Der Letzte der Edomiter - Wolfgang Hering - E-Book

Der Letzte der Edomiter E-Book

Wolfgang Hering

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Beschreibung

Das Buch ist ein historischer Roman über das Verhältnis der beiden Zwillingbrüder Jakob und Esau in 1000-jähriger Geschichte. Die Rahmenhandlung spielt im Jahr 70, dem Jahr der Zerstörung Jerusalems durch die Römer. Es begegnen sich der jüdische General und Schriftsteller Flavius Josephus und der letzte Nachfahre des biblischen Esau, später Edom genannt. Die Gespräche der beiden Männer kreisen um die spannungsgeladene Geschichte ihrer beiden Völker, Juden und Edomiter. Eine Liebesgeschichte zwischen Josephus und der schönen Tochter des letzten Edomiters gibt dem Roman die nötige Würze.

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Seitenzahl: 279

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Inhalt

Prolog

Betrug im Hause Jakob

Fremde Weiber

Misstrauische Brüder

Die Wege trennen sich

Hebräer in die Wüste!

Verflucht sei Israel!

„Nicht noch einmal!“

„Wir werrden sie ausrrotten!“

Einschub: Im siebenten Himmel

Juda verrecke!

Ein Funken Hoffnung

Man kann nicht alles haben

Epilog

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

„Wohl dem Volk,

dessen Gott der HERR ist,

der Nation,

die ER sich zum Erbteil erwählt hat.“

(Ps 22,12)

Prolog

B ei meiner Arbeit an „Geschwisterzoff“ wurde mir deutlich, dass die Geschwisterprobleme bei der Geburt des Volkes Israel eine sowohl tragende als auch tragische Rolle spielten. War es im Hause Abrahams der Rauswurf des erstgeborenen Ismael, so im Hause Isaaks die Überrumpelung und Verdrängung des erstgeborenen Esau. Doch während Ismael eine weitreichende Segensverheißung bekam, bettelte Esau vergeblich um einen Segen. Dass sich die Segensverheißung für Ismael erfüllt hat, ist vor unser aller Augen deutlich mit dem starken Volk der Araber und dem aus ihm hervorgegangenen Islam. Was aber wurde aus Esau, dem Enkel Abrahams?

Dieser Frage gehe ich in dem vorliegenden Büchlein nach. Da Esau nicht nach Amerika auswandern konnte – das war leider noch nicht entdeckt – blieb ihm nichts weiter übrig, als sich ein Plätzchen zu suchen, das noch übrig war zwischen Ägypten im Süden, den Ismaeliten im Osten und dem Haus Jakob im Nordwesten. Wer sich nicht nur zurückgesetzt fühlt, sondern in jeder Weise vom Segen ausgeschlossen ist, muss nicht nur sehen, wie er überlebt, sondern wird auch auf die Chance warten, es dem Bruder heimzuzahlen. Es ist doch ganz menschlich, dass solche Zurücksetzung oder Verwerfung trotzige und dunkle Gefühle weckt, die nicht nur von Einzelpersonen bis zum Tod, nicht nur von Familien bis in die dritte oder vierte Generation, sondern von Völkern über Jahrhunderte bewahrt werden. So war es auch bei Edom, dem Volk, das aus Esau hervorging. Seine Begegnungen mit dem ungeliebten Brudervolk der Juden machen das nur allzu deutlich.

Als Quellen bin ich den biblischen Spuren gefolgt und den Antiquitates von Flavius Josephus. Der Hauptunterschied zwischen beiden Quellen ist, dass Josephus nicht von Edom, sondern ausschließlich von Idumäa spricht, wie es zu seinen Zeiten der politischen Realität seit Jahrhunderten entsprach und unter griechischem Einfluss seit langem üblich war. In der Bibel kommt der Begriff Idumäa hingegen nur einmal vor, nämlich im Markusevangelium (Mk 3,8). Hier erscheint es als eines der Völker, mit denen die Juden unter römischer Oberhoheit in einem gewissen Austausch ringsum lebten. Ansonsten und speziell in der hebräischen Bibel, die wir Christen Altes Testament nennen, wird nur von Edom und den Edomitern gesprochen.

Spezielle Kenntnisse über Flavius Josephus und örtliche oder zeitliche Besonderheiten der alten Geschichte habe ich digitalen Angeboten entnommen. Wer da etwas zu korrigieren oder zu ergänzen weiß, teile es mir bitte mit.

Die historischen Fakten werden von mir wieder als Geschichten aus der Geschichte der beiden Brudervölker erzählt, umrahmt von einer Liebesgeschichte zwischen Flavius Josephus und der Tochter des Letzten der Edomiter im Jahr 70, dem Jahr der Zerstörung des jüdischen Tempels und der Stadt Jerusalem. Die Diskussion darüber, ob die Juden auch diese Katastrophe wieder überleben werden, so, wie es in den mehr als tausend Jahren zuvor zum Leidwesen und zur Verwunderung der Edomiter immer wieder geschehen war, wirft die Frage auf: Sind die Juden gar nicht tot zu kriegen? Und warum nicht?

1. Betrug im Hause Jakob (nach Gen 26/27)

E in apokalyptischer Schauder lag über dem Land in diesem Spätherbst des Jahres 70. Die vom Meer heran getriebenen Wolken hingen tief, als wollten sie alles gnädig einhüllen, was unter ihnen geschehen war. Und es war Schreckliches geschehen. Hunderttausende waren verhungert, erstochen, zerstückelt, verbrannt, ermordet und auf vielerlei andere Weise ums Leben gekommen. Die stolze Stadt Jerusalem war zum großen Friedhof geworden. Und wie nach einer Beerdigung war den Überlebenden zumute. Die einen verfielen in tiefe Traurigkeit, die anderen verfeierten das Erbe. Betroffen waren sie noch immer, auch die beiden Männer, die gerade vom Ölberg auf die Trümmer der Stadt hinabgeschaut hatten. Jetzt saßen sie vor der Hütte des Alten.

Aus seinem zerfurchten Gesicht schauten schwarze Augen in die Ferne, wie, um Dinge, die längst am Horizont der Weltgeschichte untergegangen waren, wiederzufinden. Mit seinen leicht ergrauten und doch immer noch rötlich schimmernden Haaren spielte ein leichter Abendwind. Ebensolche Haare bedeckten auch fast wie ein Pelz seine Brust, soweit sein Kittel sie freigab und seine sehnigen Arme und Hände, mit denen er sich auf den Tisch stützte. Fast unbeweglich saß er eine Zeitlang da, wie ein versteinertes Relikt aus vergangenen Zeiten.

„Adamah“, rief er dann, wie aus einem Traum erwachend, in Richtung Hütte, wo die Tür offenstand, „bring uns doch bitte etwas zu trinken. Wir haben einen Gast.“

„Jaa. Gleich“, tönte eine glockenhelle Stimme von drinnen zurück.

„Falls euch also etwas einfällt, lasst es mich wissen“, sagte sein Gegenüber, ein vornehmer Römer. Oder Jude? Sie waren sich soeben zufällig begegnet, hatten sich, rückwärtsgewandt, fast gegenseitig umgestoßen und dann am Tisch vor der Hütte des Alten Platz genommen. Auf die Frage, was der vornehme Gast in dieser verlorenen Gegend suche, hatte der geantwortet, er suche alte Geschichten von alten Völkern.

„So, bitte die Herren, hier eine Erfrischung und ein Fladenbrot.“

Adamah entpuppte sich als eine hübsche junge Frau von vielleicht siebzehn Jahren. Kluge Augen in einem fein geschnittenen Gesicht, nach hinten gebundene schwarze Haare, unter dem einfachen Kittel eine ebenmäßige Gestalt mit anmutigen Bewegungen. Seine Tochter oder Geliebte?

„Adamah, meine Tochter“, stellte der Alte auf den fragenden Blick seines Gastes hin klar.

„Ich danke dir, mein Täubchen. Und da uns das Schicksal hier so unvermutet zusammen geführt hat, darf ich mich zuerst mal vorstellen: „ Mein Name ist Esau Bar-Qoz. Esau war der Urvater meines Volkes genau wie sein Bruder Jakob der Urvater der Juden da unten war und…“

„Verzeihung, wenn ich Euch unterbreche: Ich bin Flavius Josephus, gebürtiger Jude mit römischer Staatsbürgerschaft und…“

„Etwa der General Josephus, der Galiläa gegen die Römer verteidigt und dann die Seiten gewechselt hat? Dieser Überläufer? Oder gar Verräter?“

Der Blick des Alten wurde schärfer, als wollte er Josephus noch nachträglich durchbohren.

„Mir kann es ja egal sein“, fuhr er fort, „ich bin weder Jude noch Römer. Ich bin Edomiter oder, wie uns die Griechen etwas eleganter aussprechen: Idumäer. Ist ja auch egal. Ich bin sowieso der Letzte. Ich bin übrig, als einziger. Von einem Volk, das über tausend Jahre in dieser Gegend gelebt hat. Das hat aber jetzt nichts mit dem Krieg da unten zu tun“, er zeigte auf die Trümmer von Jerusalem. „Unser Volk hat da nicht mitgekämpft. Unser Volk gibt es nämlich schon lange nicht mehr. Wie gesagt, ich bin der Letzte. Und eigentlich habe ich mich gefreut, dass es mit den Juden nun endgültig aus ist. Ich bin bis vor auf den Kamm des Ölbergs gegangen und habe von oben zugeschaut wie die Römer sie von Woche zu Woche mehr eingeschnürt und sie schließlich auf ihrem Tempelberg ausgeräuchert haben. Diese Juden! Wir haben sie gehasst. Wir, die Edomiter. Aber dann habe ich mich geschämt über meinen Hass und meine Schadenfreude. Warum? Davon später. Aber ich weiß auch, dass von den Juden da unten noch viele übrig sind, wenn auch verstreut über die ganze Welt. Von den Juden bleiben immer welche übrig. Merkwürdig. Wir Edomiter wissen das nur zu gut. Aber das ist eine lange Geschichte.“

„Diese Geschichte interessiert mich“, unterbrach ihn nun der ehemalige jüdische General und jetzige vornehme Römer, „ich bin kein Militär mehr, sondern widme mich der Historie und Schriftstellerei. Über die Geschichte der Juden und diesen ihren wahrscheinlich letzten großen Krieg schreibe ich gerade ein Buch. Aber mich interessieren auch die anderen Völker dieser Gegend, die, die es noch gibt und die, die untergegangen sind, wie zum Beispiel die Edomiter. Wenn Ihr darüber etwas wisst oder gar Material habt, bitte ich euch, mir zu erzählen oder mir Material zu überlassen. Ich sammle alles, auch wenn ich noch nicht weiß, was ich daraus machen werde. Schriftstellerische Freiheit eben.“

Er lachte.

„Übrigens, ob ich ein Verräter war oder nicht, mögen andere beurteilen. Ich habe jedenfalls eingesehen, dass der jüdische Aufstand und seine Motive falsch waren. Und habe noch versucht, Jerusalem vor dem Untergang zu retten. Aber sie haben mich nur geschmäht und mir den Tod an den Hals gewünscht. Nun gibt es hier kein jüdisches Volk mehr, nur noch Reste, und kein heiliges Jerusalem, weil keinen Tempel mehr. Es war das Ende. Ein Ende mit Schrecken. Und doch wert, aufgeschrieben zu werden zum Nutzen und Gedächtnis der Nachwelt. Das da unten war eine einzige riesige Tragödie“, er machte eine große Handbewegung über das zerstörte Jerusalem, das von den tief hängenden Wolken wie unter einem Leichentuch fast nicht zu sehen war. „Aber vielleicht lernt ja die Nachwelt etwas daraus.“

„Das bezweifle ich“, ergriff der Alte wieder das Wort, „die Umstände mögen sich ändern, aber die Fehler, die ganze Völker oder einzelne Menschen machen, wiederholen sich, wenn nicht bei den Kindern, dann bei den Urenkeln. Aber ich will euren Optimismus nicht bremsen. Schreibt nur alles auf. Auch von uns Edomitern. Also: Esau war unser Urahn, später Edom geheißen. Qoz aber war unser Gott. Ob er identisch war mit Jahwe, dem Gott der Juden, weiß ich nicht. Mein ganzer Name bedeutet also Esau, Sohn des Qoz. Na ja, ein Göttersohn bin ich nicht gerade, weder berühmt, noch reich, noch habe ich göttliche Macht bewiesen. Und Qoz spielt in meinem Leben keine Rolle mehr.“

„Die Götterfrage lassen wir am besten mal weg“, unterbrach ihn Josephus, „da soll jeder für sich entscheiden. Das ist jedenfalls meine Meinung. Was mich aber sehr interessiert: Könntet Ihr mir erklären, was zum Untergang eures Volkes geführt hat?“

„Ja, das ist mir völlig klar. Es ist der ewige Hang zu einer gewissen Bequemlichkeit beziehungsweise Dämlichkeit. Der Hang zur Anpassung. Die Juden sind das genaue Gegenteil. Sie können sich nie anpassen. Immer müssen sie aus der Reihe tanzen. Bis hin zu diesem aberwitzigen Aufstand gegen die Weltmacht der Römer. Wir hätten nie einen Aufstand gemacht. Das liegt nicht in unsrer Natur. Wir passen uns an. Schon von Anfang an.“

Eine Weile drehte sich das Gespräch nun um diesen ‚aberwitzigen Aufstand‘, zu dem der ehemalige General einiges an Details beizutragen wusste, hatte er doch alles aus nächster Nähe und aus dem Mund und mit den Augen des römischen Oberbefehlshabers miterlebt.

Dann ging es um Fragen der Deutung des ganzen Geschehens und um die Beteiligten, zum Beispiel auch um die Idumäer, die sich bei den Juden mit besonderem Eifer im Kampf hervorgetan hatten.

„Die waren mal Edomiter“, sagte der Alte traurig, „aber das ist lange her.“

„Das interessiert mich aber ganz besonders. Alles, was lange her ist, interessiert mich. Und ich habe den Eindruck, Ihr wisst noch einiges. Wollt Ihr mir also helfen, auch die Geschichte der Edomiter vor dem Vergessen zu bewahren?“

Der Alte nickte:

„Aber nicht mehr heute. Kommt morgen wieder. Ja? Schalom.“

Auch Adamah, die eben den Tisch abräumte, verabschiedete den Gast mit einem gewinnenden Lächeln: „Kommt gut nach Hause. Schalom.“

„Danke. Danke auch für eure Gastfreundschaft. Ich komme gerne wieder. Schalom.“

Ich bin wieder einmal ein Glückspilz, dachte der jüdische Römer. Da treffe ich durch die Gunst der Götter diesen alten Mann, der offenbar ganz gebildet ist und mir über sein Volk bestimmt wichtiges Material mündlich oder sogar schriftlich zur Verfügung stellen kann. Und dazu gleich noch seine liebliche Tochter. Gut gelaunt machte er sich auf den Heimweg.

Am nächsten Nachmittag trafen sie sich wieder vor der ärmlichen Hütte. Heute schien die Sonne durch größere Wolkenlücken auf die einfache Behausung, die umgeben war von vielen Olivenbäumen, die jetzt im Herbst reichlich Frucht trugen. Auf dem Tisch vor der Hütte, der so voller Flecken war, dass man sonst die Mahlzeiten von Jahrhunderten meinte identifizieren zu können, auch wenn er sauber abgewischt war, lag heute eine einfache Leinendecke. Schon von ferne hatte Flavius Josephus nämlich Adamah gesehen, wie sie emsig am Tisch hantierte und dann einen Krug und dazugehörige Trinkgefäße auf den Tisch stellte. Der Alte war nicht zu sehen.

„Schalom!“, rief Josephus, „immer fleißig?“

Adamah wandte sich ihm zu, sah ihn mit ihren fröhlichen Augen an und sagte mit ihrer glockenreinen Stimme: „Seid willkommen bei unserer armen Hütte. Nur selten haben wir hier Gäste und solch edle und gebildete Gäste wie Euch schon gar nicht. Da freut sich mein Vater. Und ich auch.“

Dabei strahlte sie ihn mit der ihr eigenen Unbefangenheit an.

Gern hätte er mit ihr das Gespräch noch eine Weile fortgesetzt, aber der Alte trat aus der Tür.

„Schalom und willkommen im Hause Esau Bar-Qoz.“

Dabei streckte er dem Gast beide Hände entgegen und bat ihn, mit ihm Platz zu nehmen.

„Gebratenes können wir unserm Gast leider nicht anbieten, aber du findest bestimmt noch ein paar Kleinigkeiten, nicht wahr, mein Täubchen?“

Adamah eilte in die Hütte und Josephus war es, als würde sie schweben. So leicht war ihr Gang.

„Ich denke“, unterbrach der Alte die Blicke und Gedanken seines Gastes, „Ihr werdet wissen wollen, wie alles anfing mit uns und den Juden, ja?“

„Natürlich. Erzählt ganz von vorn. Erst wenn man die Anfänge kennt, versteht man auch das, was folgt. Ich bin gespannt.“

Adamah schwebte noch einmal heran und brachte auf einer Holzscheibe ein wenig Oliven, Datteln und Feigen. Und schwebte wieder davon.

„Na gut. Es fing so an.“

Heute hatte er kein Glück gehabt. Obwohl Esau schon seit Sonnenaufgang unterwegs war, lange bevor die anderen im Haus aufstanden, hatte er bis jetzt noch kein Wild geschossen. Die Sonne hatte ihren Zenit schon weit überschritten, er aber saß hungrig und missmutig im Schatten einer kleinen Eiche. Dabei hätte er fasst einen Steinbock erwischt. Es war ein stattliches Tier gewesen und stand vor ihm am Hang wie eine Schießscheibe. Der Bock wartete förmlich auf den Pfeil. Jawohl. Doch als er den Bogen spannte, löste sich ein Stein unter seinem linken Fuß. Aufgeschreckt von diesem Geräusch sprang der Bock im selben Augenblick, als der Pfeil losschnellte, davon. Den Pfeil hatte er wieder eingesammelt, aber von diesem oder einem anderen Bock war nichts mehr zu sehen. Nicht einmal einen kleinen Hasen hatte er erwischt, um sich ein Stück Fleisch zu braten. Da er im Vertrauen auf sein Jagdglück auch kein Brot eingepackt hatte, knurrte ihm jetzt mächtig der Magen. Gewiss, die Natur um ihn herum war schön. Er liebte die Wildnis, die Tiere, die urigen Pflanzen, jeden Schmetterling, die Schatten auf den Bergen. Jawohl. Aber was nutzt einem die ganze Schönheit, wenn man mitten in der Schönheit verhungert? Er hatte ein paar wilde Beeren naschen können. Aber sag, was ist das für einen fast zwanzigjährigen Mann?

So schaute er und schaute und döste vor sich hin.

Manchmal geht eben alles schief, sinnierte er an seinem Schattenplatz. Dabei machte ihm die Jagd große Freude, nicht nur wegen des Erfolges und des Bratens, sondern auch wegen dieses Herumstreifens. Jawohl. Das war ihm der Inbegriff der Freiheit. Gern beobachtete er alles, was sich draußen regte und bewegte. Ganz im Gegensatz zu seinem Bruder Jakob, der sich lieber bei den häuslichen Zelten aufhielt, jawohl, bei den Haustieren, den Schafen und Ziegen und bei Mutter Rebecca. Die hatte einen Narren an ihrem Jakob gefressen. Von klein auf. Weil er so brav und sauber war. Er wusch sich immer die Hände und stellte die schmutzigen Sandalen ab, wenn er eintrat. Das gefiel ihr. Jawohl. Er half ihr auch beim Saubermachen und schaffte Ordnung in den Stallungen. Und er war interessiert an den Geschichten aus früherer Zeit, interessiert auch an den Erlebnissen und Erfahrungen, die Vater und Großvater mit dem Gott der Familie gemacht hatten. Mutter Rebecca war stolz auf ihn.

Mit ihm, Esau, aber hatte sie dauernd etwas zu meckern. Na ja, er war eben Vaters Sohn. Der freute sich immer mächtig, wenn er ihm ein Wildbret brachte, frisch geschossen und so zubereitet, wie es Vater am besten schmeckte. Dann umarmte und lobte ihn Vater Isaak. Jawohl. Tut mir leid, Vater, heute habe ich nichts. Ich habe alles versucht. Aber es sollte heute nicht sein. Stolz ist er auf mich, dachte Esau, ich will ihm auch immer Ehre machen. Und wenn wir auch Zwillinge sind, so bin ich doch der Erbe, denn ich wurde als erster geboren. Jawohl. Und Jakob soll sich bloß nicht immer so wichtig und schlau vorkommen.

Komisch, wie unterschiedlich Zwillinge sein können. Manche Zwillingspaare, die ich kenne, ähnelten sich wie ein Ei dem anderen, im Aussehen und auch im Verhalten, bei ihnen beiden aber gab es keinerlei Ähnlichkeit, weder in ihren Interessen, noch in ihrem Aussehen. Jawohl. Während er, Esau, ein Kraftprotz war mit dichter rötlicher Behaarung, war Jakob ein schlanker Kerl, auch sportlich, aber zierlich und mit feiner weicher Haut. Er konnte sogar gut und abwechslungsreich kochen, nicht nur braten. Ach, essen! Los alter Knabe, auf nach Hause, sonst verhunger ich hier noch. Jawohl.

Als er nach einem weiteren zweistündigen Marsch endlich bei den heimatlichen Hütten anlangte, war er mit seinen Kräften am Ende.

„Hallo, Jakob“, rief er schon von ferne, als er seines Bruders ansichtig wurde.

„Hallo, Esau“, rief der ihm entgegen und langte, vor einer großen Schüssel sitzend, kräftig zu.

„Was ist das rote Zeug, das du hier isst?“ fragte Esau, als er endlich herangekommen war. „Was hast du da wieder einmal zusammengekocht?“

„Das ist ein Linsengericht. Schmeckt hervorragend, sage ich dir. Soll ich dir mal erzählen, was ich alles für Gewürze rangemacht habe, ja? Also…“

„Nein, lass man. Ich habe Kohldampf. Jawohl. Ich esse jetzt alles, was du mir anbietest. Und du kochst immer schmackhaft. Das weiß ich. Jawohl. Also gib mir bitte von dem Essen ab, sonst sterbe ich vor Hunger.“

„Mein lieber Bruder, der große Jäger, ist am Verhungern, na, sieh mal an. Was gibst du mir für einen Teller dieses schönen Linsengerichtes? Braten hast du ja keinen mitgebracht. Also was bietest du? Deinen schönen Bogen da?“

„Den brauche ich selber. Jawohl. Und jetzt hör auf mit dem Gequatsche und reich mir die Schüssel rüber.“

„Nicht doch, Bruder“, Jakob zog die Schüssel enger an sich, „ich mach dir einen Vorschlag. Tanz für mich. Wie wäre es mit dem Tanz der Völker? Da kannst du immer so schön in die Hocke gehen. Na?“

„Hör bloß auf. Ich bin fix und fertig. Ja. Ich käme aus der Hocke nicht mehr hoch. Ich brauche was zu essen. Und zwar sofort. Jawohl.“

Esau versuchte wieder an die Schüssel ranzukommen, aus der es so verlockend dampfte und duftete.

„Stopp“, Jakob fixierte seinen Bruder jetzt mit zusammengekniffenen Augen. „Ich habe noch einen besseren Vorschlag. Du überlässt mir dein Erstgeburtsrecht. Du weißt ja, was uns unsere Eltern immer erzählt haben: Wir sind zwar Zwillinge, aber du hast zuerst das Licht der Welt erblickt. Doch eigentlich wollte ich zuerst raus aus der Mutter und habe dich an der Ferse fest gehalten. Deshalb gaben sie mir den Namen Jakob, was bedeutet Fersenhalter. Du hast dich gewissermaßen vorgedrängelt. Was meinst du: wollen wir das jetzt nicht berichtigen? Sieh mal, das schöne Linsengericht!“

Jakob lachte ein merkwürdiges Lachen mit seinen zusammengekniffenen Augen.

Esau aber zog die Stirne kraus. Erstgeburtsrecht? Ich pfeif drauf. Ich will auch gar nicht den ganzen Laden hier übernehmen. Ich will meine Freiheit. Ich mach mein eigenes Ding. Ein Pflichterbe kriege ich sowieso. Ja. Jetzt aber will ich unbedingt was fressen. Laut jedoch sagte er:

„Einverstanden. Jawohl. Ich vermache dir mein Erstgeburtsrecht. Du aber schieb mir jetzt schnellstens das Essen rüber. Jawohl!?“

„Schwörst du?“

„Ich schwöre bei meinem Vater Isaak und bei meinem Großvater Abraham. Jawohl.“

„Na also, dann sind wir uns ja einig.“

Jakob schob seinem Bruder die Schüssel rüber, ging in die Hütte, suchte und fand ein Stück Ziegenleder, worauf er schrieb „Ich überlasse Jakob das Recht des Erstgeborenen.“.

„Unterschreib hier mit deinem Namen. Hier.“

Esau legte kurz den Löffel weg, unterschrieb, aß weiter und stillte mit großen Zügen seinen Durst. Das tat gut. Mit vollem Magen war man doch gleich wieder ein anderer Mensch. Scheiß auf das Erstgeburtsrecht. Jawohl. Und jetzt werde ich mich aufs Ohr hauen.

„Ja, so fing das alles an. Mit einem Linsengericht! Und was ist daraus geworden? Erstens wurde aus Esau der Edom, der Rote, wegen der roten Linsen, wegen der roten Behaarung und so weiter. Hier“, er streifte seinen Ärmel hoch, „der Beweis, dass ich auch ein Roter bin, ein Edomiter. Als Verstärkung des Namens kam nachher noch der rote Sandstein hinzu, der unsere spätere Heimaterde prägte. Die zweite Folge war, und das war sehr viel gravierender, eine lebenslange Zwietracht zwischen den Brüdern und für ewig Spannung, Misstrauen, Kampf und Hegemoniestreben zwischen den beiden Völkern, die aus ihnen hervorgegangen sind.“

Er nickte bedächtig mit dem Kopf, als wollte er unterstreichen, dass aus kleinen Ursachen große Wirkungen folgen können, besonders in Familien.

„Wisst Ihr, ich habe lange darüber nachgedacht, wer nun eigentlich schuld war. Natürlich kann man auf den ersten Blick sagen: Jakob. Der hätte doch seinem hungrigen Bruder in brüderlicher Weise das Essen reichen können und alles wäre gut. Hat er aber nicht. War Jakob also der Böse? Es sieht so aus. Und doch könnte es sein, dass er von seinem Gott oder vom Schicksal oder von wem auch immer dazu bestimmt war, Esau auf die Probe zu stellen. Nämlich, ob der würdig war, als Erstgeborener das Erbe der Väter zu übernehmen und damit den Chefposten im Hause Jakob beziehungsweise auf den Großvater bezogen, im Hause Abrahams. War er würdig? Ich bin zu dem Schluss gekommen: Nein, er hatte nicht das Zeug für einen solchen Führungsposten. Er hatte weder die Courage, seinen Hunger zu bändigen und sich selbst etwas zuzubereiten noch den Weitblick, welche Folgen sein Verhalten haben würde. Er blickte nur auf das Naheliegende, das Essen. Wie das liebe Vieh, das den Klee vor der Nase sieht. Also wer war schuld?“

Der Alte schaute sich um, als wenn er von irgendwo eine Antwort erwartete. Josephus aber schwieg. Er schaute, ob Adamah irgendwo zu sehen war.

„Ich bin zu dem Schluss gekommen: Esau hat alles versaut. Da war er schon, dieser Hang zur Bequemlichkeit, dieser Hang, sich an die Umstände anzupassen, dieser Hang, lieber den Spatzen in der Hand zu haben als auf die Taube auf dem Dach zu warten. Sich begnügen mit dem, was einem gegeben wurde und nicht kämpfen um Dinge, die man wahrscheinlich sowieso nicht kriegen konnte. Da kam er nach Vater Isaak. Der war auch kein Kämpfer. Der war zufrieden mit dem, was ihm durch höhere Fügung zufiel. Angefangen bei seiner Frau Rebecca, die aus fernem Land extra für ihn geholt wurde. So war es nachher auch mit allem Hab und Gut. Jedem Kampf ging er aus dem Weg. Und wenn die Brunnen von fremden Neidern zugeschüttet waren, ließ er eben neue Brunnen graben, solange, bis er Ruhe hatte. Genauso war Esau. Es lag eben in seiner Natur. Hauptsache: seine Ruhe haben. Und nachher lag es in der Natur unseres Volkes.“

„Und deshalb ist das Volk der Edomiter untergegangen?“

„Na ja, sagen wir so: durch bestimmte politische Entwicklungen und Konstellationen bedingt, wurde aus dem Hang der Anpassung am Ende eine Assimilation in die Kultur anderer Völker, was letztlich den Untergang des eigenen Volkes beschleunigte. Edom ist ja nie ausgerottet worden, nicht im Kampf untergegangen wie jetzt die Juden, es löste sich einfach in anderen Völkern auf. Punkt. Es war der Weg des geringsten Widerstandes. Aber bis dahin war ein langer Weg und ich muss zum besseren Verständnis noch manche Geschichte auf diesem Weg erzählen. Der Weg dauerte nämlich mehr als tausend Jahre. Aber jeder Weg hat mal ein Ende. Jetzt ist das Ende gekommen. Ich bin der Letzte der Edomiter.“

Der Alte blickte wieder wehmütig in die Ferne. Wo war sein Volk geblieben? Seine Geschichte? Seine Schönheit? Seine Gutmütigkeit? Seine Tragik? Alles Staub und Asche. Nur noch Erinnerung. In seinem Kopf, dem einzigen, der noch übrig ist. Auch der wird bald Staub und Asche werden.

„Ich verstehe, dass euch sehr wehmütig zumute sein muss. Aber eure Geschichte interessiert mich. Vielleicht kann ich dazu beitragen, dass sie nicht ganz verloren geht. Mir schwebt nämlich vor, wenn ich das Buch über den jüdischen Krieg vollendet habe, noch ein Buch über die Vorgeschichte und die alten Völker dieses Landes zu schreiben. Deshalb möchte ich Euch inständig bitten, mir so viel zu berichten, wie Euch möglich ist. Habt Ihr vielleicht auch alte Schriften?“

„Ein einziges altes Pergament. Man kann die Schrift kaum noch lesen. Es muss uralt sein. Mein Vater übergab es mir in einem Tonkrug, kurz bevor er starb. Und er diktierte mir noch alles, was er von unserer Geschichte wusste. So, als wollte er auf diese Weise das Überleben unseres Volkes sichern. Jedenfalls wird da noch manches dabei sein, was für Euch wahrscheinlich neu ist.“

„Ich bin gespannt. Übrigens kenne ich die Geschichte vom Linsengericht natürlich aus dem Tanach, dem heiligen jüdischen Buch. Aber es hat mich gefreut, die Sache aus edomitischer Sicht zu hören. Auch Eure Schlussfolgerungen im Blick auf den Verlauf der Geschichte und das Ende Edoms finde ich sehr interessant.“

„Na klar, als Jude müsst Ihr das ja alles auch kennen. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Sicherlich auch die andere Geschichte von dem Betrug beim Segen?“

„Auch die kenne ich. Aber ich würde sie sehr gern noch einmal aus Eurem Munde hören, also von der Gegenseite. Wollt Ihr sie noch erzählen, wie sie bei euch überliefert ist?“

„Gut.“

Vater Isaak war alt und gebrechlich geworden und – blind. Und weil er sich auf das Sterben vorbereiten wollte – was sich dann freilich noch eine Weile hinzog – ließ er Esau rufen und die Tür schließen, damit er mit seinem Erstgeborenen allein sei. Rebecca aber lauschte draußen an der Tür. Weibliche Neugier eben – und Ärger, dass sie ausgeschlossen wurde von einem offenbar sehr wichtigen Gespräch.

„Esau, du weißt, dass du mir immer sehr lieb warst und noch bist. Sieh, ich werde alt und bin blind und muss mich auf das Sterben vorbereiten, wie es der Gang allen menschlichen Lebens ist. Und da ich weiß, dass du in einer schwachen Stunde vor vielen Jahren eine große Dummheit begangen hast, als du für ein Linsengericht dein Erstgeburtsrecht an Jakob verkauft hast, so möchte ich, dass du nicht leer ausgehst. Du sollst meinen Segen haben, das Größte, was ich im Namen des Gottes meines Vaters Abraham weitergeben kann. Ich will den Segen an Dich weitergeben. Dann wirst du, wenn auch nicht der Haupterbe meiner materiellen Güter, so doch der einzige Erbe des geistlichen Reichtums sein, den unser Gott einst Vater Abrahams Nachkommen versprochen hat. Das ist mehr als alle Schafe und Ziegen und ein Schatz für alle folgenden Generationen. Du sollst der Segensträger sein wie ich es auch durch himmlische Fügung war und bin. Und ich lege dir ans Herz, Jakob nicht immer nachzugeben, sondern dich gegen ihn zu behaupten. Aber durch den Segen wirst du da auch stark sein, natürlich in aller Brüderlichkeit und in allem Frieden.

Aber nun geh und jage mir ein Stück Wild, bereite es zu und dann komm, damit ich es esse. Danach will ich dich segnen und kann beruhigt sterben, wenn es soweit ist. Hast du alles verstanden?“

„Aber ja, Vater, möge der Himmel mir ein schönes Stück Wild schicken. Jawohl. Das will ich so zubereiten, wie du es immer gern magst. Jawohl. Ich weiß schon. Du kannst dich auf mich verlassen. Schalom, Vater.“

„Schalom, mein Sohn. Ich warte auf dich. Schalom.“

Mutter Rebecca hatte alles mit angehört und war dann schnell im dunklen Nebenraum verschwunden. Esau hatte sie nicht bemerkt und eilte, um Vaters Wünsche zu erfüllen. Rebecca aber eilte auch, suchte ihren Sohn Jakob und fand ihn alsbald, wie er den Ziegenstall ausmistete.

„Jakob!“

„Ja, Mutter?“

„Komm ins Haus. Ich muss unbedingt mit dir reden. Es ist dringend.“

„Gleich, ich will nur noch diese Karre rausbringen.“

„Beeile dich bitte.“

Als Jakob mit gewaschenen Händen und ohne Schuhe das Haus betritt, zieht ihn seine Mutter schnell in ihr Zimmer und redet beschwörend auf ihn ein.

„Jakob, heute fällt die Entscheidung über deine Zukunft. Ich habe vorhin ein Gespräch zwischen Vater und Esau mit angehört. Vater hat Esau zur Jagd geschickt, damit er ihm ein Wild erlegt und zubereitet. Das war ja schon öfters so, wie du weißt, und ist auch in Ordnung. Nur dass Vater diesmal auch Esau etwas geben will, nämlich den himmlischen Nachkommen-Segen. Der ist wichtiger als das Erstgeburtsrecht. Denn wer den Segen hat, steht unter dem Schutz unseres Gottes. Ich möchte, dass du den Segen empfängst, denn vor eurer Geburt wurde mir prophezeit, dass der Ältere dem Jüngeren dienen soll. Diese Prophetie kann nur in Erfüllung gehen, wenn du den Segen empfängst. Hast du verstanden?“

„Ja, schon. Aber wie soll das gehen? Vater wird darauf bestehen, dass der Erstgeborene, wenn schon nicht das Vermögen, so doch den Segen empfängt. Da wirst auch du ihn nicht davon abbringen.“

„Ich weiß. Deshalb machen wir es anders. Hol mir zwei junge Ziegenböckchen. Ich werde sie so zubereiten, wie es Vater immer mag. Dann gehst du mit dem Essen zu ihm, gibst ihm auch Wein zu trinken und danach wird er dich segnen. Hast du verstanden?“

„Ich bin ja nicht taub. Aber das geht so nicht. Vater wird sofort merken, dass ich nicht Esau bin. Schon an meiner Stimme wird er es merken. Ich habe nun mal nicht solch einen Bass wie mein Bruder.“

„Dann gibst du dir eben Mühe, möglichst tief zu sprechen. Es geht um deine Zukunft. Es geht um alles!“

„Trotzdem, Vater ist zwar alt und blind, aber nicht dumm oder dement. Er wird sofort misstrauisch werden und mich heran bitten und befühlen und so weiter. Und dann fliegt der Schwindel auf. Und mir selber ist auch nicht wohl dabei. Und selbst wenn es klappen würde, wie würde ich vor Esau dastehen. Er würde mich…“

„Das wird sich finden. Zuerst aber höre mir noch einmal gut zu: Es geht um alles! Es geht um deine Zukunft und die Zukunft deiner Kinder und Kindeskinder. Entweder du gehst jetzt dieses Risiko ein oder du bist trotz deines billig erkauften Erstgeburtsrechts der große Verlierer. Und was Vaters Misstrauen dir gegenüber betrifft, so habe ich schon darüber nachgedacht und habe folgenden Plan: die Felle der beiden Böckchen binde ich dir um die Hände und unten um die Arme und oben um den Hals, so dass Vater, wenn er deine freien Körperstellen bestastet, denken wird, dass es Esau ist. Außerdem ziehst du einen Rock und Überwurf von Esau an. Die hat er mir gerade zum Waschen gegeben und riechen noch ganz nach Esau und Wildnis. Hast du verstanden?“

„Du brauchst nicht laut zu werden. Aber das sage ich dir: Wenn Vater den Schwindel begreift, dann wird er mich verfluchen statt zu segnen. Und dann ist alles aus. Für immer!“

„Dein Fluch komme über mich, mein Sohn. Und nun hör auf mich, geh und hole mir die Böckchen.“

Jakob ging. Aber er war innerlich zerrissen zwischen dem Gefühl des Betruges, den er da zelebrieren sollte, der Begierde nach dem Segen und der Angst vor dem Fluch des Vaters und der Rache Esaus. Wenn es schief geht, bin ich erledigt, für immer, und kann mir gleich den Strick nehmen. Aber wenn es klappt, erst dann ist die Sache mit dem Erstgeburtsrecht perfekt. Dann stehe ich unter dem Schutz des Gottes meiner Väter und mit mir alle meine Nachkommen von Generation zu Generation. Und wenn Vater es merkt und mich verflucht und Esau auffordert, mich umzubringen? Nein, das macht Vater nicht. Das ist nicht seine Art, dazu ist er zu weich.

Inzwischen war er bei den Ziegen angekommen. Da waren zwei schöne Jungtiere. Soll ich? Soll ich nicht? Egal, und wenn ich dabei draufgehe: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!

Als Mutter die Mahlzeit bereitet hat, macht sie auch ihren Sohn zurecht. Er muss Esaus Sachen anziehen und sie wickelt ihm Teile der Ziegenfelle um die Hände, Unterarme und um den Hals. Dann schloss sie die Augen und befühlte Jakob.

„Wenn ich dich nicht sehe und nur befühle, ist es genau, als wenn Esau vor mir stände. Das fühlt sich an wie echt. Es wird klappen. Es muss klappen. Und nun geh zu ihm. Hier ist die Mahlzeit: würziger Braten, selbst gebackenes Fladenbrot und ein Krug mit Wein. Geh!“

Als Jakob die Tür hinter sich geschlossen hatte und sich dem Vater näherte, sagte er: „Mein Vater.“

Der aber fragte: „Wer bist du, mein Sohn?“ Denn er meinte die Stimme von Jakob erkannt zu haben.

„Ich bin Esau. Ich habe getan, worum du mich gebeten hast. Ich habe einen schönen jungen Bock geschossen und ihn dir so zubereitet, wie du es immer magst. Nun setz dich etwas auf und lass es dir schmecken. Danach bitte ich um deinen Segen, wie du es mir vorhin versprochen hast.“

„Wie hast du nur so schnell ein Wild finden können?“

„Der Herr, dein Gott, hat es so eingerichtet, dass mir dieser Bock direkt in den Weg und vor den Pfeil lief. Da konnte ich ihn erlegen und zubereiten.“

Vater Isaak wurde immer misstrauischer.

„Komm näher, mein Sohn, ich will fühlen, ob du wirklich Esau bist oder nicht.“

Da ging Jakob ganz nahe zum Vater. Das Herz schlug ihm bis zum Halse und kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Vater Isaak aber befühlte seine Hände, erst die eine, dann die andere und sagte schließlich: „Merkwürdig. Die Stimme ist wie von Jakob, die Hände aber sind wie von Esau.“

Deshalb fragte er noch einmal flehentlich: „Bist du es wirklich, mein Sohn Esau?“

Jakob mühte sich, ganz tief zu sprechen: „Ja, du fühlst es doch, mein Vater.“