Eine Pandemie kommt selten allein - Wolfgang Hering - E-Book

Eine Pandemie kommt selten allein E-Book

Wolfgang Hering

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Beschreibung

Das Buch ist ein historischer Roman, in welchem sich jüngste Gegenwart und nahe Zukunft vermischen. Es geht von der simplen Erfahrung aus, dass viele Dinge im privaten, wie im öffentlichen Leben anders ausgehen als es geplant und gewünscht war. In diesem Fall will eine Greenpeace-Gruppe in Bosnien das blaue Herz Europas retten, erlebt aber durch menschliche Unzulänglichkeiten und Rachegefühle eine Katastrophe mit zum Teil tödlichem Ausgang. Dazu kommt für zwei Überlebende eine lebensgefährliche Begegnung mit tschetschenischen Migranten in der Wildnis zur kroatischen Grenze, die sie wegen durch Covid-25 erfolgter Grenzschließung illegal überqueren wollen. Im letzten Augenblick werden sie durch einen Einsiedler und seinen Hund gerettet.

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Seitenzahl: 376

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Inhalt

Ein Albtraum

Die Fackel weiter tragen

Marsch für Versöhnung

Rache

Böses Erwachen

Unter Räubern

Rettung in höchster Not

Beim Einsiedler

So sieht man sich wieder

Die andere Wange auch hinhalten

Epilog

Der HERR vereitelt den Ratschluss der Nationen, ER macht die Pläne der Völker zunichte. Der Ratschluss des HERRN bleibt ewig bestehen, die Pläne seines Herzens durch alle Geschlechter

(Ps 33,10-11).

Ein Albtraum

Jan schreckt hoch. Wo ist er? Der Bär, der ihn eben verfolgt hatte? Er rannte durch einen dichten Wald und der Bär immer hinter ihm her. Aber er kam nicht vom Fleck und in seiner Angst stieß er mit dem Kopf gegen einen Baum, so dass ihm der Schädel brummte.

Der Schädel tut ihm noch immer fürchterlich weh und Jan fasst sich an den Kopf. Da fühlt er einen dicken Verband und es dämmert ihm, dass die Sache mit dem Bär nur ein dunkler Traum war, die Ursache für den dicken Verband aber ein sehr realer Albtraum.

Er lässt sich wieder in seine Kissen zurückfallen und blinzelt um sich. Offenbar ist er in einem Krankenzimmer gelandet. Von der Decke baumelt eine kleine Lampe, wahrscheinlich so eine Art Nachtbeleuchtung. Ein schreckliches Licht, mit dem man am besten nichts zu tun hat. Immerhin erkennt er In dem Bett neben sich deutlich Pit, Pit aus Berlin. Auch mit einem Verband, leise schnarchend. Pit, was haben sie mit uns gemacht? Gegenüber steht ein leeres Bett. Vom vierten Bett neben der Tür her hört er ein lautes männliches Schnarchen. Kjell?

Und wo ist Anna? Er versucht sich zu erinnern. Doch der gestrige Abend ist wie ein dicker Nebel, in dem er zunächst vergeblich herumstochert. Es schwant ihm nur, dass da etwas mächtig schief gelaufen war. Scheiß Pflaumenschnaps. An den erinnerte er sich noch. Nie wieder! Aber der Brummschädel rührte nicht nur von daher. Und der Verband erst recht nicht. Was war geschehen? Wo sind sie hier überhaupt, noch in Bosnien oder ganz woanders? Er kann sich an nichts mehr erinnern. Immerhin scheinen sie hier sicher zu sein.

Dann folgt er den Erinnerungen weiter zurück, nach Amsterdam, nach Zuhause, zu den Eltern, zu seiner Schule und zum Büro bei G.I. Ja, da hatte alles angefangen.

Doch sein Kopf will nicht. Er schmerzt ihn. So lässt der Patient die Vergangenheit bis auf weiteres ruhen und dämmert unruhig dem neuen Morgen entgegen.

Die Fackel weitertragen

Es herrscht eine gute Stimmung bei Greenpeace International in Amsterdam. Die Wortführerin, eine junge Frau von vielleicht siebenundzwanzig Jahren, fuchtelt wild mit den Armen, wenn sie redet. Ihre Augen blitzen vor Begeisterung und ihre blonden Haare, die sie hinten in einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat, fliegen wild hin und her.

„Guten Morgen. Also, ich bin Anna. Genau. Ich bin hier bei G.I. angestellt. Aber das wisst ihr ja schon durch unsere Telefonate und Mails. Und das ist mein Bruder Jan Verhoeven.“ Dabei wies sie mit ihrem Kopf auf einen schlacksigen jungen Mann an ihrer Seite. Der nickte freundlich mit dem Kopf.

„Hallo in die Runde!“

„Willst du nicht noch ein Wort mehr sagen?“

„Na gut. Also, ich bin nicht nur ihr Bruder, sondern auch ihr Angestellter oder richtiger: ihr Laufbursche. Immer wenn sie pfeift, muss ich springen. Natürlich ehrenamtlich.“

Allgemeines Gelächter.

„Meine Brötchen verdiene ich als Lehrer, als Geschichts- und Sportlehrer am Gymnasium. Das ist der einzige Ort, wo ich auch mal was zu sagen habe. Und weil dann gerade Ferien sind, meinte Anna, ich solle mal auf den kleinen Ausflug auf den Balkan mitkommen. Und, wie gesagt, ihr Wort ist mir Befehl. Sie ist übrigens ganz vernarrt in dieses Projekt. Hat sogar ein wenig Bosnisch gelernt.“

Wieder staunendes Schmunzeln. Jan machte auf die beiden anderen anwesenden jungen Männer sofort einen gewinnenden Eindruck. Seine Augen blitzten genau wie bei seiner Schwester, nur etwas, na ja, spitzbübischer. Es war offensichtlich, dass er sie mit ihrem flotten Mundwerk und Organisationstalent fröhlich gewähren ließ und sie aus seiner beachtlichen Größe von vielleicht einem Meter neunzig wohlwollend im Auge behielt. Er mochte auch zwei oder drei Jahre älter sein als sie.

„Doch nun zu euch“, ergriff Anna wieder das Wort und wandte sich den beiden anderen zu. „Ihr seid hoffentlich mit der Unterkunft zufrieden?“

Die beiden nickten.

„Genau. Die Pension ist preiswert und in der Nähe und, und das ist nicht unwichtig. Die Wirtsleute stehen uns auch im Geiste nah und begleiten unser Engagement für eine gesunde Umwelt mit Wohlwollen und mancher Spende. Genau. Doch nun erzählt ihr beiden doch mal, wo ihr herkommt und was euch herführt. Kjell, fängst du mal an?“

„Na, wenn es sein muss. Also, ich komme aus Schweden, genauer gesagt aus Malmö. Und wo ich arbeite? Bei Ikea!“

„Was“, platzte Anna dazwischen, „bei diesem Umweltzerstörer? Der intakte Urwälder für seine Möbel kahlschlagen lässt und überall Steuern hinterzieht? Und seine Arbeiter in Osteuropa für einen Hungerlohn arbeiten lässt? Das unterstützt du? Der Ikea-Konzern ist doch gewissermaßen unser natürlicher Feind!“

„Nun lass ihn doch erst mal ausreden“, unterbrach sie ihr Bruder. „Das weiß doch Kjell sicher alles selber. Stimmt`s?“

„Freilich“, nahm der wieder den Faden auf, „und die Konzernleitung weiß es auch. Die haben doch schon 2018 beschlossen, in Zukunft ganz auf Nachhaltigkeit zu setzen und bis 2030 die Pariser Klimaziele, besonders was CO2 betrifft, nicht nur zu erreichen, sondern zu unterbieten. So haben sie nicht nur gewaltige Summen in erneuerbare Energien investiert, sondern auch in Nachhaltigkeit beim Holzabbau und in neue und recycelbare Materialien beim Möbelbau. Ich kann euch versichern, da ist eine echte Kehrtwende passiert. Und da man im Hause meine grüne Gesinnung kennt, bin ich mitten drin dabei in der Abteilung für umweltschonende Materialien. In der Praxis erlebe ich natürlich immer wieder, wie viel leichter es ist, zu kritisieren oder einen grünen Plan zu machen und wie schwierig es ist, das Ganze dann auch umzusetzen. Siehe Corona-Krise. Die hat uns ein ganzes Stück ausgebremst und zurückgeworfen. Finanziell und wirtschaftlich. Aber jetzt sind wir wieder auf einem guten Weg. Und sie haben mich für unseren Einsatz jetzt auf dem Balkan freigestellt. Was lehrt uns das? Nicht nur einzelne Menschen können sich ändern, sondern ganze Konzerne, wenn sie begreifen, dass der neue, der grüne Weg, ihnen nicht nur nicht schadet, sondern sogar positive Auswirkungen auf das Geschäft und die allgemeine Akzeptanz hat.“

Kjell könnte auf den ersten Blick einer vom schwedischen Eishockeyteam sein: breite Schultern, kräftig gebaut, ein kräftiger Schädel mit einem wilden blonden Schopf. Die blauen Augen schauen jeden, mit dem er spricht, selbstbewusst an. Gut, wenn man ihn zum Freund und nicht zum Gegner hat.

„Prima. Natürlich habe ich von dieser Entwicklung bei Ikea auch schon gehört“, sagte nun Anna, „aber es ist gut, es jetzt noch einmal ganz authentisch, gewissermaßen aus dem Inneren von Ikea, bestätigt zu bekommen. Du hast recht, Kjell, nicht nur einzelne Menschen, sondern ganze Konzerne können ihre Linie ändern. Und ich würde noch weitergehen und sagen: Auch ganze Länder, auch ganze Regionen, ja, auch die ganze Welt kann und muss und wird sich in dieser Richtung ändern. Und wir, ja, wir vier werden dabei sein bei dieser globalen Verwandlung. Genau. Wie heißt es in der Resolution70/1 der UN von 2015? Hier muss es doch irgendwo stehen“, dabei blätterte sie in einem der Greenpeace-Magazine, „ach ja, hier: ‚Wir, die Völker, sind es auch, die sich heute auf den Weg in das Jahr 2030 machen…Die Zukunft der Menschheit und unseres Planeten liegt in unseren Händen. Sie liegt auch in den Händen der jüngeren Generation von heute, die die Fackel an die künftigen Generationen weiterreichen wird.“

Annas Augen glänzten.

„Wir sind dabei! Und machen uns auf, die Fackel der Veränderung an unsere Brüder und Schwestern in Bosnien weiterzugeben, auf dass auch dort eine umwelt- und menschenfreundliche Region erhalten und gestaltet werde.“

Wie träumend sah sie in die Ferne, so als hätte sie schon das vollendete Bild von 2030 vor Augen.

„Entschuldigt, es hat mich fortgerissen.“

„Ist doch nicht schlimm!“

„Ist doch gut. Man muss die Dinge mit Begeisterung angehen. Gut so.“

„Aber Pit, entschuldige, Dich habe ich noch gar nicht zu Wort kommen lassen. Bist du so nett, Pit, und stellst dich auch etwas vor?“

Der Angesprochene ist offensichtlich der Jüngste von den Vieren, so Mitte Zwanzig. Unter den kurz geschnittenen dunklen Haaren schauen einen kluge braune Augen durch eine moderne Brille an. Über dem rechten Auge hat er eine Narbe. Er macht einen sehr intellektuellen Eindruck, einer, der weiß, was er will. Im Unterschied zu Kjell ist er wohl kein großer Sportler. Seine Schultern hängen etwas, vorn wölbt sich ein kleines Bäuchlein. Doch wenn man ihn als träge und gemütlich einordnen will, irrt man sich wohl. Denn wenn er spricht, sprudelt es nur so aus ihm heraus.

„Gerne. Also: Pit Markert aus Berlin. Bin gerade dabei, meinen Master in Umwelttechnik zu machen. Bin also sozusagen vollzeitlich, beruflich und aus Leidenschaft mit unserer Sache befasst. Jetzt bin ich gespannt auf neue Eindrücke vom und die entsprechenden Entwicklungen auf dem Balkan. Es soll ja um den Erhalt ursprünglicher Flusslandschaften gehen und den Kampf gegen neue Staudämme, also auf den Punkt gebracht: grüne Ökologie gegen grüne Ökonomie. Richtig?“

„Genau.“

Anna, die die ganz Zeit bisher gestanden hatte, setzt sich nun auch.

„Ich schlage aber vor, dass wir unser Programm ausführlich erst heute Nachmittag besprechen. Um 15 Uhr?“

Alle nicken mit dem Kopf.

„Dann haben wir ja noch gut drei Stunden für Amsterdam.“

„Könnt ihr beiden uns etwas Aktuelles vorschlagen? Was wir uns anschauen sollten? Und wo die Zeit gerade dafür reicht?“

„Genau. Das haben wir natürlich schon vorüberlegt und empfehlen euch das FOAM, ein fotographisches Museum. Es gibt dort immer wechselnde Ausstellungen. Und was wird diesmal gezeigt? Na? Ratet mal!“

„Nun mach es nicht so spannend.“

„Flusslandschaften auf dem Balkan!“

„Was? Klasse. Das passt doch!“

„Das dachten wir uns auch“, mischte sich jetzt Jan ein. „Und es ist gar nicht weit von hier. An der Keizersgracht. Ein wunderschönes altes Haus. Hier habt ihr einen kleinen Stadtplan. Da habe ich den Weg schon eingezeichnet. Und passt auf, dass ihr nicht ins Wasser fallt. Haha.“

„Man sieht da auch die Staudämme, die schon fertig sind und die ganze natürliche Landschaften zerstört und viele Arten vernichtet haben. Auch Staudämme, die im Bau oder noch in der Planung sind, sind aufgelistet. Für uns besonders interessant sind die Fotos vom Fluss Sana in Bosnien mit dem angefangenen Staudammbau. Durch Corona ist Gott sei Dank erst mal alles zum Stillstand gekommen. Das ist unsere Chance, wenigstens an der einen oder anderen Stelle die herrliche Flusslandschaft zu retten. Doch guckt euch erst mal die Bilder an und dann am Nachmittag mehr. Okay?“

„Na klar. Es wird ja vielleicht auch ein paar Materialien geben, die wir da mitnehmen können.“

„Jawohl. Steckt euch ein, was Ihr findet. Und ihr könnt natürlich euch wichtige Bilder abfotografieren. Alle anderen Einzelheiten dann am Nachmittag. Genau.“

So geschieht es. Genau. Die Fotos von den Flusslandschaften auf dem Balkan sind, auch in den Vergrößerungen, von hervorragender Qualität. Sie zeigen die ganze Schönheit dieser Landschaften als „blaues Herz Europas“ und werben damit auch um die Gunst westeuropäischer Touristen, die diese Region noch immer nicht richtig entdeckt haben. Andererseits zeigen die Bilder auch die Spannung zwischen der Armut dort, wo noch die unberührte Landschaft ist und der Beeinträchtigung bis Zerstörung der ursprünglichen Natur dort, wo Staudämme gebaut sind und Strom aus Wasserkraft gewonnen wird, wo sich aber in der Folge auch Gewerbe ansiedelt und der Wohlstand steigt. Was ist wichtiger? Oder: Wie kriegt man das unter einen Hut? Kjell und Pit nehmen diese Spannung mit, wie auch ein Heftchen, das diesen spannungsvollen Aufbruch in die Zukunft mit einer Fülle von Details unterstreicht.

„Hallo, wir haben uns gerade den Bauch vollgeschlagen und mit einem halben Liter Amstel nachgespült“, melden Pit und Kjell sich am Nachmittag zurück. „Eigentlich brauchten wir jetzt zwei Liegen zum Abhängen. Aber wie ich dich kenne, liebe Anna, müssen wir wohl arbeiten. Sonst reißt du uns den Kopf ab. Ja?“

„Genau. Da kenne ich keinen Pardon.“

„So kenne ich mein liebes Schwesterlein. Wenn man nicht pariert, gibt es Dresche“, klingt sich Jan ins Gespräch ein und zu Anna gewandt: „Du solltest dich als Offizier bei der Fremdenlegion bewerben. Da kannst du dich austoben. Aber ob die Frauen nehmen?“

„Ich würde mir schon Respekt verschaffen! Genau! Schließlich habe ich sogar schießen gelernt. Genau.“

Wild ballt sie ihre Fäuste.

„Na gut. Nun lassen wir mal den Spaß beiseite“, meldet sich Kjell zu Wort. „Da wir in drei Wochen los wollen, lasst uns zur Sache kommen. Ich weiß bisher nur, dass wir auf dem Balkan den Bau von Staudämmen verhindern und die Fackel der UNResolution 70/1 an junge Leute dort weitergeben sollen, die wir erst mal finden müssen. Ich finde, das sind zwei mächtige Brocken für zehn Tage. Also, wie habt ihr euch das gedacht?“

„Zehn Tage inklusive An- und Abreise“, ergänzt Pit und erhebt schulmeisterlich den Zeigefinger.

„Und inklusive einer dreitägigen Wanderung“, wirft nun Anna lachend ein. „Oder habt ihr das gar nicht geschnallt?“

„Doch, doch“, stottert Kjell, „ich habe mir ja entsprechend schon Wanderschuhe gekauft.“

„Und einen Wanderstock“, fügt Pit hinzu, „ falls es durch die Berge geht. Und mein Rucksack ist, wie immer für unbekanntes Gelände, als Not-Rucksack gepackt. Aber, wie man bei uns sagt: Nichts Genaues weiß man nicht. Also, klär uns bitte auf.“

„Genau. Dazu sind wir ja jetzt hier.“

Anna klappt ihren Laptop auf und klickt auf „Bosnien.“

„Also gehen wir mal der terminlichen Reihenfolge nach. Genau.“ Klick. „Das hatte ich euch ja schon mitgeteilt: Es geht am 10. Juli los. In Sarajewo. Das ist ein Donnerstag. Da fahren vom zentralen Busbahnhof ab Mittag Busse nach Srebrenica. Ich denke, wir konzentrieren uns auf den Bus um 18 Uhr. Es ist wahrscheinlich der letzte. Jedenfalls nach den Anmeldungen bis jetzt, wie ich vom Organisationsteam in Srebrenica gehört habe. Habt Ihr schon Flugtickets gebucht?“

Kjell und Pit nicken bejahend: „Alles klar.“

„ Nun aber: Was wollen wir in Srebrenica? Na?“

„Keine Ahnung.“

„War da nicht mal so ein Massaker? Irgendwo habe ich den Namen mal gehört: Srebrenica. Aber was genau und wann, keine Ahnung.“

„Dass ihr keine Ahnung habt, ist nicht verwunderlich. Denn 1995 waren wir drei noch gar nicht geboren. Und Jan hat mit seinen damals drei Jahren ganz bestimmt auch nichts davon mitgekriegt. Oder doch?“

„Na selbstverständlich, liebes Schwesterlein. Ich habe sogar Tagebuch darüber geführt. Und manche Träne ist in mein Tagebuch gefallen und hat die Schrift völlig verwischt, so dass man heute fast nichts mehr lesen kann. Aber mir hat sich alles tief eingeprägt. Also es war so…. Unterbrich mich bitte nicht, Anna. Ich bin schließlich in dieser Runde der einzige Augenund Ohrenzeuge jener Zeit und habe deshalb ein gewisses Recht, die Geschichte von damals zu erzählen.“

„Das Recht wollen wir ihm zugestehen. Denn er hat alles gut recherchiert. Aber ihr müsst ihm nicht alles glauben, von wegen Tagebuch oder so. Als Mädchen habe ich ihm immer alles geglaubt. Wenn er mir sagte, dass die Niederlande das größte Land der Welt seien, ich habe es geglaubt. Weil, schon der Weg zur Oma, so ein Kilometer, war ja für mich schon endlos weit. Genau. Und wenn er erzählte, dass im Königsschloss alles aus Gold sei, die Betten, die Türklinken, das Geschirr, auch das Nachtgeschirr, haha, ich habe es geglaubt. Genau. Also passt auf, ob er euch einen Bären aufbindet oder ob es wahr ist, was er erzählt. Du bist dran, großer Bruder, schieß los.“

„Na gut. Ich schwöre, dass ich die Wahrheit sage und nichts als die Wahrheit.“

Dabei streckte er die drei Schwurfinger in die Höhe und lachte.

„Na gut. Ihr wisst aus dem Geschichtsunterricht oder von zu Hause, besonders du, Pit, als Berliner, dass nach dem Fall der Berliner Mauer auch das große Reich der Sowjetunion zerfiel. Es hatte halt abgewirtschaftet. Und im Zuge des Zerfalls dieses Riesenreiches zerfiel auch ein Satellitenstaat auf dem Balkan: Jugoslawien. Das brachte einen schlimmen Bürgerkrieg mit sich mit mehr als 100.000 Toten, weil die ethnische und religiöse Bevölkerungsvermischung klare Grenzziehungen für unabhängige neue Staaten nicht zuließ. Dazu kam Serbien als einer der Hauptakteure auf dem Balkan. Serbien meinte aus historischen und ethnischen Gründen Ansprüche auf große Gebiete des Westbalkan erheben beziehungsweise mit Gewalt durchsetzen zu können. Die UNO versuchte mit Blauhelmen dem Blutvergießen ein Ende zu machen. So wurde zum Beispiel für die besonders betroffene Minderheit der Bosniaken, dem muslimischen Bevölkerungsanteil in Bosnien, eine Schutzzone in und um Srebrenica eingerichtet. 400 Blauhelme hatten dort ein großes Lager errichtet, wo sie die Bosniaken aufnehmen und beschützen sollten. Das war im vergangenen Jahrtausend, 1995. Die Bosniaken kamen auch zu Tausenden. Nur, die serbischen Milizen unter dem dann in Den Haag verurteilten General Mladic kamen auch. Sie eroberten Srebrenica und bedrohten sowohl das Blauhelmlager als auch die Zehntausende muslimischer Flüchtlinge. Es kam zu schrecklichen Vergewaltigungen und Morden an den Flüchtlingen. Die Blauhelme aber griffen nicht ein.“

„Waren das nicht sogar Niederländer, wie ich irgendwo mal gehört habe?“

„Klar“, fügte Pit hinzu, der sich inzwischen am Handy schlau gemacht hatte. „Vierhundert niederländische Blauhelme haben hilflos – oder aus Angst – zugeschaut bei den Massakern. Peinlich.“

„Das war es ja, was mir schon als Dreijährigem die Tränen in die Augen trieb“, und wieder wischte sich Jan über die Augen, „unsere fast sprichwörtliche Friedfertigkeit hatte da ihre peinliche Kehrseite. Peinlich, peinlich bis heute.“

„Genau. Und das war ja noch nicht alles…“

„Lass mich mal. Schließlich waren es unsere Männer, die da die Hosen voll hatten. Es ging ja noch weiter. Unsere Blauhelme haben es zwar geschafft, Busse zu organisieren, so dass Tausende Frauen und Kinder in sicheres Gebiet gebracht werden konnten, aber auch da mischten die serbischen Milizen mit und griffen sich unbehindert aus den Bussen die Mädchen und jungen Frauen, die sie gerade haben wollten. Viele von denen sind nie wieder aufgetaucht. Und unsere Männer haben zugeschaut. Dann aber kam das Schlimmste. An achttausend männliche Bosniaken, darunter viele Halbwüchsige, wollten in Richtung jenes Gebietes bei Tuzla, wo ihre Frauen, Mütter und Kinder hingebracht wurden, fliehen. Sie hätten zu Fuß drei Tage bis dahin gebraucht, vom 11.-13. Juli 95. Doch die meisten wurden gleich mit vorgehaltenen Waffen aufgegriffen und mit dem Versprechen, dass Busse sie auch nach Tuzla bringen würden, zur Überprüfung auf Kriegsverbrechen in einer großen Fabrikhalle in Potocari eingesperrt. Doch die serbischen Überprüfer machten kurzen Prozess. Offenbar wurden alle kriegsfähigen Männer zwischen dreizehn und sechzig Jahren, qua bosniakischer Existenz, zu Kriegsverbrechern erklärt und zum Tode verurteilt. Dann kamen auch die Busse, brachten sie aber nicht zu ihren Familien nach Tuzla, sondern zu vorbereiteten Erschießungsplätzen, wo schon Bagger bereit standen, um Massengräber auszuheben.“

„Das habe ich im Fernsehen mitgekriegt, die Exhumierungen und Bestattungen. Da findet man ja bis heute noch Knochen und identifiziert und beerdigt sie. Schrecklich“, warf Pit ein.

„Richtig“, fuhr Jan fort. „Einem Teil gelang zwar die Flucht. Aber sie konnten natürlich nicht auf der Straße gehen. Die war vom serbischen Militär beherrscht. So bahnten sie sich einen Weg durch Wälder und Berge, um vor ihren Feinden etwas geschützt zu sein. Doch es kamen nur ganz wenige an. Die meisten wurden unterwegs erschossen oder anderswie umgebracht. Man hat ja dieses Massaker inzwischen als Genozid gebrandmarkt. Richtig daran ist, dass es seinem Ziel nach eine ethnische Säuberung war. Das hat sich natürlich alles tief ins kollektive Gedächtnis jenes Bevölkerungsteiles eingebrannt.“

„Genau. Und deshalb wollen wir beide als Niederländer dort auch ein Zeichen setzen und an dem Marsch des Friedens und der Versöhnung teilnehmen, der vom 11.-13. Juli von Srebrenica nach Tuzla gehen wird. Also genau an den Tagen und auf dem Weg, der den Flüchtlingen von vor genau dreißig Jahren zum Todesmarsch wurde. Bisher waren die Friedensmärsche immer von Tuzla aus in Richtung Srebrenica, beziehungsweise zum Genocide Memorial gegangen, also dorthin, wo bis heute die Überbleibsel der ermordeten Bosniaken beigesetzt werden. Es ist inzwischen eine riesige Gedenkstätte mit Tausenden von Stelen. Sehr eindrucksvoll. Diesmal soll der Marsch aber hier beginnen. Die Idee ist, dass die Stätte des Grauens diesmal nicht Ziel, sondern Ausgangspunkt für einen Weg der Hoffnung und der Versöhnung sein soll, ein Weg, der dann nicht nur bis Tuzla, sondern weiter durch die ganze Welt gehen soll. Genau. Die Erinnerung an die Schrecken soll gewissermaßen Antrieb sein für eine Welt ohne Schrecken. Genau.“

„Ich darf mal kurz unterbrechen“, sagte Jan, „es soll um eine umfassende Versöhnung gehen. Auch die Bosniaken waren ja nicht ganz schuldlos. Im vorhergehenden Verlauf des Bürgerkrieges hatten auch sie schon Rache geübt an serbischen Dörfern und Mitbewohnern. Die Zahlen schwanken zwischen fünfhundert und tausend serbischen Zivilisten, die dabei umgekommen sein sollen. Das Massaker der Serben war nun wieder ein Rachefeldzug in umgekehrter Richtung, freilich in den Ausmaßen eines Genozid. Übrigens“, hier machte Herr Lehrer Jan eine bedeutsame Pause und hob den Zeigefinger, „auf dem Balkan hat der Rachegedanke eine lange Tradition – bis hin zur Blutrache zwischen einzelnen Familien – bis heute!“

„Und diese blutige Tradition wollen wir mit dem Friedensmarsch beenden?“

Kjells Stimme ließ wieder einmal seine tief sitzende Skepsis erkennen.

„Wir wollen es wenigstens versuchen“, ergriff Anna wieder das Wort. „Wir von Greenpeace sind es doch gewohnt, schier unmögliche Dinge anzupacken. Und wir sehen doch mit Staunen, wie viele Menschen, besonders junge Menschen inzwischen mitmachen. Auch auf dem Balkan! Genau. Auch Serben und Bosniaken. Es gibt Hoffnung! Auch die Hoffnung, die Spirale der Gewalt und der Rache genauso zu beenden wie die Spirale der Zerstörung der dortigen Flusslandschaften. Genau.“

„Na gut. Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

„Ich habe übrigens vom Organisationskomitee eine Anfrage, ob ich zum Start des großen Marsches auch ein paar Worte sagen würde“, fuhr Anna fort. „Einerseits als Vertreterin von G. I., anderseits als Niederländerin und drittens als Jugendliche, die damals noch nicht geboren war, also ganz unbelastet ist. Genau. Wir wollen ja nicht nur Änderungen in der Umweltpolitik, sondern auch Änderungen im menschlichen Miteinander, wie es auch in der UN-Resolution von 2015 heißt…, wo steht es denn gleich? Ach hier: ‚Wir sehen eine Welt vor uns, in der die Menschenrechte‘, blablabla, ‚die Gleichheit und die Nichtdiskriminierung allgemein geachtet werden, in der Rassen, ethnische Zugehörigkeit und kulturelle Vielfalt geachtet werden‘ usw. Genau. Und da wollen wir besonders als Niederländer die Fackel für die beschämenden Ereignisse von damals und die heute notwendige Gleichheit und gegenseitige Achtung hochhalten.“

„Das ist ja ein schönes Ideal. Hoffentlich sehen es die da auch so.“

Kjell konnte es sich nicht verkneifen, seiner Skepsis noch einmal Ausdruck zu verleihen.

„Du kannst ganz unbesorgt sein, Kjell, wir zwei oder wir vier sind ja da nicht alleine. Man rechnet mit bis zu achttausend Teilnehmern bei diesem Friedensmarsch, in erster Linie natürlich aus Bosnien, aber auch aus vielen Ländern Europas. Zum

25. Jubiläum war ja alles wegen der Corona-Pandemie ausgefallen. So soll zum 30. Jahrestag alles umso eindrücklicher werden. Ist ja verständlich. Genau.“

„Und wenn die da keinen Unterschied machen zwischen alten und jungen Niederländern?“

„Dann bestimme ich dich, Kjell, zu meinem besonderen Bodyguard. Als Schwede bist du unbelastet. Und bei deinen Schultern und Fäusten haben bestimmt alle Bösewichte Respekt. Machst du eigentlich Sport?“

„Klar.“

„Was denn?“

„Boxen.“

Allgemeine Heiterkeit.

„Dann beauftragen wir dich hiermit, uns aus jeder problematischen Situation heraus zu boxen. Dafür kriegst du auch mal ein Bier umsonst.“

Haha.

„Also, wenn schon, dann einen ganzen Kasten!“

Haha.

„Darüber werden wir uns schon noch einig. Genau. Jetzt zurück zur Sache. Genau. Mit dem Marsch verbinden wir auch gleich unser eigentliches Anliegen, nämlich vor Ort Menschen zu finden, die sich mit den alten Organisationen von Riverwatch und EuroNatur vernetzen zum Schutz ihrer herrlichen Flusslandschaften. Wir bleiben ja nicht dort. Wir können nur versuchen, alle Naturfreunde, die es dort gibt, zusammen zu bringen und mit Hilfe unserer Mittel und Erfahrungen zu einem gewichtigen und erfolgreichen Widerstand gegen die wahnsinnigen Staudammprojekte zu organisieren. Vor einigen Jahren gab es da schon manche Demos, aber die haben niemand von den reichen Staudamminvestoren Angst gemacht. Und dann kam Corona. Genau. Und nun muss es einen neuen Ruck geben.“

„Deshalb haben wir einen Flyer vorbereitet“, nimmt Jan den Faden auf. „ Hier, schon mal zur Ansicht für jeden von euch. Den wollen wir unterwegs auf dem Marsch verteilen. Unser Ziel ist, am Sonntag, nach der letzten Etappe, eine Zusammenkunft aller örtlichen Kräfte und neuen Interessenten zustande zu bringen und bestimmte Aktionen an den Staudämmen beziehungsweise Flüssen anzuregen. Riverwatch und EuroNatur sind informiert und bereit. Verbindungsmann ist ein gewisser Ratko, der uns nahesteht. Unsere Aufgabe ist es zunächst, durch das Verteilen dieser Flyer auf dem Marsch möglichst viele neue Umweltfreunde für das Treffen am Sonntag zu gewinnen. Wer von denen dann aktiv mitmachen will, wird sich zeigen. Es werden hoffentlich Leute aus verschiedenen Ländern des Balkan sein, aber möglicherweise auch Aktivisten aus anderen europäischen Ländern. Schließlich gilt der Balkan durch seine herrlichen, noch weithin wilden, Flusslandschaften als das ‚Blaue Herz Europas‘. Habt Ihr wohl im FOAM auch gesehen?“

„Na klar.“

„Einfach verlockend für einen Wanderurlaub.“

„Oder Kanuurlaub.“

„Und deshalb denke ich“, schloss Jan seine Darlegungen, „ hier lohnt sich jede Kraftanstrengung, auch für uns vier. Doch nun äußert ihr beiden euch mal. Nicht zu Urlaubswünschen, sondern zur Sache.“

„Hört sich alles gut durchdacht und logisch an“, ergreift Kjell als erster der Angesprochenen das Wort. „Dass es da um das ‚blaue Herz Europas‘ geht, ist uns vorhin bei den Fotos im FOAM ja schon klar gemacht worden. Habe ich noch nie vorher von gehört, zumal blau eine typisch schwedische Farbe ist bei unserem vielen Wasser und Himmel. Aber solche gewaltigen und wilden Flusslandschaften wie auf dem Balkan haben wir oben nicht. Da können wir nicht mithalten. Da können wir nur mithelfen, dieses europäische Kleinod zu erhalten. Genau, wie du, liebe Anna, immer sagst. Also: genau. Aber wie geht es dann weiter? Schließlich haben wir nach dem Marsch noch eine ganze Woche Zeit. Wie soll die gefüllt werden? Vielleicht doch mit Wildwasserkanu? Oder was habt ihr euch gedacht?“

„Oder wir machen eine Rundfahrt durch Bosnien-Herzegowina, lernen Land und Leute kennen, sowie die bedrohten Flusslandschaften und ihre sie bedrohenden Staudämme und Wasserkraftwerke. Vielleicht seilen wir uns auch an einem Staudamm ab und befestigen in gut sichtbarer Höhe ein riesiges Plakat mit der Aufschrift ‚save the river‘ oder sowas. Aber wie ich euch kenne, habt ihr etwas Ähnliches schon in Vorbereitung. Stimmt`s?“

Pit sah die beiden Niederländer durch seine ziemlich starke Brille herausfordernd an.

„Im Übrigen geht mir schon die ganze Zeit eine Frage durch den Kopf, die mir bei der Ausstellung im FOAM kam: Woher nehmen wir überhaupt die Gewissheit, dass wir beim Kampf gegen die Staudämme auf der richtigen Seite sind? Lass mich mal ausreden, Anna. Ja, du bist gleich wieder dran. Aber bei den Bildern dort war eindeutig diese Spannung zu erkennen: Auf der einen Seite die herrliche Flusslandschaft, friedliche Angler und – arme Hütten. Auf der anderen Seite eine durch Staudämme teilweise, nicht immer! – gestörte Landschaft, aber mit Gewerbe und neuen schönen Häusern. Also Wohlstand. Wenn wir da wohnen würden und entscheiden müssten. Was würden wir wählen? Die einfache Hütte mit Bollerofen und Holz aus dem Wald und zum Essen den Fisch aus dem Fluss? Oder ein Häuschen mit ausreichend Strom, auch für eine moderne Heizung im Winter. Dazu allerlei Konsum- aber auch Bildungs- und Gesundheitsangebot im Gewerbegebiet? Moment, liebe Anna, ich bin noch nicht fertig. Hinzu kommt, dass Strom aus Wasserkraft genau den grünen Prinzipien entspricht: keine fossilen Brennstoffe, regenerative Energie, also grüne Energie. Es ist klar, dass es ein Eingriff in die Landschaft ist. Übrigens: Auch unsere vielen Windräder sind ein Eingriff in die Landschaft. Aber noch wichtiger: Können wir Westeuropäer aus der Situation unseres Wohlstandes heraus den Menschen dort vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben? Können wir ihnen wirklich sagen, dass sie lieber arm in ihrer wilden Flusslandschaft leben sollen, statt im Wohlstand aus Wasserenergie? Oder sollen wir gar verlangen, dass sie alles so belassen sollen wie es ist, damit wir Westeuropäer als Touristen dort eine unberührte Flusslandschaft vorfinden? Die Ausstellung im FOAM hat mich jedenfalls nicht bestärkt in unserm Projekt, sondern Zweifel bei mir aufkommen lassen, ob die augenscheinliche Spannung dort so einfach aufzulösen ist. So, das musste ich einfach mal sagen.“

Anna war schon lange aufgesprungen und während dieses Statements wild fuchtelnd hin und her gegangen. Jetzt machte sie ihrem Herzen Luft: „Lieber Pit, falls du es noch nicht geschnallt hast, lass es dir gesagt sein: Der Wohlstand, von dem du redest, wird erkauft zu einem teuren Preis. Genau. Die Staudämme und die damit verbundenen Flussregulierungen schaden nicht nur der Natur, sondern auch dem Klima und am Ende den Menschen. In den Stauseen wird durch verfaulende Pflanzen und chemische Prozesse unendlich viel mehr CO 2 und das noch schädlichere Methangas freigesetzt als in natürlichen Gewässern. Außerdem wird den Flüssen selbst geschadet, weil die Sedimente, die sie mit sich führen, bei den Sperren der Staudämme abgelagert werden. Nebenflüsse trocken aus. Die Deltabildung funktioniert nicht mehr, der Huchen, den es nur noch dort gibt, stirbt aus. Und der Tourismus bleibt aus, denn regulierte Flüsse haben die Touristen auch zu Hause, samt den damit zusammenhängenden Problemen und so weiter. Genau. Es ist ein trügerischer Wohlstand, der ihnen noch einmal leidtun wird. Und die bis 2030 angestrebte Klima- bzw. CO 2- Bilanz erreichen sie so nie. Genau. Das muss auch gesagt werden. Genau.“

Und wumms. Ein ordentlicher Schlag auf den Tisch.

„Aber sie erreichen, dass sie ein eigenes Häuschen und ein Auto haben.“

Kjell konnte es sich nicht verkneifen, Pit beizustehen und Anna noch mehr zu reizen.

Doch nun schritt Jan ein: „Ich denke, es ist falsch, Wohlstand gegen urige Natur, Klimaschutz gegen Naturschutz, grüne Ökonomie gegen grüne Ökologie auszuspielen. Wir müssen doch anstreben, dass bei steigendem Wohlstand nicht die Natur, einschließlich Klima, auf der Strecke bleiben und beim Kampf um Naturschutz nicht der Wohlstand auf der Strecke bleibt. Es kommt doch darauf an, einen gesunden Ausgleich zu finden. Deshalb muss man beides als Ziel im Auge behalten, aber gucken, was man in der augenblicklichen Situation mehr betonen, beziehungsweise wofür oder wogegen man kämpfen muss, damit eine der genannten Seiten nicht hinten runterkippt. Und der Wildwuchs von Hunderten oder gar Tausenden geplanter Minikraftwerke mit ihren Staudämmen zerstört im Augenblick mehr als dass er Nutzen bringt. Und da zeigt die Analyse eindeutig, dass auf dem Balkan und besonders in Bosnien alle, die was zu sagen haben, auf schnellstmöglichen Wohlstand fixiert sind und die Bewahrung der heimatlichen Landschaft, um nicht zu sagen des blauen Herzen Europas, könnte dabei irreparablen Schaden nehmen. Das Ziel unserer Aktionen muss sein, die Aktivisten vor Ort zu stärken, dass sie größtmögliche Reservate für Flusslandschaften erreichen, verantwortbare Staudammprojekte aber nicht behindern.“

„Bravo.“

„Richtig. Das hört sich doch gut an: ein Ausgleich der Interessen. Da kann ich auch voll mitgehen“, betonte Pit. „Nun müssen wir uns nur ein bestimmtes Projekt raussuchen, wo der Staudammbau nicht nur hässlich, sondern auch in jeder Weise unzweckmäßig oder unverhältnismäßig ist. Ergo: was deshalb zu verhindern ist!“

„Genau“, Anna hatte sich wieder beruhigt und gesetzt. „Der Fluss, der uns besonders am Herzen liegt, ist die Sana. Die soll eine herrliche Quelllandschaft haben, die auch touristisch schon erschlossen ist, aber wenige hundert Meter weiter wird der Staudamm für ein Wasserkraftwerk gebaut mit allen denkbar schlimmen Folgen für den Fluss und das Klima. Und die Krone: weiter unten sollen noch viele Ministauseen mit Minikraftwerken gebaut werden, manche nur mit 1 Megawatt. Also kleine Kraftwerke mit großem Schaden. Alle diese zerstörerischen Kraftwerke reichen nicht aus, um auch nur ein Kohlekraftwerk zu ersetzen. Wahnsinn. Genau. Mit unseren Freunden vom Netzwerk ‚Balkan River Defense‘ werden wir da etwas machen. Da die das vorbereiten, weiß ich jetzt auch noch nichts Genaueres. Lassen wir uns überraschen. Genau. Einverstanden, Pit?“

„Na freilich. Nach den Klarstellungen von Jan bin ich voll dabei. Also die Sana. Und wie kommen wir da hin?“

Anna ist nun wieder Herr der Situation. Oder sagt man Frau der Situation? Egal. Genau: „Wie du schon vermutet hattest, Pit, wird es eine richtige Rundreise. Genau. Wir haben einen Jeep geordert. Und hier haben wir einen Plan, wie die Rundreise aussehen könnte. Könnte. Konjunktiv. Bei den Straßenverhältnissen dort werden wir wohl sehr flexibel sein müssen. Genau.“

Damit schob sie Kjell und Pit je eine Schwarz-Weiß –Karte hin.

„Und wo übernachten wir?“

„Das wird unterschiedlich sein. Auf dem Marsch werden zwei Camps aufgebaut sein und am Ziel in oder bei Tuzla wartet der Jeep auf uns, der uns in ein Quartier unserer dortigen Freunde bringen wird. Zur Not sind auch Zelte dabei. Im Übrigen gilt wie immer: flexibel sein! Genau.“

So ging das noch lange hin und her. Manchmal verbissen sie sich in Einzelheiten, ohne sie wirklich auflösen zu können. Ein andermal träumten sie von den wilden Flusslandschaften, die sie sehen und in die sie an sicherer Stelle vielleicht auch eintauchen würden. Einig waren sich alle vier, dass sie zu den Finanzen, die Amnesty International bereitstellen würde, jeder auch das Seine beitragen müssten, auch Pit, der eigentlich noch gar kein Geld verdient hatte.

„Für eine gute Sache muss man auch bereit sein, Opfer zu bringen“, meinte er. „Und außerdem haben wir ja auch etwas davon. Wir werden viele neue Erfahrungen und auch Fotos mit nach Hause bringen. Die nächste Ausstellung hier im FOAM werden wir bestücken. Haha.“

Einig war man sich auch in der Notwendigkeit des Unternehmens und in der Gewissheit, dass sie einen höheren Auftrag hatten, eine Sendung, nämlich im Sinne der UNO und in Einmütigkeit mit den Völkern der Welt, als junge Generation die Fackel der natur- und menschenfreundlichen Veränderungen auf den Balkan zu tragen. Mit der für die Jugend typischen Begeisterung für eine gute Sache schlossen sie deshalb diese Vorbesprechungen ab.

„Time for change!“

„Unsere Kraft zeigt Wirkung!“

„Genau!“

„Packen wir`s an!“

Dann widmeten sie sich gemeinsam unter flotten Sprüchen dem Abendessen.

Danach saßen sie noch ein, zwei Stündchen bei Amstelbier, fröhlichen Gesprächen und Gesängen zusammen. Jan hatte aus der Liederschatzkiste seines Großvaters ein Lied zur Mundorgel ausgegraben, die er selbst gut zu spielen verstand.

„Das Lied hieß ursprünglich ‚Jan und Hein und Klaas und Pit, die haben Bärte, die fahren mit‘. Das war jedenfalls der Refrain. Da ich bei den Anmeldungen deinen Namen, Pit, las, kam mir das alte Liedchen in Erinnerung, das mein Großvater mit Begeisterung gesungen hatte, während er dazu über seinen beachtlichen Bart strich. Hat mich immer sehr beeindruckt. Aber nun habe ich es für uns etwas passend gemacht. Im Zeitalter der weiblichen Gleichberechtigung dürfte ja auch Anna einen Bart tragen, aber sie hat nun mal keinen. Manchmal scheitert die Gleichberechtigung einfach an den geschlechtsspezifischen Merkmalen. Wollen manche nicht wahrhaben. Ich kann meiner Schwester aber noch so lange aufs Kinn schauen, es wächst kein Bart. Oder soll ich noch warten, liebes Schwesterlein?“

„Quatsch nicht so blöd. Ich guck ja auch nicht auf deine Brust, ob da was wächst.“

„Sag ich doch. Gleichberechtigung hin oder her. Wo nichts ist, ist nichts. Also nehmen wir statt Bärte – Messer. Auf solch einer Fahrt sollte jeder ein Messer, ein Fahrtenmesser, bei sich haben. Also der Refrain geht dann für uns so: ‚Jan und Anne und Kjell und Pitt, die haben Messer, die haben Messer; Jan und Anne und Kjell und Pit, die haben Messer, die fahren mit‘. Aus Anna machen wir zum flüssigeren Singen das englische Anne. Also singt mal mit: Jan und Anne …“.

Beim zweiten Amstel ging es dann unter allgemeiner Heiterkeit schon besser: ‚Jan und Anne und Kjell und Pit…‘

„Und hat das Lied außer einem Refrain auch Strophen?“

„Natürlich. Im alten Lied heißt es: ‚Alle, die mit uns auf Kaperfahrt gehen, müssen Männer mit Bärten sein…‘ Für uns angepasst und im Einverständnis mit Anna habe ich Männer durch Kerle ersetzt. Es ist ja heut durchaus üblich voller Achtung von einer Frau zu sagen: ‚Die ist ein ganzer Kerl‘. Also eine Frau, die das Leben tapferer anpackt als ihr Schlappschwanz von Mann. Ich habe auch schon zwei Strophen vorbereitet, die ihr dann gerne noch ergänzen könnt: ‚Alle, die mit uns nach Bosnien fahren, müssen Kerle mit Messern sein‘. Und alle! ‚Jan und Anne und Kjell und Pit, die haben Messer, die haben Messer. Jan und Anne und Kjell und Pit, die haben Messer, die fahren mit. Und die zweite Strophe aus Großvaters Liedheft: ‚Alle, die Tod und Teufel nicht fürchten, müssen Kerle mit Messern sein: Jan und Anne…‘. Haha. Prost!

Beim dritten Amstel überboten sich die Anwesenden im Hinzufügen von Strophen. Als letzte blieb allen in Erinnerung: ‚Alle, die Bären und Räuber nicht fürchten, müssen Kerle mit Messern sein: Jan und Anne und Kjell und Pit, die haben Messer, die haben Messer, Jan und Anne und Kjell und Pit, die haben Messer die fahren mit‘.

Plötzlich hatte Kjell ein Taschenmesser in der Hand, mit dem er aufgeklappt in der Luft herum fuchtelte und partout noch einmal die Strophe mit den Bären und Räubern singen musste.

„Nun lass man gut sein, Kjell“. Anna zog seinen Arm herunter und klappte vorsichtig das Messer zu. „Wir sind keine Bären und Räuber. Gebrauche das Messer, wenn es nötig ist. Genau. Ich würde jetzt aber vorschlagen, dass wir für heute und diesmal Schluss machen. Ich habe den Eindruck, es war ein guter Tag und wir sind ein prima Team. Was meint Ihr?“

Alle strecken die Daumen hoch und signalisieren freudige Zustimmung.

„Hier noch die Liste mit unseren Adressen und Handynummern. Ich schicke sie auch noch mal mit der letzten Mail vor Abfahrt. Wenn Ihr noch fragen habt, Ihr habt ja meine Mailund Handyadresse!“

„Am 10 Juli sehen wir uns In Sarajewo wieder!“

„Spätestens 18 Uhr am Busbahnhof!“

„Jeder mit seinem Messer!“

Marsch für Frieden und Versöhnung

„Da kommt er ja!“

„Mann, der hat Nerven. Fünf Minuten vor Abfahrt.“

Die drei im Bus grinsten, als sie Pit mit seinem Rucksack, der fast größer war als er selbst, über den Platz kommen sahen. Hinter ihm strebten noch zwei oder drei andere Zuspätkommer auf den Bus zu. Als er dann keuchend einstieg, wurde er von seinem Team mit großem Hallo empfangen.

„Hallo Pit, hast du Messer mit?“

Hahaha.

„Warum keuchst du so sehr, verfolgt dich etwa ein Bär?“

Allgemeine Heiterkeit im Bus.

Dann umarmten ihn alle drei und beteuerten ihm, dass sie froh seien, dass er es noch geschafft habe.

Als Pit seinen Platz eingenommen und wieder einigermaßen bei Puste war, erzählte er, dass er sich eigentlich schon seit letztem Abend in Sarajewo aufhielt und Zeit genug hatte. Er hatte gestern einen Billigflieger von Berlin erwischt und dachte, dass es doch ganz schön wäre, einen ganzen Tag für Sarajewo zu haben.

„Es war auch alles sehr schön, nur eben auf der Fahrt hierher krachte die Tram mit einem PKW zusammen, oder umgekehrt, ich weiß nicht. Jedenfalls mussten wir alle aussteigen und laufen. Na ja, gerade nochmal gut gegangen.“

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, während der Fahrer draußen seinen Rucksack verstaute.

„Alles gut, Pit.“

„Hauptsache, wir sind alle zusammen.“

„Und freuen uns jetzt auf die Fahrt und die nächsten drei Tage.“

„Der Fahrer kommt. Es wird gleich losgehen.“

So dachte der Fahrer auch. Doch als er den Motor anwarf, gab der merkwürdige Geräusche von sich. Er schaltete noch einmal aus. Dann wieder ein. Dasselbe. So ging es ein paar Mal, während etliche Fahrgäste anfingen, ihre Witze zu machen oder allerlei Kommentare zum Besten zu geben.

„Manchmal hilft, gut zureden!“

„Oder ein Hammer. Bei mir hilft immer ein Hammer, sei es, einen Motor zur Räson zu bringen oder zu verschrotten.“

„Vielleicht braucht er einfach ein bisschen Öl. Scheint ja ein ziemlich alter Bus zu sein“, mischte sich nun auch Pit ein, der sich anscheinend von seinem Stress erholt hatte. „Der Bus ist mal in Deutschland gefahren, vielleicht sogar in Berlin? Jedenfalls steht da vorne für mich noch gut zu lesen: ‚Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen‘ und da drüben ‚Rauchverbot‘ und dass der Bus 52 Sitzplätze hat und Stehen verboten ist. Typisch deutsch, wie ich finde: es wimmelt von Verboten. Haha. Ich muss es ja wissen. Kurz und gut: Dieser alte Diesel hat bestimmt schon ein paar Hunderttausend Kilometer auf dem Buckel. Und so ein alter Bus verliert schon mal ein bisschen Öl. Wetten? Wenn wir mal alt sind, verlieren wir ja auch das eine oder andere: Zähne, Haare, und …“

„Das Gedächtnis“, warf Jan ein. „Dann geht es uns so wie den Schulfreunden, die sich zur Feier des 50. Geburtstages treffen.

‚Wo gehen wir denn hin‘? fragt einer. Sie beschließen: zum Hirschen. Da sind hübsche junge Kellnerinnen mit tiefem Dekolleté. Zehn Jahre später feiern sie 60. ‚Wo gehen wir denn hin‘? ‚Zum Hirschen. Da gibt es guten Braten‘. Wieder zehn Jahre weiter feiern sie den 70. Die übliche Frage: ‚Wo gehen wir denn hin‘? Zum Hirschen, da braucht man keine Treppen steigen. Zum 80., man ahnt es, ‚Wo gehen wir denn hin‘? Zum Hirschen. Da waren wir noch nie.“

Ein Augenblick Stille. Dann brüllen sie los vor Lachen. Auch alle Umsitzenden, die den Witz mitgehört haben.

„Völlig dement!“ Haha

„Klasse!“ Haha

Kjell schlägt sich vor Vergnügen auf die Schenkel, dann dem Vordermann auf die Schultern. Pit muss die Brille abnehmen, um sich die Lachtränen wegzuwischen. Dann gibt es noch eine Salve: Hahaha.

Nur Anna zieht etwas verständnislos die Mundwinkel herab: „Blödmänner.“

Irgendwie sind Männlein und Weiblein eben doch nicht ganz gleich.

Inzwischen gab der Motor gar keinen Ton mehr von sich und der Fahrer griff zum Handy, um offenbar jemand, der gerade beim Abendessen saß und nicht gestört werden wollte, zu erklären, dass er dringend Hilfe brauche, denn in seinem Bus säßen fünfzig Leute, die nach Srebrenica wollten. Dabei gestikulierte er wild mit den Armen und drehte sich öfter zu seinen Fahrgästen um, als wolle er von ihnen die Dramatik der Situation bestätigt haben. Endlich hatte er wohl den Gesprächspartner überzeugt, dass er Hilfe schicken wollte.

„In zehn Minuten kommen die Monteure“, ließ er weitersagen,

„und wer will, kann sich draußen so lange noch die Beine vertreten.“

Unser Team und viele andere Mitfahrer nahmen das Angebot an und standen in Gruppen rings um den Bus, diskutierten den Zeitplan für morgen, wo es um 8.30Uhr mit etlichen Reden zum 30. Jahrestag des Massakers losgehen sollte, bevor man die gut dreißig Kilometer Fuß- beziehungsweise Friedensmarsch für diesen Tag in Angriff nehmen würde. Natürlich mit Gepäck.

„Wie lange werden wir denn für den Weg brauchen“, wollte Pit wissen.

„Ich habe ausgerechnet“, übernahm Anna wieder einmal die Regie, „dass wir bei einem Durchschnitt von Vier-Stundenkilometern etwa acht Stunden brauchen plus im Ganzen wenigstens eine Stunde Pause. Macht zusammen neun Stunden, so dass wir, wenn wir denn um spätestens 9 Uhr loskommen, morgen gegen 18 Uhr am Ziel sind.“

„Es wäre natürlich besser, wir würden früher aufbrechen“, warf Jan ein.

„Und das bei sengender Hitze. Morgen sollen über dreißig Grad kommen. Mein lieber Mann.“

Kjell wischte sich schon mal vorsorglich den Schweiß von der Stirn.

„Die Organisatoren haben es nun mal so gewollt“, nahm Anna wieder den Faden auf. „Um 6 Uhr soll geweckt werden, dann Morgentoilette, frühstücken, Brote für unterwegs schmieren, Wasser fassen, die Reden und, und, und …“ „Es wird ein harter Tag!“ stöhnte Pit.

„Tage! Plural“, verbesserte Kjell.

„Alle, die mit uns nach Bosnien fahren“, summte Jan, „müssen Kerle mit Messern sein.“ „Jan und Anne und Kjell und Pit“, stimmten die anderen ein, „die haben Messer, die haben Messer. Jan und Anne und Kjell und Pit, die haben Messer, die fahren mit.“

Andere drehten sich nach ihnen um: „Euch geht’s wohl gut, was?“

„Wir können nicht klagen“, riefen die Teamer zurück.

„Mal sehen, ob wir morgen Abend auch noch lachen“, bremste Kjell die Euphorie.

Inzwischen waren die Monteure pünktlich nach dreißig Minuten eingetroffen. Sie klappten das Heck des Busses hoch und suchten nach dem Fehler. Der Fahrer streckte seinen Kopf zum Fenster raus und startete auf Zuruf immer mal den Motor. Und siehe da, er reagierte wieder, noch etwas stotternd, aber dann beim wiederholten Startversuch, streckte sich eine Faust mit erhobenen Daumen aus dem Fahrerfenster. Alles okay!

Die Fahrgäste stiegen wieder ein und mit mehr als einer Stunde Verspätung setzte sich der Bus schließlich unter allgemeinem Applaus in Bewegung.

„Der Start war ja etwas holprig“, meinte Jan, „nun kann es ja bloß besser werden.“

„Manchmal wird es aber noch schlechter“, sinnierte Kjell und zuckte die Schultern. Er sollte recht behalten, auch wenn Anna seine „ewige Miesmacherei“, wie sie es nannte, kritisierte.

„Pass auf, morgen Abend schauen wir lachend auf die Panne zurück“, meinte sie.

„Hoffentlich“, sagte aber auch Pit, der mit einigem Grauen an den langen Marsch dachte, der ihnen bevorstand. Und das bei der Hitze! ‚Mir graust`s‘.

„Na ja, anstrengend wird es schon. Aber es ist ja für eine gute Sache. Das Camp wird übrigens, soviel ich weiß, aus Containern und Zelten bestehen. Falls wir in Zelten untergebracht werden, werden Jan und ich eins nehmen und Ihr beide ein anderes. Für Jan und mich ist das kein Problem. Für euch hoffentlich auch nicht. Oder?“

Kjell schüttelte den Kopf.

„Bei uns in Schweden gehört das Zelt zu jedem Haushalt und zu jeder Wanderung. Denn die nächste Pension kann vierzig Kilometer weg sein. Also klar, ich schlafe gerne im Zelt. Und du Pit?“

Der schaute etwas bedröppelt drein.

„Ich muss gestehen, ich habe noch nie in einem Zelt übernachtet. Hat sich nicht ergeben. Aber ich werde es schon überstehen. Ich habe auf jeden Fall auch eine Taschenlampe und ein Fahrtenmesser mit.“

„Mensch, Taschenlampe ist ja gut für das Zelt, Messer nicht.