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Zwei Schwestern, ein Geheimnis und der wunderbare Duft des Frühlings
Der spannende Liebesroman für Fans von Familiensagas
1946 zieht die junge Marlene Eigern in den Wienerwald, um dort in einer Villa für die Familie Reuy zu arbeiten. Sie hofft auf ein Leben in Sicherheit, doch nach einem Unfall muss sie in den Wirren der Nachkriegszeit eine Entscheidung treffen, die nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihrer Familie für immer verändert.
Über 70 Jahre später kehren die beiden Zwillingsschwestern Charlotte und Valerie zurück in die Villa Reuy. Die Schwestern sind sich im Laufe der Zeit fremd geworden, doch als sie auf alte Aufzeichnungen ihrer Urgroßmutter Marlene stoßen, kommen sie einem gut behüteten Geheimnis auf die Spur, dessen Schatten bis in die Gegenwart reichen …
Erste Leser:innenstimmen
„Spannend und einfühlsam erzählte Familiengeschichte, sehr zu empfehlen!“
„Romantisch, bewegend, wunderschön.“
„Trotz der Zeitebenen flüssig zu lesen und bis zum Schluss mitreißend – tolles Familiengeheimnis!“
„Ein gefühlvolles, lebendiges und in den Bann ziehendes Leservergnügen.“
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Seitenzahl: 455
Veröffentlichungsjahr: 2022
1946 zieht die junge Marlene Eigern in den Wienerwald, um dort in einer Villa für die Familie Reuy zu arbeiten. Sie hofft auf ein Leben in Sicherheit, doch nach einem Unfall muss sie in den Wirren der Nachkriegszeit eine Entscheidung treffen, die nicht nur ihr Leben, sondern auch das ihrer Familie für immer verändert.
Über 70 Jahre später kehren die beiden Zwillingsschwestern Charlotte und Valerie zurück in die Villa Reuy. Die Schwestern sind sich im Laufe der Zeit fremd geworden, doch als sie auf alte Aufzeichnungen ihrer Urgroßmutter Marlene stoßen, kommen sie einem gut behüteten Geheimnis auf die Spur, dessen Schatten bis in die Gegenwart reichen …
Erstausgabe März 2022
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-914-8 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98637-512-6
Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © smmartynenko, © LilKar, © khanongjansri, © Timofey Zadvornov stock.adobe.com: © AePatt Journey, © Pablo, © Senatorek, © Bernulius, © Kerry09 Lektorat: Cara Kolb
E-Book-Version 28.02.2024, 11:15:51.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Für meine Eltern
Fraislach, 2019
Siebenhunderteinunddreißig Schritte waren es von der Busstation an der Hauptstraße die Gasse bergauf bis zu dem Metalltor, das das Grundstück ihrer Familie vom Rest der Welt trennte. Charlotte zählte die Schritte wie schon als Kind, während sie an der Bordsteinkante entlangbalancierte und den Kopf gesenkt hielt. Braun und gelb gefärbte Blätter verdeckten den Asphalt zu ihren Füßen und immer wieder kickte sie kleine Laubhaufen zur Seite, um ihren Weg fortzusetzen.
Sie atmete schwer, als sie die Hälfte des Weges hinter sich gelassen hatte und stemmte die Arme in die Hüfte. Als Kind war der Anstieg kein Problem gewesen, doch jetzt fehlte ihr die Kondition.
Fünfhunderteins, fünfhundertzwei, zählte sie im Kopf und warf einen Blick nach hinten. Kein Mensch war heute unterwegs, aber das war kein Wunder – hier galt es als Menschenansammlung, wenn mehr als drei Leute zusammenstanden und sprachen. Bis auf die Vögel, die am Himmel ihre Kreise zogen und sich zwitschernd auf den Ästen der Bäume am Straßenrand niederließen, war kein Geräusch zu hören.
Charlotte genoss die kühle Herbstluft, die ihr in die Nase stieg, den Geruch nach Blättern und Wald, der ihr bis unter die Haut kroch und sie beruhigte. Es half ihr, nicht an morgen zu denken, sondern nur daran, wie sie heute zum ersten und einzigen Mal allein in dem Haus ihrer Eltern übernachten würde.
Wobei, ganz allein würde sie nicht sein, die Haushälterin, die schon seit Charlottes Geburt für ihre Familie gearbeitet hatte, wohnte nach wie vor im Haupthaus.
Sechshunderteinundneunzig, sechshundertzweiundneunzig. Als Charlotte den Kopf hob, sah sie schon die dichte Ligusterhecke, die nachgeschnitten werden musste und die das Eingangstor zum Grundstück ihrer Eltern verdeckte. Die letzten Schritte zählte sie nicht mehr, denn hinter der Hecke konnte sie die Villa ausmachen, die einmal ihr zu Hause gewesen war.
Als sie am Tor ankam, legte Charlotte die Hände auf das kühle Metall und starrte auf das Anwesen vor ihr. Ein Schotterweg führte vom Tor aus zu der symmetrisch geschwungenen Steintreppe vor dem Haus, die sich in zwei Arme aufteilte und auf dem Balkon wieder zusammentraf.
Charlotte hatte die Treppe nur zweimal in ihrem Leben benutzt. Einmal, als sie Fangen und Verstecken mit ihrer Zwillingsschwester Valerie gespielt hatte, über die Stufen gestolpert war und sich den Fuß gebrochen hatte. Und noch mal, als sie ihre Schwester vor fünf Monaten das letzte Mal gesehen hatte.
Valerie war während eines Abendessens mit der Familie wutentbrannt über die Treppe aus dem Haus geflüchtet und Charlotte war ihr nachgelaufen, hatte versucht, sie aufzuhalten. Aber sie hatte ihre Schwester nicht einholen können und Valerie war in ihrem Sportwagen Richtung Flughafen davongerast, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
„Wenn du noch länger gaffst, frieren deine Augen ein.“
Charlotte zuckte zusammen und ließ die Gitterstäbe des Tors los, als ob sie sich daran verbrannt hätte. Sie fuhr herum und sah die Haushälterin Ruth hinter sich, die eine stämmige Figur hatte und gut einen Kopf kleiner war als Charlotte. Krähenfüße umrandeten ihre mandelförmigen Augen und ihre Haare waren unter einer Wollmütze versteckt, die sie tief in die Stirn gezogen hatte. Sie musterte Charlotte gründlich, schüttelte den Kopf und holte dann einen Schlüssel aus ihrer Jackentasche.
„Du siehst müde aus. Wenn du noch weniger schläfst, fällst du irgendwann um und kommst nicht mehr auf“, bemerkte Ruth mit dem Fingerspitzgefühl eines Nashorns und hielt Charlotte das Tor auf. „Wie lange stehst du schon da?“, fragte sie weiter, während Charlotte das Tor hinter sich schloss und den frisch gemähten Rasen vor dem Haus betrachtete.
Hier hatte ihre Mutter Inga jeden Sommer ihre Staffelei platziert und gemalt, am liebsten zu Tagesanbruch, wenn das Licht der Sonne das Haus von vorn traf, und der neubarocke Stil des Gebäudes zur Geltung kam. Charlotte hatte nicht gezählt, wie oft ihre Mutter das Haus gezeichnet hatte, doch die bemalten Leinwände hatten sich in ihrem Arbeitszimmer gestapelt wie Bücher in einer Bibliothek.
Der Gedanke daran versetzte Charlotte einen Stich ins Herz und sie kniff die Augen zusammen, um die Tränen zurückzuhalten. Seit dem Begräbnis ihrer Mutter vor fünf Monaten hatte Charlotte das Haus nicht mehr betreten und obwohl die Trauer mit der Zeit erträglicher geworden war, traf die Erinnerung sie hier wie kaltes Wasser im Gesicht.
Sie zog die Schultern hoch und versuchte, sich auf das Gespräch mit Ruth zu konzentrieren, um sich abzulenken. „Zwei Minuten höchstens. Die letzte Woche war stressig, da habe ich nicht sehr viel Schlaf abbekommen“, erklärte sie bestimmt. Sie warf der Haushälterin einen Blick von der Seite zu und war trotz der schroffen Begrüßung froh, sie wiederzusehen. Wenn Valerie morgen in aller Herrgottsfrühe aus Paris kam, dann würde das Chaos ausbrechen – umso mehr genoss Charlotte die Zeit, die sie mit Ruth allein verbringen konnte.
Der Kiesweg zum Gebäude war ebenso mit farbigen Blättern bedeckt wie der Rasen und Charlotte fuhr ein Lächeln über das Gesicht. Wenn es an diesem Ort eines im Überfluss gab, dann war es Natur.
„Da du jetzt hier bist, kann ich dafür sorgen, dass du wieder zu Kräften kommst. Heute gibt es Kürbiscremesuppe … die habe ich gerade selbst geerntet.“ Ruth holte ein Weidenkörbchen unter ihrer Jacke hervor und präsentierte Charlotte drei handballgroße Kürbisse.
„Wo hast du die gefunden?“
„Sie sind zwischen den Zaunlatten durchgewachsen, sodass ich sie von unserem Grundstück aus nicht mehr ernten konnte. Ich bin außerhalb des Zauns entlang bis zu den Bäumen gegangen. Und es liegen noch einige dort.“
Charlotte wusste, wo Ruth die Kürbisse gefunden haben musste. Vor dem Wald oberhalb der Straße hatte sie sich als Kind in der Nacht immer gefürchtet, wenn der Wind durch die Äste fuhr und die Zweige rascheln ließ.
„Wie war die Fahrt?“, erkundigte sich Ruth, während sie in einen watschelnden Gang fiel und sich abmühte, um mit Charlotte Schritt zu halten. Wie früher umrundeten sie das Haupthaus und kamen an den hohen Fenstern im Erdgeschoss vorbei, die vergittert waren.
Ruth schloss eine Hintertür auf, die vom Hof neben dem Haus in das Treppenhaus des Gebäudes führte. Von drinnen kam Charlotte ein Schwall kalte Luft entgegen und sie verschränkte fröstelnd die Arme.
Als Kind hatte sie immerzu gefroren, die Kälte, die sich hartnäckig im Haus hielt wie ein Pilz an einem Baum, war ihr ständiger Begleiter gewesen.
Ruth griff Charlotte an den Arm und hob mahnend ihren Zeigefinger. „Zu wenig Schlaf, deshalb ist dir kalt.“ Sie lächelte versöhnlich und schob ihren Schützling in die Küche, wo ein Feuer im Kamin brannte und schon zwei andere große Kürbisse auf der Arbeitsplatte lagen und darauf warteten, verarbeitet zu werden. „Jetzt koche ich dir mal Tee.“
Die Küche war vollgeräumt mit Töpfen, Pfannen und Kochgeschirr jeglicher Art und war seit jeher Ruths Refugium, in das sie nur selten Besucher einlud.
„Valerie ist übrigens vor zwei Stunden angekommen und schon in ihrem Zimmer“, bemerkte Ruth, während sie Wasser in den Teekocher füllte und es dann erhitzte.
Charlottes Kopf fuhr in die Höhe. „Sie sollte erst morgen landen!“
Ruth runzelte die Stirn, stemmte ihre Hände in die Hüfte und musterte Charlotte abschätzend. „Sie hat einen früheren Flug genommen. Ist das ein Problem?“ Provokant hob Ruth eine Augenbraue, dann legte sie eine bunt gefleckte Kochschürze um und griff nach ihrem Weidenkörbchen.
Charlotte biss sich auf die Lippe und knetete ihre Finger. Ihr Blick verlor sich im Zimmer und für einen Moment hatte sie ihre schöne Schwester mit ihrer kastanienbraunen Mähne vor Augen, die ihr eine Verwünschung zubrüllte und aus dem Haus flüchtete. Danach war sie nicht wiedergekommen, weder zu einer Aussprache noch zum Begräbnis ihrer Mutter.
„Valerie und ich … haben schon lang nicht mehr miteinander gesprochen.“
Ruth zuckte mit den Schultern, goss den Tee auf und seufzte. „Ich bin nicht eure Mutter, aber ich finde es traurig, dass ihr keinen Kontakt mehr habt. Egal, was geschehen ist – ihr seid Geschwister, um Himmels willen.“ Sie holte die frisch geernteten Kürbisse aus dem Körbchen und legte sie neben sich ab.
Charlotte rang mit sich, der Gedanke an ein Wiedersehen mit ihrer Schwester jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass sie noch eine Nacht Schonfrist hatte, und Valerie erst morgen hier aufkreuzen würde … aber so?
„Warum beziehst du nicht dein Zimmer, während ich das Abendessen zubereite? Dann kannst du Valerie gleich begrüßen und dich frisch machen“, schlug Ruth vor, ohne den Blick von den Kürbissen abzuwenden.
„Hm“, machte Charlotte, aber ihr fiel keine Ausrede ein, durch die sie das Treffen mit Valerie hätte herauszögern können, deshalb griff sie nach ihrer Tasche und überließ Ruth die Küche.
In das Treppenhaus vor ihr drang nur wenig Licht von draußen und die Lampen, die an der Wand montiert worden waren, waren zu schwach, um die Treppe gänzlich auszuleuchten. Charlotte zog ihre Jacke enger um ihre Schultern und machte sich auf den Weg in den dritten Stock.
Seit ihr Vater ihr die Geschichte des Hausgeistes Gustav erzählt hatte, der durch die Gemäuer des Hauses wandelte und im Treppenhaus, sowie im angrenzenden Keller hauste, war Charlotte dieser Teil des Gebäudes unheimlich. Selbst heute, zwanzig Jahre später und mit dem Wissen, dass es keine Geister und Gespenster gab, war sie aufmerksam, ob sie eine Tür knarzen hörte, oder einen Schatten flüchten sah.
Reiß dich zusammen, du bist erwachsen, schalt sie sich in Gedanken und atmete tief durch. Anstatt Angst vor einer Erfindung ihres Vaters zu haben, sollte sie sich lieber auf das Treffen mit Valerie vorbereiten.
Als sie im dritten Stockwerk ankam und auf den Flur starrte, der ihr Zimmer von dem ihrer Schwester trennte, hatte sie einen Kloß im Hals. Wie oft hatte sie sich als Kind gewünscht, dass Valerie an ihre Tür klopfte, und fragte, ob sie etwas gemeinsam unternehmen wollten. Aber ihre Schwester war nie mitgekommen.
Charlotte machte einen Schritt auf ihr Zimmer zu und lauschte, ob sie Valerie hören konnte. Gegen ihre helle Sopranstimme waren die Mauern des Hauses früher nicht resistent gewesen, doch heute kam kein Laut durch ihre Tür.
Ist sie wieder verschwunden?
Valerie hatte schon als Kind die Angewohnheit gehabt, sich von Zeit zu Zeit in Luft aufzulösen, was ihre Eltern und Charlotte in den Wahnsinn getrieben hatte. Wohin Valerie dann gelaufen war und was sie dort gemacht hatte – das war bis heute ihr Geheimnis geblieben.
Charlotte schüttelte den Kopf; ihre Zwillingsschwester musste irgendwo in diesem Haus sein, so wie Ruth es gesagt hatte. Sie stellte die Tasche auf dem Flur ab, der mit einem Teppich ausgelegt war, und klopfte an die Tür, die zum Zimmer ihrer Schwester führte. Es war ein zögerliches Klopfen, aber trotzdem laut genug, um nicht überhört zu werden.
Charlotte wartete, doch es kam keine Reaktion.
Noch einmal klopfte sie, dann legte sie ihre Hand auf die Klinke und öffnete die Tür einen Spalt breit, um einen Blick in das Zimmer zu werfen.
Die Vorhänge waren zugezogen und die Luft war stickig, als ob die Fenster seit dem letzten Besuch ihrer Schwester nicht mehr geöffnet worden wären. Drei Schalenkoffer standen in der Raummitte und der Inhalt, größtenteils Designerkleider und eine Sammlung an Kosmetikprodukten, war wild im Zimmer verteilt worden. Das Chaos trug Valeries Handschrift, denn die Koffer waren nur halb ausgeräumt und die Kleider, die keine Falten bekommen sollten, lagen ausgebreitet auf dem Bett und hingen nicht im Schrank, wo sie hingehörten.
Wo ist sie?
Wohin ihre Schwester auch verschwunden war, sie hatte es nicht für angebracht gehalten, ihr Zimmer in einem vorzeigbaren Zustand zu hinterlassen. Es juckte Charlotte in den Fingern, Ordnung zu schaffen und die Koffer leer zu räumen, aber sie hielt sich zurück. Wenn sie die wenigen Tage, die Valerie hier verbringen würde, friedlich überstehen wollte, durfte sie nicht schon am ersten Abend in ihre Privatsphäre eindringen.
Seufzend machte Charlotte kehrt und beschloss, zuerst ihr Zimmer zu beziehen, bevor sie nach ihrer Schwester suchte. Im Gegensatz zu Valeries Koffern war Charlottes Sporttasche nur mit dem Nötigsten gepackt, ein Kleid oder gar eine Bluse hatte sie nicht mitgenommen.
Als sie die Tür zu ihrem Raum auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs öffnete, fand sie alles so vor, wie sie es nach dem Begräbnis ihrer Mutter verlassen hatte. Das Bett in der Ecke war frisch bezogen, auf dem Schreibtisch am Fenster lag noch die Zeitung, die Charlotte damals vor ihrer Abreise gelesen hatte. Nur die Pflanze, die normalerweise neben der Tür vertrocknete, war verschwunden.
Charlotte vermutete, dass Ruth bei einem Streifzug durch die Räume des Hauses auf die Blume mit den hängenden Blättern gestoßen war und sie entsorgt hatte.
Sie warf ihre Sporttasche auf das Bett und lief dann zum Fenster, das einen Blick auf die Rückseite des Anwesens offenbarte.
Der Garten, der an das Haus angrenzte, zeigte sich in denselben kräftigen Herbsttönen, die Charlotte schon an den Bäumen entlang der Straße beeindruckt hatten. Einen Augenblick lang verlor sie sich in der Betrachtung der Natur, dann riss sie der schwache Geruch von Rauch aus ihren Gedanken.
Zuerst war es nur eine Brise, die ihr in die Nase stieg, aber als sie das Fenster öffnete, fuhr eine Wolke des süßlich nach Holz stinkenden Rauchs in ihr Zimmer und Charlotte verzog das Gesicht. Sie warf einen Blick nach draußen und erkannte eine Rauchsäule hinter den Tannen im Garten, die vom Wind Richtung Villa getragen wurde.
Sie formte ihre Hände zu einem Trichter und lehnte sich weit aus dem Fenster. „Valerie?!“
Jetzt konnte sie nicht nur den Rauch spüren, der sie in der Nase kratzte, sondern auch das Knistern des Feuers hören, das hinter den Tannen brannte.
Es konnte nur Valeries Werk sein, wer sonst würde auf die Idee kommen, ein Feuer im Garten zu entzünden?
Aber warum?
Eine Sekunde lang starrte Charlotte noch aus dem Fenster, dann lief sie los, über den Flur zurück ins Treppenhaus, wo sie immer zwei Stufen auf einmal nahm, bis sie im Erdgeschoss ankam.
Von dort gelangte sie auf den Hof, der vom Haupthaus auf der einen Seite und dem Wirtschaftsgebäude auf der anderen eingegrenzt wurde. Letzteres, in dem früher die Pferde der Familie untergebracht waren, zog sich bis an die Grundstücksgrenze und war heute eine Ruine mit morschem Dachstuhl und einem einsturzgefährdeten Heuboden über den Stallungen.
Charlotte legte die Hände an ihre Taille und kämpfte gegen das Seitenstechen an, das ihr beim Laufen gekommen war, indem sie sich auf ihren Atem konzentrierte und ihren Schritt verlangsamte. Wieder wurde sie von einer Rauchwolke eingefangen, die vom Garten über das Anwesen getragen wurde, und erneut überlegte Charlotte, warum in aller Welt Valerie ein Feuer gemacht hatte.
Aber die Frage, was im Kopf ihrer Schwester vorging, stellte sich Charlotte schon ihr ganzes Leben lang und allmählich hatte sie es satt, über Valeries verrückte Einfälle zu grübeln.
Sobald das Seitenstechen nachließ, ließ Charlotte den Schotterweg hinter sich, der um das Haus führte und lief über den Rasen an den ersten Bäumen vorbei.
Noch zehn Schritte, dann hatte Charlotte die Tannen umrundet, die die Sicht aus ihrem Fenster verdeckt hatten, und sah, was sie gesucht hatte: Lange und kurze Äste, die zu einem Haufen zusammengetragen worden waren und lichterloh brannten. Die Flammen fraßen sich durch das Holz und der Rauch bahnte sich einen Weg Richtung Himmel.
Vor dem Feuer stand Valerie; in Stiefeln mit hohen Absätzen und einem Wollkleid, das ihr bis zu den Knien reichte. Ihren Mantel hatte sie ausgezogen und zur Seite ins Gras gelegt, wo er nicht von den umherfliegenden Funken erwischt werden konnte. Neben ihr stand eine Tragetasche, aus der sie nach und nach Gegenstände holte, für einen Moment in der Hand hielt und dann in das Feuer vor ihr warf.
Charlotte beobachtete ihre Schwester von hinten und wusste nicht, wie sie sie ansprechen sollte. Valerie schien nicht wütend zu sein, zumindest warf sie nicht mit Gegenständen um sich. Stattdessen holte sie sie aus der Tasche und überließ sie erst dem Feuer, nachdem sie sie eingehend betrachtet hatte.
Was verbrennt sie?
Charlottes Neugierde zwang sie dazu, näher zu kommen, doch Valeries Rücken verdeckte die Sicht. Was es auch war, jedes Mal, wenn Valerie einen Gegenstand aus der Tasche ins Feuer warf, stoben Funken in die Luft. Dann knackste das Holz und die Flammen schlugen für einige Sekunden höher, bis sie sich beruhigten und den Gegenstand in ihrer Mitte einschlossen.
Valerie wartete, bis das Schauspiel zu Ende war, bevor sie es von Neuem heraufbeschwor, immer wieder, bis Charlotte ihren Mut zusammennahm und sich räusperte.
Ihre Schwester fuhr herum, entdeckte Charlotte und fixierte sie wie ein Habicht, der seine Beute ins Visier nahm. Als Charlotte Valeries Gesicht sah, die dunklen Schatten unter ihren Augen, die Wangenknochen, die hervorstanden und die Sorgenfalten, die sich über ihre Stirn zogen, verschlug es ihr die Sprache.
Das war nicht die Valerie aus ihrer Kindheit. Ihre Schwester, die vor Energie immer gezappelt hatte, sah aus, als wäre sie mit ihrer Kraft am Ende.
Valerie verschränkte die Arme und richtete sich auf, als müsse sie sich verteidigen. „Geh weg!“, rief sie gegen das Knistern des Feuers an und nickte in Richtung Haus. „Geh und lass mich allein.“
„Ich freue mich auch, dass du da bist“, murmelte Charlotte und machte einen Schritt auf sie zu.
Was ist nur geschehen?
Valerie stellte sich vor ihre Tasche und hob ihre Hand. „Ich sagte, du sollst verschwinden.“ Sie presste die Lippen zusammen. „Bitte“, schob sie nach und zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Charlotte dachte nicht daran, jetzt zu gehen. Stattdessen starrte sie auf das Feuer vor ihren Augen. „Was machst du? Was ist passiert?“
Zwei der Äste, die den brennenden Holzhaufen gestützt hatten, knickten ein und Valerie zuckte zusammen. Sie drehte sich zum Feuer, sah den Flammen zu, wie sie auf den Scheiten tanzten und wandte sich wieder um.
„Lass mich allein“, wiederholte sie mit fester Stimme.
Die Gedanken fuhren Achterbahn in Charlottes Kopf, sie überlegte, was Valerie so aus der Bahn geworfen hatte. Wer oder was hatte das zu verantworten?
„Bitte sag mir, was los ist. Kann ich etwas für dich tun?“, fragte Charlotte und erntete dafür einen vernichtenden Blick.
Valerie packte die Tasche am Boden, hob sie hoch und warf sie ins Feuer, sodass die Funken stoben. Die Tasche schlug mitten in den Holzhaufen ein und die Flammen verschlangen das Polyester, bis es nicht mehr von den Ästen und Zweigen zu unterscheiden war. „Nein, kannst du nicht. Es geht mir ausgezeichnet!“ Valerie lachte, ihre Stimme schnellte in die Höhe und kurz befürchtete Charlotte, dass ihre Schwester nun endgültig den Verstand verloren hatte.
Aber dann verfinsterte sich Valeries Miene wieder. Sie warf ihre Haare zurück, griff nach dem Mantel und kam auf Charlotte zu, bis sie ihrer Schwester direkt gegenüberstand. Dabei fiel Charlotte auf, dass Valerie ihr linkes Bein nicht vollständig belasten konnte – sie humpelte. Hatte sie sich verletzt?
Als Charlotte den Mund öffnen wollte, kam ihr Valerie zuvor, indem sie ihren Finger hob und ihr deutete, leise zu sein. „Hör mir gut zu. Jetzt ist weder der richtige Moment, um mir auf die Nerven zu gehen, noch, um hier einen Aufstand zu machen. Ich will allein sein, verstehst du das?“ Sie packte Charlotte bei den Schultern, drehte sie in die Richtung, aus der sie gekommen war und gab ihr einen Schubs. „Wir sehen uns beim Abendessen.“
Charlotte stolperte nach vorn, Valeries Stoß war kräftiger gewesen, als sie erwartet hatte. Die Sorge um ihre Schwester ließ sie zögern, aber sie wusste, dass sie hier nicht weiterkommen würde, jede Frage, die sie stellte, würde Valerie gegen sie aufbringen.
Früher hatte sie immer Geduld gebraucht, wenn sie etwas von Valerie wissen wollte. Ihre Schwester war wie ein Wildpferd, das sich nicht zähmen ließ und ausbrach, sobald man näherkommen wollte.
Am liebsten hätte Charlotte sie in den Arm genommen, sie gedrückt und ihr gesagt, dass alles gut werden würde. Doch so blieb ihr für den Moment nichts anderes übrig, als zu tun, was Valerie verlangte und den Rückzug anzutreten.
Seine Schritte waren langsamer geworden im Laufe der Jahre; jedes Mal, wenn er an dem Wegweiser mit den Efeuranken vorbeikam, musste er kurz innehalten, um nach Luft zu schnappen. Es war kein Berg, den er bestieg, doch der Hügel hatte es in sich. Kaum, dass er die letzten Häuser hinter sich gelassen hatte, verlor sich die Straße in einem asphaltierten Gehweg, vorbei an Erbsenfeldern und einer Kuhweide, die seit Jahren nicht mehr bewirtschaftet wurde.
Im Sommer schien die Sonne direkt auf den Weg, weiter weg vom Waldrand gab es keine schattenspendenden Bäume, nur Gräser, die ihm bis zur Hüfte reichten, wenn er eine Abkürzung durch das Feld nahm. Jetzt, im Herbst, leuchtete der Wald über ihm in allen Farben und fast verlor er sich in dem Anblick, der ihn sein Leben lang begleitet hatte.
Von hier war es nicht mehr weit, wenn er es bis zum Wegweiser geschafft hatte, konnte er den alten Friedhof mit bloßem Auge in der Ferne erkennen. Dass an diesem Ort einmal Menschen begraben und Grabsteine aufgestellt worden waren, das wusste von den wenigen jungen Leuten, die in Fraislach wohnten, keiner mehr. Schon damals, als Kind, hatte er sich gefragt, weshalb der Friedhof nicht wie üblich um die Kirche im Zentrum der Gemeinde errichtet worden war, sondern weit außerhalb auf der Anhöhe, die Richtung Burg Fraislach führte. Aber er hatte keine Antwort darauf bekommen, die Menschen hatten es akzeptiert, bis das Feld zu klein geworden und die Gräber eines nach dem anderen umgesiedelt worden waren.
Der alte Friedhof war heute nicht mehr als solches zu erkennen. Der Zaun war weggerissen worden, genauso wie der Großteil der Grabsteine, die auf dem neuen Friedhof etwa vier Kilometer weiter standen. Nur eine Steintafel, die versteckt zwischen zwei Föhren im Schatten platziert und wie der Wegweiser mit Efeu bedeckt war, erinnerte an die Menschen, die unter dem Feld begraben lagen. Aber nicht alle Grabsteine waren verschwunden, neben der Tafel ragten drei verwitterte Holzkreuze nach wie vor aus dem Boden. Einmal pro Monat kam er hierher; es war ein Ritual, das er nicht auslassen konnte, egal, wie beschäftigt er war.
Er war es ihm schuldig, fand er – wer wusste denn noch außer ihm, was damals passiert war? Hier zu stehen, den Blick in die Vergangenheit zu richten und den verlorenen Menschen wieder vor Augen zu sehen, erfüllte ihn mit Bescheidenheit und Ehrfurcht vor dem Leben. Eine Gänsehaut überzog seine Haut, während er einen Schritt auf den Grabstein zumachte und seine Hand auf die raue Fläche legte. In Gedanken betete er ein Vater unser, dann schoss ihm die Frage durch den Kopf, die ihn immer einholte, wenn er hierherkam; warum es damals so und nicht anders gekommen war. Dass Glück an jenem Tag darüber entschieden hatte, wer in diesem Grab unter ihm liegen würde – diese Ungerechtigkeit hatte ihn vor vielen Jahren beinahe zugrunde gehen lassen. Er war ein rationaler Mensch gewesen, hatte gewusst, was er vom Leben wollte – und dann hatte sich das Schicksal eingemischt, an das er zuvor nicht geglaubt hatte. Hatte einen Tag wie jeden anderen in eine Tragödie verwandelt und ihn zu einem Zweifler gemacht.
Eigentlich hätte er die Geschichte schon längst vergessen sollen. Über sechzig Jahre war es her und in der Zwischenzeit hatte er andere Dinge erlebt, die ihn erschreckt, schockiert und berührt hatten – doch dieser Ort, der Zwischenfall damals, dieser Zufall … es zog ihn immer wieder her, sein ganzes Leben.
Er blieb nie lange, die Gefühle, die sich langsam in seinem Inneren regten, drohten ihn sonst zu überrollen. Als er seiner verstorbenen Frau davon erzählt hatte, welche Gedanken ihn plagten, wenn er herkam, hatte sie nur verständnislos den Kopf geschüttelt.
Sei froh, dass du lebst, hatte sie gesagt und das Thema damit beendet. Das war er. Er war froh, zu leben und nicht unter der Erde zu liegen. Und trotzdem war es nicht immer einfach, der Überlebende zu sein. Der, der sein Leben nun, da ihm mehr Zeit geschenkt worden war, weise nutzen musste, ja etwas daraus machen sollte. Das wollte er – aber war es genug? Was hätte der andere mit seiner Zeit gemacht, der, dem das Schicksal an diesem Tag nicht gewogen gewesen war?
Es waren keine Schuldgefühle, die ihn wie einen Verbrecher immer wieder in seine Vergangenheit zurückzogen. Das war nicht der Grund, weshalb er das Grab besuchte, von dem niemand mehr wusste. Es war die Frage nach dem warum, die ihn umtrieb, die Unsicherheit, das Leben, das ihm geschenkt wurde, in vollen Zügen in sich aufgenommen zu haben.
Er hatte weder eine Grabkerze noch Blumen mitgebracht. Das hatte er nie getan, dafür hatte er ihn zu wenig gekannt, fand er. Es war paradox, er wusste nicht viel über den Menschen, der ihn sein Leben lang auf seltsame Art und Weise begleitet hatte. Richtig unterhalten hatte er sich mit ihm zum ersten Mal am Tag des Unglücks selbst. Und trotzdem hatte er sein Leben geprägt wie niemand anderer. Weil dieser Mensch gehen musste, und er bleiben durfte. Und das würde er nie verstehen.
Während er sich langsam auf den Rückweg machte und dabei das Gesicht mit den Händen gegen den kalten Wind schützte, warf er einen kurzen Blick nach oben.
Sollte es einen Himmel geben im Jenseits und ihm wäre eine Frage gestattet, so würde er sich nach dem warum erkundigen. Sein Leben war voll von kleinen und großen Alltagserlebnissen gewesen, aber nichts davon hatte die Welt verändert, er hatte niemandem das Leben gerettet oder eine wichtige Entdeckung gemacht. Weshalb war er trotzdem der gewesen, der leben durfte?
Auf die Antwort war er gespannt, dachte er bei sich und verzog den Mund, wie er es immer tat, wenn er einen Gedanken aus seinem Kopf verbannen wollte. Vielleicht gab es keine Antwort. Wahrscheinlicher war es sogar, dass er es nie wissen würde.
„Was ist mit Valerie passiert?“
Charlotte hatte Ruth zuerst vergeblich in der Küche gesucht und sie dann auf dem Weg zum Speisesaal im ersten Stock gefunden. Ruth schleppte einen großen Topf die Treppe hinauf und hinterließ dabei den Geruch nach Kürbis, dem Charlotte wie einer Fährte folgen konnte.
Ruth legte die Stirn in Falten „Wieso? Hat sie sich wieder in ihrem Zimmer eingeschlossen?“ Sie zuckte mit den Schultern, zu größeren Gesten konnte sie wegen des Kochtopfs nicht ausholen. „Ich denke, sie ist müde. Sie hat mir bei ihrer Ankunft erzählt, dass sie erst gestern von einem Langstreckenflug aus Ostafrika zurückgekommen ist.“
Charlotte öffnete Ruth die Tür zum Speisesaal und überlegte dabei, was sie antworten sollte. Ruth wusste offensichtlich nichts von dem Feuer im Garten, die Küchenfenster lagen nicht in der Richtung, in die der Rauch entschwunden war. Und mit einer großen Jacke, wie der, die sie im Gras neben dem Feuer gesehen hatte, hätte sich Valerie gut gegen prüfende Blicke der Haushälterin abschirmen können.
Die ganze Geschichte schlug Charlotte auf den Magen, sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden und sah mehrmals über ihre Schulter. Dann, um sich abzulenken und die Aufregung um Valerie zu verdrängen, begann sie damit, die Stühle im Speisesaal zu zählen, einen nach dem anderen. Sie wusste zwar von früher, wie viele Sessel hier standen, doch schon als sie bei sechs angelangt war, wich die Anspannung aus ihrem Kiefer. Sobald sie die zwölf leinenbespannten Stühle durchgezählt hatte, beschloss sie, die Angelegenheit mit Valerie zunächst für sich zu behalten. Bevor sie Ruth damit belastete, würde sie noch einmal versuchen, mit ihrer Schwester vernünftig zu kommunizieren. Am besten, wenn sie nicht dabei war, ihr Hab und Gut zu verbrennen.
Der Speisesaal, in dem Ruth das Abendessen aufgetragen hatte, war das Herzstück des ersten Stocks. Drei gerahmte Bilder hingen an der Wand gegenüber den Glastüren, die zur Prunktreppe nach draußen führten. Darauf abgebildet waren Vorfahren der Familie, zwei Damen und ein Herr, gekleidet in bunten Kleidern und mit aufwendigen Perücken. Ein lang gezogener Tisch aus gebeiztem Mahagoniholz war umrundet von zwölf Stühlen, die allesamt mit einer feinen Staubschicht überzogen waren.
„Dieses Zimmer steht schon seit Ewigkeiten auf meiner Liste, aber bis jetzt hatte ich nie genug Zeit, um es anständig zu putzen“, brummte Ruth und stellte den Topf auf dem Tisch ab. „Wie du unschwer erkennen kannst, ist das Haus zu groß, um von einem Menschen allein betreut zu werden. Was auch immer ihr euch dabei gedacht habt, so geht es nicht.“
Charlotte sah verlegen zu Boden. Nachdem zuerst Valerie, dann sie und nach dem Tod ihrer Mutter auch ihr Vater Emil ausgezogen waren, war das Anwesen nach und nach aus ihren Gedanken verschwunden.
„Hast du Valerie und mich deshalb gebeten, herzukommen?“
Ruth blies eine Strähne aus ihrem Gesicht und nickte dabei. „Ja und nein. Ich habe deinen Vater vor drei Monaten angerufen und ihm die Zustände geschildert … und ich habe nichts ausgelassen, von dem undichten Dach in den alten Stallungen habe ich erzählt, von dem Staub, der mir überall hin folgt, dem Schimmel im Seitentrakt, der so furchtbar aussieht, dass einem das Grauen kommt …“ Ruth schnappte nach Luft.
„Und was hat er gesagt?“
„Er meinte, ich solle die Zimmer entrümpeln, alles, was jetzt noch hier ist, müsste entsorgt werden. Das habe ich getan … bis im schimmeligen Seitentrakt die zwei Zimmer eurer Mutter an der Reihe waren … und da konnte ich ihre Malereien nicht einfach in den Müll werfen.“
„Mein Vater hat die Zeichnungen doch mitgenommen, als er nach München gezogen ist, oder?“
„Nicht alle. Nur die, die ihm gefallen haben. Aber deine Mutter war eine Sammlerin, ihre Räume sind voll von Kleinigkeiten, die sie nicht wegwerfen konnte, darunter auch ihre Skizzen und Modelle; Bücher, ein Sack voller Gewürze, nach denen der Raum riecht … du glaubst nicht, was sie dort alles untergebracht hat.“
„Und wegen dieser zwei Räume sollten Valerie und ich kommen?“, fragte Charlotte und zog irritiert die Augenbraue in die Höhe. „Hättest du uns nicht Fotos schicken können?“
„Schätzchen, lass mich ausreden. Ich wohne seit dreißig Jahren hier, doch seit alle weg sind, habe ich das Gefühl, hier langsam, aber sicher zu verschimmeln, genauso wie der Seitentrakt. Ich bin einsam, niemand kommt mich hier besuchen.“
Charlotte sah die Haushälterin betroffen an. „Daran habe ich nicht gedacht.“
„Emil war nicht sehr freundlich zu mir am Telefon, als ich ihn nach dem Haus gefragt habe. Besser gesagt hat er mich deutlich spüren lassen, dass er nichts mehr damit zu tun haben will. Das waren übrigens auch seine letzten Worte, bevor er weggefahren ist. Benutz es, reiß es ab, tu, was auch immer dir beliebt. Aber lass mich bloß in Ruhe.“ Ruth seufzte. „Ich verstehe seinen Wunsch, doch das Haus gehört mir nicht. Und deshalb finde ich, dass ich meine Schuldigkeit getan habe …“
„Was meinst du damit? Willst du etwa ausziehen?“
Ruth nickte. „Ja. Es ist an der Zeit, dass jemand anderes hier die Verantwortung übernimmt.“ Sie verzog das Gesicht und sah Charlotte streng an. „Ihr beide habt euch jahrelang nicht darum geschert, was hier passiert und euch fein rausgehalten. Eigentum verpflichtet. Das kann ich euch nicht für immer abnehmen. Und ein guter Anfang wäre, endlich auszusortieren.“ Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch und Charlotte hob beschwichtigend die Arme. „Ich hab’s verstanden, tut mir leid.“
Ruth hatte recht, ihre Familie hatte die Gutmütigkeit der Haushälterin lange genug ausgenutzt. Es war erstaunlich, dass sie erst jetzt auf die Idee kam, sie zu verlassen, doch Charlotte wünschte sich insgeheim, Ruth hätte sich noch ein paar Monate oder Jahre Zeit gelassen.
Was sollte sie hier ausrichten? Mit niemandem an der Seite außer Valerie, die wer weiß, welche Probleme hierher mitgebracht hatte?
„Ihr ward beide schon so lange nicht hier, ihr solltet euch einmal alles ansehen, bevor ihr entscheidet, was ihr mit dem Haus macht.“
Ruth seufzte und nahm auf einem der Stühle Platz. Da war früher immer ihre Mutter gesessen, schoss es Charlotte durch den Kopf. Wenn man an der Tafel saß, hatte man von dort einen direkten Blick auf den Balkon, den Rasen vor dem Haus und den Wald, der sich hinter der Straße auffächerte. „Wie dem auch sei, eigentlich wollte ich um sieben Uhr Abendessen. Ich weiß, du hörst den Satz schon dein ganzes Leben lang, aber würdest du nachsehen, wo Valerie bleibt? Sie hat mir versprochen, heute pünktlich zu sein.“
Valerie hatte sich nie groß um Pünktlichkeit, Verlässlichkeit oder Regeln im Allgemeinen geschert. Umso erstaunlicher war es in Charlottes Augen, dass sie heute als Flugbegleiterin arbeitete, und es dort offensichtlich zumindest hin und wieder rechtzeitig zu einem ihrer Flüge schaffte.
„Mach ich.“ Charlotte kehrte Ruth den Rücken zu und war fast durch die Tür, als die Haushälterin sie noch einmal zurückrief. „Und wenn du schon dabei bist: Ich war mit Valerie vorhin im Seitentrakt, um ihr das Ausmaß der Unordnung zu zeigen. Erinnere sie bitte daran, dass sie schockiert war und mir hoch und heilig versprochen hat, morgen genau dort mit dem Aussortieren zu beginnen.“
Charlotte knirschte mit den Zähnen, das Versprechen an Ruth sah Valerie ähnlich. Große Ankündigungen konnte sie schon immer machen, doch im allerletzten Moment fand sie dann eine Entschuldigung, um sich aus der Affäre zu ziehen und die ganze Arbeit Charlotte zu überlassen.
Valerie zog die Tür hinter sich so leise wie möglich ins Schloss. Sie hatte alles, was sie brauchen würde, in ihren Rucksack gesteckt, den sie an ihrer linken Seite trug. Der Fußboden knarrte unter ihren Füßen und sie verkniff sich nur mit Mühe einen Fluch. Solange ihre Schwester im Speisesaal saß, Däumchen drehte und Ruth ablenkte, war der Weg frei. Später, wenn Charlotte im Zimmer war, würde es ein Ding der Unmöglichkeit sein, ungesehen davonzukommen, das wusste Valerie aus Erfahrung. Charlotte nannte es ihren sechsten Sinn, aber in Wirklichkeit war es nichts anderes als schierer Überwachungszwang, der sie damals just in den Momenten vor die Tür getrieben hatte, als Valerie verschwinden wollte.
Das Treppenhaus war immer schon der schwierigste Teil gewesen, hier waren keine Fenster und das Licht der Lampen würde man auch im Speisesaal sehen. Valerie fuhr mit der Fußsohle über den Boden, bis sie die Kante der Stufe spürte, griff nach dem Geländer zu ihrer rechten und machte einen Schritt nach unten. Gleichmäßig, um nicht aus dem Rhythmus zu kommen, nahm sie eine Stufe nach der anderen, obwohl sie am liebsten laufen würde. Je eher sie die Sache erledigt hatte, desto schneller konnte sie von hier verschwinden. Und was dann passieren würde … nur der Gedanke daran ließ den Müsliriegel, den sie vorher gegessen hatte, wieder die Speiseröhre hinaufwandern. An nachher wollte sie nicht denken, dafür war es noch zu früh.
Jetzt war sie im ersten Stock angekommen und hörte gedämpfte Stimmen aus dem Speisesaal. Worüber die beiden wohl diskutierten? Valerie würde ihren Mantel darauf verwetten, dass es um sie ging, dass Charlotte über das Feuer sprach und wie große Sorgen sie sich machte.
Probeweise lehnte sie sich an die Tür, legte das Ohr ans Holz und lauschte, aber sie konnte kein Wort verstehen. Sie zuckte mit den Schultern, zum Spionieren war sie nicht hergekommen. Wenn sie wissen wollen würde, was in dem Raum gesagt wurde, kannte sie andere Plätze, an denen man ohne Probleme lauschen konnte, wie zum Beispiel im Musikzimmer nebenan.
Valerie schlich weiter, erreichte die Treppe zur Küche und stolperte prompt über die Kante. Kurz ruderte sie mit den Armen, dann fing sie sich an der Wand ab und spürte, wie ein brennender Stich durch ihren Knöchel fuhr. Valerie verlagerte das Gewicht zurück auf den linken Fuß und betastete die schmerzende Stelle unter ihrem Schienbein. Es war nach wie vor geschwollen. Sie biss die Zähne zusammen und lief weiter; die ersten Schritte trieben ihr Tränen in die Augen, dann wurde der Schmerz zu einem pochenden Begleiter.
Als sie die Tür nach draußen öffnete, wehte ihr ein starker Südostwind durch die Haare. Valerie setzte die Kapuze ihrer Regenjacke auf und rieb die Handflächen aneinander, um sich warm zu halten. Dass schon Oktober war, spielte ihr definitiv nicht in die Karten, sie konnte nur nachts raus und da würde es von Tag zu Tag kälter werden.
Sie schulterte den zweiten Träger ihres Rucksacks und überquerte den Hof Richtung Wirtschaftshaus. Vom Speisesaal aus war sie hier nicht zu sehen, aber falls Ruth wieder in der Küche war, hätte sie offene Sicht auf Valerie und den Geräteschuppen, auf den sie zusteuerte. So schnell sie konnte, humpelte sie weiter, öffnete das Tor einen Spaltbreit und schlüpfte hindurch. Im Inneren des Raums lag der Geruch nach geschnittenem Gras und Benzin in der Luft. Hier war es stockdunkel und sie schaltete ihre Stirnlampe ein, die sie schon in ihrem Zimmer aufgesetzt hatte. An der Wand hingen Besen, Spaten, Schaufel und Rechen, daneben stand ein Rasenmäher.
Auf der gegenüberliegenden Seite fand Valerie in einem Schrank Kleinwerkzeug und anderen Krimskrams, der sich über die Jahre angesammelt hatte, doch das war unwichtig. Sie tippte sich auf die Lippe, unschlüssig, was sie mitnehmen sollte. Am liebsten hätte sie den halben Geräteschuppen leer geräumt, aber sie musste alles, was sie benutzen wollte, selbst tragen können. Sie ließ den Blick erneut schweifen, dann zog sie ihre Handschuhe über und machte sich ans Werk. Etwa zwei Kilometer Fußweg lagen heute vor ihr; so groß war das Waldstück, das in dieser Nacht auf sie wartete. Sie wollte es diesmal bis zur Kapelle schaffen, die in der Nähe der Burg gebaut worden und über einen Wanderweg erreichbar war. Wenn sie es schaffte, könnte sie vielleicht schon morgen diesem Albtraum entfliehen und endlich Klarheit in das Chaos bringen. Mit ein wenig Glück … Valerie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und öffnete den Rucksack. Glück brauchte sie nicht, sie hatte einen wasserfesten Plan, den sie durchziehen würde, komme, was wolle.
„Valerie?“ Charlotte klopfte an die Zimmertür ihrer Schwester und trat einen Schritt näher, um hören zu können, was drinnen geschah. Zuerst kam keine Reaktion, dann seufzte jemand und Bettwäsche raschelte.
„Wo warst du gestern?“
Die Tür wurde von innen aufgerissen und Valerie stand vor ihr, die Augen fast geschlossen, mit zerzausten Haaren und in Jeans und T-Shirt. „Was?“, blaffte sie heiser.
„Du warst noch weg gestern Abend, oder? Ich habe dich gesucht“, antwortete Charlotte und sah, wie Valerie ihre Hände hinter dem Rücken verschränkte, als würde sie sie verstecken wollen.
Als Charlotte vor dem Abendessen an Valeries Tür geklopft hatte, hatte ihr niemand geöffnet und nachdem Valerie sowohl im Haus als auch im Garten nicht gefunden werden konnte, hatte sie unverrichteter Dinge allein mit Ruth gegessen. Ruth hatte die Angelegenheit entspannt gesehen, doch Charlotte hatte das nur wenig beruhigt, die Haushälterin wusste nichts von dem Feuer.
In der Nacht war Charlotte von einem Geräusch geweckt worden, das sie später nicht mehr zuordnen konnte – war es ein Knarren gewesen? Als sie sich aus dem warmen Bett geschält und einen Blick auf den Gang geworfen hatte, hatte sie nichts gesehen. Aber jetzt, da sie wusste, dass Valerie in dieser Zeit zurückgekommen sein musste, war Charlotte klar, was sie gehört hatte.
„Ich habe einen Spaziergang gemacht“, erklärte Valerie und folgte Charlottes Blick zu ihrem geschwollenen Knöchel. „Der hält das schon aus.“
„Hast du in dieser Kleidung geschlafen?“, fuhr Charlotte fort und kam sich vor, als würde sie ihre Schwester verhören. Es war ihr unangenehm, Valerie so auf die Füße zu treten, aber anders, so dachte Charlotte, würde sie keine Informationen erhalten.
Es war wie früher. Wann immer sie mit ihrer Schwester gestritten hatte, überkam sie ein Gefühl von Machtlosigkeit; als würde sie gegen eine Wand sprechen, die nicht auf ihre Fragen antwortete und ihr das Wort im Mund umdrehte. Am Ende war stets Charlotte die Dumme gewesen, was dazu geführt hatte, dass sie mittlerweile mit Angst im Bauch an Valeries Tür klopfte.
Valerie rümpfte die Nase und fuhr sich mit der Zunge über die gesprungenen Lippen. „Ja. Hast du noch andere Fragen?“
„Ruth und ich wollten mit dir zu Abend essen. Willst du uns jetzt wenigstens beim Frühstück Gesellschaft leisten?“
Charlotte konnte etwas in Valeries Augen aufblitzen sehen und sie spürte, wie ihre Schwester mit sich rang. Wenn sie nicht mit einem Essensvorrat nach Österreich gekommen war, musste Valerie in der Zwischenzeit schon ausgehungert sein, selbst wenn sie partout keine Zeit mit ihr und Ruth verbringen wollte.
„Ich hole mir nachher etwas aus der Küche.“
„Ach, komm schon Valerie. Und wenn ich dir verspreche, keine Fragen zu stellen?“ Charlotte hatte sicherheitshalber einen Fuß über die Türschwelle gestellt, damit Valerie die Tür nicht zuziehen konnte.
Ihre Schwester zog eine Augenbraue hoch, seufzte und nickte dann. „Ich nehme dich beim Wort.“
Schweigend liefen die beiden die Treppe nebeneinander hinunter. Charlotte konnte sich einige verstohlene Blicke nicht verkneifen, aber Valeries Augen waren starr geradeaus gerichtet, so, als ob sie mit ihren Gedanken weit weg wäre.
Im Speisesaal hatte Ruth gekochte Eier, Käse, Schinken und Brötchen serviert und war dabei, ihren Kaffee zu trinken. Die Sonne war schon aufgegangen und schickte ihre Strahlen durch die großen Glasfenster, sodass die Staubpartikel in der Luft leuchteten. Es war ein ungewöhnlich sonniger Tag für Ende Oktober, auch wenn sich die Temperaturen in der Früh strikt unter fünf Grad hielten.
„Guten Morgen, ihr Lieben. Gut geschlafen?“
Charlotte nickte und war erstaunt, dass Ruth Valeries Erscheinung ohne Kommentar hinnahm. Gewohnheit, vermutete Charlotte im Stillen und nahm gegenüber von Valerie Platz, mit dem Rücken zum Balkon.
„Ja, danke.“ Valerie drehte sich zu den Bildern an der Wand und schüttelte den Kopf. „Antoine hat schon das letzte Mal gesagt, dass wir sie abnehmen sollten. Sie machen den Raum so dunkel.“
Antoine. Charlotte konnte bei der Erwähnung von Valeries Verlobten nur die Stirn runzeln. Sie hatte ihn noch nicht oft getroffen, einmal hier, im Haus ihrer Eltern und zweimal in Paris, als sie Valerie besucht hatte. Jedes Mal hatte er eine Miene gezogen, als hätte man ihn persönlich beleidigt und so getan, als wäre die Familie seiner Verlobten die Zeit nicht wert, die er mit ihr verbringen musste. Er hatte abschätzig über das Haus gesprochen, das ihm zu baufällig erschien, über den Garten gelästert, der in seinen Augen Wildnis war, und die Sprache gefiel ihm auch nicht.
Aber Valerie war über beide Ohren verliebt in ihn, Charlotte hatte die Verwandlung kaum glauben können, die ihre Schwester durchlief, sobald Antoine in der Nähe war. Ein Lächeln stand dann auf ihrem Gesicht, während ihre Augen an ihm klebten und sie ihm zuliebe nur noch Französisch sprach. Dabei war Antoine die Mittelmäßigkeit in Person. Er hatte hellbraune Haare, die er mit Gel bearbeitete, unauffällige Kleidung und einen schlecht bezahlten Job in einem Kleinunternehmen, für den er einmal in der Woche von Paris nach Nizza reisen musste.
„Wenn sie dich stören, nimm sie ab“, murmelte Charlotte und widmete sich ihrem Essen.
Die restliche Zeit saßen sie schweigend zusammen, bis Ruth die Teller einsammelte und sich erhob. „Wenn ihr heute die Zimmer eurer Mutter entrümpelt, seid vorsichtig mit den Staffeleien, sie sind nicht alle richtig aufgestellt worden.“
Charlotte sah der Haushälterin nach und wünschte, sie würde als Puffer zwischen ihr und Valerie dabeibleiben.
Sei nicht so kindisch, schalt sie sich dann selbst und richtete den Blick auf ihre Schwester.
„Treffen wir uns in einer Stunde im Seitentrakt?“
„In Ordnung.“
„Wir können dann gemeinsam überlegen, was wir behalten, verschenken oder wegwerfen“, fuhr Charlotte fort, woraufhin Valerie nickte, ebenfalls aufstand und sich die Hände rieb. „Bis später.“
Wie erwartet kam Valerie zehn Minuten zu spät. Charlotte verkniff sich eine Bemerkung dazu und hoffte, ihrer Schwester während der Arbeit aus dem Weg gehen zu können. Sie schuldeten es ihrer Mutter, die Sache ernst zu nehmen. Nur aus diesem Grund war sie bereit, den Vormittag gemeinsam mit Valerie zu verbringen. Wie sie jemals mit ihrer Schwester klären sollte, was mit dem Haus geschah, nachdem Ruth ausgezogen war – daran wollte Charlotte nicht einmal denken.
Um zum Seitentrakt zu gelangen, gingen sie am Musikzimmer im ersten Stock vorbei zum hinteren Treppenhaus und durch einen hallenartigen Vorraum, wo es deutlich kälter war.
Dieser Teil des Hauses wurde auch früher nie geheizt, weshalb ihre Mutter im Winter immer mit Handschuhen gearbeitet hatte, um nicht zu frieren.
Im Seitentrakt hatten einst die Angestellten gewohnt, weil sie dort einen eigenen Eingang zum Grundstück hatten, und nicht über das Haupttor kommen mussten. In den Sechzigerjahren hatte ein Feuer den hinteren Teil des Traktes zerstört und ihre Urgroßeltern hatten aufgrund von Geldmangel nur die Renovierung der einsturzgefährdeten Zimmer in Auftrag gegeben, die Tapeten und Holzverzierungen waren nach wie vor ruiniert.
Charlotte streckte ihre Hand aus, fuhr über die kühle Wand des Flurs und bekam dabei eine Gänsehaut. Wie musste es damals gewesen sein, Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Familie Reuy, ihre Vorfahren, die Villa gekauft und bewirtschaftet hatten? Dieser Ort, der nun leer und von Stille durchtränkt war, war voller Leben gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Haus ihrer Familie immer stärker verfallen und den Besitzern hatte das Geld gefehlt, um es zu renovieren. Auch Charlotte und Valerie würden es nicht sanieren können – Charlotte konnte sich nicht einmal anständig selbst finanzieren und ihre Schwester verdiente ebenfalls nicht genug.
Aber wer könnte ihnen sonst helfen? Ihr Vater hatte Ruths Unterhaltskosten bezahlt, nachdem sie ihr halbes Berufsleben in diesem Haus verbracht hatte, war das nur fair. Davon abgesehen hatte er sich nie um die Villa gekümmert – viel mehr war diese Aufgabe an seiner Frau Inga hängen geblieben, obwohl sie erst durch ihre Hochzeit in das Haus gekommen war. Oft wollte Charlottes Vater seine Frau seitdem dazu überreden, umzuziehen, doch sie hatte sich geweigert und darauf bestanden, hierzubleiben. Dem Wunsch musste er sich zunächst fügen, aber nachdem Inga gestorben war, hatte er nicht schnell genug die Koffer packen und ausziehen können.
Ihr Vater war Charlotte die längste Zeit ihres Lebens ein Rätsel gewesen. Nur einmal hatte er offen über sich selbst und seine Wünsche gesprochen, die seine Eltern ignoriert hatten und Charlotte hatte seine Verbitterung gespürt, die sich wie ein blasser Schleier durch sein Leben zog.
Charlotte ließ Valerie den Vortritt, die zielstrebig auf die erste Tür an der linken Gangseite zuhielt und verbissen versuchte, ihren Fuß normal zu belasten. Es sah seltsam aus, als würde sie ein Ballettstück tanzen und dabei von Zeit zu Zeit die Choreografie vergessen, wenn sie nur mit der Zehenspitze des linken Fußes den Boden touchierte.
Valerie öffnete die Tür und betrat den Raum, dann folgte Charlotte und musste für einen Moment innehalten.
Hier hatte sich nichts verändert, es war, als wäre ihre Mutter kurz frische Luft schnappen gegangen. All die Monate hatte sich Charlotte darum bemüht, den Tod ihrer Mutter nicht an sich heranzulassen, aber in diesem Moment überrollte die Trauer sie so plötzlich, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Bevor ihre Mutter gestorben war, hatte Charlotte nur noch wenig Kontakt zu ihr und ihrem Vater gehabt. Beide hatten stets versucht, ihre Töchter nach Hause zurückzuholen, sie hatten ein verzerrtes Familienidyll vor Augen, das es so nie gegeben hatte.
Erst, als sie die Nachricht erhalten hatte, dass ihre Mutter schon seit einem Jahr Brustkrebs hatte, und ins Krankenhaus musste, war Charlotte heimgekehrt. Sie hatte sich zu ihr gesetzt und sich dafür geschämt, dass sie sich so lange von ihrer Mutter ferngehalten hatte, hatte nur ihre Hand gehalten und gehofft, dass sie wieder gesund werden würde.
Auch Valerie war gekommen, gemeinsam mit Antoine, der die meiste Zeit durch Abwesenheit geglänzt und sich lieber in Wiens Nachtleben herumgetrieben hatte, anstatt der Familie seiner Verlobten zur Seite zu stehen. Aber so, im Krankenhaus an der Seite ihrer Mutter, war die Familie zum ersten Mal seit Jahren wieder zusammengekommen. Und als ihre Mutter einige Wochen später gestorben war, hatte Charlotte nicht gewusst, was sie fühlen sollte. Sie konnte nicht weinen wie Valerie, oder in Arbeit versinken wie ihr Vater. Sie war im Speisesaal gesessen, hatte auf den Platz ihrer Mutter gestarrt und darüber nachgedacht, was nun aus ihrem Leben werden sollte.
Diese Leere, die sich damals in ihrem Kopf ausgebreitet hatte, kehrte zurück, als Charlotte die Staffeleien und Zeichnungen ihrer Mutter sah. Die Sonne schien von Osten her durch die Fensterfront und ließ die Farben auf den Leinwänden glühen. Das Zimmer war voll von deckenhohen Regalen, die mit Büchern und Mappen gefüllt waren. Dabei war keine Ordnung zu erkennen, jedes Buch schien rein zufällig an seinem Platz zu stehen.
Selbst der Boden war vollgeräumt, Holzboxen standen quer im Zimmer verteilt, daneben lagen Pinsel, Decken und Kissen, auf denen sich eine feine Staubschicht gesammelt hatte.
„Was für ein Chaos!“, entfuhr es Valerie. „Was sollen wir da aussortieren? Wo fangen wir an?“
„Am besten, wir räumen zuerst den Boden frei und arbeiten uns durch bis zu den Büchern“, schlug Charlotte vor, um ihre eigene Fassungslosigkeit zu überspielen. Trotz allem war sie froh, ihre Aufmerksamkeit zunächst auf die Unordnung richten zu können, bevor sie sich darüber den Kopf zerbrach, was mit dem restlichen Haus passieren würde. Ruth hatte es schlau eingefädelt, durch die Arbeit hier hatten sie statt der schier überwältigenden Aufgabe, das Gebäude zu verwalten, erst einmal eine Beschäftigung gefunden, der sie sich widmen konnten.
Charlottes Blick wanderte an die Wand zu ihrer linken, wo ein türloser Rahmen in einen weiteren Raum führte, der nach Ruths Auskunft nicht anders aussehen würde als dieser hier. Kein Wunder, dass Ruth wenig Lust gehabt hatte, hier Ordnung zu schaffen – selbst zu zweit würden Valerie und sie Tage benötigen, um zu entscheiden, was sie behalten wollten und was nicht.
„Lass uns zuallererst die Bilder einsammeln und auf den Gang stellen, da können wir heute Abend gemeinsam überlegen, welche hierbleiben werden“, schlug Charlotte vor und Valerie nickte ohne Widerrede.
Dass ihr Vater hier eine Vorauswahl getroffen hatte, konnte sich Charlotte in diesem Moment nicht vorstellen. Vermutlich hatte er vor seiner Abreise nach München nur die Bilder geholt, die er zuerst zu fassen bekommen hatte und war davongefahren.
„Der Kilimandscharo fehlt“, stellte Valerie in diesem Moment fest, während sie zwei Leinwände aus dem Zimmer trug. Charlotte sah sich um, suchte die Bilderreihen ab und stimmte ihrer Schwester zu.
„Das war Papas Lieblingsbild, das hat er bestimmt mitgenommen“, drang Valeries Stimme vom Gang herein.
Wenn er denn eins gehabt hat, fügte Charlotte in Gedanken hinzu und machte sich ihrerseits daran, die Bilder hinauszubringen.
Meistens waren die Motive auf den Leinwänden Tiere oder Gebäude aus der Umgebung gewesen. Nur vereinzelt hatte Inga Landschaften gezeichnet und eine davon war der Kilimandscharo, gemalt aus der Perspektive in einem kenianischen Nationalpark an der Grenze zu Tansania. An diesem Bild war sie sechs Wochen gesessen und hatte es geschafft, die Malerei wie das Foto aussehen zu lassen, das sie als Vorlage benutzt hatte.
Die Erinnerung an ihre Mutter war bittersüß. Charlottes Wunsch, sie noch einmal zu sehen, vermischte sich mit der Wut, die sie über viele Jahre in sich getragen hatte. Ihre Mutter war in ihrem Bedürfnis, ihre Töchter bei sich zu behalten, nicht davor zurückgeschreckt, Charlotte gegen ihre Schwester auszuspielen; sie hatte einen Keil zwischen sie getrieben. Wäre das Verhältnis zu Valerie heute besser, wenn ihre Mutter nicht aktiv dagegen gearbeitet hätte?
„Wie geht es Antoine?“, fragte Charlotte in die Stille hinein. Es war mehr Höflichkeit und kein echtes Interesse, aber als Valerie das Bild aus der Hand rutschte, das sie hinaus bringen wollte und fest die Zähne zusammenbiss, bevor sie sich bückte, um es wieder aufzuheben, war Charlottes Neugier geweckt.
„Gut. Er arbeitet viel“, brummte Valerie und verschwand aus dem Zimmer.
„Habt ihr die neue Wohnung schon bezogen?“
„Wir haben uns doch dagegen entschieden, sie zu kaufen. Sie war zu teuer, wie du damals bereits gesagt hast“, erwiderte Valerie aus dem Flur.
Charlotte konnte sich an das Gespräch mit Antoine vor fünf Monaten erinnern, als er großspurig von der neuen Wohnung in Paris erzählt hatte, die er gemeinsam mit Valerie kaufen wollte. Als er den Preis genannt hatte, war Charlotte der Atem gestockt. Egal, wie viel Antoine und Valerie verdienten, damit würden sie wohl bis zu ihrer Pension einen Kredit abzahlen müssen. Valerie hatte abgewunken und mit einem Augenzwinkern gesagt, dass Charlotte nicht ihre eigene finanzielle Situation mit der ihren vergleichen sollte.
„Und wie läuft es sonst bei euch?“, bohrte Charlotte weiter. Etwas war anders, sie spürte es und Valerie konnte die Veränderung nicht hinter ihrer Fassade der Gelassenheit verstecken.
„Wir … um ehrlich zu sein, will ich im Moment nicht an ihn denken. Deshalb bin ich hergekommen, ansonsten hätte ich Ruth kurzfristig abgesagt“, gab Valerie zu und Charlotte hob erstaunt die Augenbrauen.
„Was ist passiert?“
Valerie zuckte mit den Schultern und nahm auf einer der Holzboxen Platz. Die Balken knarrten und kurz dachte Charlotte, ihre Schwester würde einstürzen. Aber die Konstruktion hielt und Charlotte griff nach einem Kissen, um sich auf den Boden setzen zu können.
„Darüber möchte ich nicht sprechen. Nur so viel, vor einem Monat haben wir beschlossen, unsere Verlobung zu lösen und zwei Wochen später habe ich erfahren, dass ich bereits ersetzt wurde.“ Valerie presste die Lippen zusammen.
Charlotte sah betreten zu Boden, als sie verstand, worauf Valerie hinauswollte. Sie wusste nicht, wie sie auf diese Neuigkeit reagieren sollte, deshalb streckte sie eine Hand nach ihrer Schwester aus, aber Valerie zuckte zurück. „Ich will weder Mitleid noch Weisheiten von dir, am besten, du tust so, als ob alles so wäre wie immer“, sagte sie resolut. „Was ist mit dir? Bist du endlich auch in einer Beziehung?“
