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Erst ist es nur ein Spiel, das Tamas eines Nachts an seinem Computer beginnt. Doch dann wird die Welt im Spiel realer als die Wirklichkeit und Tamas muss sich entscheiden, wie weit er gehen will, um ein Mädchen zu retten, das vielleicht nur online existiert. Als Avatar reist er durch die Zeiten, lernt als Schüler der großen Philosophen, kämpft als Gladiator und versteht: Fantasie und Willenskraft bringen den Menschen voran. Sie sind der Code zur Weiterentwicklung der Menschheit. Doch ist Tamas' Fantasie, ist sein Wille stärker als das Spiel?
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Seitenzahl: 302
Veröffentlichungsjahr: 2013
Gerd Schneider
Der letzte Code
Ein Roman über die Geschichte der Zivilisation
1. Auflage 2013 ©Arena Verlag GmbH, Würzburg 2013 Alle Rechte vorbehalten Redaktion: Britta Vorbach Innengestaltung, Layout, Typografie und Satz: Gabine Heinze/TOUMArt Fotos:©Picture Alliance: S. 45 (Paul Mayall), S. 134 (Wildlife), S. 142 (Artcolor), S. 171 (Prisma Archivo), S. 252/253/265 (R. Binder/H. Lade);©Plain Picture: S. 127/129/188/189 (Erickson), S. 213/215 (Thordis Rüggeberg) Alle übrigen Abbildungen: Illustrationen und bearbeitetes, gemeinfreies Material (Bilderatlas, Iconographische Enzyclopädie, Leipzig: F. A. Brockhaus, 1875)©Gabine Heinze
ISBN 978-3-401-80297-8
Inhalt
Willst du ein Spiel spielen, Tamas?
Level 1 // So echt wie die Wirklichkeit
Level 2 // Wanderungen
Level 3 // Die Eroberung der Fantasie
Level 4 // In Frieden leben?
Level 5 // Die älteste Stadt der Welt
Level 6 // Der Sohn der Wüste
Level 7 // Der Tod tritt auf
Level 8 // Schiffbruch
Level 9 // Die Welt mithilfe des Verstandes ergründen
Level 10 // Die Herren der Welt
Level 11 // Gladiator
Level 12 // Die Bühne ist die Welt
Level 13 // Vertreibung
Level 14 // Das große Welttheater der Wissenschaft
Level 15 // Maler der HÖlle
Level 16 // Stirb und werde!
Wissenswertes (für Begriffe mit * und mehr)
Willst du ein Spiel spielen, Tamas?
Reale Zeit: Sonntag, 24. Oktober, 19.00 Uhr Realer Ort: Thalstatt, Reihenhaus am Südpark 49, Kellerwohnung // Studentenbistro RADSCHU
Der Spiele-Entwickler
Tamas ist unruhig. Soll er sein Spiel ankündigen oder nicht? Es ist das erste, das er entwickelt hat. Genau genommen ist es nur der Trailer dazu, den er zeigen kann. Vor lauter Nervosität fängt er an, seinen Arbeitsplatz aufzuräumen. Er ordnet DVDs in den Ständer, Bücher und elektronische Einzelteile des Rechners, den er gerade zusammenbaut, ins Regal. Einige Zeitschriften wirft er in den Papierkorb. Die Gitarre stellt er in eine andere Ecke. Er geht in seinem ausgebauten Keller hin und her, sieht dabei sein schmales, leicht nach vorne gekrümmtes Spiegelbild auf dem großen Bildschirm, der drei Viertel der Wand einnimmt. Er hebt die Hand, winkt sich zu, wie um sich Mut zu machen.
Ein Plink kündigt eine Nachricht an. Er klickt auf den Chat-Button. „Willst du ein Spiel spielen, Tamas?“, liest er. Absender: „Pandora“.
„Nein, will ich nicht. Keine Zeit. Wer bist du überhaupt? Woher weißt du meinen Namen?“, schreibt Tamas. Wer will ihn da hochnehmen?
In diesem Augenblick springt sein schwarzer Kater durch das gekippte Fenster zwischen die Rechner und maunzt laut.
„Hey Billy, Zeit für dein Fressen. Verstehe.“
Tamas steht auf und holt die Dose Katzenfutter aus dem Kühlschrank. Er füllt den Napf. Der Kater frisst ihn hungrig leer und legt sich satt und zufrieden auf seinen warmen Platz zwischen die Rechner.
„Egal, wer das ist, ich zeig erst mal mein Spiel“, sagt sich Tamas in einem plötzlichen Entschluss, als seine Nervosität etwas nachgelassen hat. „Mehr als verreißen können sie die Idee nicht!“ Er gibt die Daten für den Games-Chat 04/Beginners ein. Hier stellen freie Spiele-Entwickler ihre Kreationen vor. Agenten der Profis und Spiele-Schmieden haben ein wachsames Auge auf das Forum. Manchmal hatte ein Neuer Glück und seine Idee wurde gekauft.
Tamas meldet sich mit seinem Chat-Namen: Helsing.
Helsing: „Hi zusammen. Will jemand den Trailer für ein neues Spiel sehen?“
Lingus: „Klar. Wie heißt es?“
Helsing: „Die Eroberung von Dark-County.“
Whisper: „Nicht besonders originell!“
Helsing: „Ist der Arbeitstitel für meine erste Arbeit.“
Xabu: „Wie lang?“
Helsing: „Drei Minuten.“
Lingus: „Lass sehen!“
Tamas startet den Trailer seines Spiels.
Man erkennt Häuserschluchten an einem Flussufer.
Ein Titel wird eingeblendet:
Gitarren-Riffs untermalen die Szene.
Schneeflocken trudeln zwischen den Fassaden zu Boden. Der Blick folgt ihnen in die Tiefe. Unten lungern abgerissene Gestalten zwischen brennenden Mülltonnen und Autowracks. Wilde Hunde schleichen lautlos an den Wänden entlang. Schüsse peitschen, ein raketengleiches Gefährt donnert durch die Gasse und schleudert die Müllsucher zur Seite.
Gitarren-Musik. Ein Hilfeschrei.
Stimme: „Dark-County, vergessener Teil der Welt, beherrscht vom Clan der alten Teufel.“
Xabu: „Die Story kommt mir irgendwie bekannt vor.“
Lingus: „Ja, Mann, nicht besonders originell.“
Pitti: „Viel zu dunkel und unruhig das Bild. Kaum was zu erkennen.“
Helsing: „Vielleicht seht ihr’s euch erst mal bis zum Ende an!“
Neue Szene.
Reiter auf Flammenpferden haben am anderen Ufer Aufstellung genommen. Auf ein Zeichen des Anführers galoppieren sie auf die Brücke, die nach Dark-County führt.
Pitti: „Sind das die alten Teufel?“
Xabu: „Sehen harmlos aus.“
Solar11: „Wie Kinderspielzeug.“
Tamas ist beleidigt. Er kann Kritik nicht vertragen.
Helsing: „Verdammt, ist noch nicht fertig!“
Xabu: „Vergiss es, Helsing! Das ist Bullshit!“
Helsing: „Wieso das denn?“
Xabu: „Nichts Besonderes. Keine Spannung. Feuerreiter, alte Teufel, Dark-County, alles Kinderkram! Der übliche Kampf Gut gegen Böse. Schon tausendmal da gewesen.“
Helsing: „Na und, wenn’s gut gemacht ist. Alles ist irgendwie schon mal da gewesen!“
Pitti: „Beleidigt oder was?“
Xabu: „Ich dachte, du wolltest Kritik hören ...“
Ein Chat-Fenster blinkt auf.
Pandora: „Willst du ein Spiel spielen?“
Tamas: „Du schon wieder. Nee, jetzt will ich bestimmt kein Spiel machen!“
Pandora: „Ein besonderes Spiel! Wird dir gefallen.“
Tamas: „Keine Lust auf ein neues Scheißspiel!“
Tamas hat genug und fährt den Rechner herunter. Er hat es ja gewusst, dass die anderen Entwickler grausam sein können. Jeder denkt, er sei der beste! Der größte Künstler mit der besten Story und dem besten Design. Keiner gönnt dem anderen etwas. Und wenn er, Tamas, ehrlich ist: Hat er je einmal den Vorschlag eines anderen gelobt? Dabei sind sie alle blutige Anfänger, die so tun, als seien sie Profis. Und jetzt will ihm irgendjemand sogar ein neues Spiel bieten! Pandora?, denkt er. Nie gehört, nie gesehen den Namen im Chat.
Er verlässt seine Kellerwohnung und will sich am Wohnzimmer vorbeischleichen. Die Tür steht halb offen. Seine Eltern klatschen in die Hände. Sie spielen das vorabendliche TV-Spiel „Jedem eine Chance!“. Heute geht es um ein Kartenroulette.
„Volltreffer, du bist gut, Carola!“, jubelt Walter, sein Vater. Sie hatte den Cursor auf die richtige Karte gesetzt, die dann kam. Über eine Konsole sind die Zuschauer mit dem Sender verbunden.
„Wir sind in der Endrunde, Schatz!“, ruft Carola aus. Ihr Blick fällt auf ihren Sohn an der Tür. „Tamas, komm rein.“
„Nein Mutter, geh noch kurz weg.“
„Aber du hast nichts gegessen. Willst du eine Pizza?“
„Danke Mutter. Vielleicht später.“
„Wann bist du zurück?“, fragt sein Vater, ohne den Blick vom Fernsehbildschirm zu nehmen.
„Warum?“
„Muss noch mit dir reden. – Carola, es geht weiter!“ Die Eltern wenden sich wieder dem Spiel zu.
IM RADSCHU
Tamas geht die kurze Strecke zu seiner Stammkneipe durch den Südpark. Es wird früh dunkel, nur wenige Lampen erleuchten die Wege. Große Lust auf Leute hat er nicht. Aber im Moment ist das noch besser, als alleine im Keller oder bei Carola und Walter im Wohnzimmer zu sitzen. Sein Blick wandert durch die Dunkelheit.
Es klappt einfach gar nichts mehr, denkt er.
Das RADSCHU liegt am Rande der Altstadt.
„Hallo Tamas!“, grüßt der Nepalese, dem der Laden gehört, von der Theke her. Vor einiger Zeit hatte der Inder hier noch ein Internetcafé und einen Telefonshop betrieben. Radschus Frau hatte ihn dann überredet, besser ein Studentencafé und Bistro zu führen. Das liefe besser in dieser Gegend und mache auch mehr Spaß. Sie hatte recht behalten, der Laden war jetzt ein beliebter Treffpunkt.
„Ist Moki da?“, fragt Tamas.
Aber sein Freund hat ihn schon bemerkt.
„Hey, alter Autist. Lange nicht gesehen!“, ruft er ihm zu. Er steht von seinem Tisch auf und gibt Tamas einen freundschaftlichen Klaps.
Tamas zuckt zurück. Er mag Berührungen nicht. Außerdem hasst er es, wenn Moki ihn „Autist“ nennt. Tamas murmelt einen Gruß und setzt sich an den Tisch seines alten Schulfreundes. Dem kann er sowieso nichts übel nehmen. Moki ist in Ordnung und meint es nicht so. Das weiß Tamas.
„Du könntest dich öfter melden“, meint Moki. „Früher waren wir jeden Tag zusammen. War doch gut, oder?“
„Ja, war gut“, sagt Tamas.
„Mann, was hatten wir für supertolle Pläne! Wollten eine Garagenfirma gründen und Software entwickeln wie Bill Gates. Wir wollten steinreich werden damit ... Ey, was ist mit dir?“
„Wieso?“
„Du hörst gar nicht zu.“
„Sorry, bin nicht gut drauf.“
„Sag schon, was los ist? Siehst aus wie ein Zombie.“
„Weiß ich selber nicht.“
„Hast du das Spiel fertig?“
Tamas hat Moki von den Feuerreitern erzählt.
„Nein, noch nicht.“
„Wann bist du so weit?“
„Vergiss es. Im Chat haben sie mich schon deswegen fertiggemacht.“
„Na und, mach dir nichts draus.“
„Tu ich aber.“
„Hobbymäßig kannst du das gar nicht alleine schaffen, ein marktreifes Spiel zu entwickeln. Dazu braucht man Profis, Scriptschreiber, Grafiker, Musiker, Leveldesigner und andere Spezialisten, alle müssen zusammenarbeiten. Dazu eine Firma, die dahintersteht und das Marketing macht.“
„Ich weiß nicht, ob ich das alles will.“
„Ich habe jedenfalls keine Lust mehr, den Einzelgänger zu spielen“, erklärt Moki. „Hat ’ne Weile gedauert, aber ich weiß, dass es mit der Karriere als genialer Entwickler und Programmierer nichts wird. Solltest auch mal drüber nachdenken. Ich fang mit BWL an. Das hat mehr Zukunft.“
Was ist echt?
Tamas schweigt. Moki winkt einem Mädchen zu, das mit ein paar Leuten am Nebentisch sitzt: „Hi Lotta, wie geht’s?“
„Ich frage mich manchmal“, sagt Tamas, der das nicht mitbekommen oder nicht darauf geachtet hat, „ob das mein wirkliches Leben ist.“
„Häh? Was meinst du?“
„Kann ich wissen, ob die Welt wirklich ist? Vielleicht ist alles ganz anders, als wir denken.“
„Tja, interessanter Gedanke“, sagt Moki.
Tamas ist erneut in seine Gedanken versunken. Das hat schon vor Jahren seine Lehrer zur Verzweiflung gebracht, wenn er einfach wegtrat, in eine Starre verfiel, nicht mehr ansprechbar war. „Ich muss nachdenken“, hat er dann immer als Entschuldigung vorgebracht.
„Vielleicht gibt es ein Paralleluniversum. Oder wir sind Teile einer Computersimulation. Sie spielt uns vor, wir hätten ein normales Leben. In Wirklichkeit sind alles nur elektrische Signale.“
„Ich glaube, du hast zu viele Filme gesehen“, unterbricht ihn Moki.
„Sorry, wenn ich mich einmische …“ Lotta hat ihren Stuhl umgedreht und sitzt jetzt praktisch mit an ihrem Tisch. Unter ihrer Kapuze blitzen Tamas blaue Augen aus einem schmalen Gesicht an. „ Vielleicht ist was dran an dem, was du sagst, Tamas. Die Welt existiert nur als virtuelle Realität im Computer. Das meinst du doch, oder?“
„Das ist Tamas“, stellt Moki vor.
„Ich weiß. Wir sind uns mal in einer Vorlesung begegnet.“
„Ihr kennt euch?“
„Das wäre zu viel gesagt.“
Tamas sieht sie an.
„Kann mich nicht erinnern“, sagt er. Leute, die er nicht kennt, machen ihn unruhig.
„Jetzt hast du ihn verschreckt, Lotta“, sagt Moki.
„Bist du mein Scheiß-Therapeut oder was?“, Tamas ist sauer.
Bevor Moki antwortet, hebt Lotta eine Flasche Bier hoch.
„Ist das echt?“, fragt sie.
Moki sieht sie verständnislos an.
„Was für ’ne Frage? Spinnst du jetzt. Klar ist das echt. Gib her, schmeckt lecker!“
„Lass sie doch“, sagt Tamas.
„Das hier oder das? Was ist echter?“
Lotta zeigt auf ein Werbeposter hinter ihnen an der Wand, auf dem ebenfalls eine Flasche Bier zu sehen ist.
„Und was soll das jetzt?“, fragt Moki.
„Ich mache gerade ein Seminar über Manipulation in der Werbung.“
„Jedenfalls ist es Blödsinn“, sagt Moki, „das da echt zu nennen. Es ist nur ein Foto.“
„Falsch“, widerspricht Tamas. „Es ist genauso echt wie das Glas auf dem Tisch.“
„Genau, denn es ist ein realistisches Abbild der Wirklichkeit“, bestätigt Lotta. „Wenn du es ansiehst, schmeckst du was.“
„Ich schmecke lieber das hier!“ Damit nimmt Moki einen tiefen Schluck aus seiner Flasche.
„Wäre aber nicht schlecht, wenn man das Bier auf dem Bild auch schmecken könnte, oder?“, sagt Lotta.
„Die Grenzen zwischen echt und unecht verschwinden. Die Menschheit verändert sich in ihrer Wahrnehmung. Das ist meine Meinung. Vorstellung und Wirklichkeit werden immer ähnlicher“, sagt Tamas.
„Ja, das denke ich auch“, sagt Lotta. „Und deine Frage war doch: Das echte Leben, wo ist es? Bald kann keiner mehr unterscheiden, was real ist und was virtuell.“
Am Nebentisch kracht ein Stuhl um, lautes Lachen, Geschrei, Gläser werden gehoben.
„Lotta, wo bleibst du? Komm, wir wollen weiter“, drängen ihre Freunde.
„Bleib doch noch“, bittet Moki.
Tamas nickt, sagt aber nichts. Das bringt er nicht fertig.
„Geht nicht, wir gehen feiern. Amelie hat Geburtstag. Wir gehen noch ins N7. Komm doch mit!“, sagt sie und steht auf.
Tamas zuckt zusammen: „Nö, lass mal …“
Sie geht. Er blickt ihr nach.
„Ich glaube, ich geh dann auch mal.“
„Hey Mann, du Spaßbremse. Lass uns wenigstens noch eine Runde Billard spielen“, schlägt Moki vor. Tamas willigt ein.
Was willst du eigentlich machen?
Im Wohnzimmer ist es still, als Tamas gegen zehn nach Hause kommt und die Treppe hinunter in seinen Keller geht. Der Kater schläft im Schein der Bildschirmschoner. Gleich wird er sich aufmachen zu einem nächtlichen Streifzug. Er blinzelt kurz, als Tamas das Licht anmacht. Der ist müde, beschließt, ins Bett zu gehen. Die ganze letzte Nacht hat er an dem Trailer für die „Feuerreiter“ gearbeitet und die Musik eingespielt.
Ob ich noch mal die Mails checke? Vielleicht sind noch positive Meinungen da. Er will das Mailprogramm starten, als es an der Tür klopft. Bestimmt Carola, die ihm eine Pizza bringt. Doch es ist Walter. Sein Vater ist im Hausmantel.
„Guten Abend, Tamas.“
„’n Abend.“
Tamas ist überrascht: Walter lässt sich fast nie hier unten blicken. Eigentlich ist er froh, dass ihn seine Eltern hier normalerweise in Ruhe lassen.
„Ich wollte dir nur sagen, dass ich einen Termin für uns bei der Simo gemacht habe.“
„Wie?“
Tamas ist schockiert. In der Maschinenbaufirma Simo ist sein Vater Betriebsleiter. Vor zwei Jahren, nach dem Abi, hatte Walter schon mal davon gesprochen, seinem Sohn einen Ausbildungsplatz zu verschaffen.
„Dienstag, 2. November, sind wir mit dem Personalchef, Herrn Simoneit, verabredet. Mach bitte deine Unterlagen bis dahin fertig!“
„Was denn für Unterlagen?“
„Zeugnisse, Bewerbungsschreiben, warum du zur Simo willst und so weiter.“
„Aber ich will doch gar nicht dahin! Das ist ja wohl das Letzte! Einfach über mich zu bestimmen!“
Tamas kann sich kaum beherrschen, so wütend ist er.
„Anders geht es nicht mit dir. Dich zu fragen, hätte nichts genützt. Du hättest doch sowieso abgelehnt.“
„Das hätte ich. Das tue ich auch jetzt! Ich bin nicht interessiert an einem Ausbildungsplatz in der Firma!“ Das wäre echt der Horror, denkt er.
Walter zwingt sich, ruhig zu bleiben: „Könnte ich erfahren, und da spreche ich auch für deine Mutter, wie du dir deine Zukunft vorstellst?“
„Da haben wir doch schon oft drüber gesprochen. Ich habe jetzt keine Lust dazu.“
„So, keine Lust. Seit dem Abi hängst du hier rum, sitzt ewig an deinem Computer. Weiß ich, was du machst. Zur Uni gehst du jedenfalls nicht mehr. Ein Semester Geschichte, zwei Informatik, wer weiß, was als Nächstes kommt und was wir noch alles finanzieren dürfen!“ Jetzt ist Walter doch zornig.
„Ich zieh aus, wenn es das ist, was du willst.“ Tamas bemüht sich, ruhig zu erscheinen.
„Als wenn das eine Lösung wäre. Aber du bist alt genug, ich kann dir nichts mehr sagen.“
„Genau!“
„Ich seh mir das nicht mehr lange an! Das lass dir gesagt sein! Kommst du mit oder nicht?“
„Auf keinen Fall!“
Sein Vater schlägt wütend die Tür hinter sich zu.
Tamas wirft sich auf seine Liege. Sein Herz klopft wie verrückt. Er ahnt, dass er demnächst eine Entscheidung treffen muss, wie es weitergehen soll. Wenn er bloß eine Ahnung hätte, wofür er sich interessieren soll. Alles so sinnlos. Er steht wieder auf, wandert um den Arbeitstisch. Die Bildschirme sind dunkel, der Kater ist verschwunden. Er legt sich hin.
Was hat ihn geweckt? Ein böser Traum? Das Plink, das eine neue Chat-Anfrage ankündigt?
Hatte er den Chat nicht abgeschaltet?
Er steht auf.
Versuchskaninchen?
„Willst du ein Spiel spielen?“, steht da.
„Schon wieder! Du nervst! Wer bist du?“
„Pandora. Ich lade dich zu einem Spiel ein.“
„Wieso ausgerechnet mich?“
„Ich kenne dich aus dem Chat. Willst du ein Spiel spielen?“
„Warum wiederholst du dich?“
„Ich will dich neugierig machen.“
„Was ist das für ein Spiel?“
„Willst du was Neues ausprobieren?“
„Mit einem Spiel?“
„Mit einer Reise.“
„Also kein Spiel?“
„Nenne es, wie du willst.“
„Ich will trotzdem wissen, wer mir schreibt.“
„Pandora. Ich sagte es.“
„Und wer bist du?“
„Eine, die dich einlädt. Von mir erhältst du die Eintritts-Codes für die einzelnen Abschnitte.“
„Warum sollte ich mich darauf einlassen?“
„Wir brauchen jemand, der die Sache ausprobiert.“
„Ein Versuchskaninchen, verstehe. Nein danke!“
„Ich weiß, dass du neugierig geworden bist. Wir brauchen dich, deine Fähigkeiten, dein Interesse.“
Wenigstens jemand, der mich braucht, denkt Tamas.
„Trotzdem wüsste ich gerne etwas genauer, worum es sich handelt.“
„Es ist eine Reise in die Vergangenheit.“
„Ein In-die-Zeit-zurück-Spiel? Gibt’s schon genug.“
„Lass dich überraschen. Du beeinflusst über die Sensorverbindung den Programmablauf. Deine Wünsche und Vorstellungen, die Kraft deiner Fantasie steuern das Spiel mit und verändern es. Das ist das Neue daran.“
„Eigentlich habe ich keine Lust auf Abenteuer.“
„Doch, hast du. Ich weiß es. Du kannst jederzeit wieder aussteigen.“
„Wo ist der Haken bei der Sache?“
„Kein Haken. Es kostet dich nichts. Außer deine Zeit und dein Interesse. Das hast du, ich weiß es.“
„Dann weißt du mehr als ich.“
„Sag Ja oder sag Nein.“
„Ausprobieren kann nicht schaden.“
Tamas steckt den Miniclip ins Ohr, stellt die Verbindung zum Rechner her. Er ist gespannt.
„Also dann, von mir aus kann’s losgehen!“
„Hier ist der Code für die erste Etappe.“
Level 1
So echt wie die Wirklichkeit
//vor etwa 60 000 Jahren//
Reale Zeit: Sonntag, 24. Oktober, 23.30 Uhr Realer Ort: Tamas’ Keller, Bistro RADSCHU
/////////////
Virtuelle Zeit: vor etwa 60000 Jahren
Virtueller Ort: Flusstal, heutige
Schwäbische Alb
Wo bin ich?
Es schien, als würde eine Kamera über ein breites Flusstal gleiten. Wiesen wechselten sich mit Wäldern ab, an manchen Stellen war das Tal von schroff aufsteigenden Felswänden begrenzt. Sträucher und Bäume waren von einer dünnen Schneedecke überzogen. Ein trüber Himmel lag über der Szenerie.
Wo bin ich, fragte sich Tamas. In welcher Zeit bin ich gelandet? Bin ich verloren gegangen? Es wirkt viel zu echt für ein Spiel!
„He, was soll das?“, rief er. Die Felswand, an deren Fuß er stand, warf ein Echo zurück.
Es passierte nichts.
„Pandora!“
Keine Antwort.
Er ging den Hang entlang, drückte sich hinter einen Felsvorsprung. Unter seinen Schritten knirschte gefrorenes Gras. Er fühlte die Kälte.
Konnte das sein? Gut gemacht, dachte er, hier werden alle Sinne des Spielers angesprochen. So muss es sein. Du siehst ein Feuer und du riechst Rauch.
Er konnte den Rauch wirklich riechen. In einiger Entfernung stand eine dünne Rauchsäule vor der Felswand. Er blickte an sich herunter. Er war in ein Fell gekleidet, das bis zum Boden reichte.
Sein Magen verkrampfte sich. War das mit dieser Pandora besprochen, dass er so verkleidet wurde? Sollte er wieder offline gehen?
„He! Den Ausstiegs-Code!“
Nichts geschah.
„O. k., ein Spiel mit einer tollen Grafik ist es trotzdem. Sehen wir uns um!“
Zögernd schlug er den Weg in Richtung des Feuers ein. Da war der Eingang zu einer Höhle. Ein kräftiger Mann, ebenfalls in ein Fell gehüllt, schürte das Feuer, das im Eingang brannte. Ein anderer schlug zwei Steine unterschiedlicher Größe aufeinander. Splitter flogen umher.
„Hallo!“, rief Tamas.
Die Männer sahen von ihrer Arbeit auf. Toll, dachte Tamas erneut, verdammt echt! Was ist das für ein Programm, das einem vorgaukelt, man sei ganz und gar in der Szene drin?
Die Typen sahen genau so aus, wie er sie von Darstellungen über die Urzeit kannte. Sie waren höchstens 1,60 Meter groß, kräftig gebaut, von Kopf bis Fuß in dicke Felle gehüllt. Jetzt blickten sie aufmerksam auf den Fremden, kamen langsam näher.
„He Leute!“
Es war wieder ein schwaches Echo zu hören. Dann ein Vogelruf. Und Schreie:
„Grizz, grizzoa, md, emd, grizz!
Kaumd, emd, mmut-mmut!“
Sie wurden lauter. Mit wenigen Sprüngen waren die Männer bei Tamas. Drohend richteten sie ihre Speere auf den Neuankömmling. Im Höhleneingang erschienen weitere Menschen. Frauen und Kinder waren darunter. Sie wirkten ängstlich und neugierig zugleich. Ihre schrillen Schreie hallten durch das Tal:
„Grizz! Grizz!“
Jetzt näherte sich die ganze Gruppe. Etwa 15 oder 20 Fellbekleidete umringten ihn. Plötzlich wirkten sie gefährlich auf ihn.
„Ey Leute, ganz ruhig! Alles cool!“
Tamas hob beschwichtigend die Hände: „Ich will euch nichts, bin friedlich, nur eine Simulation!“
Doch wussten das diese Typen auch?
Die Männer drohten mit ihren Waffen. Einem Impuls folgend wollte Tamas fliehen. Er dreht sich um, rannte los, stürzte, rutschte auf der dünnen gefrorenen Schneedecke aus. Er überschlug sich, wollte sich wieder aufrappeln, rutschte erneut auf dem Abhang aus.
Er schrie, als zwei Männer ihn packten und vom Boden hochzerrten. Dabei stießen sie tiefe kehlige Laute aus:
„Krauo, krauo! Mmd!“
Ihre Gesichter waren jetzt dicht vor seinem. Bärtig, breite Nasen, lange verfilzte Haare, tief in den Höhlen liegende Augen, vorspringendes Kinn.
„Wss? Ssmd! Mmut!“
„Ich verstehe nicht, was ihr wollt!“, rief Tamas verzweifelt aus. „Lasst mich in Ruhe!“
Sie fuchtelten weiter mit ihren Speeren vor ihm herum, stießen ihn grob mit der Steinspitze an der Schulter, stießen ihn in den Rücken.
Sie schleppten ihn mit sich. Er stolperte vorwärts.
„Es reicht! He Pandora!“
Er schlug um sich.
„Hilfe!“, schrie er.
Mit aller Kraft entwand er sich dem harten Griff der Männer, wollte wegrennen. Die Steinspitze eines Speeres fuhr ihm voll in die Seite. Er schrie laut auf vor Schmerz.
Dann wurde es dunkel um ihn.
Schmerzen
Der Keller ist bis auf die flackernden grünen und roten Kontrollleuchten dunkel. Der Kater schnauft, zuckt im Schlaf mit den Pfoten. Ihm ist es egal, in welcher Zeit wir leben, denkt Tamas. Ob wir im virtual oder im real life sind. Er braucht nur sein Futter, einen warmen Platz, das reicht.
Aber wo war ich?
Die Anzeige zeigt null Uhr.
Tamas hält sich die Seite. Sie schmerzt. Das kann nicht sein. Spielen die Neuronen verrückt? Gaukeln ihm seine Hirnströme vor, er hätte sich die Rippe gebrochen? Es fühlt sich jedenfalls so an. Er zieht sein T-Shirt hoch. Ist das ein blauer Fleck, der an seiner Seite zu sehen ist? Oder hatte er den schon? Er kann sich gar nicht erinnern, ob er sich irgendwo gestoßen hat.
Selbsthypnose
„Pandora?“
„Was willst du?“
„Ich will aufhören.“
„Warum?“
„Die Sache ist mir zu echt.“
„Wolltest du das nicht?“
„Das ist aber eine Nummer zu krass.“
„Es steht dir jederzeit frei, deine Reise zu beenden.“
„Gut zu wissen. Und wie?“
„Wenn du es wünschst oder laut sagst, bist du raus. Das Programm reagiert. Kein Thema.“
„Und wenn es nicht funktioniert? Wenn die Signale zu schwach sind?“
„Dann willst du nicht wirklich raus.“
„Eines würde ich gerne wissen.“
„Ja?“
„Wieso fangen wir in der Zeit mit den Neandertalern an?“
„Warum nicht? Ich dachte, das wäre spannend für dich.“
„Ja schon. Habe darüber gelesen und im Netz recherchiert.“
„Wir hätten das Spiel auch anders beginnen können. Aber das ist jetzt egal, denn du willst ja aufhören.“
„Augenblick noch.“
„Was ist?“
„Warum tut mir die Seite weh? Als hätten sie mich echt erwischt.“
„Das macht deine Vorstellungskraft. Autosuggestion nennt man das, Selbsthypnose. Du bestimmst, wie intensiv das Spiel wird oder wie es läuft. Das ist das Neue daran.“
„Das ich testen soll.“
„Ja, so kannst du es sehen. Du gibst dem Spiel die Richtung und den Sinn.“
„Ziemlich viel verlangt.“
„Du schaffst das.“
„Endlich mal jemand, der an mich glaubt.“
„Was?“
„Nichts weiter. O. k., noch ein Versuch. Den neuen Code!“
„Brauchst du noch nicht. Wir sind noch im selben Level.“
„Und wenn ich raus will?“
„Wenn du es willst und ‚RAUS‘rufst oder intensiv genug denkst, bist du draußen.“
//// DIE NEANDERTALER ////
/////////////////////////////////////
Menschenart „Neandertaler“, benannt nach einem Fossilienfundort in der Nähe von Düsseldorf. Lebte etwa von 150 000 bis 30 000 Jahren vor Christus. Verschwand unter ungeklärten Umständen von der Welt. Als primitiver und Keulen schwingender Affenmensch wurde der Neandertaler lange Zeit von der Wissenschaft angesehen. Dieses Bild ist inzwischen überholt. Die Neandertaler waren, das belegen Funde, kultivierter als früher angenommen. Sie machten Feuer, warengeschickte Jäger und Werkzeugmacher, die Speere mit scharfen Steinspitzen und andere Waffen herstellen konnten. Sie lebten in einer Kältezeit der Erde und kleideten sich in die Felle der erlegten Tiere. Es fanden sich auch Grabstätten dieser Menschenart in Samarkand und manche Forscher sind überzeugt, dass die Neandertaler einen Sinn für Kunst und Musik hatten. //
In jahrelanger Arbeit konnte ein Team um den Leipziger Genetiker Svante Pääbo die Erbsubstanz des Neandertalers entschlüsseln. Es kam im Jahre 2010 zu der Erkenntnis, dass ein bis vier Prozent der DNA der frühen Menschenart Neandertaler mit der des modernen Menschen übereinstimmen. //
Zu Gast am Feuer
Tamas lag auf einem Fell am Feuer im Eingang der Höhle. Er setzte sich auf. Um ihn herum liefen stämmige kleine Kinder mit verfilzten Haaren und ernsten Augen. Sie waren wie die Erwachsenen in Felle und Pelze gekleidet, die bis über die Hüften reichten und mit einem Pflanzenstrick um die Hüften gegürtet waren. Die Hosen und Schuhe bestanden aus grobem Leder. Misstrauisch und neugierig zugleich beäugten sie den fremden Mann, der hier so unvermittelt aufgetaucht war. Ein kleines Mädchen kam näher, berührte ihn mit den Fingerspitzen.
Die Kleine lachte. Eine junge Frau zog das Kind fort.
„Verletzt?“, fragte die Frau und zeigte auf Tamas’ Fellgewand.
„Weh?“
Sein Umhang war an der Seite zerrissen. Er tastete die Stelle ab. Zum Glück kein Blut, keine Wunde, sie hatten ihn mit voller Wucht gestoßen, erinnerte er sich. Das war, bevor er aussteigen wollte.
„Alles okay, Leute.“
„Ssung, kaoung?“
Die Frau führte die Hand zum Mund. Essen?
Klar, Hunger. Tamas machte ihre Geste nach. Er hatte tatsächlich Kohldampf. Obwohl, dachte er kurz, auch das natürlich Blödsinn war. Im virtuellen Raum konnte er keine realen Empfindungen haben. Eine Fehlschaltung wie der Schmerz vorhin.
Konnte gar nicht sein.
„Ssee, emmd! Wwasso, wwassomm!“, riefen die Kinder.
„Alles klar, komme schon!“, Tamas stand auf. Die Frau zeigte ihm einen Platz am Feuer im Höhleneingang. Die Höhlenbewohner saßen im Kreis um den dampfenden Kessel. Sie beäugten den Neuling zuerst misstrauisch. Allerdings schienen sie jetzt sicher zu sein, dass sie es hier nicht mit einem Feind zu tun hatten. Tamas sah sich vorsichtig um. Im vorderen Teil der Höhle, der von einigen Fackeln erhellt wurde, waren aus Astwerk einige Bereiche abgetrennt. Darin gab es Liegestätten aus aufeinandergelegten Fellen.
„Emd! Sseept!“
Eine Frau, die Essen aus dem Kessel über dem Feuer schöpfte, gab Tamas eine Art Holzteller, gefüllt mit Blättern, Fleischstücken und wurzelähnlichen Knollen. Tamas nahm es mit einem dankbaren Lächeln an. Alle bedienten sich aus dem Kessel und begannen, gierig zu essen. Mit kräftigen Kieferbewegungen wurde das Fleisch zerrissen. Tamas musste an Wölfe denken. Für einen Augenblick kam die Angst zurück.
Ich kann jederzeit raus, beruhigte er sich.
Die Frau, deren Gesicht feiner geschnitten war als das der Männer mit den knochigen Wülsten über den Augen, lächelte ihn an.
Schickt uns das Wild zurück!
Die Menschen saßen lange am Feuer. Ihre Mienen wurden immer sorgenvoller. Tamas wurde kaum noch beachtet. Er verstand aus ihren Gesten und Lauten, dass es eine große Hungersnot gegeben hatte. Ein Mann hatte die Fähigkeit, die Laute der Tiere nachzumachen und durch sein Spiel zu zeigen, dass sich in diesem Tal nicht genügend jagdbares Wild gezeigt hatte. Mehrere Leute sprangen auf und machten beschwörende Gesten zum Himmel und zum Fluss hinunter, als wollten sie die Mammuts und Wollnashörner damit herbeibeschwören. Tamas verstand die Laute immer besser, formte sie sich zu Worten, las aus ihren Gesichtern, was geschehen war. Viele hatten nicht überlebt, denn die Vorräte an getrocknetem Fleisch waren bald aufgebraucht. Zu allem Unglück hatte ein Höhlenbär eine Vorratskammer geplündert, als sie auf der Jagd waren. Nun ernährten sie sich schon eine ganze Weile von Enten, Hasen und Kaninchen.
„Oh, ihr Götter“, verstand Tamas ihren gemeinsamen Gesang, „seid gnädig und schickt uns das Wild zurück, sonst sind wir alle des Todes!“
Kleine Sonne, süßer Mond
Er lag auf seinen Pelzdecken in einer durch Felle abgetrennten Ecke. Um sich herum hörte er Atmen, Räuspern, Husten, Stöhnen, Flüstern, Weinen, Summen, Singen.
Ein zarter Gesang, leise vorgetragen, ein Kinderlied:
„Kleine Sonne,
süßer Mond,
guter Stern,
schlaf, schlaf.“
Er war gerührt, ein warmes Gefühl durchströmte ihn. Am liebsten würde er zu der Sängerin mit der schönen zarten Stimme hingehen. Vielleicht hat sie nur lalala lila gesungen und er den Text erfunden?
Doch diese zarte, schwingende Melodie des Schlafliedes würde sich auch in 50 000 Jahren nicht ändern. So ist die Sprache entstanden, dachte er, aus den Schreien wurden Worte, aus den Lauten der Angst und der Freude, des Triumphes und des Schmerzes wurden Konsonanten und Vokale, wurden Silben. Aus der Lalalalila-Sprache wurden Worte, die sich zu Sätzen zusammensetzten. Aus den gesummten, lautmalerischen Gesängen der Mütter wurden die kleine Sonne und der süße Mond, der die Angst in der dunklen kalten Höhlennacht bannte.
Als ein Kind wieder anfing zu weinen, setzte der Gesang wieder ein.
„Kleiner Bär,
nach Hause,
großer Bär,
nach Hause.
Nicht weinen,
nicht weinen,
nicht weh,
kein Ach,
la-li-lei-lo!”
Dann spielte eine Flöte wiederholt in einer Schleife auf- und absteigend die Melodie, beruhigend, Trost spendend. Der Ton so zart, zerbrechlich wie der dünne Knochen, aus dem sie geschnitzt war.
Tamas konnte der Versuchung nicht widerstehen und schob das Fell ein wenig zur Seite. Durch den Spalt beobachtete er die Frau, die an einer kleinen Liegestatt saß. Das Weinen hatte aufgehört. Zwei Kinder hoben die Köpfe aus den Felldecken. Sie formten die Laute nach, zuerst stumm, mit einem Lachen auf dem Gesicht. Dann summten, sangen sie mit: „Lalala lila lila-lalala.“
Summten, sangen mit, konnten gar nicht genug kriegen und forderten mit heftigen Gesten dazu auf, immer weiterzumachen, bis alle bösen Geister und Gespenster aus dem Höhlendunkel verschwunden waren.
Tamas sah den Rücken der Frau, flackernd erleuchtet vom Schein des Feuers am Eingang der Höhle. Ihr Haar schien heller als das der anderen Frauen. Sie deckte die Kinder zu, wandte sich zum Gehen. Tamas konnte sich gerade noch zurückziehen. Er war nicht sicher, ob sie ihn gesehen hatte.
Wer war sie?
In Erwartung von Jagdbeute
Als er am Morgen vor die Höhle trat, war die Kinderhüterin mit ihren Schützlingen nirgends zu sehen. Der Tag war kalt, über Nacht war Schnee gefallen. Am Feuer sortierten zwei Frauen Pflanzen und Wurzeln. Ein Mann bearbeitete mit kräftigen Schlägen eines scharfen Steins einen Ast, zwei andere brachten in einem aus einem hohlen Baumstamm gefertigten Gefäß Wasser vom Fluss herauf. Tamas fror erbärmlich, zog das Fell enger um seinen Oberkörper. Der Mann winkte ihm. Tamas winkte grüßend zurück. Der Mann forderte ihn mit schroffer Geste auf, zu ihm zu kommen.
„Emmde!“
Er will, dass ich ihm helfe, dachte Tamas. Ich verstehe diese Leute schon besser.
„Alles klar, komme schon!“
Er begriff, dass er mit anpacken sollte, einen Unterstand zu bauen. Gebogene Äste wurden mit Pflanzenfasern zusammengebunden. Es kamen noch andere Männer hinzu, die mithalfen, das Gestell aufzurichten und eine Lage Blätter und Felle darüberzudecken. Während der Arbeit redeten sie alle durcheinander. Tamas schien, als seien sie aufgeregt. Er ahnte, dass es wieder um die Beute ging. Die Laute für Mammut, Bär, Wollnashorn, Auerochse und Hirsch hatte er bereits gehört: „Kaauo! Mmut! Schrst!“
Soweit er verstehen konnte, hatten die Jäger Späher ausgesandt, um nach der erwarteten Beute Ausschau zu halten. Die Beschwörungsformel von gestern hatte geholfen!
Jemand klopfte Tamas auf die Schulter, nickte ihm zu. Anscheinend sollte das ein Lob für die Mitarbeit des fremden Gastes in ihrer Sippe sein.
Tamas wurde von Kindergeschrei und Lachen abgelenkt. Er bemerkte die Kinderhüterin, die mit den Kindern aus einem nahe gelegenen Wäldchen zurückkehrte. Die Kinder hatten Pilze, Eicheln und Nüsse gesammelt und präsentierten sie stolz den Frauen am Feuer.
Die Kinderhüterin
Tamas sah sie später auf einer Ebene im Hang mit den Kindern spielen. Er musste unbedingt wissen, wer sie war. Sie passte nicht hierher, dachte er.
Tamas tat etwas, das er sich in der echten Welt nie getraut hätte: Er ging zu dem Mädchen, sprach es an. Niemals hätte er es gewagt, die Kellerassel, der menschenscheue Eremit, der Angst vor jeder Berührung hatte. Nicht einmal seine Mutter durfte ihn umarmen, ohne dass er zurückzuckte.
„Ball haben!“, riefen die größeren Kinder.
„Ball-la-la!“, wiederholten die kleineren.
„Hallo!“, rief er, als er sich der Frau mit den Kindern näherte. Die Frau sah auf.
„Wer bist du?“, fragte sie. „Woher kommst du?“
„Ich heiße Tamas. Wie heißt du?“
Sie schwieg.
„Ich habe dich singen gehört, heute Nacht, bei den Kindern. Es war wunderschön. Ich konnte alles verstehen.“
„Ich weiß.“
„Du weißt?“
„Ich habe dich auch gesehen.“
„Sag mir doch, wer bist du?“
„Ich bin ... mich hat es hierher verschlagen.“
„Mich auch“, sagte er.
Ehe Tamas das Gespräch fortsetzen konnte, zogen die Kinder sie fort. Sie waren ungeduldig, sie wollten ihr Spiel fortsetzen. Sie hatten flache Steine in verschiedenen Farben gesammelt und warfen sie in bestimmte, auf dem Boden im Schnee markierte Felder. Sie waren erhitzt, sie lachten und freuten sich, wenn sie ihre Steine in die richtigen Felder bekommen hatten. Tamas erinnerte sich: Das war auch ein Spiel seiner Kindheit. Der Name fiel ihm nicht ein. Sollte sich etwa seit Urzeiten daran nichts geändert haben?
„Bist du eine Frau aus diesem Volk?“
„Ich gehöre so wenig zu diesem Volk wie du“, antwortete sie. „Ein Wunder, dass sie dich am Leben gelassen haben.“
„Bist du eine Spielerin? Simulation? Avatar*?“
„Ich weiß nicht, was du meinst. Mendo, was willst du?“
Sie wandte sich einem Jungen zu, der ihr einen Fellball zeigen wollte.
„Sind das deine Kinder?“
Sie lachte. „Nein. Ich bin die Hüterin der Kinder. Diese Aufgabe wurde mir von dem Alten der Sippe übertragen, denn ihre Mütter sind bei den Geburten gestorben.“
„Spiel!“, forderten die Kinder sie auf. Jedenfalls klang es für ihn so.
„Spiel!“
Schon kam der Ball geflogen.
Nenne mich Mond
Die Meute rannte wie Hunde hinter dem Fellknäuel, das sie als Ball benutzten, her. Die einzige Regel schien zu sein, dass jedes Kind versuchte, den Ball möglichst lange bei sich zu behalten, bevor er ihm abgenommen wurde. Nach einigen Minuten bildeten sich zwei Parteien mit zwei Spielführern, denen immer dann der Ball zugeworfen wurde, wenn es brenzlig wurde. Ein Spielführer war Tamas, der andere die Kinderhüterin. Das Spiel wurde wilder, das Gerangel heftiger. Sie warfen den Ball, mit einer Hand, mit beiden. Sie traten nach ihm. Die Gegner versuchten, einander wegzudrücken, manchmal auch zwei gegen einen oder mehrere. Es wurde aber nicht aggressiv. Jeder achtete darauf, dem Mitspieler nicht wehzutun. Wie eine ganz frühe Variante des Rugby-Spiels, dachte Tamas. Jedes Mal wenn die Erwachsenen den Ball hatten, forderten die Kinder sie lautstark auf, ihn wieder ins Feld zu werfen.
„Ich kann nicht mehr“, stöhnte Tamas und ließ sich platt auf den Boden fallen. Er schnappte nach Luft.
„Was, du wirst doch wohl nicht schlappmachen“, sagte die Kinderhüterin und half ihm wieder auf die Beine.
„Ich weiß immer noch nicht, wie du heißt,“ sagte er.
„Nenne mich Mond.“
„Mond?“
„Einfach Mond.“
Später saßen sie auf einem Stein an der Felswand. Die Kinder spielten weiter mit dem Ball. Ihre leidenschaftlichen Schreie hallten von der Felswand wider.
„Miamd!“
„Chchaau!“
„Alei! Alei!“
„Welche Freude sie am Spiel haben!“, sagte das Mädchen.
„Ich hätte nie gedacht, dass sie hier Ball spielen oder so“, meinte Tamas.
„Warum denn nicht?“ Sie sah ihn verwundert an.
„Ich meine nur, so früh in der Geschichte ... Ach, ich rede Unsinn.“
„Das sind keine blöden Affen, wenn du das meinst. Ich bin schon eine Weile bei ihnen. Ich kenne diese Menschen. Sie denken, sie sprechen, sie arbeiten, sie machen Kunst, wie du hier siehst.“
Sie zeigte auf ihre Kette. „Sie spielen und die Kinder lernen dabei wie alle Kinder zu allen Zeiten. Sie haben Spaß, das stärkt ihre Intelligenz und ihre Gesundheit und hilft ihnen beim Überleben. Oh!“
Das Mädchen griff sich an den Kopf.
„Was ist?“
Ihr Bild verschwamm. Wurde unscharf. Oder kam es Tamas nur so vor? Er hatte es bei den Spielen schon erlebt, dass Avatare sich verändern, durchsichtig werden, als hätte der Designer Fehler und Täuschungen eingebaut. Als träte auf ein bestimmtes Signal eine gewisse Flüchtigkeit ein. So wie jetzt hier.
„Was ist los mit dir, Mond?“
„Mach dir keine Sorgen. Alles in Ordnung. Ich muss aber weiter.“
Ihre Stimme wurde leiser.
„Ich muss ... So lange schon unterwegs ... eine Million Jahre, ich bin gewandert, weit, weit ... nun muss ich fort ...“
„Das gibt’s doch nicht! Wohin denn?“
„Weit zurück ... Neues Kapitel ...“
„Im Spiel?“
„Eine Million Jahre ... Große Wanderung ...“
„Seh ich dich wieder, Mond?“
„Ja ... komme ... Wenn du willst ...“