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Im Oktober des Jahres 1935 kommen im Hafen von Haugesund Menschen aus allen Teilen der Erde zusammen. Ihnen allen ist eine reiche Erbschaft in Aussicht gestellt. Doch schon bald erkennt die auf der Insel Urter gastierende Gesellschaft, dass nicht jeder unter ihnen mit guten Absichten angereist ist, denn nach und nach dünnt sich die Gesellschaft durch Ableben aus. Der pensionierte Ermittler McLane nimmt sich der Sache an. Schon bald muss er feststellen, dass die Indizien vielfältig sind, ebenso, wie die möglichen Motive der zahlreichen Verdächtigen.
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Seitenzahl: 215
Veröffentlichungsjahr: 2020
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Anastasja Koloschenka hasste die heiße Sonne.
An diesem Julitag im Jahre 1935 wurde ihr wieder einmal bewusst, wie sehr sie die kühlen Tage ihrer russischen Heimat vermisste.
Koloschenka war 36 Jahre alt und war in ihrer Jugendzeit am russischen Zarenhof ein- und ausgegangen, als wäre es der Dorfladen gewesen. Sie war die Tochter des persönlichen Adjutanten von Zar Nicolaus. Als solche hatte sie das Privileg, nicht nur mit der zwei Jahre jüngeren Zarentochter, die den gleichen Namen trug wie sie, aufzuwachsen und zu spielen, sie wuchs auch in wohlsituierten Verhältnissen und mit bester Erziehung auf. Als Freundin der Zarentochter wurde auch ihr eine geradezu königliche Jugend zuteil, die mit der russischen Februarrevolution ein jähes Ende fand.
Während es ihrer Freundin nicht gelang, den Bolschewisten zu entkommen, fand sie sich mit ihrer Familie und einem Koffer eilig zusammengesuchten Zarengoldes gerade noch rechtzeitig auf einem Schiff im St. Petersburger Hafen ein.
Ohne Obdach, aber mit Gold in den Taschen, hatte die Familie im Jahre 1918 mit unbekanntem Ziel die russische Heimat verlassen und war niemals zurückgekehrt.
Das Schicksal in diesen Tagen hatte sie auf den schwarzen Kontinent verschlagen. Nach langer Seereise war das Schiff im Hafen von Monrovia eingelaufen.
Hier hatten sie, in dem damals schon unabhängigen afrikanischen Land, sich ein neues Leben aufgebaut, was sich dank des Zarengoldes als nicht allzu mühsam entpuppte. Binnen weniger Jahre waren sie nicht nur Eigentümer der größten Villenresidenz Monrovias, sie waren auch Eigentümer der größten und ergiebigsten Diamantenmine Liberias.
Reichtum war seitdem etwas, das man nicht nur hatte, sondern was sich auch kontinuierlich vermehrte. Dies lag nicht nur an den erbärmlichen Verhältnissen, in denen sie ihre Arbeiter leben ließen, sondern auch an der durch Korruption gut geschmierten Lieferkette.
Anastasja hatte als einzige Tochter nach dem Tode ihrer Eltern in den Jahren 1928 und 1932 das Geschäft übernommen und führte es mit ebenso erbarmungsloser Hand weiter, wie ihre Eltern es ihr vorgelebt hatten.
Sie war eine Dame von Welt, trug feine Pariser Mode und rauchte amerikanische Zigaretten aus einer goldenen Zigarettenspitze. Sie hatte aber auch keine Skrupel, sich selbst die Hände schmutzig zu machen, sofern sie es für nötig erachtete. So konnte sie auch durchaus in einer ihrer Minen unter Tage auftauchen, wenn ihr zu Ohren kam, dass ein Arbeiter sie bestahl, was gelegentlich vorkam.
Was mit diesen Arbeitern geschah wurde nie verzeichnet oder festgehalten, doch den Gerüchten zu Folge wurden sie niemals mehr gesehen. In Ermangelung weiterer Ermittlungen, möglicherweise auch durch den ergiebigen Fluss von Schmiergeldern, wurden Fälle dieser Art nicht weiter untersucht.
Anastasja war eine Frau mit reizender Figur, blonden Haaren und eisblauen Augen. In Liberia wurde ihre Erscheinung schnell sinnbildlich für die Kälte ihres Herzens, wer von ihr abhängig war, fürchtete sie auch.
In Kreisen ihresgleichen hingegen konnte sie mit tadelloser Etikette aufwarten, weshalb sie auf Bällen oder anderen hochgesellschaftlichen Ereignissen ein gern gesehener Gast war.
An diesem heißen Tag jedenfalls rauchte sie gerade aus ihrer goldenen Zigarettenspitze ihre amerikanische Zigarette, als ein Bediensteter auf der Veranda ihrer Villa erschien und ihr auf einem Silbertablett einen Brief servierte, der soeben, an sie adressiert, eingetroffen war.
Sie betrachtete den Umschlag, der, neben ihrer Anschrift in Monrovia, folgenden Absender verriet:
G. Byrkenes
NOTAR
Skillebekgata 34
Haugesund, Norge
Mit einer kurzen Handbewegung deutete sie dem Bediensteten, sie alleine zu lassen und schlitzte mit gekonntem Schnitt den Umschlag an der Längsseite auf.
Sie zog ein Schreiben heraus und las:
Sehr geehrte Frau Koloschenka,
nach langwierigen Erbschaftsermittlungen sind Sie als Nachfahrin der Frau Maria Ilma Hakonsson, geboren im Jahre 1642, gestorben im Jahre 1703, erbteilsberechtigt in der Erbsache Erik Hakonsson, der am 07. April 1935 auf Urterborg, Urter, ohne direkten Erben verstorben ist.
Zur Testamentseröffnung am 07. Oktober 1935 sind Sie daher auf Urterborg geladen. Reisekosten werden vollumfänglich übernommen. Erben werden gebeten, sich am 01. Oktober 1935 im Hafen von Haugesund einzufinden, wo die gemeinsame Überfahrt zur Insel Urter organisiert ist.
Auslagen werden Ihnen bei Ankunft erstattet.
Ich bitte freundlichst um telegrafische Benachrichtigung Ihrer Verhinderung, gleichfalls Ihres Erscheinens.
Hochachtungsvoll
Gustav Byrkenes
NOTAR
Sie ergriff die kleine goldene Glocke, die neben ihr auf dem Tisch stand und klingelte ihr Personal herbei. „Packen Sie meine Koffer! Ich beabsichtige zu verreisen. Buchen Sie mir die nächstmögliche Überfahrt nach Europa.“
Sie wusste durch ihren Vater, dass irgendwo in ihrem Blut ein Wikinger steckte. Doch das hatte sie nie interessiert. Es war auch nicht das Erbe, dass sie reizte. Geld hatte sie genug. Sie war seit der Februarrevolution nicht mehr in Europa gewesen, es war vielmehr das nordische Klima und die Sehnsucht aus ihren frühen Jahren, die ihr den Entschluss leicht machte, diese Reise anzutreten. Ihr verlangte es nach einem Abenteuer.
♦
William McLane pflückte gerade ein paar Tomaten vom Strauch im Garten seines kleinen Hauses im schottischen Dorf Durness. Nach seiner Pensionierung im letzten Jahr hatte er sich hier in seinem kleinen Sommerhaus dauerhaft zur Ruhe gesetzt.
Viele Jahre hatte er für Scotland Yard ermittelt und war zwischen Glasgow und Edinburgh gependelt. Nun war seine Dienstzeit offiziell zu Ende gegangen.
Er liebte seine Arbeit und hatte sich in seiner Laufbahn den Ruf eines analytischen und sehr erfolgreichen Ermittlers aneignen können.
McLane war ein wacher Geist, der die Lösung vieler Fälle dem Umstand zu verdanken hatte, dass er das Offensichtliche nicht zu schwer in die Waagschale legte, sondern auch nach alternativen Lösungswegen suchte, in denen er häufig den Schlüssel zum Verbrechen fand.
McLane war bekannt als ein verschlossener Mensch, der nichts auf zu viele Worte gab. Dieser Eindruck konnte täuschen, denn wenn er nicht bei der Arbeit war, konnte er ein sehr geselliger Mensch sein. Da er jedoch in den letzten vierzig Jahren fast ausschließlich gearbeitet hatte, war seine private Seite nicht vielen Menschen bekannt.
Er hatte so sehr für seinen Beruf gelebt, dass er es darüber all die Jahre versäumt hatte, eine entsprechende Frau für sich zu finden. Ein Umstand, den er nun, da er weitestgehend seine Zeit ohne Aufgabe zu Hause verbrachte, bereute.
Ihm war langweilig.
Gelegentlich beriet er einige Kollegen der örtlichen Polizei in kleineren Diebstahls- oder Vermisstenfällen.
Doch auch das trug kaum dazu bei, seinen Zustand erträglicher zu machen.
So verbrachte er die meiste Zeit des Tages damit, sein Pfeifchen zu rauchen und den Garten in Stand zu halten, den er angelegt hatte. Morgens informierte er sich in der täglichen Zeitung über das Geschehen dort draußen, nachmittags lief er, akkurat gekleidet, eine Runde durch das Dorf, sah nach dem Rechten und wenn das Wetter es zuließ, stattete er dem Strand fußläufig einen Besuch ab und betrachtete die brausenden Wellen.
Er war weder ein besonderer Menschenfreund, was wohl an seinen vielen Jahren in der Verbrechensbekämpfung lag, noch war er Menschen feindlich gegenüber eingestellt. Er begegnete Personen, die er nicht kannte, mit dem gesunden Abstand eines erfahrenen Ermittlers. Sein Gespür für Menschen war besonders gut ausgeprägt und über viele Jahre trainiert. Auch dies war ein Umstand, der ihn oft auf die richtige Spur gelockt hatte.
Als William McLane gerade die letzten roten Tomaten des Tages in seinen Korb legte, hielt der Postbote mit seinem Fahrrad am Gartenzaun und winkte ihn herbei.
„Post für dich!“, sagte er und drückte ihm einen Stapel Briefe in die Hand.
McLane schaute die Briefe durch. Die Post kam hier nur an jedem dritten Tag, da kamen ein paar Briefe schon schnell zusammen.
An einem Brief allerdings blieb sein Blick unmittelbar haften.
Sein Absender war ein bestimmter G. Byrkenes, Notar aus dem norwegischen Haugesund.
Was hatte er mit den Norwegern zu tun?
Selbst in seiner Dienstzeit hatte er nur wenig Bezug zu Norwegen gehabt. Nur einmal, in einem Mordfall, hatten sie die Spur in dieses Land gelegt. Das Auslieferungsersuchen hatte Erfolg gehabt. Der Mörder saß nun sein Leben lang hinter Gittern. Dort, wo er hingehörte.
Noch im Garten öffnete er den Umschlag und machte sich mit dessen Inhalt vertraut.
McLane blickte kurz in die Ferne. Von einer norwegischen Abstammung seiner Mutter, sicher vier oder fünf Generationen zurück, wusste er nichts.
Doch schien ihn eine solche Reise zu reizen, vor allem, da sie bezahlt war und ihm auch noch eine möglicherweise ansehnliche Erbschaft in Aussicht stellte.
Seine Analyse sagte ihm unmittelbar, dass diese Erbschaft von größerem Wert sein musste, denn anderenfalls hätte man es nicht auf sich genommen, ihn hier zu ermitteln.
Vielmehr versprach diese Reise aber eine Abwechslung, die er nötigst brauchte.
Sein heutiger Nachmittagsspaziergang führte ihn daher auf direktem Wege zur Telegrafenstation.
♦
Mit dem begrüßenden Getose des Nebelhorns lief die „Spirit of Denmark“ in den Hafen von Port Elizabeth ein und wurde von den Südafrikanern mit Willkommensschüssen empfangen.
Die „Spirit of Denmark“ war ein majestätischer Ozeankreuzer. Im Jahre 1928 in Liverpool vom Stapel gelaufen, bildete sie das größte und luxuriöseste Flaggschiff der DanskLine, der seinerzeit größten Schifffahrtsgesellschaft Nordeuropas. Von sechs großen Dampfmaschinen angetrieben glitt die „Spirit of Denmark“ seitdem über die Weltmeere und brachte die High Society der Welt an jeden Kontinent des Erdballes.
Die Suiten waren groß und mit allen Annehmlichkeiten der Zeit ausgestattet, beim Bau waren keine Kosten und Mühen gescheut worden.
Hoch oben, auf Deck 9, war indes die luxuriöseste Kabine eingerichtet worden, die von niemand Geringerem dauerhaft bewohnt wurde, als dem emeritierten Eigner der DanskLine, dem inzwischen 91-jährigen Sveinung Kjaergaard. Der alte Kjaergaard war ein gewiefter Geschäftsmann, der aus einem kleinen innerdänischen Fährgeschäft im Laufe von siebzig Jahren die sechstgrößte Schifffahrtsgesellschaft der Welt hatte entstehen lassen.
Seinem Gespür für Geschäftstätigkeit verdankte er es, dass er sich im Alter von reifen 85 Jahren aus dem operativen Geschäft zurückziehen und seinen Lebensabend als Dauergast auf dem neuesten Prachtschiff seiner ganzen Flotte auf den Weltmeeren verbringen konnte. Hierzu hatte er die Werft beauftragt, ihm auf dem Oberdeck seine eigene private Suite zu schaffen.
Mit Ausnahme von ein paar altersgemäßen Gesundheitsproblemen, gegen die er die ein oder andere Medizin einnahm, verkehrte er mit seinen 91 Jahren noch in einem ausgezeichneten Allgemeinzustand.
Er ging nur selten an Land, auch in den Häfen verbrachte er die meiste Zeit auf seinem Schiff und zog seine Kreise, nicht ohne dem ersten Offizier beinahe täglich eine Liste mit Aufgaben zu überreichen, die auf dem Schiff in Ordnung zu bringen waren.
Etwa zwei Stunden nach dem Einlaufen in den Hafen von Kapstadt klopfte es an die Tür der Suite. Ein Steward überreichte Kjaergaard einen Brief.
Herr Sveinung Kjaergaard
c/o Spirit of Denmark; Kapstadt Harbour
Der Absender war ein gewisser G. Byrkenes, Notar aus Haugesund, Norwegen.
Neugierig öffneten die knorrigen Finger des alten Reeders den Umschlag.
Noch am gleichen Tag erreichte die Brücke folgende Anweisung:
„An G. Byrkenes, Notar, Haugesund, telegrafieren: S. Kjaergaard findet sich am 01.10.1935 in Haugesund ein.
An Brücke: Einlaufen in Oslo auf 29.09. vorverlegen. S.K. verlässt in Oslo das Schiff. Anschlussverbindung nach Haugesund vorbereiten.“
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Emilia Assmann war eine blasse, eher unscheinbare Person. Für ihre 43 Jahre sah sie bereits recht alt aus, gezeichnet von einem sorgenvollen Leben, das es nicht immer gut mit ihr gemeint hatte. Obgleich sie mit ihrem blonden, lockigen Haar und den blaugrünen Augen nicht unansehnlich war, war sie eine dieser Personen, die in einer größeren Gesellschaft so unbemerkt blieben, dass man schlussendlich nicht einmal wusste, ob sie überhaupt zugegen gewesen war.
Emilia Assmann war als Telefonistin in Düsseldorf beschäftigt. Der frühe Tod ihres Ehemannes vor acht Jahren hatte ihr nicht nur die Existenzgrundlage geraubt, sie war seither auch psychisch angeschlagen und hatte bereits mehrere Sanatoriumsaufenthalte hinter sich.
Ihr Leben war eine Last für sie und sie konnte auf wenig Unterstützung in ihrem Umfeld bauen. Sie hatte keine Familie und aufgrund ihres introvertierten, glanzlosen Lebens auch nur einen sehr begrenzten Freundeskreis.
Wenn man ihren Gemütszustand mit dem Wetter vergleichen wollte, so kam ihm ein grauer Herbsttag wohl beachtlich nahe.
Sie pendelte, sofern sie nicht gerade einmal einkaufen musste, zwischen ihrer Arbeit und der kleinen Wohnung, die sie sich von ihrem schmalen Einkommen leistete, hin und her.
Sie ging so gut wie niemals aus oder pflegte soziale Kontakte. Nicht, weil sie das soziale Umfeld ablehnte, sondern weil es ihr nicht gelang, Kontakte zu knüpfen oder ihr Umfeld überhaupt für sich zu begeistern.
So erreichte sie auch diesmal nach einem langen Arbeitstag ihre leere Wohnung in der Weiherstraße. Die wenigen Poststücke, die sie erreichten, fand sie hinter ihrer Wohnungstür auf dem Fußboden.
Ein Brief fesselte allerdings ihr Augenmerk.
G. Byrkenes
NOTAR
Das war außergewöhnliche Post, noch nie hatte sie ein Poststück aus dem Ausland erhalten.
Sie verschlang den Inhalt mit ihren Augen. Es war ein heller Lichtstreif in ihrem sonst so tristen Leben.
Dass sie einen Teil ihrer Wurzeln im hohen Norden hatte, war ihr unbekannt. Nie hatten ihre Eltern etwas derartiges erwähnt. Vielmehr, falls ihre Eltern dies gewusst hätten, wäre es ihr sicherlich zugetragen worden.
Und doch, neben dieser Erbschaft, was auch immer sie betraf, bedeutete dies doch, dass es irgendwo auf dieser Welt Verwandte von ihr gab. Menschen ihres eigenen Blutes, Menschen, die sie schon deshalb akzeptierten und möglicherweise wahrnahmen, weil sie auf irgendeine Art und Weise zu ihnen gehörte.
Ihre Sehnsucht nach sozialen Kontakten war so groß, dass sie jede Hand umschlang, die ihr zu Hilfe gereicht wurde.
So setzte sie sich am gleichen Abend an den Sekretär und verfasste einen Brief.
„Emilia Assmann wird sich am 01. Oktober im Hafen von Haugesund einfinden. Mit der Bitte um Übersendung eines Vorschusses für die zu tätigenden Auslagen der Anreise,
hochachtungsvoll
Emilia Assmann“
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Tex Hakonsson zog an seiner Zigarre, als er, auf einer Anhöhe stehend, über seine Ranch und seinen weitläufig umzäunten Weidegrund im texanischen Three Rivers schaute und zufrieden lächelte, als er seine großen Rinderherden grasen sah.
Der 53-jährige Amerikaner mit stämmiger, gut genährter Figur, Schnauzbart und Cowboyhut hatte seinen amerikanischen Traum geschaffen.
Sein Vater, Harald Hakonsson, war 1874 aus Norwegen emigriert, mit nicht viel mehr in der Tasche als einer vergoldeten Taschenuhr und einem Koffer mit den notwendigsten Dingen des Lebens. Er war Richtung Texas gezogen und hatte bei der Eisenbahn seine ersten, wenigen Dollars verdient. Damit wollte er sich eine kleine bescheidene Farm aufbauen.
Nachdem er sich sein erstes Rind, immer noch ohne Farm, von seinen Ersparnissen gekauft hatte und plötzlich durch eine Erkrankung und die notwendigen Arztkosten kurze Zeit später gezwungen war, das Rind wieder zu verkaufen, merkte er, dass es ihm trotz des Rückschlages gelang, hiermit einen ordentlichen Gewinn zu erzielen.
In der Folge begann er mit dem Rinderhandel, verdiente sein erstes Geld, kaufte eine kleine Farm und heiratete ein Dienstmädchen. Kurze Zeit später kam dann Tex auf die Welt.
Das Geschäft mit den Rindern wuchs zuerst langsam, dann aber stetig. Als Tex etwa 14 Jahre alt war, schlug er seinem Vater vor, nicht nur mit Rindern zu handeln, sondern die Farm zu vergrößern und Rinder zu züchten. Damit konnten sie den Gewinn noch weiter steigern.
In den Folgejahren wuchs das Unternehmen zu einer großen Farm heran, sie übernahmen die Ranchen der umliegenden Bauern, stellten Personal ein und multiplizierten ihr Vermögen.
Sein Vater starb, ein Jahr nach seiner Mutter, im Jahre 1931 und hinterließ ihm ein millionenschweres Vermögen. Tex war steinreich.
Er hatte keine höhere Schulbildung genossen, er war aber auch nicht dumm. Seine Natur war derbe, aber ehrlich. Trotz seines Vermögens war er bodenständig, wenn auch nicht immer bescheiden. Er war stolz auf das, was er mit seinem Vater geschaffen hatte und gab dies auch an seinen eigenen Sohn weiter. Er arbeitete ihn ebenso ein, wie sein Vater ihn mit in das Geschäft geholt hatte.
Nach seiner täglichen Ranchbeschau auf dem Hügel stapfte er zurück zum Haus und sichtete in seinem Büro die Tagespost.
Unter einer Unzahl geschäftlicher Schreiben, Bestellungen und Rechnungen zog er einen Brief aus Übersee heraus.
G. Byrkenes
NOTAR
Ein Brief aus Norwegen. Tex war neugierig.
Noch am gleichen Nachmittag schickte er seinen Sohn mit seinem brandneuen Auto in die Stadt, um eine Nachricht zu telegrafieren.
„Tex Hakonsson wird sich am 01.10.1935 in Haugesund einfinden.“
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Der 34-jährige Hugo Delahaye kam gerade von einer Reise aus Las Vegas zurück in seine große Villa in Paris. Seine ganze Reise hatte eigentlich nur aus Spaß bestanden. Auf der Schiffsreise hatte er, mit Ausnahme kleinerer Schlaf- und Essensphasen, nur gefeiert. In Las Vegas war er den größten Teil seiner Zeit am Roulettetisch zu finden gewesen.
Das Leben des jungen Franzosen glich einer reinen Freudenveranstaltung, denn Hugo tat nichts, was er nicht machen wollte. Woher seine finanziellen Mittel kamen, wusste niemand so genau. Dass er sie hatte, stand wohl außer Zweifel, denn er warf mit seinem Vermögen nur so um sich. Maß kannte er nicht.
Ob er reich geerbt oder das Geld gewonnen hatte, war nicht bekannt. Böse Zungen glaubten aber zu wissen, dass er sein sehr ansehnliches Vermögen innerhalb von einem Jahrzehnt mit der Errichtung verschiedener Bordelle und nicht ganz legaler, anderer Geschäfte erzielt hatte. Fakt war nur, dass er vor drei Jahren in die pompöse Pariser Villa eingezogen war und seitdem nicht an einem Tag arbeitend gesehen wurde.
Den Haushalt machte eine Haushälterin, den Garten pflegte ein Gärtner. Seine Geschäfte, wenn er sie denn hatte, wurden offensichtlich nicht mehr von ihm federführend geleitet.
Auf eine Einladung eines Notares G. Byrkenes stieg er am 28. September 1935 in seinen Bugatti und machte sich in guter Laune auf den Weg nach Haugesund.
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Lord Colmsworth hatte gerade auf seinem Landsitz Whitby Castle, einem kleinen Schloss an der englischen Küste, mit einem guten Freund diniert und wollte gerade mit ihm, einem Brandy und einer Zigarre vor dem Kamin Platz nehmen, als er den Briefschlitz in der Eingangshalle laut klappern hörte.
Es sei gesagt, dass der 68-jährige Colmsworth trotz seiner edlen Herkunft nicht über größere finanzielle Mittel verfügte. Bei dem großen Börsencrash im Jahre 1929 hatte er beinahe gänzlich sein Vermögen verloren, das er, in der Hoffnung auf schnelle Gewinne, ausschließlich in Wertpapieren angelegt hatte.
Der Verkauf seiner Londoner Stadtwohnung sowie eines Gehöftes bei Skegness sicherte ihm nun sein finanzielles Überleben der kommenden Zeit.
Dies dürfte auch den Umstand erklären, das Lord Colmsworth auf die Beschäftigung jeglichen Hauspersonals verzichtete und es daher vorzog, selbst mit den abgemessenen Schritten eines englischen Lords und ebendessen kerzengerader Statur in die Halle zu schreiten und seine Post aus dem Korb hinter dem Briefschlitz zu sichten.
So las er auch mit Interesse das Schreiben eines gewissen G. Byrkenes, das an ihn adressiert den Weg zu seinem Landsitz gefunden hatte.
Ihm war bekannt, dass eine Urahnin von ihm eine norwegische Edeldame gewesen war, aber das war sicherlich bereits über zweihundert Jahre her.
Doch die Aussicht, dass er über diese alte Verbindung Recht auf eine Erbschaft haben könnte, kam ihm in seiner Situation überaus gelegen.
Zurück im Salon startete er wieder die Konversation mit seinem Freund.
„Ich werde verreisen.“
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Friedrich Engelmann öffnete die Wohnungstür seines Berliner Appartements. Die letzten 42 Jahre hatte er das Appartement morgens um 06:15 Uhr verlassen und war am Nachmittag gegen 18:00 Uhr zurückgekehrt. Doktor Engelmann stand in ganz Berlin bekannt als ausgezeichneter Arzt. Er war Chirurg an der Charité und arbeitete nebenbei als Dozent mit den jungen Medizinstudenten.
Er war, was man gemeinhin eine Koryphäe bezeichnete. Er war ein Mann mit großem Wissen, vor allem auf medizinischem Gebiet. Dabei war diese Laufbahn ihm nicht vorherbestimmt. Er kam nicht aus reichem Hause und wenn es das Glück nicht so überaus gut mit ihm gemeint hätte, wäre er vermutlich als Arbeiter in der ein oder anderen Fabrik geendet.
Wie der Zufall es wollte, war er in seiner Kindheit mit einem Jungen aus reichem Elternhaus befreundet.
Dessen Vater war Gesellschafter eines großen Pharmaunternehmens und er hatte das Privileg, fast täglich in der Villa seines Freundes ein- und ausgehen zu dürfen.
Wie es der Zufall wollte, waren sie im Winter auf einem zugefrorenen See Schlittschuhlaufen, als sein Freund im zu dünnen Eis einbrach und drohte, in dem eiskalten Wasser zu erfrieren. Geistesgegenwärtig hatte er einen abgebrochenen Ast ergriffen und seinen Freund damit aus dem eisigen Loch gezogen.
Ihm wurde dadurch ein großer Dank der Familie seines Freundes zu Teil, der sich in der Finanzierung seiner Schullaufbahn und seines Studiums ausdrückte. Er konnte dadurch das Gymnasium besuchen und studierte im Anschluss gemeinsam mit seinem Freund Medizin.
Nachdem er nach seinem Studium und seiner Promotion in dem besagten Pharmaunternehmen über acht Jahre an der Entwicklung neuer Medikamente gearbeitet hatte, war er unfreiwillig aus dem Unternehmen ausgeschieden.
Engelmann war federführend an der Entwicklung eines neuen Antibiotikums beteiligt gewesen. Zu dieser Zeit war ihm sein rasanter Aufstieg in dem Unternehmen bereits zu sehr zu Kopf gestiegen, weshalb er, um seinen Ruhm und finanziellen Bonus weiter zu steigern, ein noch nicht zu Ende entwickeltes Präparat zu früh auf den Markt hatte werfen lassen. Alle Tests waren sehr positiv ausgefallen, daher hatte er weitere notwendige Testreihen einfach ausfallen lassen und die Ergebnisse zu seinen eigenen Gunsten gefälscht. Er war daher mit der Marktreife viel früher fertig geworden, was ihm einen weiteren Aufstieg in der Pharmabranche gesichert hätte.
„Probaktolin“, wie das Medikament nach seiner Markteinführung hieß, geriet jedoch schnell in den Verdacht, an mehreren Todesfällen beteiligt gewesen zu sein. Dies konnte schließlich auch nachgewiesen werden.
Daraufhin hatte man seine Arbeit intern revidiert und seine Fehler und Nachlässigkeiten entdeckt.
Da es dem Pharmaunternehmen gelang, die Angelegenheit für die breite Öffentlichkeit versteckt zu halten und den Vorfall unter den Teppich zu kehren, verzichtete man darauf, gegen ihn Strafanzeige zu erstatten, wenn er im Gegenzug seine „freiwillige“ Kündigung einreichte. Dies erregte keine weitere Aufmerksamkeit für den Konzern und ermöglichte es Engelmann, seine Reputation aufrecht zu erhalten.
Bald darauf hatte er schon die Möglichkeit, an der Berliner Charité eine Stelle als Chirurg anzutreten, welche er auch ohne zu zögern annahm. Ein Tätigkeitsfeld, dass ihn ohnehin seit langer Zeit besonders faszinierte, da er
nun direkt am Menschen tätig sein konnte.
Das dunkle Kapitel seiner Berufslaufbahn war nie mehr zur Sprache gekommen, der Charité war es ohnehin niemals bekannt gewesen. Er schaffte es sogar, sich auch als Chirurg einen großen Namen zu machen.
Wie dem auch sei, sein Arbeitsleben war nun zu Ende gegangen und am heutigen Tage hatte er seinen letzten Arbeitstag hinter sich gelassen.
Ein bisschen orientierungslos fühlte er sich. Sein bisheriges Leben hatte daraus bestanden, am Operationstisch zu stehen und die verschiedensten Leiden der Patienten zu korrigieren.
Nun wurde er nicht mehr gebraucht, er war alt.
Dabei fühlte er sich noch nicht wie die siebzig Jahre, die sein Körper nun schon auf dieser Welt verweilte. Nur sein Spiegel verriet ihm jeden Morgen, dass diese Zeit nicht ohne Spuren an ihm vorbeigegangen war.
Er hatte Glück im Leben gehabt, und das gleich mehrfach. Doch seine Glückssträhne schien noch nicht beendet zu sein. Hinter der Eingangstür lag ein Brief. Er stellte seine Tasche zur Seite, hing Mantel und Hut an die Garderobe und hob den Brief vom Boden auf.
G. Byrkenes
NOTAR
♦
Mario Cerutti stieg im Bahnhof von Neapel in ein für ihn reserviertes Abteil in der ersten Klasse des Zuges ein, der ihn hoch nach Mailand bringen sollte. Von Mailand aus würde er den AlpenExpress nach München nehmen und von dort aus weiter nach Dänemark fahren, um auf der Fährverbindung nach Stavanger einzuschiffen. Dort hatte er sich die beste Kabine reservieren lassen.
Eigentlich reiste der etwas dickliche Herr mit dem freundlichen, runden Gesicht, der Brille, dem fein und gerade gezwirbelten Schnurrbart und der Melone, die die fehlenden Haare über dem schwarzen Haarkranz verdeckte, nicht gerne. Am liebsten residierte er in seiner Villa in Neapel und ließ sich dort von seinem Personal bedienen.
Seinem Gesicht zu Folge konnte der freundliche Herr mit seinen 56 Jahren keiner Fliege etwas zu Leide tun, doch dieser Eindruck täuschte.
Mario Cerutti war der Kopf der neapolitanischen Maffia. Nach außen hin gab er den aufrechten, korrekten italienischen Herren, dem nichts ferner lag, als in illegale Geschäfte verwickelt zu sein. Nur die wenigstens waren jedoch darüber im Bilde, welche Organisation auf sein Kommando hörte.
Cerutti betrachtete sich allerdings auch nicht als Kriminellen, im Gegenteil. Er war vor allem ein Geschäftsmann. Und hätte er nicht eines Tages von seinem Vater das „Familiengeschäft“ übernommen, er wäre auch ein respektabler Bankier oder Schuhfabrikant geworden.
Für ihn gehörten seine Entscheidungen zum Geschäft, sie waren nur selten persönlich. Das Geschäft hatte seine eigenen Regeln, denen sich er, aber vor allem alle anderen unterzuordnen hatten.
Er trat dabei allerdings nie in den Vordergrund, die schmutzige Arbeit verrichteten seine Angestellten.
Für ihn war es ein rundum sauberes Geschäft, mit dem er gutes Geld verdiente.
Die Zeiten waren ruhig, so konnte er sich auch den Luxus gönnen und diese Reise in den Norden Europas antreten.
Er hatte das Geschäft für die Zeit seiner Reise seinem Sohn übertragen. Dieser konnte nun zeigen, ob er sich als spätere Nachfolge für das Geschäft eignete. Er hatte ihn angelernt, wie das auch schon sein Vater mit ihm gemacht hatte. Dies war nun sozusagen seine Abschlussprüfung.
Er hatte schon immer ein Interesse daran gehabt, wie die Familiengeschichte der Ceruttis ausschaute. So wusste er bereits, dass ein Teil des Ceruttischen Blutes aus dem kalten Teil Europas stammte. Das war allerdings schon fast dreihundert Jahre her. Trotzdem bildete er sich ein, dass es das Wikingerblut in ihm war, das ihn im Besonderen zu diesem schwierigen Geschäft befähigte.
Und so scheute er nun auch nicht diese weite Reise, die ihn in die Heimat seiner so bewunderten Vorfahren brachte, alleine schon aus Interesse und Respekt vor seiner eigenen Vergangenheit.
Vor zwei Tagen hatte er einen Brief aus Norwegen erhalten, der ihn zu einer Erbschaftssache nach Haugesund geladen hatte. Dies wollte er sich nicht entgehen lassen. Mit noch größerem Vermögen konnte man ihn nicht locken, Geld strömte genug in die ohnehin vollen Kassen des Familienclans. Er machte diese Reise aus Neugier.