Der letzte Schrei - Yonatan Sagiv - E-Book

Der letzte Schrei E-Book

Yonatan Sagiv

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  • Herausgeber: Kein & Aber
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Oded »Wühlmaus« Hefer ist nicht der typische Detektiv. Als mürrischer und impulsiver Schwätzer zieht er meist die falschen Schlüsse, lässt sich beim Anblick jedes gut aussehenden Mannes ablenken und hat mit privaten Ermittlungen, nun ja, keinerlei Erfahrung. Als er den vermeintlich einfachen Auftrag annimmt, sich um ein 15-jähriges Pop-Sternchen zu kümmern, wittert er seinen Durchbruch. Und tatsächlich bedeutet es für Oded den Zutritt in eine Welt des Glamours und des Reichtums. Wäre da nicht dieser andere Fall, der mit seinem irgendwie in Verbindung zu stehen scheint: das Verschwinden einer transsexuellen Frau. Als seine Ermittlungen die verborgenen Verbindungen zwischen Israels wohlhabender Elite und jener Schichten aufdecken, deren Schweiß und Arbeit diese glamouröse Fassade ermöglichen, wird ihm klar, dass er nicht einmal denen trauen kann, die ihm am nächsten stehen.

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Seitenzahl: 440

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INHALT

» Über die Herausgeberin

» Über das Buch

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» www.keinundaber.ch

ÜBER DEN AUTOR

Yonatan Sagiv, geboren 1979, ist Autor mehrerer Romane und Wissenschaftler für moderne hebräische Literatur. Der letzte Schrei ist sein erstes Buch, das auf Deutsch erscheint. Yonatan Sagiv lebt und arbeitet in Tel Aviv und in London.

ÜBER DAS BUCH

Ein Fall, den der Privatermittler Oded Chefer als langersehnten Aufstieg in die Welt der glamourösen Tel Aviver Elite einschätzt, wird schnell komplizierter als gedacht und stellt ihn vor eine schwierige Entscheidung: Soll er dem süßen Ruf des Luxuslebens folgen oder seinen Freunden treu bleiben? Als Oded die verborgene Verbindung zwischen der High Society und den Menschen aufdeckt, die ihm am nächsten sind, kann er niemandem mehr trauen.

 

Für meine Eltern

 

Ruhm ist die wechselhafte Kost

Auf einem schwanken Teller

Vor dem als Gast

Man einmal sitzt

Ein zweites Mal gibt’s nimmer.

Und seine Krümel prüfen

Ironisch krächzend Krähen

Und flattern hin

Zum Korn der Farm

Die Menschen sterben dran.

Emily Dickinson

1

BALD WERDEN ALLE

FÜR DICH MORDEN

Das Auto kommt auf dem für Motorräder und Roller vorbehaltenen Parkplatz zum Stehen. Qualm aus dem Auspuff verschleiert die Sicht auf das weiße Landgut im Rückspiegel. Die Blitzlichter der Paparazzi erhellen den Abendhimmel und frieren die vorfahrenden Luxuskarossen in einzelne Schnappschüsse ein. Schöne, lachende Menschen ergießen sich über das Anwesen, wo sich eine Zypressenreihe im kalten Wind wiegt und deren Spitzen hoch aufragen wie ein Trupp Schildwachen, die eine Burg umstehen.

Im Wagen schnarrt das Telefon. Oberinspektor Yaron Malka möchte, dass ich ihn zurückrufe. Ofer Ganor fragt an, ob mit dem Umzug alles gut gegangen sei. Ich schalte das Handy aus und werfe die Autotür zu. Mein Fohlen stößt protestierend ein letztes Qualmwölkchen aus.

Weg mit dem Alten, auf zu Neuem. Zeit für moi, Zeit aufzugehen wie ein Stern.

»Name?« Der Sicherheitsmann am Eingang stoppt mich mit imposantem Body und ausdrucksloser Miene.

»Oded Chefer.«

Er nickt. Ich erzittere. Der Klang seines rauen Baritons. Die breiten Schultern. Die von dem schwarzen Anzug nur mit Mühe gezügelte primitive Wildheit. Ein Astralkörper, Nachfahre eines Geschlechts potenzstrotzender slawischer Krieger, die auf ihren Schlachtrössern vollbusige, fröhlich lachende Jungfrauen vor sich sitzen haben.

»Und wie ist dein Name, wenn man fragen darf?«, höre ich mein eigenes Stimmchen plappern.

»Stas.« Die Augen des Wachmannes scannen die Namensliste auf dem Klemmbrett, das in seinen Pranken wie ein Spielzeug aussieht.

»Stas.« Ich reibe die Hände wie eine Gastgeberin, die auf dem von ihr organisierten Wohltätigkeitsball einen ihrer potentiellen Großspender trifft. »Was für ein bezaubernder Name. Und woher stammst du, Stas?«

»Aus Netanja.«

»Natürlich, Stas, natürlich«, sage ich einfältig kichernd, flirtend. »Aber ich meinte ursprünglich.«

»Aus Netanja.«

Ich bin ein bisschen perplex ob der nichtexotischen Antwort. Stas schlägt eine Seite auf seinem Klemmbrett um. Sein Blick wandert die Liste hinab. Mein Herz beginnt, heftiger zu schlagen. Vielleicht wegen des gerade erfolgten diplomatischen Zwischenfalls, der Stas davon abhalten wird, mich besser kennenzulernen, vielleicht aber auch bloß aus Sorge, mein Name könnte am Ende nicht auf der Liste auftauchen. Stas blättert erneut, noch eine Seite ist perdu. Meine Haut brennt, mein Rücken schwitzt. Ich stopfe das schwarze Anzughemd von Zara in die schwarze Hose von Zara und richte die schwarze Krawatte von Zara. Möglicherweise hilft das, mir Zutritt zu verschaffen. Oder wenigstens mein erschreckendes Bäuchlein vor Stas’ wachsamen Augen zu verbergen. Eine weitere Seite wird vor meinem Gesicht umgeschlagen. Ich will hier kein Drama draus machen, aber so haben sie sich bestimmt bei der Selektion auf der Rampe gefühlt.

Stas ist bei der letzten Seite der Liste angelangt und hebt den Kopf. Ich schrecke zurück. Dieser Gladiatorenkörper. Und das Gesicht? Verkniffen wie das einer Marketenderin, die um ihre Ware feilscht. Der schöne Mann betrachtet mein Gesicht. Kalt. Grausam. Die hochmütigen, blauen Augen eines kaukasischen Kosaken, der nur plündern, sich den Bauch vollschlagen und alles rammeln will, was ihm in die Que-

»Du kannst rein.« Stas öffnet das Tor.

»Vielen Dank dir, Stas«, antworte ich und erröte, als mir aufgeht, dass ich mich gerade verbeugt habe.

»Einen schönen Abend noch.«

»Dir auch, Stas«, hechle ich wie ein Pekinese, der seinem Herrchen am Bein hochspringt. »Und falls du Durst haben solltest, sag Bescheid, ich besorge dir wirklich gerne einen Drink von der Bar –«

»Name?« Stas hat sich von mir ab- und dem Paar hinter mir zugewandt. Sein muskelbepackter Nacken ragt wie eine Befestigungsmauer vor mir auf. Der Name mag aus Europa stammen, aber die Manieren sind zweifellos aus Netanja.

Ich drehe ihm den Rücken zu. Das war ganz und gar nicht der Auftakt, den ich mir für einen solch rauschenden Abend erhofft hatte, aber wie unsere Weisen so schön sagen: aus einer tiefen Grube auf ein hohes Dach. Es bleiben noch fünfzig Minuten bis zum Treffen um halb sieben mit meinem sehr neuen und sehr wichtigen Klienten, und bei allem Respekt für Herrn Stas – ich bin aus rein beruflichen Gründen hier und habe nicht das geringste Verlangen, einen Gorilla zu bezirzen, den nur sein eigenes Spiegelbild interessiert.

Die Fassade des Landsitzes erhebt sich über der illustren Menge, die mich mitzieht und über einen Kiesweg um das schneeweiße Hauptgebäude leitet. Die Fenster geben hölzerne Emporen und nackte Betonwände im Innern preis. Eiserne Treppen scheinen ohne Verankerung im Raum zu schweben, ihre Pfeiler klettern in lichtdurchflutete Höhen zu einem unsichtbaren Ziel. Wir erreichen den Garten hinter dem Haus. Kellner mit Tabletts voller Champagnergläser bahnen sich ihren Weg durch Menschenmengen. Obstbäume und vergoldete Buddhastatuen umstehen Fischteiche, Sonnenschirme wiegen sich im kühlen Abendwind zu Bossa-Nova-Klängen. Die Luft des herbstlichen Abends vermischt sich mit dem prickelnden Geruch von Kiefern, Parfum, Alkohol und Geld.

Am Ende des Wegs bleibe ich stehen und nehme mir eins der langstieligen Gläser. Ich sondiere den Garten, registriere die Politiker und Schauspielerinnen, die Fußballer und Models, die Bankiers und Lobbyistinnen, die Sterneköche, Richter, Sängerinnen, die Realityshowstars, Dschungelcamper, die großen Brüder und Wer-wird-Millionär-Gewinnerinnen, die Gesellschaftsreporter und Nachrichtensprecherinnen – alle beschnuppern sie einander das Hinterteil. Ein Schauder läuft mir den Rücken hinab. Normalerweise würde ich wirklich nicht über diese dargebotene Fleur de Fleurs aus dem Häuschen geraten wie eine Societyreporterin in einer billigen Morgen-Show, aber das hier ist ein besonders besonderes Ereignis für die Privatdetektei Oded Chefer GmbH. Meine Wenigkeit ist keine Fliege mehr, die außen an der Windschutzscheibe klebt. Von jetzt an bin auch ich ein vergnügt summendes Bienchen, das sich am Nektar labt, den dieses wundervolle Leben zu bieten hat. Von jetzt an bin auch ich Teil der Crème de la Crème der israelischen Gesellschaft, gehöre zum Hodensack des Staates Israel, zum innersten Zir-

»Verzeihung, bringen Sie mir noch einen Aperol Spritz?«

Eine blasierte Stimme unterbricht meine Gedanken. Verstört drehe ich mich zur älteren Frau mit riesiger Sonnenbrille und Michael-Jackson-Nase um, die ein leeres Glas vor meinem Gesicht schwenkt.

»Ich … verzeihen Sie mir, aber ich bin kein …«, stottere ich.

»Ich habe nichts mehr zu trinken.« Die Frau deutet auf ihr Glas. »Also noch einen Aperol Spritz, ja?«

Ich spritz dir den Aperol gleich ins Gesicht, Schätzchen, will ich sagen, erkläre aber stattdessen Ihrer Betuchtheit höflich, dass ich mitnichten zum Personal gehöre, sondern ein geladener Gast sei. Genau wie sie auch.

»Und warum sind Sie dann angezogen wie ein Kellner?«

»Verzeihung, Verehrteste?« Nur mit Mühe wahre ich Contenance.

»Sie sehen aus wie ein Kellner.« Die Dame weist in Richtung Bar, um die sich Kellner in schwarzen Hosen, schwarzen Anzughemden und schwarzen Krawatten drängen. Ich lasse den Blick zu den Gästen auf der Rasenfläche wandern. Die Männer tragen Khakihosen und lange Leinenhemden, die Frauen bunte Kleidchen und bedacht nachlässig übergeworfene Stolen. Hier und da sind sportliche Jeansjacken, teure Markensweatshirts und hohe Sneaker zu sehen. Meine Wangen entflammen. Warum hat niemand sich die Mühe gemacht, mich per E-Mail über den sportlichen casual Dresscode von heute Abend in Kenntnis zu setzen? Ich wende mich der alten Schachtel zu, die soeben meine Welt in ihre beschämten Einzelteile zerlegt hat, doch sie wedelt mit ihrem leeren Glas bereits einem anderen Kellner vor der Nase herum. Einer solchen Schreckschraube bin ich schon lange nicht mehr begegnet.

Ich widme mich wieder dem fidelen Treiben auf der Rasenfläche und bemühe mich um eine gleichmütige Miene. Wenn du im stinkreichen Savyon bist, verhalte dich auch wie eine Savyonerin. Eine Verwechselung. Diese Schrulle hat ganz klar den grauen Star.

»Sie hat recht, Wühlmäuschen. Du siehst wirklich wie ein Kellner aus.« Eine näselnde Stimme schreckt mich auf.

»Immerhin sehe ich nicht aus wie die Hofnärrin von Donatella Versace, Süße«, schnaube ich, während ich nach der bekannten Stimme Ausschau halte.

Meine Lippen plustern sich demonstrativ auf, als ich die Person mustere, die nun vor mir steht in einem roten, hautengen Fransenkleid, das jeden Moment ihre Rippen zerquetschen könnte. Gabriela nennt sie sich. Diese Frau, die sich auf ihren übertrieben hohen Absätzen zu stattlichen 1,87 Meter aufschwingt und sich erlaubt, mich anzusprechen, als wären wir Busenfreundinnen. Und das nur, weil wir vor Menschengedenken mal eine zugedröhnte Nacht miteinander erlebt haben. Ich werfe einen schnellen Blick in alle Richtungen, um sicherzugehen, dass uns keiner der oberen Zehntausend beobachtet. Denn das Letzte, was ich jetzt brauche, ist eine arme Schabracke, die mir bei dem herbeigesehnten Event den guten Ruf versaut.

»Und was treibst du hier so, Lolly?« Gabriela zieht mir zu Ehren ihre aufgemalten Brauen in die Höhe. »Bist du durch die Hintertür rein, als der Koloss am Eingang für kleine Jungs musste?«

»Zu deiner Information, Gabriela«, antworte ich mit der Beherrschtheit einer Aufseherin in einem frommen Mädcheninternat, »ich bin durch die Vordertür rein mit einer offiziellen Einladung von Binyamin Direktor höchstpersönlich. Und was machst du hier?«

»Was ist daran nicht klar, Lolly? Ich bin hier, um meine internationale Karriere vom Stapel zu lassen.«

»Du weißt schon, Gabriela, dass diese Bezeichnung nur auf Englisch existiert, ja? Dein ständiges Lolly-Schmolly?«

»Och, Lolly-Lolly, du Lulatsch«, näselt Gabriela mitleidig in meine Richtung. »Offenbar hast du noch nicht kapiert, dass ein echter Star sich seine eigene Sprache ausdenkt, Schätzchen.«

»Oh, bitte verzeih mir, Gabriela«, ich gebe die Indignierte. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich mit Doktor Ludwik Lejzer Zamenhof persönlich spreche.«

»Ich weiß ja nicht, was du so mit Zamenhof treibst, Wühlmäuschen, aber ich, meine Schöne, bin wenigstens keine abgewrackte Tunte Modell 2007, die sich für jeden Strich gerade macht.« Dieses impertinente Weibsstück deutet mit einem blutroten Fingernagel auf mich. »Nein, nein, nein, Seelchen. Ich bin diejenige, die den Strich vorgibt. Guck dir mal all diese Celebs hier an. Was tun sich die Damen nicht alles an, was? Komplett operiert sind die. Mit Silikon ausgestopft. Aufgebrezelt. Überschminkt. Botoxgeglättet. Bis zum Anschlag voll mit Kollagen von den Lippen bis zum Hintern. Und willst du wissen, warum? Weil sie dafür morden würden, so auszusehen wie ich. Die betteln um den Killerlook einer freshly freshen Tranny.«

»Das also ist dein großer Plan, Gabriela?« Ich versuche, nicht meine allseits bekannte Gelassenheit zu verlieren. »Du bist hier, um aufzutreten? Was ist los? Hat unser Popsternchen Dana International abgesagt?«

»Schätzchen, Dana ist ein Icon, Ehre, wem Ehre gebührt, aber die kauft am Ende auch nur bei mir im AM:PM in der Allenby ein wie all die anderen falschen Schlangen in diesem Staat. Ich dagegen habe wirklich große Träume, meine Schöne. Ich rede mit dir über Erfolg in der Größenordnung von Ofra Haza. Rede mit dir über Hollywood next level shit. Über Calvin Harris featuring Gabriela.«

Gabrielas schwerer Akzent rückt Amerika in noch weitere Ferne als die Sterne, die über uns am zusehends dunkler werdenden Himmel leuchten. Die Weibsperson steckt sich eine Zigarette an. Ihr mit bordeauxfarbenem Lippenstift eingeschmierter Mund gibt nicht für eine Sekunde Ruhe: Ein Wort jagt das nächste, ein Traum den anderen. Los Angeles, ein Plattenvertrag bei Universal, Business-Class-Flüge, Konzerte in riesigen Stadien, Swimmingpools, Hotelsuiten, Diamantanhänger, Haute-Couture-Roben auf dem roten Teppich, Goldstatuen im Regal, ein Rolls-Royce, der in den Sonnenuntergang gleitet. Genauso wie es der blinden Vered in Der Weg nach oben ergeht. Wie es unserer unsterblichen jemenitischen Diva Ofra Haza im wirklichen Leben passiert ist. Und wie es Gabriela widerfahren wird, denn alles, was es dazu braucht, ist an dich zu glauben. Ganz zu schweigen davon, dass sie auch nicht so naiv sein wird wie Ofra und sich gut in Acht zu nehmen weiß vor all den Mr. Creepys.

Ich starre Gabriela an, die schon mehr als zehn Minuten über sich selbst schwadroniert, ohne mir auch nur eine einzige Frage zu stellen. Die Ungeduld, die mir am ganzen Körper zusetzt wie eine Wolke Stechmücken, verfliegt mit der Erkenntnis, dass die Frau, die da vor mir steht, ja eigentlich noch ein Mädchen ist. Vielleicht gerade mal zwanzig. Die Schminke übertüncht ihr frisches Gesicht wie Kriegsbemalung. Grasgrün und pink sind die Spitzen ihrer pechschwarzen Haare gefärbt. Die Fransen ihres roten Kleids wirbeln um ihren Körper, und von ihren Stilettos blättert das Gold ab. Tätowierte Sternchen überziehen ihre wohlgeformten Arme, deren ausladende Bewegungen die Unsicherheit in ihren Augen begraben, während sie in der Luft vor mir ihre grandiosen Schlösser errichtet.

»Weißt du was, Gabriela, ich bete zu Gott, dass all deine Träume in Erfüllung gehen.«

Sie verstummt. Mitten im Redeschwall bleibt ihr der Mund offen stehen. Ich weiß nicht, wovon ich mehr überrascht bin, von dem, was mir da herausgerutscht ist, oder von den spitzen Rippen, die sich plötzlich in meinen Oberkörper bohren, als mich Gabriela fest umarmt.

»Du bist mein Leben!« Sie schwenkt mich hin und her wie eine Lumpenpuppe, die einer hyperaktiven Gulliverin in die Finger gefallen ist.

»Gut, gut, nicht gleich abheben«, schnaube ich.

»Warum nicht, Seelchen? Ich liebe es abzuheben, am besten in einem Privatjet, was gibts daran nicht zu verstehen? Weißt du, wie ich dich von jetzt an nennen werde?«

»Wie?« Meine Brust schwillt vor Stolz.

»Stachelbärin.«

»Was?!«

»Ja! Das passt perfectly, weil du nämlich pieksig wie ein Stachelschwein und rundlich wie eine Bärin bist, und diese beiden Knuddel zusammen ergeben –«

»Schon gut, Gabriela.« Ich würge die Erklärung kurz vor dem freien Fall ab. »Tut mir leid, aber ich muss wirklich gehen.«

»Wohin?«

»Auf die Toilette.«

»Was? Hast du ein bisschen was da?« Sie tippt sich ans Näschen und zwinkert mir zu.

»Nein, Gabriela.« Würdevoll richte ich meine schwarze Krawatte. »Ich bin nicht hier, um auf dem Klo eine Linie zu ziehen wie die letzte Koks-Tante. Wenn du es unbedingt nochmals hören willst, ich bin hier, weil Binyamin Direktor persönlich mich eingeladen hat. Er will eine sehr wichtige Ermittlung besprechen, die ich für ihn durchführen soll und –«

»Petits Fours, die Herrschaften?« Zwei Kellner drängen sich zwischen uns. Gabrielas Blick weidet sich demonstrativ an unserem dreifach identischen Outfit.

»Sicher.« Ich ignoriere das Lächeln, das sich auf Gabrielas Gesicht stiehlt, und schaue auf das mit Köstlichkeiten beladene Silbertablett: Burekas mit getrockneten Tomaten, eingelegte Sardinen, rosige Lachshäppchen auf samtig weichen Blinys, Oliventapenade, Paprikacrème, Humus mit Pistazien, Brie-Croûtons mit saftigen Weintrauben. Ich schürze missbilligend die Lippen. Was für ein Überfluss. Was für eine Prahlerei. Was für eine Prunksucht. Ich weiß nicht, wie es anderen ergeht, aber eine solche Völlerei beeindruckt eine bescheidene Dame wie mich nicht im Geringsten.

»Ein klein bisschen Kohldampf, Wühlmäuschen?« Gabriela beäugt die weiße Serviette, auf die ich fünf Petits Fours gestapelt habe.

»Wie schon gesagt, Gabriela«, ich schnappe zurück und werde doch rot, »ich bin hier wegen eines wichtigen Jobs, und mein Hirn braucht Energiereserven.«

»Sicher, meine Schöne, sicher. Wie du meinst.« Sie strafft ihr rotes Kleid, um ihren Traumbody noch mehr zu betonen. Während sie mit Hingabe den hautengen Stoff glattzieht, verformen sich die schwarzen Sterne auf ihren Armen. Der erste Kellner macht Anstalten zu gehen. Ich halte ihn auf und angle mir einen kleinen Schokoladenpancake von dem Tablett. Wie meine Mutter immer sagt: Jede Mahlzeit braucht einen Nachtisch. Der Kellner trollt sich murrend. Ich verziehe das Gesicht. Da hat doch jemand eindeutig keine Manieren.

Gabriela zieht einen kleinen Spiegel aus ihrem schwarzen Handtäschchen. Ich nutze die Zeit der Make-up-Kontrolle und werfe einen schnellen Blick auf mein Handy. Zwanzig nach sechs. Noch zehn Minuten bis zum Treffen mit Binyamin Direktor.

»Sag mal, musst du dich nicht vorbereiten? Wann ist dein Auftritt?« Ein Versuch, dieses öffentliche Ärgernis loszuwerden, das mich wie ein Tripper befallen hat.

»Das ist ein Geheimnis, mein Süßer.« Gabriela richtet ihre schwarze Mähne. Die pink-grünen Spitzen stechen auf den roten Fransen ihres Kleides hervor.

»Was soll das heißen, ein Geheimnis? Trittst du etwa nicht vor allen auf?«

»Schätzchen.« Gabriela klappt den Spiegel geräuschvoll zu. »Es geht um Klasse, nicht um Masse.«

»Also trittst du heute Abend gar nicht auf?«

»Das hab ich nie gesagt.«

»Dann trittst du doch auf?«

»Auch das hab ich nie gesagt.«

»Kurzum, du trittst nicht auf«, resümiere ich genervt. »Und wie bist du überhaupt an eine Einladung gekommen?«

»Gabriela braucht keine Einladung.«

»Und mit wem bist du gekommen, wenn du keine eigene Einladung hast?«

»Oh Lolly, du machschtmischfertig.« Gabriela tippt mir an die Nasenspitze. »Ich hatte ganz vergessen, was für eine Wühlerin du bist. Also, pass auf, eine erste Lektion in Sachen fame, präg sie dir gut ein: Ein real Star leuchtet am stärksten von Weitem.«

Gabriela wirft mir einen Luftkuss zu. Ihre schwarze Mähne peitscht mir ins Gesicht, ehe sie einen Wimpernschlag später im Gedränge auf der Rasenfläche verschwunden ist. Die Befriedigung, die ich empfinde, diesen Grind endlich los zu sein, verblasst beim Versuch zu verstehen, warum ausgerechnet Gabriela – die Person, die sich bei unserer ersten Begegnung nicht davon abbringen ließ, mir peinlichst genau von all ihren Eroberungen zu erzählen –, plötzlich derart fanatisch auf ihre Privatsphäre bedacht ist. Und das, wenn es um ihren großen Durchbruch geht. Ich schüttle den Kopf. Genug Zeit vergeudet. Oder wie Hercule Poirot sagen würde: Ich muss die kleinen grauen Zellen präparieren für die Unterredung, die meine Karriere in andere Sphären katapultieren wird. Konzentriert blicke ich auf meine häppchenbeladene weiße Serviette. Am besten beginne ich mit der Tapenade. Es heißt ja immer, Oliven seien sehr gut fürs Kurzzeitgedächtnis.

2

ES IST NICHT ALLES GOLD,

WAS GLÄNZT

Der Mond löst allmählich die untergehende Sonne ab, während ich am linken Rand der Rasenfläche auf Binyamin Direktor warte. Jenseits der Natursteinmauer, die das Anwesen umgibt, über den anderen Villen, den still daliegenden Swimmingpools und prachtvollen Straßen Savyons leuchtet der Horizont rot wie ein infektiöser Hautausschlag. Ich starte Google Maps. Vielleicht sind das die Brände, von denen ich im Radio auf dem Weg hierher gehört habe. Den Berichten zufolge soll das Zentrum des Feuers zuletzt in Netef gelegen haben. Vierundfünfzig Kilometer entfernt von Savyon. Das ist weit genug weg. Offenbar lassen sogar Naturkatastrophen die Refugien der Upper Class unbehelligt.

Ich schaue erneut auf die Uhr. Danit, Direktors Sekretärin, hat in der E-Mail halb sieben geschrieben, aber jetzt ist es bereits achtzehn Uhr dreiundvierzig. Ich mustere die Personen, die sich um die Stehtische, die weißen Sonnenschirme und vergoldeten Buddhastatuen gruppiert haben. Von Binyamin Direktor keine Spur. Bedauerlicherweise ist auch Stas, der kaukasische Kosak, nirgends zu sehen. Gabriela aber glücklicherweise auch nicht.

Wieder kontrolliere ich die Uhrzeit. Kein Grund sich aufzuregen. Fünfzehn Minuten sind im Prinzip gar keine Verspätung, zeugen nicht im Geringsten von fehlender Wertschätzung für mich oder meine Zeit. Es besteht also wirklich kein Grund, sich wie ein Fußabtreter zu fühlen. Ich verlagere mein Gewicht von einem Bein auf das andere und beschließe, nochmals die Begrüßungsworte zu proben:

»Schalom, Binyamin. Oded Chefer. Wie kann ich Ihnen helfen?«

Kurz und knackig. Der Ton männlich und professionell, dazu ein koscherer heterosexueller Blick. Ich wiederhole den Satz mit mehr Betonung auf dem »ich«. Als ich das Damenkränzchen neben mir bemerke, verstumme ich. Höflich lächelnd nicke ich den Grazien zu, allesamt Stammgästinnen in verschiedensten Prime-Time-Talkshows und heute Abend im lässigen T-Shirt-Look anwesend. Kein einziger Blick kommt zurück. Offenbar sind die Society Ladys zu beschäftigt damit, sich über das beste Hotel auf Ko Phi Phi auszutauschen, um die Existenz eines Mitmenschen auch nur wahrzunehmen, geschweige denn zu würdigen. Zum Kotzen ist das. Ich hole wieder das Telefon raus und kichere geräuschvoll vor mich hin, als hätte ich gerade eine höchst amüsante WhatsApp-Nachricht von einem meiner unzähligen Freunde bekommen.

»Schlagt mich tot, aber ich verstehe nicht, was die von ihnen wollen«, sagt jetzt eine Galabija tragende, mit reichlich Bronzer bepinselte Blondine zu dem Damenkränzchen. »Was wollen diese Leute denn? Dass der Regierungschef und seine Frau Economy fliegen? Also wirklich, hätte das denn Stil?«

»Du verstehst das nicht, Liebste, weil du ein großes Herz hast.« Ein muskulöser Typ im langärmligen Poloshirt und mit nach hinten gegelter Tolle legt den Arm um sie. »Das größte Problem in Israel ist, dass die Leute so missgünstig sind. Deshalb kommt dieses Land auf keinen grünen Zweig. Keiner gönnt dem anderen irgendwas.«

Ich stöhne auf und schnappe mir einen Kellner samt Tablett. Bestimmt helfen ein paar Alfajores gegen das Unwohlsein. Jenseits der Mauer leckt der rötliche Schimmer an den Rändern der nächtlichen Dunkelheit. Ein kalter Wind trägt den Geruch von Feuer und Qualm heran. Erneut linse ich aufs Handy. Genau sieben. Noch immer kein Lebenszeichen von Binyamin Direktor. Selbstverständlich kümmert es Leute wie ihn nicht, Leute wie mich eine halbe Stunde warten zu lassen. Schade eigentlich, ich hätte gern Geschäfte gemacht, bevor wir hier alle bei lebendigem Leib verbrennen.

»Wie sind die Alfajores?«

»Zum Niederknien«, antworte ich, ohne aufzuschauen.

Ein samtiges Lachen lässt mich den Kopf heben: Vor mir steht ein Mann im quietschgrünen Anzug, der vor lauter verfetteter Körpermasse zu platzen droht. Die rote Krawatte betont seine Blässe. Mir zu Ehren ziehen sich die fleischigen Lippen zu dem allseits berühmten schmierigen Lächeln auseinander. Ich bin unschlüssig, ob ich mir sofort eine Kugel in den Kopf jagen soll oder erst später – ich kann nicht glauben, dass nach all meinen minutiösen Planungen das Erste, was ich zu Israels Public-Relations-Gott sage, ein derart tuntiger Spruch ist.

»Wie wunderbar zu hören, dass die Alfajores zum Niederknien sind.« Binyamin Direktors ölige Stimme träufelt in meine Ohren, die fleischigen Lippen wölben sich abermals zu einem feuchten Lächeln. »Ich gebe das an Roshfeld weiter. Er ist der Einzige auf der Welt, dem wir beim Dessert vertrauen. Stimmts, Rutha?«

»Ist das der Privatdetektiv, den du treffen wolltest?« Die griesgrämig dreinschauende Frau, die neben Direktor steht, übergeht seine Frage einfach.

»Erraten, meine liebe Rutha, der und kein anderer.« Direktor strahlt sie an, und seine blonde Lockenpracht krönt seinen mächtigen Schädel wie der Heiligenschein eine pausbäckige Putte auf einem italienischen Renaissancegemälde. Die etwa fünfzigjährige Frau mustert mich mit den Augen einer gerissenen Krämerin. Das blumige, luftige Kleid steht im schreienden Widerspruch zu ihrem bäuerlichen Körperbau. Ein wolliger Pudel hetzt ihr um die dicken Knöchel. Ihr Blick, der mich taxiert, als wäre ich eine Kuh auf dem Weg zur Besamung oder zum Schlachthof, bleibt an meiner Hüfte hängen.

»Eine Verletzung.« Ich kippe mein sperriges Becken vor und zurück. »Das Stehen tut mir weh. Ist bei einer Ermittlung passiert, die ich vor ein paar Monaten für den Inlandsgeheimdienst geführt habe, Wahnsinns-«

»Ausgezeichnete Wahl, Bulli.« Rutha schneidet mir das Wort ab. »Der richtige Mann zur richtigen Zeit.«

Ich atme erleichtert auf. Ruthas Krämerinnenaugen strahlen mich so glühend an, dass man es fast für Wohlgefallen halten könnte. Direktor winkt einen Kellner heran, auf dem Tablett klimpern die Gläser. Im Hintergrund singt Sarid Hadad, sie fliege durch das Leben wie auf einem Karussell. Der Pudel zwischen Ruthas Beinen bellt, und seine entzündeten Augen begucken mich misstrauisch.

»Champagner, Oded?« Direktor drückt mir ein Glas in die Hand, ohne eine Antwort abzuwarten.

»Liebend gern, Binyamin.«

»Sagen Sie Bulli zu mir.«

»Ist mir ein Vergnügen, Bulli.« Ich gluckse wie eine einfältige Gans.

Wir drei lassen die Champagnergläser klirren. Die kühle Flüssigkeit rinnt mir sprudelnd die Kehle hinab. Kohlensäurebläschen zerplatzen. Ich verschlucke mich, huste. Direktor klopft mir auf den Rücken. Rutha fragt, ob ich Wasser möchte. Die erdrückende Warmherzigkeit, mit der sie sich meiner annehmen, erinnert erst an fürsorgliche Eltern, dann aber an ein ältliches Swingerpärchen. Ich mache einen Schritt weg. Meine Augen scannen Direktors grünen Anzug und seine rote Krawatte, den feisten Körper, das Albinogesicht, die Sperberäuglein in den schlaffen Hautfalten. Die Aufmachung ist dieselbe wie in den Medien, das Gesicht dasselbe. Trotzdem habe ich Mühe, in diesem netten Mann, der mich mit Champagnergläsern überhäuft, als wäre ich sein verloren geglaubter Sohn, den über Leichen gehenden Unsympathen aus dem Fernsehen zu erkennen. Das Ekel, das alles mögliche Gewürm mit grotesken Lügen vertuscht, angefangen von Schmalzsängern, die sich im Namen der Kunst an Minderjährigen vergehen, bis hin zu blutsaugenden Industriemagnaten, die angeblich zugunsten der Allgemeinheit und des Staates Steuern hinterziehen.

»Gut, Bulli, Oded, ich lass euch jetzt für eure wichtigen Angelegenheiten allein.« Rutha lächelt uns beiden zu, und ihre Hand streicht über die Schulter ihres Mannes, als sie ihm sagt: »Ich muss noch kurz mit Geula und Gideon reden, wegen der Sache, die ich vorhin mit dir besprochen habe. Sehen wir uns nachher?«

Die Blicke des Paars kreuzen sich. Flattrig zwinkern mir die eitrigen Augen von Ruthas Pudel zu. Ich denke, wie befremdlich, dass die Urahnen dieses verfilzten und kränklichen Etwas mal Wölfe waren.

»Gut, Oded, mon chéri.« Direktor hakt sich bei mir unter und führt mich von der Menge weg an den Rand des Grundstückes. »Nachdem Sie, was bei uns zu Hause der Rutha-Test genannt wird, überstanden haben, kann ich Ihnen erklären, warum ich Sie herbestellt habe. Fragen Sie, wen Sie wollen, die bezaubernde Noni oder die teure Margol – alle werden Ihnen sagen: Bulli ist keiner, der lange herumredet. Ich werde Ihnen sagen, was ich will, Sie sagen mir, was Sie denken, und wir machen Nägel mit Köpfen. Klingt das gut?«

»Das klingt sehr gut, Bulli.«

»Also, Oded, wie Sie ja sicher wissen, vertreten wir von DirektorPublicRelations Talente aus verschiedensten Bereichen. Wirtschaft, Spitzengastronomie, Politik, Entertainment und so weiter. Die Branche ist mir egal, wichtig ist mir, die wunderbarsten und besten jungen Menschen zu fördern, die mit ihrem Talent und ihrer Liebe zum Wohl unseres Landes und damit zu unser aller Wohl beitragen. Bottom line, Oded, ist bei mir immer vive la République.«

Ich nicke professionell. Das ist vermutlich nicht der richtige Zeitpunkt, Bulli zu fragen, was er zu unser aller Wohl beisteuerte, als er neulich in den Nachrichten für einen Waffenhändler eintrat, der in Afrika Staatsbeamte mit Millionensummen aus israelischen Banken schmierte.

»Im vergangenen Jahr«, Direktor strahlt mich an, »habe ich begonnen, mit einer jungen und einfach atemberaubenden Sängerin zu arbeiten. Ein Jahrhunderttalent namens Carine Carmeli. Sie haben bestimmt schon ihre erste Single gehört, ›Load up‹?«

Ich schüttle den Kopf. Was für ein Name, was für ein Niveau. Irgendwo begeht Yardena Arazi gerade Harakiri im Bett.

»Ich muss mich doch über Sie wundern, Oded.« Direktor zieht eine Augenbraue hoch. »Ich dachte, Sie wären auf dem Laufenden. Sie haben sicher schon bemerkt, dass ich ein großer Freund des Understatements bin. Also vertrauen Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Carine Carmeli das ganze Land aus den Angeln heben wird.«

»Sagen Sie«, – ich kann nicht anders –, »ist Carine Carmeli zufällig die Tochter von Mali Carmeli?«

»Warum fragen Sie?«

»Was soll das heißen, warum, Bulli?« Ich wittere Oberwasser. »Ich hab Mali verehrt. ›Ein ferner Traum‹ kam ’99 raus, als ich auf dem Gymnasium war. Und alle Mädchen sangen den ganzen Sommer lang nur: ›Ein ferner Traum aus einem Märchen, nimm mich auf deine Burg, tief hinein die Lanze ramme, ein süßer Schmerz und ich entflamme.‹ Der Song war ein Riesending, kaum zu glauben, dass Mali ein One-Hit-Wonder geblieben ist.«

»Mali hat drei Alben herausgebracht, Oded, das würde ich nicht unbedingt ein One-Hit-Wonder nennen.«

»Ja, aber die waren alles Flops.«

»Oded, Oded, mein lieber Oded.« Bullis Stimme explodiert zu einem Stakkato. Es schwingt dasselbe dramatische Pathos mit, das er in den Medien verwendet, um die Wahrheit so zu formen, wie es ihm gefällt. »Mali Carmeli war und ist eine der größten israelischen Sängerinnen. Und ›Ein ferner Traum‹ war der Startschuss einer grandiosen Karriere, die mehr als ein Jahrzehnt währte, bis Mali beschloss, sich und ihre ganze Kraft ihrer Rolle als Mutter zu widmen. Ich, der ihre Karriere aus nächster Nähe begleitet hat, kann wie kaum jemand sonst den phänomenalen Erfolg bezeugen, den sie genossen hat und bis heute noch genießt.«

»Klar, Bulli!« Ich verfluche mein großes Mundwerk. »Mit One-Hit-Wonder meinte ich, dass Mali Carmeli selbst ja ein einziger großer bleibender Hit ist.«

»Sehr schön, Oded.« Bulli tätschelt meine Hand. »Dann sind wir uns ja einig.«

»Absolut.« Ich hebe mein Champagnerglas. Wer hätte geahnt, dass Binyamin »Bulli« Direktor die Karriere dieser has-been gemanagt hatte.

»Ich war zutiefst dankbar«, fährt Bulli fort, »den Aufstieg eines Stars wie Mali Carmeli zu formen. Sie können sich demnach vorstellen, wie aufgeregt ich bin, die Karriere ihrer Tochter auf den Weg zu bringen. Aber in den letzten zwei Monaten ist etwas mit Carine passiert. Und deshalb sind wir hier.« Das Gesicht des Kolosses verdüstert sich.

»Was ist geschehen?«

»Carine war immer ein gutes Mädchen. Hübsch, talentiert, ernsthaft, mit ganzem Herzen bei der Sache, eine bezaubernde junge Frau. Doch in den letzten zwei Monaten hat sie sich verändert. Streitet ständig mit ihren Eltern, und die Lehrer sagen, sie fehle oft im Unterricht und habe auch aufgehört, zu den Studioproben zu kommen. Sie schließt sich stundenlang in ihrem Zimmer ein, kommt dann mit geröteten Augen raus und redet mit niemandem. Und vor zwei Wochen, als Mali wissen wollte, was sie die ganze Zeit da in ihrem Zimmer mache, hat sie angefangen zu schreien und gedroht, sie werde von zu Hause weglaufen. Wir machen uns Sorgen, Oded, dass sie … dass sie«, Direktors Stimme verfällt in einen Flüsterton, »in schlechte Gesellschaft geraten ist, dass sie angefangen hat, Drogen zu nehmen, und mon dieu, wir wissen ja alle, wo das enden kann.«

»Das tut mir leid zu hören.«

»Uns allen, Oded, uns allen. Es ist furchtbar, einfach furchtbar. Wie weit ist es mit diesem Land gekommen, wenn die besten unserer Kinder so abrutschen können? In einer Woche soll Carine ins Studio, um ihre zweite Single aufzunehmen, und dieses Mädchen, das sein ganzes Leben davon geträumt hat, Sängerin zu sein, will plötzlich nicht einmal mehr auch nur einen Fuß ins Tonstudio setzen. Kurzum, die Kleine ist deprimiert, am Boden zerstört. Und hier, Oded, kommen Sie ins Bild.«

»In welches Bild?«

»Carines Bild, Oded. Ich möchte, dass Sie der Sache auf den Grund gehen. Wir müssen dahinterkommen, was ein so schönes, so begabtes Mädchen dazu bringt, eines Tages aufzustehen und … und –« Direktors theatralische Stimme lässt ihn plötzlich im Stich. Er lockert mit fahriger Bewegung seine rote Krawatte, die ihm den Hals abschnürt, als sei sie bestimmt, ihn ins Himmelreich zu befördern, und setzt neu an: »Und beschließt, ihr Leben wegzuwerfen. Ich mache mir wirklich große, große Sorgen um sie, Oded. Dieses Mädchen … dieses Mädchen ist einfach mein Augenstern.«

Die Sanftheit in Direktors Sperberblick überrascht mich. Seit Jahren bin ich es gewohnt, diesen Mann aus sicherer Entfernung – vom Sofa vor dem Fernseher aus – zu verabscheuen. Doch jetzt, als er leibhaftig nur wenige Zentimeter vor mir steht, mit seinem ehrlichen Gesichtsausdruck, der von den Lichtern abwechselnd erhellt und beschattet wird, seiner suggestiven Stimme und der weichgespülten Sprache, fange ich wider Willen an, diesen überschäumenden, farbenfrohen Mann zu mögen.

»Waren Sie mit Carine bei einem Psychologen?«, frage ich.

»Bei den tops of the tops.« Bulli seufzt. »Zu allen haben wir sie geschleppt, zu Varda Raziel Jacont, Iris Reitzes, Ilan Rabinowitz, zu Judith Oranya Milo …«

»Dann ist die Kleine vollkommen verrückt.« Ich nicke teilnahmsvoll.

»Was war das, Oded?«

»Ich sagte, Varda Raziel Jacont kann einen wirklich verrückt machen«, korrigiere ich hastig. Direktor lächelt zustimmend und zählt weitere Koryphäen und Leibärzte der Hautevolee auf, bei denen die arme Carine vorstellig werden musste.

»Um es kurz zu machen, Oded«, schließt Direktor, »Carine will sich keinem von uns öffnen. Und ich verfolge Ihre Arbeit seit Ihrem letzten gelösten Fall, den Morden in Margoa. Als das mit unserer Carine passiert ist, da war mir klar, Sie sind der richtige Mann für diese Aufgabe.«

»Danke, Bulli«, erwidere ich lakonisch wie ein Privatdetektiv, dessen abgeklärtem Charakter Komplimente fremd sind. Wunderbar, endlich lerne ich jemanden kennen, der meine Professionalität zu schätzen weiß. Meinen messerscharfen Verstand, das Improvisationsvermögen, die kompromisslose Ratio, die –

»Israels erste Detektivschwester!« Bulli breitet die Arme aus, als präsentierte er einem begeisterten Publikum die neue Stripperin des Diamond Club in der Schmuddelmeile Haifas. »Feminin, schwatzhaft, laut. Wie hat Ruthas Stilist noch neulich zu ihr gesagt? Eine echte, echte Schwuchtel. Ja, Oded, mon chéri, Sie sind genau der Richtige, um die Mentalität einer Fünfzehnjährigen zu knacken.«

»Danke … Bulli«, murmle ich mit deutlich weniger Begeisterung.

»Sehr schön, Oded, sehr schön. Wir müssen dieses Problem innerhalb einer Woche gelöst bekommen, um den Zeitplan des Aufnahmestudios einzuhalten. Deshalb sind Sie hier. Um diese Sache schnellstens aus der Welt zu schaffen. Wir benötigen Sie daher ab morgen. Ist das ein Problem für Sie?« Direktors Fragezeichen windet sich wie eine glitschige Schlange um mich.

»Nein, nein, Bulli. Natürlich nicht.«

»Sehr schön, das freut mich zu hören. Vor allem müssen wir immer daran denken, Oded, dass unsere Carine schon jetzt eine richtige Celebrity ist, weshalb wir verdammt diskret sein müssen. Das Letzte, was wir vor dem Erscheinen der zweiten Single brauchen, sind negative Schlagzeilen und eine außer Kontrolle geratene Geschichte. Also kein Wort zu niemandem. Das ist das Allerwichtigste.«

»Selbstverständlich, Bulli. Absolute Diskretion.«

»Schön.«

»Also soll ich Ihrer Sekretärin Danit den Vertrag schicken?«, frage ich und bemühe mich um einen fachmännischen Gesichtsausdruck. In meinem Bauch flattern dabei die Schmetterlinge, Möwen tauchen im Sturzflug ins Meer, Albatrosse breiten ihre Schwingen aus, und Sterne tanzen am Himmel. Das ist der Augenblick, an den ich mich mein Leben lang erinnern werde. Der Augenblick, in dem meine Karriere ein für alle Mal abhebt. Der Moment, in dem ich dem Prekariat Lebewohl und den oberen Zehntausend seid gegrüßt sage.

»Vertrag?« Bullis Stimme wird kühl. »Wozu brauchen wir einen Vertrag, Oded?«

»Um das Honorar zu klären, natürlich.«

»Ach, Unsinn. Um den Teil kümmern wir uns später.«

»Sie meinen, Zahlung dreißig Tage nach Rechnungsstellung?«

»Nein.«

»Sechzig Tage?«

»Nein.«

»Neunzig Tage?« Ich japse.

»Oded, ich wundere mich über Sie. Ich habe Sie zum exklusivsten Event des Jahres eingeladen – für eine solche Einladung würde jeder, vom kleinsten Pisser in Dimona bis zum vorsitzenden Richter am Obersten Gerichtshof, den linken Lungenflügel seiner Großmutter verkaufen. Ich biete Ihnen hier eine einmalige Eintrittskarte zum innersten Zirkel überhaupt. Eine neue und wundervolle Welt, also lassen Sie uns diese peinliche Angelegenheit vorübergehend vergessen. Ein Schekel hin oder her, zu feilschen wie die Marktschreier ist nichts für Leute wie uns.«

»Aber bei einer Ermittlung fallen immer Ausgaben an –«

»Mein lieber Oded.« Jetzt nimmt mich Bulli in den Arm wie ein dickköpfiges Kind, der schwere Parfümgeruch seines grünen Samtanzugs betäubt mich fast. »Also, mal ehrlich. Sie tun mir einen Gefallen, ich tue Ihnen einen Gefallen. So läuft das in unserem Land. Alle helfen einander. Wenn jemand in Nöten ist, bieten alle sogleich Hilfe an. Das werden Sie in Amerika oder Europa nicht finden. Das ist die israelische Mentalität. Wissen Sie, dass sogar unser großer Amos Oz gesagt hat, ›sollte ich mal auf der Straße zusammenbrechen, dann möge dies hier geschehen und nicht in Manhattan‹. Und er hat recht gehabt! Das ist es doch, was unser Land zu einer einzigen großen Familie macht. Sie sind da für mich – und ich? Ich bin da für Sie!«

Mit gesenktem Kopf linse ich nach dem fleischigen Albinogesicht von Binyamin »Bulli« Direktor. Ich höre nicht zum ersten Mal solche Sätze von ihm. Es sind dieselben klebrigen Klischees, mit denen er im Fernsehen die Bestechungen, Erpressungsmanöver und Geldwäschen seiner Klienten verteidigt. Doch nun, von Angesicht zu Angesicht, denke ich, dass ich mich geirrt habe. Binyamin Direktor glaubt tatsächlich an die Dinge, die er sagt.

»Klingt gut, Bulli. Ich warte dann auf Anweisungen von Danit«, höre ich mich selbst sagen.

»Sehr schön, Oded.« Direktor strahlt mich wieder an. »Also stehen wir ab sofort in engem Kontakt.«

»Sehr gern.« Ich lächle. »Aber sagen Sie, stimmt das wirklich, was getuschelt wird? Dass Ayelet und Sara zerstritten sind, weil sie beide –«

Ein Klingeln aus der Innentasche des grünen Jacketts schneidet meine Frage ab. Bulli wirft einen Blick auf sein Smartphone. Seine feuchten Lippen gleiten aufeinander. Aus dem Augenwinkel bemerke ich mehrere andere Personen, die mit der Gleichzeitigkeit von Synchronschwimmern auf ihre Handybildschirme schauen.

»Oded«, Direktor drückt mir die Hand, »ich muss gehen. Ich habe gar nicht mitgekriegt, wie spät es schon ist. Es war unschätzbar wertvoll, Sie getroffen zu haben. Versprechen Sie mir, dass wir uns schon sehr bald wiedersehen.«

»Sicher, Bulli. Soll ich Sie begleiten?«

»Aber nicht doch, Oded.« Bulli rüttelt an meiner Schulter. »Gehe er hin und genieße die Party.«

»Sind Sie sicher? Ich würde mich freuen, Ihnen behilflich zu sein.«

»Nicht nötig. Sie haben mir schon jetzt unsagbar geholfen. Au revoir, Oded, mon chéri, au revoir.«

Direktor küsst mich auf beide Wangen. Schnell wendet er sich ab, elegant, scharf. Der Rücken entfernt sich von mir Richtung Herzstück der Rasenfläche. Die süßliche Parfümfahne, die er zurücklässt, verfliegt rasch in der kühlen Abendluft.

Ein sonderbares Auftriebsgefühl erfasst mich. Das Herz flattert leicht in meiner Brust. Ist es möglich, gleichzeitig innerhalb und außerhalb eines Kreises zu sein? Schade eigentlich, dass ich sämtliche Physikstunden auf dem Gymnasium geschwänzt habe, sonst wüsste ich wahrscheinlich die Antwort.

Eine Hand auf meiner Schulter holt mich zurück. Der Partylärm dringt an meine Ohren, die summenden Unterhaltungen der Gäste, schrilles Lachen, klirrende Gläser. Eine schnulzige 90s-Stimme singt auf Englisch, dass die Dinge nur besser werden können. Ich drehe mich um.

»Sag mal«, Stas verschränkt seine sehnigen Arme, »hattest du mir nicht vor einer Weile einen Drink versprochen?«

»K-k-klar!« Ich gerate schwer ins Stottern beim unverhofften Anblick des kaukasischen Kosaken. »Was möchtest du denn?«

»Ich weiß nicht, ob ich dir jetzt noch trauen kann.« Stas macht ein enttäuschtes Gesicht. »Ehrlich? Du bist ein ziemlich mieser Kellner, wenn du für diese Frage zwei Stunden brauchst.«

»Ich bin kein Kell-«

»Ganz ruhig, war nur Spaß.« Stas versetzt mir einen leichten Schlag gegen die Brust, und wie ein Pfeil durchstößt seine Faust mein Herz. »Yallah, ich hol uns was. Was willst du?«

»Whi-Whiskey?«

»Mit Eis oder ohne?«

»Mit.«

»Irrtum. Aber was soll man von einem kulturlosen Israeli schon erwarten.«

Ich starre wie gelähmt auf den jungen Mann im Anzug, das dichte, schwarze Haar und das spitzbübische Funkeln im Blick lassen seine blauen Augen strahlen wie die Wintersonne. Sein muskulöser Körper thront vor mir, im Hintergrund das Anwesen, die Rasenfläche, das Fischbecken, die Sonnenschirme, Obstbäume und vergoldete Buddhastatuen. Ein zögerliches Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Vielleicht hat Binyamin Direktor ja doch die Wahrheit gesagt. Vielleicht ist dieser Abend tatsächlich der Anfang einer neuen und wundervollen Welt.

3

BIN ICH DENN MEINER

SCHWESTER BESCHÜTZERIN?

»Also wurdet ihr intim?«, will Ofer Ganor wissen.

»Nein, Ofer, wir wurden nicht intim«, entgegne ich empört wie eine alte Jungfer, in deren Privatsphäre eingedrungen wurde.

»Warum nicht?«

»Er musste zurück, weiterarbeiten. Aber wir haben Telefonnummern ausgetauscht.«

»Aber du wärst gerne mit ihm intim geworden?«

»Könntest du bitte aufhören, diesen Ausdruck zu benutzen«, blaffe ich.

»Welchen Ausdruck?« Ofers Augenbrauen schießen in die Höhe, und er richtet sich die Krawatte.

»Intim werden.«

»Warum?«

»Weil du keine achtzigjährige Schachtel bist«, belle ich.

»Wallah, entschuldige.« Ofer lacht. »Welchen Ausdruck soll ich denn verwenden?«

»Weiß nicht.« Ich wische mir mit der Serviette die Croissantreste aus den Bartstoppeln und schaue meinen besten Freund an. »Ich verstehe ja, dass Sexappeal nichts ist, was im Bankgewerbe als wertvoll gilt. Aber wie wäre es mit etwas, das ein bisschen euphorisierender klingt? ›Hattet ihr Sex‹? Oder ›habt ihr gefickt‹? Oder ›hat er ihn dir reingescho-‹«

Ich verstumme angesichts des Kellners, der plötzlich mit einem weiteren Mandelcroissant am Tisch auftaucht.

»Das geht aufs Haus.« Er lächelt und stellt den Teller vor mir ab.

»Wow, danke vielmals.« Ich werde handzahm. »Das Erste war auch voll in Ordnung, wirklich. Nur ein bisschen muffig. Und ein Hauch zu trocken. Aber ich habe den Laden hier so gern, und als Sie fragten, wollte ich bloß ehrlich sein. Euch zuliebe.«

Der Kellner lächelt mich an und dreht sich zu einem anderen Tisch um. Ich beiße vom zweiten Croissant ab und nehme einen Schluck aus der dampfenden Tasse. Ein Kaffee und zwei Gebäcke für sechzehn Schekel auf dem Balkon des hipsten Restaurants der Stadt kommen mir sehr gelegen.

»Oded, ich muss los. Bin schon spät dran.« Ofer streift sich seinen Blazer über. Der dunkelblaue Stoff betont sein blondes Haar und die grünen Augen. Ich weiß nicht, warum er einen solchen Aufwand betreibt. Sähe ich aus wie Ofer Ganor, würde ich nackt auf die Straße gehen. Was für eine Vergeudung. So ein Körper. So ein Gesicht. Und zu allem Überfluss leider straight.

»Wohin willst du dermaßen aufgetakelt morgens um halb elf?«

»Für den Fall, dass du es vergessen hast, hier ist es halb vier nachmittags, und ich habe dir gesagt, wir haben einen Teambuilding Workshop vom ganzen Büro –«

»Ich habe dich ans Büro verloren«, jammere ich.

»Sehr witzig, Oded. Yallah, ich muss los, aber sag schnell, wie lebt es sich in meiner Wohnung?«

»Märchenhaft!« Ich drücke die Brust raus.

»Schön zu hören.« Ofer lächelt. »Und viel Erfolg heute. Wie aufregend. Was du erzählt hast, klingt wirklich nach einem Quantensprung. Merk dir, worüber wir gesprochen haben. Sie ist fast noch ein Kind, gerade mal fünfzehn, also sei einfühlsam, wenn du mit dieser … äh … Carine heißt sie, hast du gesagt?«

»Ich bin immer einfühlsam.« Ich reagiere beleidigt, habe es satt von Ofer wie eine alleinerziehende Mutter behandelt zu werden, die sich mit ihrem am Tourette-Syndrom leidenden Kind herumplagt.

»Wenn du meinst. Also, yallah, ich bin schon irrsinnig spät dran.«

»Oh, Moment, sag mal, wie krieg ich dieses Apple TV –«

»›Immer einfühlsam‹ war das?«

»Ich nehme an, das lässt sich auch später noch klären«, murmle ich.

Ofers Hand nähert sich dem Bildschirm. Sein schönes Gesicht friert ein, das Display wird dunkel. Seit sie nach Singapur gezogen ist, hat Madame Ofer Ganor offenbar vergessen, wie man sich in aller Form verabschiedet. Ich schließe die Skype-App und starre auf das Handy. Es besteht kein Grund dazu, dass Stas Omansky mir morgens um halb elf eine Nachricht schicken sollte, aber ich bin trotzdem enttäuscht.

Ich kontrolliere abermals mein Postfach. Die versprochene E-Mail von Danit ist auch noch nicht da. Ich lehne mich zurück und versuche, den Druck in der Brust zu ignorieren, der sagt, Binyamin Direktor könnte es sich anders überlegt haben. Ich schaue von dem Balkon herunter, auf dem ich sitze. Die Terrasse, die sich unter mir erstreckt, ist bis auf den letzten Platz gefüllt mit Speisenden, ihre Blicke hinter den Sonnenbrillengläsern wandern unentwegt von den Tischnachbarn zu den herumeilenden Kellnern. Der Duft von frisch gebackenem Brot, geraspeltem Gemüse und Blumensträußen liegt in der kühlen Luft. Gesprächsfetzen dringen zu mir: Über die anstehende Fashionweek, die Liste der begehrtesten Junggesellen und Junggesellinnen in Tel Aviv und wieso alle Netflix gucken und die Damen auf Elena Ferrante fliegen. Und warum Stand-up-Paddling-Kurse bei Sonnenaufgang ein must sind.

Ich nehme einen Schluck von meinem Kaffee. Die warme, bittere Flüssigkeit lässt die Champagnerschwaden des gestrigen Abends sich verflüchtigen. Meine Finger trommeln gegen die Tasse. Zu meinen Füßen pickt ein Schwarm Spatzen Chiasamen auf, die vom Tablett eines hochnäsigen Kellners auf den Boden gefallen sind. Und plötzlich wird mir klar, dies ist der erste Morgen seit Monaten, an dem ich, kaum dass ich die Augen aufgeschlagen habe, nicht an Oberinspektor Yaron Malka gedacht habe. Gott sei Dank sind wir den los! Je eher ich dieses peinliche Kapitel hinter mir lasse, desto besser. Eine Lady meines neuen, geachteten Standes darf sich nun wirklich nicht mit Gedanken über einen dahergelaufenen Polizisten belasten, der sich impertinenterweise entschieden hat, in einer schimmligen Wohnung im Assi-Stadtteil Yad Eliyahu seine Nächte mit einem unausstehlichen Kriminalreporter zu verbringen.

Ein elektronisches Zirpen – die E-Mail von Danit ist endlich eingetroffen. Mir stockt der Atem. Das Blut schießt mir ins Gesicht. Es hat zwar sechsunddreißig Jahre gedauert, aber so fühlt es sich anscheinend an, wenn man ein neues Level erreicht. Ich öffne die angehängte Datei und traue meinen Augen kaum, als ich ein lückenloses Dossier über Carine Carmeli vorfinde: Lebenslauf, Arztberichte, Pressefotos, Passwörter und Nutzernamen zu den Konten des jungen Stars bei Facebook, Twitter-Glitter, Insta und Snap. Kein Zweifel, ein Lolitapüppchen zu durchleuchten zu Zeiten, in denen die Privatsphäre mausetot ist, macht die Arbeit eines Privatdetektivs um einiges leichter. Diverse Boulevardmedien kündigen »mit Ergriffenheit« das Erscheinen Carmelis zweiter Single namens »Bombardiert« an. Mal abgesehen vom seelischen Leid, den mir die fehlerhafte Grammatik dieser Pressemitteilungen zufügt, erscheint mir die Abmachung, den Fall innerhalb von sechs Tagen gelöst zu bekommen, zunehmend realistisch. Ich überfliege die diversen Dokumente. DirektorPublicRelations zufolge ist Carine Carmeli als Tochter der berühmten Sängerin Mali und des erfolgreichen Investmentberaters Alon in Ramat Hasharon geboren und dort aufgewachsen. Mit ihren zarten fünfzehn Jahren gilt sie bereits als das große Versprechen der israelischen Musikwelt und wird uns alle mit mediterranen Popsongs begeistern, die Latinorhythmen, Dance, orientalische Elemente und eine großartige Stimme voller Soul vereinen. Mit anderen Worten – ich öffne den Insta-Account von Carine Carmeli –, dieses Mädchen wird uns im Miniröckchen seine Punani zeigen, während es brav davon singt, wie gern es tanzt.

Als Nächstes scanne ich ihre anderen Social Media Accounts, die alle makellos gemanagt sind. Die alten lustigen Grimassenfotos, die Selfies mit Freundinnen im Zelt auf der Klassenfahrt, Fotos mit lachenden Emojis von in die Sonne gereckten Füßen und schlechten Zensuren sind in den letzten Monaten durch inszenierte Bilder ergänzt worden. Unschuldigere Posen, die dennoch ihre Wirkung nicht verfehlen. Carine im Bikini auf einer Luftmatratze im Pool, Carine im Bikini kauft ein Schokoladeneis, Carine im Bikini an den Stamm einer riesigen Dattelpalme gelehnt. Achttausendvierhundert Follower. Hunderte von Likes. Dutzende von Kommentaren. Mein Leben. Meine Schöne. Perfekt. Hammer. Umwerfend. Atemberaubend. Wahnsinn. Beauty. Princess. Püppchen. Queen. Bombe. Bei der Jugend ist Understatement offensichtlich nicht mehr in Mode.

Ich bleibe an einem Bild hängen: Carines braunes Haar ergießt sich über grazile Schultern, die grünen Augen funkeln im Katzenblick. Der flache Bauch. Durch das nasse Bikinioberteil zeichnen sich die kleinen Brüste ab. Auf einigen Fotos sieht der sonnengebräunte und lasziv dargebotene Körper des fünfzehnjährigen Mädchens reif und weiblich aus, auf anderen schmerzlich kindhaft. Auf allen wirkt sie glücklich. Ein wunderschönes und junges Publicitymonster, das bereit ist, die Welt zu erobern. Aber wenn man all dem Glauben schenkt, ist es schwer sich vorzustellen, was ein so perfektes, umwerfendes, schönes, puppenhaftes, königinnengleiches fröhliches Championmädchen in eine solche Notlage stürzen kann?

Dieser Gedanke nagt an mir, während ich von dem Restaurant in der Yehuda-Halevi-Straße zurück zur Wohnung marschiere. Der Himmel ist düster wie verrußtes Glas. Der staubige Wind weht Kanalisationsgerüche vom Parkhaus herüber, eine Betontrutzburg, deren Ausgänge und Wendelrampen Autokolonnen in verstopfte Straßen, zwischen verdreckte Bürgersteige und mit Graffiti verunstaltete Mauern entlassen. Der Staub in der Luft ist wie eine biologische Waffe und brennt mir im Hals und in den Augen. Eine versiffte Wüstenstadt. Es ist schon Ende November. In New York stehen die Bäume jetzt in schönster Herbstfärbung. In London klopft leichter Regen gegen das Fenster. In Paris brennt ein Kamin, und draußen vor dem Fenster sind vereinzelt Sterne in der Nebelkulisse erkennbar. Nur in Tel Aviv trittst du an einem trüben, kühlen Tag aus einem Boutiquerestaurant, und ein Sandsturm rotzt dir ins Gesicht.

Ich biege nach links in die Mazeh-Straße ab. E-Scooter säumen die Straße wie blinkende Reiher. Mein Handy klingelt. Das Wort Papa erscheint vor dem Hintergrundbild eines alten Mannes, der eine Ente jagt. Ich gehe ran. Knirschender Kies, schnelle Schritte und kräftige Atemzüge sind zu hören.

»Hallo … Papa?«

Trekkingschuhe, die Kies zermalmen, antworten mir. Ich seufze. Seit er vor einem halben Jahr in Pension gegangen ist, macht sich Amos Chefer jeden Morgen zu Walkingrunden durch Petach Tikwa auf. Er behauptet, vor jedem Marsch die Tastensperre zu aktivieren, aber die Phantomanrufe beweisen das Gegenteil. Ich versuche noch ein paar Schaloms, die von weiterem Schnaufen, mehr Schritten und Kiesgeräuschen beantwortet werden. Resigniert lege ich auf.

Blitze erhellen den grauen Himmel, als ich den gepflegten Vorplatz des Gebäudes erreiche, in dem sich Ofers Wohnung befindet, die ich gütigerweise bewohnen darf, während Ofer sich in Singapur tummelt. Ich suche die Schlüssel in meiner Jackentasche. Das Handy vibriert erneut – eine zweite E-Mail von Danit. Carine Carmelis Adresse in Ramat Hasharon. Und Anweisungen: Das Treffen ist für siebzehn Uhr angesetzt, und ich soll mich dort ausgeben als … Mir stockt der Atem. Ich hätte Bulli bereits gestern sagen sollen, dass es keinerlei Sinn ergibt, Carine Carmeli in dieser Phase zu treffen. Dass ich sie erst observieren muss und schauen, was ich herausfinden kann. Klar bin ich eine Verfechterin der Kontaktaufnahme zum Ermittlungsobjekt, das machen schließlich alle, von Sherlock über Irine Adler bis zu 21 Jump Street. Aber so? Was denken die sich eigentlich?

»Entschuldige? Ja, du.«

Die heisere Stimme gehört einer älteren, fülligen Frau, die vor dem Wohnblock steht. Das dünne blonde Haar klebt in verschwitzten Strähnen auf ihrer breiten Stirn. Eine schwarze, abgetragene Felljacke gibt den Blick frei auf schwere Brüste, die in einem lilafarbenen Pullover miteinander ringen. Gekrönt wird die Erscheinung von flachen grünen Schlangenlederstiefeln. Das verschmierte Make-up zeichnet schwarze Ringe um ihre tiefliegenden Augen und verleiht dem zerknautschten Gesicht den Ausdruck eines zugedröhnten Waschbären.

»Ja?« Ich weiche ein bisschen zurück, und meine Hände wühlen in den Jackentaschen nach Madame Pfefferspray, für den Fall, dass wir es hier mit einem Raubüberfall zu tun haben. »Wie kann ich helfen?«

»Du bist doch Oded Chefer?«

»Ja, der bin ich.«

»Sag mal«, der imposante Körper nähert sich mir und drängt meinen Rücken an das kalte Glas des Foyers, »hast du heute Morgen schon mit Gabriela geredet?«

»Was?«

»Gabriela, Schätzchen, Gabriela. Bist du noch nicht ganz wach oder was? Sie hat mir gestern gesimst, sie hätte dich auf der Party in Savyon getroffen. Die Wühlmaus, hat sie geschrieben, diese Detektivschwester. Das bist doch du, oder? Ich hab deine Adresse auf Facebook gefunden.«

»Sie meinen bestimmt«, sage ich reserviert, »Sie haben mich über die Webseite von Oded Chefer, Detektei für Privatermittlungen GmbH gefunden.«

»Ja, du Rohrspatz, das meine ich. Wieso Zeit verschwenden mit langen Titeln, wenn man bei dem Staub nicht mal atmen kann? Ich frag dich, ob du heute Morgen schon mit Gabriela gesprochen hast.«

»Was? Nein, warum sollte ich mit ihr gesprochen haben? Ich hab nicht mal ihre Nummer.«

Die großgewachsene Frau greift sich an den Kopf. Ein Potpourri aus scharfem Schweißgeruch, Orangenparfüm und dem Odeur muffiger Kleidung erfüllt die Luft. »Ich hab ein ungutes Gefühl, ein total ungutes Gefühl.«

»Dürfte man erfahren, wer Sie sind?«

»Ich bin Mona Markowitsch.« Die Frau schaut mich an, ihre Waschbäraugen weit aufgerissen, als sähe sie einen von Kim Jong-un just in dieser Sekunde fabrizierten Atompilz. »Ich wohn mit Gabriela zusammen. Das letzte Mal hab ich gestern Abend gegen halb neun von ihr gehört, so um den Dreh, und sie ist nach der Party nicht nach Hause gekommen.«

»Gut, ich bin sicher, das ist nicht das erste oder letzte Mal, dass sie die Nacht in der Wohnung von jemand anderem verbracht hat.«

»Nein, nein, nein, mein Rohrspatz!« Mona Markowitsch wühlt in den Taschen ihrer abgetragenen Jacke herum, und Kunstpelzfasern schweben auf den Boden. »Gabriela und ich, wir sind durch Seele und Bauchnabel miteinander verbunden, wie siamesische Zwillinge sind wir. Sie sagt mir immer Bescheid. Und deshalb musst du mir auch helfen, sie zu finden. Du bist doch Detektiv, oder nicht?«

»Warum sollte ich sie finden? Es ist halb zwölf. Sie wacht bestimmt gerade irgendwo verkatert auf.«

»Nein, nein, nein«, Mona sucht weiter die Taschen ab. »Es ist nicht nur das. Als ich am Morgen nichts von ihr gehört hab, hab ich ihr eine Tarot-Karte für heute gezogen. Und jetzt guck, was dabei rausgekommen ist.«

Mona Markowitsch hält mir eine Karte vors Gesicht, die sie endlich aus einer der Jackentaschen zutage befördert hat. Ein junger Mann mit Krone auf dem Kopf lenkt eine Pferdekutsche und schwingt dabei ein Zepter.

»Eine sehr schöne Erscheinung«, pflichte ich bei.

»Ja, aber schau, sie ist falsch rum.«

»Na und?«

»Unglück, schlechte Neuigkeiten, Unfälle, ein plötzlicher Zusammenbruch.« Monas heisere Stimme bricht.

Ein Blitz zerschneidet den Himmel, als mir Mona die unheilvollen Vorahnungen zuflüstert. Ein gewaltiger Donner entlädt sich direkt über uns. Die schwarz verschmierte Frauengestalt, die da vor mir steht, erscheint unter dem grauen Himmel mit einem Mal wie Kassandra. Ich linse auf das Handy. Wie spät ist es? Ich habe jetzt wirklich keine Zeit für diese bizarre Freakshow.

Ich versuche, meiner Stimme jegliche Voreingenommenheit zu nehmen: »Damit ich Sie richtig verstehe, Sie machen sich Sorgen, dass Gabriela irgendetwas zugestoßen sein könnte, weil Sie eine verkehrte Karte gezogen haben?«

»Ja, Schätzchen! Warum? Hast du ein Problem damit?« Mona reckt den Kopf in die Höhe. Der unvoreingenommene Tonfall hat offensichtlich nicht funktioniert.

»Ich vertraue in der Regel auf andere Sachen.«

»Und auf was?« Monas schwere Brüste wogen mir herausfordernd entgegen, und ich plustere mich auf. »Wissenschaft, Zeugen, Fotos, handfeste Beweise, Laborergebni-«

»Sag mal, was für ein Sternzeichen bist du?«, unterbricht mich Mona.

»Skorpion.«

»Na gut, ihr seid sehr misstrauisch, ihr alle.«

»Ich glaube nicht an Astrologie.«

»Das ist typisch Skorpion.«

Ich starre Mona Markowitsch perplex an, die mir mit einer Selbstgewissheit zunickt, wie sie höchstens einer Mathematikprofessorin zusteht nicht aber irgendeiner durchgeknallten Obskurantin. Nicht genug, dass diese Frau meine Zeit mit belanglosem Gequatsche vergeudet. Nein, sie tut das ausgerechnet fünf Stunden vor Beginn der wichtigsten Ermittlung meines Lebens! Unbegreiflich und unverzeihlich.