doppeldeckerbusses, der Touristen vom Stadtzentrum San Antonios im US-Bundesstaat Texas ostwärts Richtung Alamo kutschierte.
Der Straßenlärm war bis hier oben zu hören, hupende Autos, laute Musik, Menschenrufe – es kribbelte Noah in den Fingern, bald die Wohnung zu verlassen und das Leben der Stadt auf sich wirken zu lassen. Sich abzulenken und seinem Bruder Ben Zeit zu geben, um sich endlich zu melden und zu sagen, dass alles in Ordnung war.
Noahs Blick wanderte in der leer geräumten Wohnung auf und ab. Lange schon hatte er umziehen wollen, denn so sehr er die Nähe zur Innenstadt in seinen Zwanzigern auch genossen hatte, jetzt wollte er seine Ruhe am Abend.
Ruhe. Noahs Blick huschte erneut zum Telefondisplay, das nach wie vor dunkel blieb, und er drehte das Handy kurzerhand um, sodass er nur noch seine Hülle sah. Der Plan war gewesen, zuerst umzuziehen und dann den alten Job zu kündigen, um den neuen anzunehmen. Doch manchmal kam alles anders, als man es plante.
Die neue Wohnung war viel kleiner als diese hier, deshalb hatte er begonnen, seine Möbel und Habseligkeiten, die er nicht in der neuen Wohnung unterbringen konnte, zu verschenken und zu verkaufen. Heute hatte er den ganzen Tag Kisten gepackt und Kartons gestapelt.
Noah atmete tief durch. Bald würde die Nachricht kommen, dass alles in Ordnung war. Dass er sich umsonst Sorgen gemacht hatte.
Alles hatte harmlos begonnen. Seit zwei Monaten war sein jüngerer Bruder Ben nicht mehr in San Antonio, sondern wohnte in Wien, wo er ein Jahr lang bleiben und arbeiten wollte. Vorgestern hatte Noah ihm eine Nachricht geschickt und ihn gefragt, ob er seinen zweiten Fernseher, den er verschenken wollte, für ihn aufheben sollte.
Ruf mich bitte so schnell wie möglich an! Es ist dringend!
Noah hatte Bens Antwort erst eine Stunde später gesehen und dann sofort angerufen, doch sein Bruder hatte nicht abgehoben. Der Fernseher war vergessen gewesen, aber auch auf Noahs Nachricht, er sei ab jetzt erreichbar, hatte Ben nicht mehr reagiert. Noch nie hatte Ben eine solche Nachricht verfasst und während Noah auf den Rückruf gewartet hatte, hatte er alle möglichen Szenarien im Kopf gehabt. Ein Unfall, eine dringende Frage zur Wohnung … Was es auch war, Ben hatte sich nicht mehr gemeldet.
Gestern hatte Noah dann mit seiner Mutter telefoniert und ihr von Bens Nachricht erzählt. Als sie berichtete, dass sie das letzte Mal am Wochenende von ihrem jüngeren Sohn gehört hatte, war Noah stutzig geworden. Während er versucht hatte, seine Mutter zu beruhigen und ihr zu versichern, dass alles in Ordnung war, hatte er eine weitere Nachricht an seinen Bruder verfasst, in der er ihn darum gebeten hatte, sich sofort zu melden. Keine Reaktion.
Noah hatte versucht, sich einzureden, dass Ben nur das Handy nicht eingeschaltet hatte und ihm vierundzwanzig Stunden Zeit gegeben, sich zu melden. Drei Stunden waren noch übrig und Noah überlegte längst, wie er weiter vorgehen sollte, wenn Ben stumm blieb. Eine Anzeige machen, weil sein kleiner Bruder vermisst wurde?
Noah wurde schlecht, als er daran dachte, was Ben zugestoßen sein könnte. Auf der anderen Seite war Ben niemand, der sein Handy ständig mit sich trug. Die Hoffnung, dass er es irgendwo vergessen hatte und erst morgen wieder einen Blick darauf werfen würde, hielt Noah davon ab, noch einmal auf das Telefon zu schauen.
Stattdessen verwarf er seinen Plan, bis zum Sonnenuntergang zu warten, bevor er loszog, um auf andere Gedanken zu kommen. Hier in seiner Wohnung würde er sich nur weiterhin Sorgen machen, er musste an die frische Luft und mit Menschen sprechen.
Gedankenverloren griff er nach seinem Schlüssel und zog die Turnschuhe an. Die Jacke im Schrank ließ er, wo sie war, denn Noah genoss den kühlen Abendwind. Als er die Haustür öffnete, schlug ihm milde Stadtluft entgegen, eine Mischung aus Abgasen, dem Geruch von Menschen und Beton.
Noah beschloss, seinen Rundgang im kleinen Pub seines Kommilitonen Josh zu beginnen. Dort hatte er in der Vergangenheit schon die spannendsten Menschen getroffen, außerdem freute er sich darauf, mit seinem alten Studienkollegen zu plaudern.
Der Weg führte ihn über eine aus dunkelgrauem Stahl gefertigte Brücke, die den Fluss an einer ruhigen Stelle abseits der touristischen Pfade überquerte. Hier herrschte das alltägliche Leben einer Großstadt, Menschen, die telefonierend an ihm vorbeihasteten oder ihren Hund an der Leine spazieren führten.
In dem Moment klingelte das Handy in seiner Tasche – eine neue Nachricht. Bens Name leuchtete auf dem Display auf, und Noah spürte, wie ein riesiger Steinbrocken von seinem Herzen fiel. Er griff sich an die Stirn und atmete tief durch.
Eilig öffnete er dann die Nachricht und runzelte im nächsten Moment die Stirn über seinen Bruder.
Habe ich dir verraten, wo ich meinen Zweitschlüssel für die Wohnung aufbewahre? Mein Hauptschlüssel ist weg, und ich weiß nicht mehr, was ich mit dem anderen gemacht habe.
Verwirrt blieb Noah stehen und las die Nachricht erneut. Auf all die Fragen, wo Ben sei und dass er sich melden solle, kam diese Antwort?
Noah schüttelte innerlich den Kopf und kämpfte gegen die Wut an, die sich in seinem Bauch sammelte. Warum hatte Ben vor zwei Tagen geschrieben, er müsse dringend mit ihm telefonieren? Was war geschehen?
Kurzerhand wählte Noah Bens Nummer und rief an. Das Wartezeichen ertönte mehrmals, dann sprang der Anrufbeantworter an. Noah legte auf und schüttelte langsam den Kopf, während er versuchte, Bens Verhalten zu verstehen.
Ich weiß nichts von einem Zweitschlüssel. Wenn du noch sprechen möchtest, kannst du mich jederzeit anrufen, schrieb Noah zurück.
***
In Joshs Pub hatten sich nicht viele Menschen verirrt, nur drei Tische des großen Hauptraums waren besetzt. Als Noah durch die Tür trat, hatte er den Geruch von Frittiertem in der Nase, der nicht nur dem Pub, sondern auch seinem Besitzer seit jeher anhaftete.
Josh selbst saß am Tresen und blätterte in einem Katalog, in seiner Linken hielt er einen Stift, mit dem er sich immer wieder nachdenklich durch die Haare fuhr und am Kopf kratzte.
„Alles klar bei dir?“ Noah klopfte Josh zur Begrüßung auf die Schulter und nahm auf einem der Barhocker Platz.
„Geht“, murmelte Josh und hob den Blick. „Was führt dich zu dieser Uhrzeit hierher? Musst du nicht arbeiten?“
Noah seufzte. „Ich habe gekündigt.“
Josh, der bis zu diesem Moment mit einem Auge noch bei seinem Katalog gewesen war, in dem Taucherausrüstung zu sehen war, sah ihn überrascht an. „Was ist passiert?“
„Eine Meinungsverschiedenheit. Und der Wunsch, etwas anderes zu machen.“ Noah versuchte, dabei so selbstsicher wie möglich zu klingen, aber Josh zog die Augenbrauen in die Höhe. „Und jetzt?“
Noah zögerte einen Moment. Dann beschloss er, die Geschichte kurz zusammenzufassen, und erzählte, dass er vom ansässigen Lokalblatt zu einer für investigative Recherche bekannte Zeitschrift wechseln würde, die sich auf Reportagen und Interviews spezialisiert hatte. Allerdings würde er dort erst im Februar beginnen können.
Josh zog die Augenbrauen hoch. „Und der neue Job ist es wert, drei Monate lang kein Gehalt zu bekommen?“
Noah zuckte mit den Schultern. „Das Risiko bin ich bereit, einzugehen.“
„Hmpf“, machte Josh. „Dann wünsche ich dir alles Gute dafür, wirklich.“
„Mehr brauche ich nicht.“ Noah trommelte mit den Fingerspitzen auf das Tresenholz und sah sich um. „Wenig los heute.“
Josh zuckte mit den Schultern. „Ich bin nicht unglücklich darüber, seit gestern sind zwei Mitarbeiter krank.“ Er stand auf und faltete den Katalog zusammen.
„Tauchen?“, fragte Noah.
„Ja, meine Freundin hat versprochen, den Pub nächsten Sommer für zwei Wochen zu übernehmen“, berichtete Josh. „Übrigens hat sich Ben auch wieder beworben, um im Sommer hier zu arbeiten.“ In dem Moment winkte ihm einer seiner Gäste vom Tisch aus zu und er ging zu ihnen.
Noah blieb an der Bar und zog zwei kleine Servietten aus dem Ständer am Tresen, faltete sie und zupfte die Ränder aus. Als Ben während des Colleges nach einem Job gesucht hatte, hatten Josh und dessen Freundin angeboten, dass er im Pub aushelfen konnte. Auch Noahs Ex-Freundin hatte hier hin und wieder neben dem Studium als Kellnerin gearbeitet.
„Hey, Noah, komm mal her!“ Joshs Stimme schien weit weg zu sein, wie in einem anderen Raum, und Noah benötigte einige Sekunden, bevor er reagierte. „Ja?“
Josh stand bei seinen Gästen und lachte mit ihnen, bis Noah sich dazugesellt hatte. „Damit du nicht den ganzen Abend lang an der Bar bist – setz dich hierhin und komm mal wieder unter Menschen.“
„Viel gearbeitet?“, erkundigte sich die Frau mit einer wilden Lockenmähne, die sie zu einem Dutt zusammengebunden hatte.
„Allerdings.“
Der Mann, der auf der anderen Seite saß und dabei war, ein Sandwich zu essen, räusperte sich. „Bist du von hier?“
Noah nickte. „Ich wohne seit ein paar Jahren hier, ja. Aber aufgewachsen bin ich in der Nähe von Austin.“ Er tippte mit den Fingern auf die Tischplatte und sah die drei Tischgenossen aus dem Augenwinkel an. Die Frau mit dem Dutt saß auf einer Seite, während ihr gegenüber eine Frau mit langen glatten Haaren neben dem Mann Platz genommen hatte.
„Wir kennen Josh von seiner Zeit in Wellington“, erklärte der Mann, als sich Noah an den Tisch setzte.
„Ach, dann kommt ihr aus Wellington?“, fragte Noah überrascht.
„Geboren und aufgewachsen, ja. Studiert habe ich hier. Biochemie.“ Die Frau mit dem Dutt reichte ihm die Hand. „Ich heiße übrigens Carol.“
„Noah, freut mich.“
„Dann willkommen an unserem Tisch. Noch willkommener wirst du uns sein, wenn du uns später hilfst, Josh zu überreden, uns einmal an die Musikanlage zu lassen.“
„Alles klar.“
***
Noah würde es schon als Gabe bezeichnen, sich zwei Stunden lang zu unterhalten, und doch nichts Bemerkenswertes dabei zu sagen. Als er sich um kurz nach halb zehn von seinen drei neuen Bekannten und Josh verabschiedet hatte, waren fast alle Tische des Pubs voll besetzt gewesen und die Musik hatte ihre Gespräche übertönt.
Irgendwann war Noah dann vom Tag und dem Zuhören erschöpft aufgestanden und hatte sich auf den Weg nach Hause gemacht. Als er seine Wohnung erreichte und sich dort auf das Sofa setzte, um den Kopf abzustützen, fielen ihm fast die Augen zu. Ein kurzer Blick auf das Handy zeigte ihm, dass Ben keine weitere Nachricht hinterlassen hatte.
Morgen. Morgen werde ich noch mal versuchen, ihn zu erreichen.
Die Tür knarrte, als sie die Kammer aufsperrte und sich durch den Eingang schob. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und ihre Hände zitterten leicht, während sie einen Fuß in die Dunkelheit setzte. Das Licht am Gang war ein dämmriges gewesen, und trotzdem konnte sie nichts erkennen, nur schwache Konturen, die sich von der Finsternis abhoben. Sie streckte die Arme nach vorn und tastete sich voran, Zentimeter um Zentimeter. Kein Geräusch durfte sie machen, ein Poltern und sie flog auf.
Die Vandenynos waren noch munter, über sich hörte sie ihre Stimmen und ihre Schritte.
Ein Fenster, es gab ein Fenster, hatte er gesagt. Sie tastete sich weiter, bis sie an der Wand ankam und dort mit den Händen über die Oberfläche strich, bis sie einen Stoff ertastete, den sie zur Seite ziehen konnte, und das Fenster schließlich vor sich hatte. Im nächsten Moment stieß sie mit dem linken Fuß gegen einen truhenartigen Gegenstand am Boden und verkniff sich einen Fluch. Es war kein lautes Geräusch gewesen, doch die Stimmen, die sie von oben vernommen hatte, verstummten einen Augenblick lang.
Sie kniff die Augen zusammen und tastete weiter. Wenn sie sie gehört hatten, würden sie gleich hier sein. Eine Minute, zwei höchstens. Die Truhe, gegen die sie gestoßen war, war aus Holz, das konnte sie erkennen, als sie mit der Hand darüberstrich, um nicht noch einmal dagegen zu laufen.
Die Tür zum Gang hatte sie wieder verschlossen, doch als jemand eine Lampe am Flur benutzte, konnte sie den schwachen Lichtschein im Raum sehen. Auf einmal wurden die Konturen zu Möbeln und sie konnte die Gegenstände ausmachen, die hier gehortet wurden. Nie hätte sie gedacht, es hierher zu schaffen, und nun, da sie mitten in dem Raum stand, den die Vandenynos am besten bewachten, würde sie scheitern. Das Licht am Flur wurde stärker und sie konnte die Schritte hören, die sich der Tür näherten.
„Ich schwöre dir, es war nichts“, hörte sie einen Mann sagen. Ein Schlüsselbund klirrte.
„Und ich habe die Verantwortung. Warum lässt du mich nicht meine Arbeit machen und konzentrierst dich auf deine?“
Ihr Körper spannte sich an, als sie sich hektisch nach einem Versteck umsah. Sie duckte sich und schob sich zwischen Truhe und Wand, kauerte sich dort zusammen und lauschte, als die Tür aufschwang.
Im Raum wurde es hell, und jemand räusperte sich. „Wie kann es sein, dass nach einem Jahr immer noch nicht alle verstanden haben, dass die Räume bewacht werden müssen?“, beschwerte sich der eine, während der andere nervös hustete. „Das ist wirklich unglaublich.“
„Das hat hier unten auch nichts verloren. Wenn das jemand sieht …“ Es klang, als würde er einen schweren Gegenstand aufheben. „Nimm das und schaff es weg, am besten entsorgst du es so weit weg wie möglich. Geh zu Fuß und lass dich nicht beobachten.“
Sie seufzte innerlich erleichtert auf. Die beiden schienen davon überzeugt zu sein, dass hier niemand einbrechen konnte, weswegen sie gar nicht auf die Idee kamen, nach jemandem zu suchen.
„Los jetzt.“ Das Licht wurde schwächer und die Tür fiel ins Schloss. Sie wartete noch einige Augenblicke, bis sich die Schritte entfernt hatten, dann kroch sie aus ihrem Versteck und klopfte sich den Staub von der Kleidung. Konnte sie es riskieren, ein Streichholz zu benutzen?
Sie zog ein Hölzchen heraus und entzündete es, sodass eine kleine Flamme aufgeregt tanzte. Dann holte sie einen Kerzendocht hervor, übertrug das Feuer und sah sich erneut in dem Raum um. Der Plan hatte bis zu diesem Zeitpunkt einwandfrei funktioniert. Doch als sie sich im Kreis drehte und sah, welchen Mengen an Gerümpel sie gegenüberstand, wusste sie, dass die eigentliche Herausforderung nicht war, in diesen Raum zu gelangen, sondern ihn mit dem richtigen Gegenstand zu verlassen.
Ben war wieder verstummt. Nicht plötzlich, sondern schleichend, sodass Noah oft tagelang auf eine Antwort seines Bruders wartete, bis er sich mit unzusammenhängenden Nachrichten meldete, nur um dann erneut unterzutauchen. Das war nicht Bens Art, er hatte sich noch nie über mehrere Tage hinweg nicht gemeldet. Früher hatte er sich mit jedem Problem an Noah gewandt, und Noah hatte sich schützend vor seinen fast zehn Jahre jüngeren Bruder gestellt, wenn er Hilfe gebraucht hatte.
Ist er sauer auf mich? Habe ich irgendetwas getan? Noah wünschte, er könnte in Ruhe mit seinem Bruder sprechen, um endlich zu verstehen, was passiert war.
Als Noah am Tag nach dem Pubbesuch noch einmal versucht hatte, Ben telefonisch zu erreichen, war wieder nur die Mailbox angesprungen. Es waren zwei Tage vergangen, dann drei, und Noah hatte schließlich bei seiner Mutter nachgefragt, ob sie etwas von ihrem jüngeren Sohn gehört hatte. Auch sie war besorgt und ratlos gewesen.
Erst Tage später war eine Antwort gekommen, in der Ben kurz bestätigte, dass es ihm gut ginge, doch zu einem Telefonat zwischen den Brüdern war es noch immer nicht gekommen.
Jetzt war Samstag und Noah hatte sich eigentlich vorgenommen, seine alten Entwürfe, die er für die Zeitung geschrieben hatte, zu sortieren, doch er konnte sich nicht auf die Zeilen konzentrieren, die er lesen wollte. Sein Blick eilte alle paar Minuten zu seinem Handy, das wieder neben ihm lag. Jedes Mal, wenn sich ein Schatten vor dem Fenster im Display spiegelte und es so aussah, als ob eine Nachricht erschienen wäre, konnte Noah nicht anders als hinzusehen, doch der Bildschirm blieb dunkel.
Nichts.
Noah erhob sich und fuhr sich über die Stirn. Es war ihm unmöglich, sich auf seine Arbeit zu fokussieren. Er wog die Möglichkeiten ab, die er hatte. In drei Wochen hätten er und seine Familie Ben in Wien besucht – sollte er diesen Besuch vorziehen und schon etwas früher zu Ben fliegen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war?
Auf der anderen Seite – möglicherweise hatte Bens Verhalten ganz andere Ursachen. Vielleicht war er aus welchem Grund auch immer sauer auf Noah und wollte deshalb nicht mit ihm sprechen – auch wenn Noah keinen Grund dafür wüsste, würde Ben in diesem Fall ein plötzliches Auftauchen Noahs nur wütend machen. Dann brach er die Kommunikation womöglich komplett ab. Hierzubleiben und nichts zu unternehmen, kam für Noah aber auch nicht infrage. Was für andere Optionen hatte er? Vier Tage waren vergangen, seit er das letzte Mal von Ben gehört hatte.
Ein paar Minuten blieb Noah noch sitzen, dann beschloss er, erneut in den Pub zu gehen – wenn Josh nicht gerade unterwegs war, konnte Noah auch ihn fragen, ob er etwas von Ben gehört hatte.
Als er den Pub betrat und sich umsah, war er überrascht, als er die Frau mit dem Lockenkopf erneut sah, die vor einer Woche bei Joshs Bekannten aus Wellington gewesen war. Sie saß an einem Tisch gegenüber der Theke und hatte eine Zeitung aufgeschlagen, in der sie zu schnell blätterte, als dass sie tatsächlich lesen könnte, was darinstand.
„Hallo? Carol, oder?“
Die Frau sah auf und verzog zunächst verwirrt das Gesicht, ehe sie ihn erkannte. „Ah, Noah. Was für ein Zufall!“
Noah nickte. „Triffst du dich wieder mit deinen Freunden?“
Carol schüttelte den Kopf. „Die beiden sind schon auf dem Weg zurück nach Wellington. Sie haben mich als letzten Zwischenstopp auf ihrer Reise besucht.“
„Verstehe. Bist du mit jemandem verabredet?“
Carol lehnte sich zurück, schloss die Zeitung und schüttelte den Kopf „Nein, bin ich nicht. Aber wie du neulich auch schon gesagt hast, genieße ich die Abwechslung hier.“
Noah sah sich um, es waren genügend andere Tische frei, an die er sich setzen konnte. Er wollte sich wieder verabschieden, da faltete Carol die Zeitung und fuhr mit dem Daumen über die Seiten. „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass dir etwas auf dem Herzen liegt.“
Noah versuchte, eine neutrale Miene aufzusetzen und nicht ertappt zu wirken. Trotzdem konnte er seine Sorgenfalten auf der Stirn nicht wegzaubern. „Wie kommst du darauf?“
„Deinen Gesichtsausdruck kenne ich von mir. Den habe ich die letzte Woche über jeden Tag im Spiegel gesehen. Gute Miene zum bösen Spiel. Oder liege ich falsch?“
Noahs Blick senkte sich, während er überlegte, ob er dieser wildfremden Frau von seinen Problemen erzählen sollte. „Nein. Du hast recht.“
Carol deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. „Du musst mir nichts sagen. Aber falls du nicht allein sitzen willst, kannst du gern Platz nehmen. Ich warne dich allerdings gleich vor, ich werde nicht lange bleiben heute.“
Noah lächelte und folgte ihrer Einladung. „Keine Sorge, meine Zeit ist auch begrenzt.“ Dann musterte er Carol, wie sie ihm ruhig gegenübersaß und beide Hände auf der Zeitung liegen hatte. Er dachte nach, was er noch von ihr wusste, doch an dem Abend, an dem er bei ihr und ihren Freunden gesessen hatte, hatte sie nicht allzu viel gesprochen.
„Was ist es bei dir? Was macht dir Sorgen?“, fragte Noah und Carol schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich das erzählen kann.“ Sie sah an ihm vorbei, als ob sie hinter ihm etwas beobachten würde, doch viel eher schien es, als ob sie kurz in ihrer Gedankenwelt verschwinden würde. Dann sah sie Noah wieder an. „Das ist persönlich. Es geht um einen Menschen aus meiner Familie, den ich vermisse.“
„Wo ist er?“
Carol seufzte. „Nicht mehr hier.“
Noah schloss für einen Moment die Augen. „Das tut mir leid.“ Er suchte nach den richtigen Worten. „Wie ist er … also ich meine … war es plötzlich?“
Carol nickte. „Ja. Und es ist schon ewig her. Früher haben die Leute immer gesagt, ich hätte seine Augen. Und ich freue mich, dass ich ihn überhaupt kennenlernen durfte.“
Noah fragte nicht nach, um wen es sich handelte, als Carol an dieser Stelle absetzte, denn er wollte nicht neugierig wirken.
„Meine Eltern und Großeltern haben mir viel erzählt, trotzdem kann ich nicht behaupten, ihn wirklich gekannt zu haben. Aber jetzt … denke ich oft an ihn.“ Carol spielte mit der Ecke der Zeitung in ihrer Hand.
„Warum, glaubst du, beschäftigt es dich gerade so?“
Carol zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.“ Sie senkte den Blick, nur um dann wieder aufzusehen und traurig zu lächeln. „Er war ein sehr gütiger und weiser Mensch. Und er hat mir viele Ratschläge mit auf den Weg gegeben, die mir fast ausnahmslos geholfen haben. Bis auf einen Ratschlag … den habe ich nicht verstanden, jahrzehntelang nicht.“ Sie überlegte einen Moment, dann seufzte sie. „Wie auch immer.“ Carol legte beide Hände auf den Tisch und stützte sich auf die Ellbogen. „Was ist mit dir?“
In diesem Augenblick kam die Kellnerin und nahm ihre Bestellungen auf, sodass sie kurz abgelenkt waren. Dann verzog Noah das Gesicht. „Ich mache mir Sorgen um jemanden aus meiner Familie. Er wollte mich zunächst dringend sprechen, hat sich dann aber nur noch mit seltsamen Nachrichten gemeldet und reagiert jetzt tagelang nicht mehr auf Nachrichten. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass er in Schwierigkeiten steckt … gleichzeitig habe ich Angst, dass er womöglich sauer ist auf mich und die Kommunikation ganz beendet, wenn ich weiter versuche, ihn zu erreichen.“ Es auszusprechen hatte etwas Erleichterndes, als ob die Worte seit einer Woche nur darauf gewartet hätten, von einer anderen Person gehört zu werden.
„Wieso denkst du, dass er in Schwierigkeiten steckt?“, fragte Carol leise.
„Weil das einfach nicht seine Art ist. Früher hat er immer gleich geantwortet und war aktiv darum bemüht, Kontakt zu halten. Doch jetzt meldet er sich weder bei meinen Eltern noch bei mir. Irgendetwas ist passiert“, erklärte Noah.
Die Kellnerin brachte die Getränke, kassierte gleich und verschwand dann wieder im Trubel des Pubs.
Carol nickte Noah zu, als Zeichen, dass sie zugehört hatte. „Was sagen deine Eltern dazu?“
Noah seufzte. „Sie machen sich natürlich auch große Sorgen.“ Er trank einen Schluck aus seinem Glas. „Trotzdem weiß ich nicht, wie ich reagieren soll.“
„Was denkst du denn, wäre die beste Reaktion?“
„Irgendetwas stimmt nicht. Und ich glaube, ich sollte meinen Besuch vorziehen und nachsehen, ob Ben Hilfe braucht“, erwiderte Noah und war selbst überrascht über seine Antwort.
Carol lehnte sich zurück. „Hm …“, machte sie. „Wenn du der Meinung bist, dass etwas nicht stimmt, solltest du dem wohl nachgehen.“
***
Als Noah an dem Abend, an dem er Carol im Pub getroffen hatte, zurück in seine Wohnung kam, war er entschlossen, bis zum nächsten Tag eine Entscheidung zu fällen.
Die darauffolgende Nacht schlief er schlecht, er wachte immer wieder auf, hatte wirre Träume und konnte um kurz nach fünf nicht mehr einschlafen. Doch als er um sieben aufstand und auf dem Handy keine neuen Nachrichten von Ben sah, war seine Entscheidung gefallen, ohne dass er noch einmal viel darüber nachdenken musste.
Er würde nach Wien fahren, so schnell wie möglich. Die Flüge und das Hotel waren nicht billig und Noah schluckte bei dem Gedanken daran, was diese Tickets seinem Bankkonto antun würden, aber er musste darauf vertrauen, die richtige Entscheidung zu treffen. Das Telefonat mit seiner Mutter, das er daraufhin führte, bestärkte ihn in seinem Entschluss.
„Ich glaube, dass er falsche Freunde gefunden hat und in Schwierigkeiten geraten ist … Hoffentlich ist ihm nichts zugestoßen“, meinte sie leise.
„Es geht ihm gut, da bin ich sicher. Ich werde meinen Besuch in Wien vorziehen und dir Bescheid geben, sobald ich mehr weiß.“ Noah war inzwischen dabei, seinen alten Koffer aus der Abstellkammer zu holen.
„Soll ich nicht auch …“, setzte seine Mutter an, aber Noah unterbrach sie. Wenn Ben tatsächlich in Schwierigkeiten geraten war, so wie sie es befürchtete, war es besser, wenn er Ben allein besuchen und ihm helfen würde.
„Es geht um meinen Bruder. Und ich werde das machen, auf mich hört er.“ Manchmal, fügte er in Gedanken hinzu. „Mach dir keine Sorgen. In ein paar Tagen ist dieser ganze Spuk vorbei, das verspreche ich dir.“
Noah verabschiedete sich von seiner Mutter, dann sah er sich in dem Kartonchaos um und überlegte, wie er darin noch Kleidung finden sollte, die er auf seine Reise mitnehmen konnte. Während er langsam Hosen, Schuhe und Hemden einsammelte, wurde die Vorstellung davon, in wenigen Tagen in Wien zu sein und Ben zu besuchen, realer. Das führte unweigerlich dazu, dass er sich fragte, was dort auf ihn warten würde. Die Ungewissheit nagte an Noahs Nerven. Und als er Ben am Abend vor seiner Reise Bescheid gab, dass er sich auf den Weg machte, nutzte er die Gelegenheit, um Carol, deren Kontaktdaten er noch vom ersten Abend hatte, eine Nachricht zu schreiben.
Ich habe meine Entscheidung getroffen. Damit bin ich einen Schritt weitergekommen. Ich hoffe, das Gleiche gilt auch für dich.
***
Noch vor seiner Abreise hatte sich Noah mit der Frage befasst, wo er Ben in Wien finden könnte. In seiner Wohnung schien er seit einigen Tagen nicht mehr gewesen zu sein, wie Bens Nachbarin Noah am Telefon mitgeteilt hatte. Dafür konnte sie mit dem Zweitschlüssel zu Bens Wohnung aushelfen. Je schneller er in der Wohnung seines kleinen Bruders war, desto eher konnte er nach ihm suchen. Noah hatte Ben noch in mehreren Nachrichten darüber informiert, dass er nach Wien kommen würde, doch auch darauf hatte er nicht reagiert.
Als Noah endlich mit dem Ersatzschlüssel vor Bens Wohnhaus im neunten Wiener Gemeindebezirk stand, musste er sich zuerst orientieren, bis er das richtige Eingangstor gefunden hatte. Der mit Fliesen ausgelegte Eingangsbereich war düster, es gab keine Fenster die diesen Raum mit Tageslicht versorgten. Nur ein schmaler Lichtstreifen tastete sich vorsichtig unter der Tür hindurch, die dem Eingang gegenüber lag. Noah fuhr mit der Hand an der Wand neben der Eingangstür entlang und suchte nach dem Lichtschalter. Die Glühbirne der Lampe, die in der Mitte des Eingangsbereichs hing, war nicht kräftig, sie flackerte ein wenig und schenkte dem Raum, den sie erhellen sollte, dämmriges Licht. Noahs Blick wanderte durch den Vorraum, in dem nur ein kleiner Schrank und zwei Haken an der Wand zu finden waren. Dort standen zwei Paar Schuhe, an den Haken hingen ein Wintermantel und eine Regenjacke, die Noah auf den ersten Blick beide seinem Bruder zuordnen konnte.
„Ben?“, fragte er in die Wohnung, doch es hallte nur Stille zurück. Noah zögerte noch einen Moment, dann trat er in die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu. Mit einem klickenden Geräusch fuhr das Schloss ein und Noah durchquerte das Vorzimmer. Die Tür, unter der ein feiner Lichtstrahl durchfloss, führte zu einem geräumigen Wohnzimmer, das Ben offensichtlich auch als Schlafzimmer genutzt hatte. Ein Bett stand in der einen Ecke, ein Schreibtisch mit einer Lampe und einem Bücherstapel in der anderen. Dazwischen teilte eine kleine Couch den Raum, die Richtung Fenster gedreht worden war.
Das Bett war gemacht, das Sofa zurechtgerückt und die Vorhänge ordentlich zur Seite geschoben. Als Ben diese Wohnung das letzte Mal verlassen hatte, so deutete Noah diesen Anblick, hatte er es nicht eilig gehabt. Er trat zum Fenster und sah auf eine kaum befahrene Straße; nur vereinzelt trotzten einige Spaziergänger dem kalten Novemberwetter. Noah strich mit dem Finger über das Fensterbrett und entfernte den Staub mit dem Daumen, ehe er einen Blick zur Uhr an der Wand warf.
Alles in allem schien es sich um eine gewöhnliche Wohnung zu handeln und Noah verzog den Mund. Er hatte gehofft, bereits hier auf Antworten zu stoßen, die Bens seltsames Verhalten erklären würden. Eine große Unordnung oder eine in Hast verlassene Wohnung zum Beispiel. Doch so, wie sich die Zimmer präsentierten, wirkte es, als hätte er geplant, länger fort zu sein.
Wann war Ben zuletzt hier gewesen?
Noah setzte sich auf das Sofa, das ein quietschendes Geräusch von sich gab und leicht unter seinem Gewicht einsank. Seine Arme ruhten auf der Lehne, während er den Blick schweifen ließ. Das Gefühl der Enttäuschung überkam ihn, gemischt mit einer gewissen Ratlosigkeit. Stunden- und tagelang hatte er sich damit beschäftigt, was er in Bens Wohnung finden würde; eine halbverschlossene Tür, ein verwüstetes Zimmer – irgendetwas, das ihm einen Hinweis hätte geben können.
Während Noah auf der Couch saß, merkte er, wie ihm die Augen schwer wurden. Noch einige Atemzüge lang steuerte er seine Gedanken, danach fiel er in einen unruhigen Schlaf.
***
Später wusste er nicht mehr, was es war, das ihn aufgeweckt hatte. Hatte eine Tür im Treppenhaus geknallt? War ein Motorrad draußen auf der Straße vorbeigefahren? Seine Träume waren wirr gewesen; er hatte Ben gesehen, wenn auch nicht als menschliche Gestalt, vielmehr hatte er die Stimme seines Bruders gehört, die immer wieder versucht hatte, ihm etwas zuzurufen. Doch Noah konnte sich beim besten Willen nicht an die Worte erinnern.
Er hob seinen Kopf und verzog das Gesicht, als ihm ein Stich durch den Nacken fuhr. Seine sitzende Position und die schiefe Haltung hatten ihr Übriges getan. Er biss die Zähne zusammen und erhob sich langsam, versuchte, seinen Kopf zu bewegen.
Dann machte er einen Schritt auf das Fenster zu und sah in den grauen Himmel hinaus, der die Stadt einhüllte. Bis jetzt hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht, was er tun sollte, wenn er in der Wohnung seines Bruders stand und nicht weiterwusste. Er war davon überzeugt gewesen, Ben selbst oder einen Hinweis zu finden, der ihn zu ihm führen würde. So hatte es den Anschein, als ob alles seine Richtigkeit hätte, und Noah stand wieder am Anfang seiner Suche.
In diesem Moment knurrte Noahs Magen, und er musste sich eingestehen, dass er eine Dusche und eine ordentliche Mahlzeit benötigte, wenn er den heutigen Tag sinnvoll nutzen wollte. Noch einmal sah er sich um, dann verließ er das Wohnzimmer und zog seine Schuhe im Vorraum an. Wo sollte er weitersuchen?
Er beschloss, sein Glück später noch mal bei den Nachbarn zu probieren, wenn diese wieder von der Arbeit zu Hause waren.
Vor dem Hauseingang öffnete Noah das große schmiedeeiserne Tor und spürte die Tropfen des leichten Regenschauers auf seiner Hand. Er drehte sich um, um seine Kapuze überzuziehen und sah in diesem Moment einen gelben Farbfleck auf der Straße; ein Moped, das von einem Mann mit gelber Jacke gelenkt wurde. Vor Bens Wohnhaus blieb der Postbote stehen und griff in seine Tasche, die hinten am Moped befestigt war, und zog mehrere Briefe heraus.
Noah hielt einen Moment inne. Von dem Flug und dem unruhigen Schlaf hatte er immer noch das Gefühl, seine Gedanken würden sich langsamer zu klaren Erkenntnissen formen, sie waberten in seinem Kopf wie unfertige Bilder.
Der Postbote hatte inzwischen seine Briefe in den Kästen verstaut, verschloss das Tor hinter sich und nickte Noah zur Begrüßung zu.
Noah blinzelte zweimal, um die Regentropfen aus seinem Auge zu verbannen, dann holte er den Schlüssel noch einmal hervor und öffnete das Tor. Zielsicher ging er zu den Briefkästen, zog den Schlüsselbund aus der Tasche und nutzte den kleinen, zierlichen Schlüssel, um Postfach Nummer vierzehn aufzuschließen.
Drei Briefe und eine Zeitung lagen darin, die Noah alle herausholte und kurz durchsah. Ein handbeschriebener Brief und zwei, die wohl von Bens Versicherung stammten. Die Zeitung war einen Tag alt.
Noah packte die Briefe und die Zeitung in seinen Rucksack und verließ zum zweiten Mal an diesem Tag das Haus.
Erst als er schon mehrere Häuserblöcke hinter sich gelassen hatte, dachte er erneut an die Zeitung, die er aus dem Postfach geholt hatte. Er öffnete das Fach seines Rucksacks, warf noch einmal einen Blick darauf und zückte sein Handy. Wie auch Ben hatte er Deutsch nach der Schule auf dem College gelernt, er fühlte sich wohl in der Sprache. Trotzdem wollte er sichergehen und herausfinden, welche Art Zeitung er vor sich hatte. Langsam tippte er den Namen des Blattes in das Suchfeld seines Browsers und lief dabei fast gegen eine Straßenlaterne, die sich plötzlich vor ihm aufbaute. Er hielt an, sah verstohlen nach hinten und überflog dann die Ergebnisse seiner Suche auf dem Telefon. Es handelte sich um eine österreichische Zeitung, genauer noch, eine Tageszeitung.
Er ließ das Handy sinken. Eine Tageszeitung. Und er hatte nur eine Ausgabe davon im Briefkasten gefunden. Das bedeutete, jemand kam regelmäßig, um das Postfach zu leeren. Ben? Wer sonst?
Noah wollte in der Bewegung umkehren, um zurück zu dem Wohnhaus zu gehen, das er gerade verlassen hatte, doch sein Magen knurrte wieder und er merkte, dass ihm langsam schwindelig wurde. Er zögerte, warf einen Blick auf die Uhr und beschloss, zwei Stunden Pause einzulegen, um etwas zu essen und seine Gedanken zu sortieren, bevor er in die Wohnung seines Bruders zurückkehrte.
Es mussten ein oder zwei Tage vergangen sein. Sie hatte das Zeitgefühl verloren, doch der Hunger brannte in ihrem Magen und ihre Augenlider fielen immer wieder zu. Wenn sie nicht den Wasservorrat in den Fässern entdeckt hätte, hätte sie schon früher aufgegeben.
Zwei, maximal drei Stunden hätte sie hierbleiben und suchen sollen. Wie schwer konnte es sein, eine Taschenuhr in einer fast leeren Kammer zu finden?
Fast leer. Als sie an die Worte von Hugo dachte, ballten sich vor Wut ihre Hände zu Fäusten. Es war seine Aufgabe gewesen, die Lage auszukundschaften, er hatte ihr versichert, von außen schon einmal in diesen Raum gesehen zu haben. Doch statt in einer fast leeren Kammer war sie in einem Abstellraum für Möbel gelandet. Mittlerweile war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob die Taschenuhr überhaupt hier war.
Am liebsten wäre sie gegangen. Hätte dieses Kämmerchen hinter sich gelassen und die Unternehmung beendet. Doch die Taschenuhr war der einzige Beweis, den Hugo akzeptieren würde, um ihr zu glauben, dass ihr Verlobter Wilhelm mit Alois‘ Tod nichts zu tun hatte.
Wir werden sie verstecken, hatte Hugo gesagt, als sie gefragt hatte, weshalb er die Uhr haben wollte. Ich habe mein halbes Leben aufgewendet, um sie zu finden, aber du hast gesehen, welches Unheil sie in den falschen Händen anrichtet. Wenn wir Glück haben, wird sie in ein paar Jahrzehnten vergessen sein. Nur wir, die Boten, werden noch wissen, dass es sie gibt; bis die Generation kommt, die sie sicher aus ihrem Versteck holen kann. Dann kann sie endlich als das historische Fundstück behandelt werden, das sie ist.
Sie fuhr sich über die Stirn und schloss für einen Moment die Augen. Jeden Zentimeter dieses Raums hatte sie durchsucht, doch sie konnte sie nicht finden. Die Taschenuhr war nicht hier.
Noah stellte seinen Rucksack vor seine Füße und verzog runzelnd die Stirn. Regentropfen waren in das Innere geraten und hatten die Zeitung und die Briefe erwischt, sodass er sie erst trocknen musste, ehe er damit begann, sie weiter zu untersuchen. Die Zeitung ließ er außer Acht, als er sich vor seine Fundstücke setzte. Die zwei Briefe, die von einer Versicherung stammten, legte Noah zu der Zeitung, ehe er einen Blick auf den handgeschriebenen Brief warf. Sollte er ihn öffnen? Erneut kamen ihm Zweifel, doch dann dachte er an Bens Nachricht, mit der alles begonnen hatte; eine Nachricht, in der sein Bruder um Hilfe gebeten hatte.
Noah öffnete den Brief und zog ein Papier und eine Visitenkarte heraus. Die Kopfzeile war mit dem Namen der Absenderin beschriftet, Catalina Dunai. Unter ihrem Namen standen eine Adresse und eine Telefonnummer.
Danke für Ihre Anfrage, leider kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Wie Sie bestimmt wissen, ist das nicht mein Fachgebiet. Ich habe mich seit den Veröffentlichungen nicht mehr mit diesem Thema auseinandergesetzt.
Catalina Dunai hatte eine geschwungene Schrift, die trotz der kurzen Nachricht fast die ganze Seite ausfüllte.
Mit dem Handy suchte Noah nach dem Namen Dunai und wurde auf eine Seite verwiesen, die Catalina Dunai als Spezialistin für Übersetzungen in Französisch und Spanisch ausgab. Eine lange Liste von Referenzen zeigte, dass sie sowohl im Inland als auch im Ausland vor allem für Übersetzungen von Sachbüchern tätig gewesen war.
Noah legte die Stirn in Falten, warf einen Blick auf die Telefonnummer, die in der Kopfzeile angegeben war, tippte sie in sein Telefon und wählte.
Das Freizeichen ertönte einmal, zweimal und nach dem achten Mal kam die Aufforderung, auf die Mailbox zu sprechen.
„Mein Name ist Noah, ich bin Bens Bruder. Es geht um eine Anfrage, die mein Bruder Ihnen geschickt hat. Vielleicht können Sie mich bei Gelegenheit zurückrufen“, erklärte Noah und legte auf.
Er verschränkte die Arme vor seinem Körper und biss sich auf die Lippe, wie er es immer tat, wenn er nachdachte. Von hier aus, seinem Hotelzimmer, konnte er nichts ändern. Vielleicht gelang es ihm, in Bens Wohnhaus die Person zu treffen, die die Post holte? Möglicherweise war es sogar Ben persönlich? Kurzerhand warf er den Wintermantel über, packte den Schlüssel sowie Catalina Dunais Brief und sein Portemonnaie in die Manteltasche und verließ das Zimmer.
***
Wie schon zuvor war in der Straße vor Bens Wohnhaus keine Menschenseele unterwegs. Wie kam es, dass sich Noah dennoch beobachtet fühlte?
Er rümpfte die Nase und folgte den Treppen bis zur Wohnung vierzehn, öffnete die Tür und betrat den Vorraum. Nichts hatte sich verändert; trotzdem warf er einen kontrollierenden Blick in jeden Raum, ehe er sich im Wohnzimmer auf den Schreibtischstuhl setzte und Catalina Dunais Brief hervorholte. Er legte ihn auf den Tisch, dann begann er, systematisch alle Schubladen zu durchsuchen.
Bücher über Zeitungen und Notizzettel, Ladekabel und eine Box, die Ben mit einer Vielzahl an Stiften gefüllt hatte.
Über dem Schreibtisch hing eine Pinnwand mit mehreren Einkaufszetteln und Rechnungen sowie ein Stück Papier, auf dem Ben wohl einen Stift ausprobiert hatte; mehrere Striche waren in unterschiedlichen Abständen gezeichnet worden.
Noah beschloss, sich zuerst den Rechnungen zuzuwenden. Zwei Bücher, ein Einkauf in einem Lebensmittelladen und eine Postkarte – die ersten Rechnungen, die Noah vor sich auf den Schreibtisch legte, waren schon über zwei Monate alt. Erst die vierte Rechnung, die noch nicht vergilbt war und keine Knitterfalten hatte, stammte von vor drei Wochen, ungefähr dem Zeitpunkt, an dem sich Ben zum letzten Mal telefonisch gemeldet hatte. Der Zettel war etwa faustgroß und als Noah den Namen des Ausstellers in sein Handy tippte, wusste er, dass es sich um eine Fachbuchhandlung handelte, in der Ben eingekauft hatte.
Nichts unterschied diesen Schreibtisch und den Raum von Bens altem Zimmer zu Hause, es war, als wäre Noah in einer Schattendarstellung gelandet – und doch fehlte von Ben selbst jede Spur. Noah dachte wieder an die Zeitung, die er vorhin aus dem Postfach geholt hatte. Sollte er warten, bis jemand kam und den Briefkasten leerte?
Sein vorheriger Enthusiasmus, auf eine Spur gestoßen zu sein, war verflogen. Wenn Ben in Schwierigkeiten geraten war – aus welchem Grund auch immer –, dann musste Noah auf der Hut sein.
Vielleicht … Noch einige Augenblicke starrte Noah auf den Schreibtisch vor sich, während sich eine Idee in seinem Kopf manifestierte, die ihn möglicherweise näher an des Rätsels Lösung bringen konnte.
Hallo, Ben, schrieb er auf einen Block und tippte sich mit dem Stift auf das Kinn. Es musste klar und deutlich herauskommen, dass er hier war, um zu helfen, falls Ben Hilfe brauchte. Einen Hinweis, den Ben verstehen würde, aber niemand sonst. Noah ließ den Blick schweifen, durchforstete sein Gehirn und dachte an eigentümliche Floskeln, die zeigen würden, wer er war.
Sie haben bei Ihrem letzten Besuch nach den neusten Erscheinungen über Kolibripopulationen gefragt. Ich darf Ihnen mitteilen, dass Ihre Bestellung nun eingetroffen ist. Gern können Sie diese bei uns abholen.
Noah griff nach der Rechnung der Fachbuchhandlung und schrieb die Adresse ab, dann sah er in seinen Kalender und notierte den übernächsten Tag, Mittwoch und zehn Uhr als Abholzeit. Sollte Ben diesen Brief lesen, so würde er wissen, wer dahintersteckte. Kolibris waren seine Lieblingstiere, und Noah hatte ihm das Buch, von dem er geschrieben hatte, einmal zum Geburtstag geschenkt.
Er holte das Kuvert des Briefs von Catalina Dunai aus dem Rucksack, faltete seinen Zettel und steckte ihn in den Umschlag.
Gemeinsam mit der Zeitung brachte er den Brief zum Briefkasten. Als er wieder in Bens Wohnung angekommen war, überlegte er, was er weiter unternehmen sollte.
Langsam verfinsterte sich der Himmel über Wien. Die blaugraue Färbung des Tages zeigte eine besondere Nuance, jede Minute; als ob ein verstecktes Gesicht hinter dem Licht stehen würde, das sich Stunde um Stunde drehte und eine neue Seite offenbarte.
Was hatte die Nacht an sich, dass sie eine solche Stimmung auf der Erde kreierte? Wie fühlten sich manche von der Nacht angezogen, während andere versuchten, ihr zu entkommen?
Obwohl er nun schon einige Zeit in Bens Wohnung verbracht hatte, kam sie ihm mit einem Mal bedrohlicher vor als noch vor wenigen Minuten. Waren es die Schatten, die sich über den Boden zogen und die Konturen der Möbel unscharf werden ließen?
Zwei Tage lang wollte er hier sein und versuchen, Ben zu finden. Dann würde er Hilfe holen, das hatte er sich vorgenommen.
Noah griff nach seiner Kleidung, warf einen letzten Blick in die Wohnung und machte sich auf den Weg durch das Treppenhaus, um sich langsam auf den Weg zurück ins Hotel zu machen.
Bis zum Eingangsbereich ging er in Gedanken versunken, als er ein geöffnetes Postkästchen sah. Noah runzelte die Stirn; versuchte, sich daran zu erinnern, ob er vergessen hatte, zuzuschließen, doch es schien, als würde sein Gehirn diese Information absichtlich vor ihm geheim halten. Kurzerhand zückte er den Schlüssel, öffnete den Briefkasten und sah, dass er leer geräumt war.
Die Zeitung, der Brief – weg.
Noah schluckte, die Bilder vor seinen Augen benötigten einige Sekunden, um seinen Verstand zu erreichen.
Wie in Trance hob Noah eine Hand und legte sie an das Schloss, um zu prüfen, ob es aufgebrochen worden war, doch es waren keine Spuren zu erkennen.
Jemand war hier gewesen. In den fünf Minuten, die er gebraucht hatte, um seine Jacke zu holen, hatte jemand den Briefkasten ausgeräumt.
Das konnte kein Zufall sein.
