Der Liebhaber - Petra Hammesfahr - E-Book + Hörbuch

Der Liebhaber E-Book und Hörbuch

Petra Hammesfahr

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Beschreibung

Er war der erste Mann, der sie geliebt hat und der ihr sagte, für ihn sei sie schön. Angelika, die sich selbst hässlich und viel zu dick findet, nimmt einiges in Kauf um Bruno zu halten und an sich zu binden. Mit seiner Untreue kann sie sich arrangieren, solange die Frauen kein Gesicht haben. Als sie ihn zum ersten Mal mit einer anderen sieht, ändert sich schlagartig alles. Kurz Zeit darauf ist Bruno tot … Dieser Titel erschien zuvor unter »Seine große Liebe« und ist nun erstmals als Hörbuch bei Saga Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks.

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Seitenzahl: 457

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zeit:10 Std. 41 min

Veröffentlichungsjahr: 2025

Sprecher:Christina Puciata

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Über dieses Buch:

 

eBook-Neuausgabe Oktober 2025

Dieses Buch erschien bereits 2005 unter dem Titel »Seine große Liebe« im Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg

Copyright © der Originalausgabe 2005 by Petra Hammesfahr

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung zweier Motive von © Usman / Fotografo / Adobe Stock sowie mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (fe)

 

ISBN 978-3-69076-778-1

 

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people . Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

 

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit gemäß § 31 des Urheberrechtsgesetzes ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected] . Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

 

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected] .

 

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Petra Hammesfahr

Der Liebhaber

Psycho-Spannung

 

Prolog

 

Ich versichere an Eides statt, dass es sich bei den nachfolgenden Texten um vollständige Abschriften der zehn Tonbandkassetten handelt, die Angelika Lehmann, geborene Reuther, am neunten August im Ferienhaus ihres Mannes in Spanien besprochen hat. Keine ihrer Äußerungen wurde verändert oder nicht berücksichtigt.

Zum besseren Verständnis habe ich ergänzende Beiträge eingefügt, um meine Beziehung zu Angelika Lehmann aus meiner Sicht darzustellen.

Wo es mir sinnvoll erschien, habe ich auch die prekäre Lage, in der Angelika Lehmann sich befand, deutlicher herausgehoben, als sie selbst es tat.

Die Aktivitäten anderer Personen habe ich ebenfalls erläutert oder erklärt, warum diese Aktivitäten ausblieben.

Ebenso habe ich Angelika Lehmanns Irrtümer als solche kenntlich gemacht, wenn eine ihrer Behauptungen oder Vermutungen sich bei den polizeilichen Ermittlungen als falsch erwies.

 

Dr. Herbert Roßmüller

Band eins

O-Ton – Angelika

 

Es wird vermutlich niemand, der mich kennt, verstehen, wie ich in diese Situation geraten konnte. Ich verstehe es selbst nicht mehr und erwarte kein Verständnis. Ich hatte auch nie welches, wenn ich solche Beichten, Geständnisse oder Erfahrungsberichte von Leuten las, die der festen Überzeugung waren, sie hätten etwas Außergewöhnliches erlebt oder erlitten, ein Mensch oder das Schicksal hätte ihnen besonders übel mitgespielt.

Ich habe viele dieser Geschichten gelesen, sehr viele. Fast alle setzten sich aus den Irrtümern der Betroffenen zusammen. Manche fußten auf Dummheit oder Gutgläubigkeit, andere auf Feigheit und Unentschlossenheit. Dann gab es noch nie mit den unerfüllbaren Hoffnungen und negativen Erlebnissen, von denen viele mit ein bisschen Vernunft hätten vermieden werden können.

Außenstehende, mit Ausnahme von Polizisten und Staatsanwälten in so speziellen Fällen wie dem meinem, sind an Einzelheiten nur selten interessiert. Wenn doch, finden sie nicht, was sie erwarten; das wirklich Einzigartige oder Ungewöhnliche.

Zum Großteil sind diese Geschichten banal und gleichzeitig tragisch. Meine eigene ist kaum die große Ausnahme, nur ein weiterer Beweis dafür, dass es Menschen gibt, die sich für intelligenter und gebildeter halten als der Durchschnitt der Bevölkerung. In Wahrheit sind sie dümmer sind als Stroh, vor allem, wenn sie mit dem Unterleib denken.

Normalerweise sagt man Männern nach, dass ihr Verstand in die Hose rutscht, wenn Hormone die Regie übernehmen. Bei mir hat das auch hervorragend funktioniert. Es gab Tage, da wollte ich glücklich und dankbar sein, dass niemals irgendjemand irgendwo nachlesen könnte, wie ich auf Knien gelegen hatte. Und jetzt bin ich froh, dass ich noch darüber reden kann. So ändern sich die Zeiten.

Es sind alle Zutaten da, die man für einen Spannungsroman braucht. Sex and Crime and Money. Ich kann das beurteilen, mir gehörte mal ein Verlag, in dem nicht nur Liebesschnulzen und Schicksalsromane, sondern auch Thriller erschienen. Psychothriller, um genau zu sein, nicht unbedingt blutrünstig wie eine Schlachtplatte, aber immer bösartig.

Aufschreiben kann ich meinen Thriller nicht. Ich verfüge zwar über einen funktionierenden Kugelschreiber, habe mir auch nicht beide Hände gebrochen, nur die Fingernägel ruiniert. Aber es kein Papier mehr da. Abgesehen davon spricht man schneller, als man schreibt.

Zum Glück hat Bruno nach unserem zweiten Aufenthalt in unserer spanischen Traumvilla seinen alten Kassettenrekorder hier zurückgelassen. Mit einem CD-Player wäre ich aufgeschmissen, könnte nur Musik hören bis zum Abwinken.

Das Schätzchen muss vierzig Jahre alt sein, wahrscheinlich ist es älter. Bruno hat es als Kind von seiner Mutter zu Weihnachten geschenkt bekommen. Neu war es zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr. Für ein neues Gerät war kein Geld dagewesen, für ein gebrauchtes reichte es. Es ist ein richtiges Museumsstück. Aber es funktioniert noch ausgezeichnet, zeigt mit einem roten Lämpchen den Aufnahmemodus an, hat ein eingebautes Mikrophon und braucht keinen Strom.

Batterien sind ausreichend vorhanden. Kassetten habe ich auch mehr als genug. Sie sind alle bespielt. Schumann und die Beatles mit »Yellow Submarine«, Vivaldi und Prince mit »Purple Rain«, Händel, Rod Stewart, No Mercy: »When I die”, die Erste Allgemeine Verunsicherung mit ihren Blödelsongs: »Fata Morgana« und »Geld oder Leben«, und nicht zu vergessen Tina Turner und Andrea Berg mit den wie für uns maßgeschneiderten Zeilen: «This is my life” und »Du hast mich tausendmal belogen.«

Eine bunte Mischung und bezeichnend für Bruno. Sie macht mehr als alles andere deutlich, was für ein Mann er ist.

Nein. Jetzt muss es heißen: Was für ein Mann Bruno war. Er liegt hinter mir auf dem Bett und ist tot.

 

Ich kann nicht hinschauen, habe mich ans Fenster gestellt und betrachte den wolkenlosen, glasblauen Himmel, der alles so klein und nichtig macht. Und die Landschaft; genau genommen trist, nur grün und gelb oder braun und einsam. Trotzdem hatte ich hier immer das Gefühl, wie im Paradies zu leben. Nur wird im Paradies nicht gestorben.

Es ist so unwirklich. Ich habe sein Betteln noch im Ohr. »Tu es nicht, Angelique. Ich bitte dich, tu das nicht.«

Angelique.

Auf so eine Idee konnte nur Bruno kommen. Ich heiße Angelika, das war ihm zu nüchtern, zu kühl. Der Name passe nicht zu mir, behauptete er und wollte mir einreden, ich hätte Ähnlichkeit mit der Hauptfigur der historischen Romanserie, die vor Jahrzehnten unzähligen Frauen einen Fluchtweg aus dem Alltag bot, vermutlich auch heute noch bietet.

Angelique, die romantische Heldin, die jede Situation ihres Lebens spielend bewältigte. Vielleicht nicht immer spielend; um der Spannung willen mussten unzählige Hürden überwunden und zahlreiche Kämpfe ausgefochten werden. Aber sie schaffte es immer, das zählte.

Nun hoffe ich inständig, dass ich zumindest ein bisschen Ähnlichkeit mit ihr habe und die nächsten Stunden mit Anstand und Würde hinter mich bringe.

Vom Wesen her war sie geduldig, aber natürlich auch leidenschaftlich und kämpferisch. Äußerlich wallendes Blondhaar, ein Gesicht wie aus Porzellan, perfekt geschnitten, oder was man sich so unter perfekt vorstellt, wenn es um weibliche Schönheit geht.

Stupsnäschen, Schmollmund, dunkle Kulleraugen, von langen, geschwungenen Wimpern dezent überschattet. Dazu eine Traumfigur. Lange, schlanke Beine, üppiger Busen, flacher Bauch und eine Taille, die ein Mann mit den Händen umfassen kann. Eine Frau eben, nach der sich die meisten Männer umdrehen.

Als ich Bruno kennenlernte, war ich alles andere als das. Dünnes braunes Haar, aus dem sich nichts machen ließ. Mein Friseur verzweifelte jedes Mal daran und begnügte sich schließlich damit, es zu schneiden. Ein Gesicht wie ein Weihnachtsapfel mit roten Backen, die immer von den Augen ablenkten. Bei meiner Iris lässt sich die Farbe nicht so genau bestimmen, grün-braun oder Nato-oliv mit gelblichen Sprenkeln. Lange Wimpern hatte ich nie. Und meine Figur – naja, einen Meter fünfundsechzig groß, bin ich immer noch. Vierundachtzig Kilo wog ich vor zwei Jahren und vier Monaten.

Anmerkung Herbert Roßmüller

 

Ich könnte nicht sagen, was mich an ihrer Einleitung mehr erschüttert hat, ihre bemüht ruhige Sprechweise oder der emotional nur leicht schwankende Tonfall, den sie mit dem für sie typischen Sarkasmus auszugleichen versuchte.

Sie hatte wohl längere Zeit geweint, ehe sie sich entschloss zu reden. Hin und wieder verrieten ein kurzes Zögern und ein schwach vernehmliches Schlucken, dass sie erneut gegen die Tränen ankämpfte.

O-Ton – Angelika

 

Ich war schon als Kind viel zu dick. Papa nannte mich Geli. Als ich ins Teenageralter hineinwuchs, sagte er manchmal auch schon »Pummelchen.« Aus Papas Mund klang das irgendwie niedlich. In der Schule klang es anders.

In den Sportstunden schämte ich mich zu Tode. Eingezwängt in schwarze Gymnastikhosen, deren Gummibündchen Taille und Schenkel einschnürten, als hätte jemand ein paar Stücke Kordel um einen prallen Sack gebunden. Und dann im Verein mit den grazilen Elfen hüpfen und springen. Wie ein Wildschwein kam ich mir vor. Es fiel auch hin und wieder der Ausdruck: »Fette Sau.«

Was habe ich als Teenager nicht alles unternommen, um ein paar Kilo loszuwerden. Die Rhabarberdiät, die Kartoffeldiät, die Eierdiät. Einmal habe ich mich tatsächlich geschlagene drei Wochen lang nur von hartgekochten Eiern ernährt, weil ich gelesen hatte, davon würden die Pfunde nur so wegschmelzen. Mir wurde bloß übel dabei, sonst tat sich nichts.

Papa sagte häufig: »Das ist Babyspeck, Geli. Das wächst sich noch aus.«

Tat es nicht. Ich musste einen Teller bloß ansehen, um den Inhalt am nächsten Tag auf Hüften, Hintern, Oberschenkeln, am Bauch und rund um die Taille zu haben.

Wahrscheinlich hing es mit dem frühen Tod meiner Mutter zusammen. Kurz nach meinem zweiten Geburtstag musste sie für einen Routineeingriff ins Krankenhaus und bekam kurz nach der OP hohes Fieber. Man stellte eine nosokomiale Infektion fest, mit anderen Worten, sie war mit antibiotikaresistenten Bakterien infiziert. Man versuchte es natürlich konnte aber nichts für sie tun. Sie starb binnen weniger Tage.

Auf Fotos von mir, die vor ihrem Tod entstanden sind, sehe ich nicht fett aus, nur wie ein pausbäckiger Engel im Kinderwagen, auf dem Arm oder an der Hand einer Frau, die man als hübsch bezeichnen darf. Schlank war sie auch und sehr vermögend, sodass Papa es sich leisten konnte, nach der Hochzeit seinen Traum zum Beruf zu machen und Bücher zu verlegen. Nach seinem Studium hatte er ein paar Jahre lang als Lektor gearbeitet.

Ich kann mich kaum an meine Mutter erinnern, will auch nicht behaupten, ich hätte sie vermisst. Ich war kein einsames Kind, musste nicht in ein Internat, war nie allein, obwohl Papa nicht so viel Zeit für mich hatte, wie er gerne gehabt hätte. Der Verlag nahm ihn stark in Anspruch.

 

Bis zu Mamas Tod war es ein winziger Verlag, eher eine Liebhaberei. Es wurden pro Jahr zwei exklusive Bildbände herausgebracht. Meine Mutter hatte Kunstgeschichte studiert. Nach der Beisetzung machte Papa aus der Liebhaberei sein Lebenswerk.

Er steckte seinen gesamten Anteil vom Erbe hinein, verlegte die ersten Romane, später auch Sachbücher. In den ersten Jahren war es ein ständiger Existenzkampf für ihn. Bei einem Konkurs hätte er mit leeren Händen dagestanden, nur noch ein Wohnrecht auf Lebenszeit in unserem Haus und eine reiche Tochter gehabt, an deren Erbe er sich nicht vergreifen durfte.

Als ich von der Grundschule aufs Gymnasium wechselte, hatte der Reuther-Verlag sich bereits etabliert und musste sich nur noch gegen die Konkurrenz der Großen behaupten. Da blieb erst recht kaum eine Minute Freizeit.

Papa war viel unterwegs, verhandelte wegen Auslandslizenzen, bemühte sich, neue Autoren zu gewinnen und zu behalten, was gar nicht so einfach war. Dankbarkeit wird in dem Geschäft nicht großgeschrieben. Wer sich mit Hilfe des Reuther-Verlags einen Namen gemacht hatte, ließ sich gerne von größeren Verlagen abwerben, die mehr bieten und den Namen noch bekannter machen konnten. Deshalb setzte Papa auf eine familiäre Atmosphäre, um Leute zu binden, an denen ihm besonders viel lag.

An den Wochenenden hatten wir oft Autoren zu Gast, auch die eine oder andere Autorin, die sich womöglich Hoffnungen auf den Verleger machte. Aber Papa dachte nicht daran, eine neue Beziehung einzugehen. Unsere Gäste wurden nur nach allen Regeln der Kunst verwöhnt, umschmeichelt und opulent beköstigt.

Dafür sorgten unsere Haushälterinnen, drei waren es im Laufe der Zeit, in der Regel ältere Frauen. Und sie sorgten eben auch dafür, dass ich nicht zu kurz kam.

Sie haben den Grundstein für meine Probleme gelegt, glaubten, mich für entgangene Mutterliebe entschädigen oder fürs Bravsein belohnen zu müssen. Hier ein Schokoladenriegel, dort eine Praline, zum Nachtisch täglich Pudding oder Eis.

Und in der Schule sangen die Jungs hinter mir her: »Angelika ist fett, und liegt sie nachts im Bett, dann träumt sie nur von Marzipan, sie kriegt nie einen Mann.«

 

Herbert Roßmüller hatte dieses Liedchen gereimt und mit seiner Freundesclique einstudiert. Ein nicht eben geistreicher Text, aber als besonders geistreich konnte man Herbert in jungen Jahren auch nicht bezeichnen. Er war zwei Jahre älter als ich, wir besuchten trotzdem dieselbe Klasse. Anfangs hatte er Glück beim Stichtag gehabt und konnte seine Einschulung um ein Jahr nach hinten schieben, später hatte er dann einmal Pech mit der Versetzung.

Wenn ich je einen Menschen gehasst habe, dann war Herbert Roßmüller dieser Mensch, zumindest in unserer Kindheit und Jugend. Obwohl, wenn ich ehrlich bin, und das sollte ich sein, es hilft keinem mehr, wenn ich mich oder sonst wen belüge; es war schon mit dreizehn so eine Art Hassliebe.

In dem Alter war ich bis über beide Ohren verknallt in Herbert. Und etwas, von dem man genau weiß, dass man es nicht haben kann, muss man sich madig machen, dann wird der erzwungene Verzicht erträglich. Ich wünschte Herbert inbrünstig ein Drüsenleiden oder eine Stoffwechselstörung, die ihn aufschwemmte wie einen Wasserball, dazu eine stark entzündete Akne, die sein Gesicht fürs ganze Leben verunstaltete.

Er war als Jugendlicher das, was man als schön bezeichnet. Ein schlanker, wohlproportionierter Körper, ein schmales, klassisch geschnittenes Gesicht. Da störte kein überflüssiges Härchen in den Augenbrauen. Graue Augen, ein sehr dunkles Grau, fast schon anthrazit, mit feinen, hellen Streifen in der Iris, die ihm einen feurigen Blick verliehen. Die langen Wimpern darüber hatten von Natur aus die Form, die Mädchen sich anklebten oder mit Zangen einzudrücken versuchten. Ich auch, und mehr als einmal habe ich mich dabei entsetzlich ins Lid gekniffen.

Herbert hätte Modell stehen können für eine dieser griechischen Statuen, an denen Frauen immer ratlos stehenbleiben, weil sie sich fragen, warum so ein traumhafter Körper mit einer eher mickrigen Männlichkeit ausgestattet ist, und ob man für den blanken Neid sämtlicher Freundinnen auf ein paar Zentimeter mehr verzichten könnte. Man müsste ja nicht erzählen, dass der Liebste an der gewissen Stelle ein bisschen unterentwickelt ist.

Wie viele schöne Menschen hatte Herbert absolut kein Gespür für die Nöte der Hässlichen. Manchmal war er richtig grausam. Leider waren schon unsere Mütter gute Freundinnen gewesen. Daraus hatte sich eine Freundschaft zwischen unseren Vätern ergeben.

Roßmüller Senior war Rechtsanwalt und der Rechtsberater meines Vaters. Wenn wir an den Wochenenden keinen Autoren zu Gast hatten, saß garantiert der alte Roßmüller bei Papa. Und er brachte regelmäßig seinen Nachwuchs mit, weil der schöne Herbert wieder mal irgendwelche Lektionen für die Schule verschludert hatte oder Nachhilfe brauchte.

So konnte Herbert mir auch sonntags ungestraft Gemeinheiten zuflüstern. Wahrscheinlich kam er nur deshalb mit. Ich meine, für einen Sechzehnjährigen gibt es am Sonntagnachmittag sinnvollere Freizeitgestaltungen, als mit Papa einen befreundeten Verleger zu besuchen. Seine Hausaufgaben hätte Herbert auch bei seinen Freunden abschreiben können. Es waren ein paar helle Köpfe dabei, die ihm auch etwas hätten erklären können, was er nicht verstanden hatte.

Mit Vorliebe nannte er mich Röllchen oder Tönnchen. Und wenn ich bei den vermaledeiten Bundesjugendspielen wieder einmal nicht von der Stelle kam, brüllte er über den Platz: »Leg dich doch hin und lass dir einen Tritt geben. Wenn du rollst, klappt das bestimmt.«

Ich weiß noch, dass er mich einmal fragte, ob er mal unter meinen Pullover fassen dürfe. Da war ich gerade vierzehn geworden und brauchte schon Körbchengröße C.

»Lass mich doch mal fühlen, Geli, sei nicht so zickig. Früher haben wir sogar zusammen gebadet.«

Ja, als Kleinkinder, später nicht mehr.

Unsere Väter brüteten im Wohnzimmer über einem Rechtsproblem. Ich sollte Herbert auf eine Biologie-Arbeit vorbereiten, und er wurde unverschämt. Als ich ablehnte, erklärte er mit einem blöden Grinsen: »Das war nur ein Witz, Speckschwarte. Oder hast du geglaubt, ich will mir fettige Finger holen?«

Anmerkung Herbert Roßmüller

 

Ich will mich nicht entschuldigen für die Beleidigungen, die ich ihr in unserer Jugend zugemutet habe. Man muss nicht unbedingt Gewalt anwenden, um ein Leben zu zerstören. Oft richten Worte sogar den größeren Schaden an. Zu der Erkenntnis sind vor mir gewiss schon viele andere gelangt.

Ich habe es erst begriffen, als ich die Kassetten abhörte, Stunde um Stunde ihrer Stimme lauschte. Ich sah sie zwangsläufig vor mir mit diesem alten Rekorder, dessen Spulen sich unerbittlich weiterdrehten, auch wenn Verzweiflung oder Furcht ihren eisernen Willen bezwangen und sie die Fassung verlor.

Sie war so sehr um Haltung bemüht. In den ersten und den letzten beiden Stunden war sie fast durchgehend die Angelika oder Geli, die ich seit frühester Kindheit kannte.

Ich sah sie auch noch einmal, wie sie als Teenager gewesen war, als ich dem Betonfundament, das ihrer Meinung nach fürsorgliche Haushälterinnen gelegt hatten, den Grundstein hinzufügte. Angelika ist fett. Speckschwarte! Sie so zu bezeichnen war hundsgemein, und das war mir damals durchaus klargewesen. Aber es war eine Art Selbstschutz. So habe ich es ihr erklärt in den Wochen, ehe sie mit Bruno Lehmann nach Spanien fuhr.

Es war nie so dramatisch mit ihrer Figur, wie sie behauptete. Ich kann mir ein Urteil erlauben, weil ich sie bis zum Abitur fast täglich sah und es in Fotoalben meiner Eltern etliche Aufnahmen gibt, die uns gemeinsam im Planschbecken oder in der Sandkiste zeigen.

Ich erinnere mich auch noch, dass ihre Mutter sie einmal auf meiner Spieldecke wickelte. Das muss kurz vor dem Tod ihrer Mutter gewesen sein. Ich war vier Jahre alt und habe sie bei dieser Gelegenheit kräftig in ein Beinchen gebissen. Zur Strafe wurde ich für eine halbe Stunde in mein Zimmer verbannt. So etwas prägt sich ein. Dreißig Minuten können die Einstellung eines Vierjährigen zu anderer Leute Kinder entscheidend verändern.

Ich war damals maßlos eifersüchtig auf Geli, weil sie alle Welt, meine Mutter eingeschlossen, in helles Entzücken versetzte. So ein süßes Kind hieß es immerzu. Das war sie ohne Zweifel. Und sie war auch ein Kind, das man nicht nötigen musste, den Teller leer zu essen. Geli wusste schon in sehr jungen Jahren, dass es unhöflich war, lustlos in der Nahrung herumzustochern, die andere mit viel Liebe und Sorgfalt zubereitet hatten.

Nach dem Tod ihrer Mutter lebte sie fast zwei Jahre bei uns, weil ihr Vater erst einmal seinen Schmerz bewältigen musste und sich Hals über Kopf in Arbeit, sprich den Aufbau seines Verlags, stürzte, ehe er sich darauf besann, dass er eine Tochter hatte, die ihn brauchte. In den beiden Jahren war Geli mein erklärtes Feindbild.

Nicht genug damit, dass ich die Aufmerksamkeit meiner Eltern mit ihr teilen musste. Ich wurde auch bei jeder Mahlzeit aufgefordert, mir an ihr ein Beispiel zu nehmen. Als Kind war ich ein schlechter Esser. Und zudem überzeugt, wir müssten Geli für immer behalten.

Ich war grenzenlos erleichtert, als ihr Vater sie endlich abholte und sich in der Folgezeit weigerte, sie meiner Mutter noch mal für ein Wochenende oder gar einen Urlaub zu überlassen.

Diese Zeit hat sie auf den Kassetten gänzlich unterschlagen. Vermutlich erinnerte sie sich zwar an einzelne Begebenheiten, die ihr nicht wichtig erschienen, und hatte den gesamten Rest vergessen. Sie war ja noch sehr klein.

Später waren es ihre Leistungen in der Schule, die mir als Vorbild vorgehalten wurden. Sie war eine herausragende Schülerin, nicht unbedingt in Sport, aber in allen anderen Fächern schrieb sie nur Bestnoten.

Es klingt gemein, das so zu formulieren, aber in jungen Jahren sah ich es so: Geli hatte die Woche über nichts Besseres zu tun, als sich auf den Lernstoff zu konzentrieren, Bücher zu lesen und eine Schallplatte von Pierre Brice zu hören, den ihre Mutter als Kind glühend verehrt hatte. Ein Erbstück sozusagen. Womöglich erinnerte die Platte sie an ihre Mutter, wenn sie einen der beiden Songs in Endlosschleife hörte und mitsang.

»Ich steh allein in einsamer Nacht und der Wind trägt mein Lied in die Ferne. Tausend silberne Sterne halten am Himmel die Wacht. Der Weg zu dir ist noch so weit, doch es wartet auf uns eine schöne Zeit. Als ich dich sah, da wusst’ ich sofort, du allein bist der Traum meines Lebens. Dass dieser Traum nicht vergebens, weiß ich, ich hab ja dein Wort.«

Wie oft habe ich das damals gehört, wenn mein Vater und ich bei ihnen ankamen. Auf den Band-Kassetten sang sie es auch gelegentlich oder summte zumindest die Melodie. Ein paarmal überbrückte sie damit wohl die Stille beim Kassettenwechsel und die Sekunden nach dem erneuten Einschalten des Recorders, ehe sie den Faden wieder aufnahm.

Nicht jedes Mal sang sie von der einsamen Nacht. Den Schlagertext von Andrea Berg flocht sie ebenso ein wie einige Zeilen aus den Texten der Ersten Allgemeinen Verunsicherung.

Ich will mit diesem Hinweis nicht vorgreifen, erwähne es nur, weil ich die betreffenden Passagen nicht jedes Mal mit einer Anmerkung unterbrechen mochte.

 

Auch wenn sie das Gegenteil behauptete; sie war ein einsames Kind. Freundinnen hatte sie nicht. Es war nicht so, dass sie abgelehnt wurde. Sie lehnte ab. Ihr waren alle zu dumm oder zu albern. Und für Albernheiten hatte sie damals keine Zeit.

Einen Vater hatte sie im Grunde auch nicht. Nach außen wurde stets ein inniges Vater-Tochter-Verhältnis demonstriert. Zu innig, um Geli mal ein Wochenende freizugeben und sie etwas tun zu lassen, was junge Mädchen eben tun. Ins Kino gehen oder in eine Diskothek. Letzteres hätte sie womöglich nicht gewollt. Aber er hätte sie dazu auffordern können.

Auf die Idee kam ihr Vater nicht. Er ließ sie nicht von seiner Seite. Meine Tochter! Die Ersatzpartnerin oder das Vorzeigeobjekt, das sich schon mit zwölf Jahren am Niveau der Gäste orientierte und in der Schule mit Tolstoi brillierte. Einmal zitierte sie Homer im Original. Da konnten gleichaltrige Mädchen oder Jungs wie ich, die alles andere im Sinn hatten als die Klassiker der Weltliteratur, natürlich nicht mithalten. Und das gab sie uns auch deutlich zu verstehen.

Meine Mutter ist heute noch der Meinung, dass Gelis Vater der wahre Grund allen Übels war. Dass sie aus Rücksicht auf ihn ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse in den Hintergrund schob und ihren vermeintlich unattraktiven Körper als Vorwand nahm. Dass sie sich möglicherweise verpflichtet fühlte, alleine zu bleiben, damit ihr Papa nicht auch noch sie hergeben oder mit einem anderen Mann teilen musste.

Ich kann zwar nicht beurteilen, wie Geli mit zwanzig oder dreißig Jahren aussah. Aber ich bin sicher, sie hätte Männer haben können. Sie hätte als Teenager auch Freunde haben können. Doch sie hatte eine unnachahmliche Art, alle vor den Kopf zu stoßen und jeden zu vergraulen, der ihr Avancen machte.

Zu der Zeit war sie weiß Gott nicht fett, nur pummelig oder wie mein Vater das ausdrückte: »Gut dabei«, was sich vor allem auf ihre Oberweite bezog, die mich ungeheuer reizte.

Ich fuhr an den Sonntagnachmittagen nicht mit, um Geli zu beleidigen. Ich war auch nicht jedes Mal dabei, wenn unsere Väter etwas zu besprechen hatten. Manchmal wurde ich abkommandiert, mir von ihr Nachhilfe geben zu lassen. Erfreut darüber war ich verständlicherweise nicht.

Und mit sechzehn …Es erschien mir sinnvoller, Biologie am lebenden Objekt zu erkunden, statt mir von Geli wieder einmal erklären zu lassen, ich sei zu dämlich fürs Gymnasium. Als ich abgewiesen wurde, vergriff ich mich im Ton. So ist das in dem Alter, man muss einstecken und teilt aus.

Mir ist mit sechzehn nicht der Gedanke gekommen, Geli sei in mich verliebt. So benahm sie sich wahrhaftig nicht. Als ihren Folterknecht hat sie mich mehrfach bezeichnet. Das war ich ohne Zweifel in unserer Jugend und in den Wochen vor dieser Fahrt nach Spanien. Aber ich will nicht vorgreifen.

O-Ton – Angelika

 

Angelika ist fett! Irgendwann wird das zum Trauma. Man kann sich selbst nicht mehr akzeptieren. Aber man muss leben mit den Speckrollen, den zu schweren Brüsten und den Rückenschmerzen, die sie verursachen, mit den wunden Stellen dazwischen und darunter, mit den von Büstenhalterträgern wund gescheuerten Schultern. Mit den Polstern auf den Hüften, dem Wulst um die Taille, den Oberschenkeln, die eher zu einer Elefantenkuh passen als zu einem jungen Mädchen. Mit dem Bauch, der aussieht, als wäre man im siebten Monat schwanger. Und mit dem Vollmondgesicht, das zu allem Überfluss eine viel zu lange Nase mit einem Höcker hatte.

Um es einigermaßen ertragen zu können, lebt man allein, geht freiwillig allem aus dem Weg, was ausschließlich Hosen trägt und darauf wartet, sich endlich regelmäßig rasieren zu müssen. Man hat durchaus seine Sehnsüchte, erwacht morgens auf feuchtem Kopfkissen, und nicht nur das Kissen ist feucht. Die Augenlider sind vom Weinen gerötet und aufgequollen, weil wieder mal so ein Prachtexemplar aufgetaucht ist, von dem man nur träumen darf, will man sich nicht noch ein paar Beleidigungen anhören.

»Sie kriegt nie einen Mann!« Bestimmt nicht so einen wie Herbert Roßmüller, dachte ich damals. Und einen, der nicht aussah wie ein griechischer Gott, wollte ich nicht. Dabei wollten mich nicht mal die Hässlichen. In der Tanzschule saß ich in einer Ecke, bis der Tanzlehrer einen der jungen Männer abkommandierte. Der verdrehte dann die Augen, trat mir auf die Füße, stöhnte und klagte noch eine Woche später über Muskelkater.

Einen kleinen Trost fand ich zu der Zeit lediglich in meiner Schwärmerei für den Schlagersänger Andy Goltsch, der einer besonderen Erwähnung bedarf, weil ich später noch einmal Trost, vielmehr Ablenkung bei ihm suchte. Daraus wurde dann allerdings ein Sargnagel.

 

Mit fünfzehn, sechzehn, auch noch mit siebzehn hatte ich mein Zimmer mit seinen Postern tapeziert, besaß sogar ein richtiges Foto von Andy Goltsch, mit Autogramm selbstverständlich. Es stand gerahmt auf meinem Nachttisch. Beim Foto hatte ich gemogelt, eins der Poster abgelichtet, das fiel aber nicht auf. Das Autogramm hatte ich bei einem Konzert ergattert.

Und nachts stieg Andy aus einem Poster, setzte sich zu mir auf die Bettkante und sang nur für mich: »Wenn Herzen brechen.« Das war sein größter Hit damals.

In dem Konzert, das ich besucht hatte, war er von weiblichen Fans mit Rosen beworfen worden. Eine Rose hatte er zurückgeworfen, in meine Richtung, davon war ich überzeugt. Leider war es mir nicht gelungen, sie zu aufzufangen, sonst hätte ich sie vermutlich getrocknet und neben das Poster über meinem Bett aufgehängt.

Auf dem Höhepunkt seiner Karriere verschwand Andy Goltsch dann ganz plötzlich von der Bildfläche. Zwei Konzerte wurden von den Veranstaltern abgesagt. Wochenlang waren die Zeitungen voll mit bitterbösen Berichten und Anschuldigungen, aus denen klar hervorging: Andy Goltsch sang nicht für kleine Mädchen.

Ein blond gelockter Knabe, der etwa in meinem Alter sein musste und fast so schön war wie Herbert Roßmüller, ließ sich in einer Illustrierten lang und breit und in sämtlichen intimen Details über ein paar gemeinsame Wochen mit meinem Schwarm aus. Da erfuhr ich sogar, dass Andy Goltsch üblen Mundgeruch und eine Warze an einer äußerst delikaten Stelle haben sollte. So genau wollte ich es nun wirklich nicht wissen. Es war ein böses Erwachen, als wolle mir jemand klarmachen, dass sogar romantische Träume Zeitver …

Anmerkung Herbert Roßmüller

 

Der alte Kassettenrekorder wechselte automatisch die Bandseite. Nachdem beide Seiten durchgelaufen waren, schaltete er ab. Das hatte den Nachteil, dass bei jedem Umschalten von Seite A auf Seite B etwas Vorlaufband den Tonkopf passierte, das nicht besprochen werden konnte. Diese technisch bedingten Unterbrechungen registrierte sie bei den ersten beiden Kassetten nicht.

O-Ton – Angelika

 

… Abitur verlor ich auch den schönen Herbert aus den Augen. Er begann ein Jurastudium und war damit entweder so beschäftigt, dass er keine Zeit mehr hatte, seinen Vater sonntags zu begleiten. Oder er fand an der Universität andere Zielscheiben für seine Überheblichkeit. Doch es sah jahrelang so aus, als sollte er recht behalten. Sie kriegt nie einen Mann!

Nach dem Studium ging ich auf Papas Wunsch für einige Jahre ins Ausland, zuerst nach Großbritannien, dann in die USA. Ich sollte in internationalen Verlagen das Geschäft von der Pike auf lernen und nützliche Beziehungen knüpfen.

Fern der Heimat und Papa, der seit dem Tod meiner Mutter einen Horror vor Krankenhäusern und Routineeingriffen mit einem Skalpell hatte, nutzte ich die Gelegenheit, zumindest mein Gesicht aufzuwerten. Ich ließ meine Nase kürzen und begradigen, wollte mir auch die Brüste verkleinern, Bauch, Hüften, Hintern und Oberschenkel absaugen lassen. Dazu kam ich jedoch nicht mehr, weil Papa erkrankte. An einem Lungenemphysem, behauptete er.

Dass die Diagnose in einer Klinik gestellt wurde, wage ich zu bezweifeln. Papa hätte sich niemals freiwillig an solch eine Brutstätte tödlicher Bakterien begeben. Man wurde mit einer harmlosen Blinddarmentzündung eingeliefert und kam im Sarg wieder heraus.

Ich hatte zu Anfang keine Zweifel an der Diagnose. Papa war ein starker Raucher, plagte sich seit Jahren mit einer chronischen Bronchitis. Die Schluckbeschwerden, die er zusätzlich zur Kurzatmigkeit und den Hustenanfällen bekam, verursachte angeblich ein Medikament. Das mochte sogar zutreffen, zu den auf dem Beipackzettel angeführten Nebenwirkungen gehörte eine Lähmung des Magenpförtners.

Papas Schluckbeschwerden besserten sich allerdings nicht, als das Medikament durch ein anderes ersetzt wurde, das er inhalieren konnte. Nun behauptete er, die Lähmung sei irreparabel. Um Ausreden war er nie verlegen und ich am Telefon leicht zu belügen.

Nachdem er mir das Lungenemphysem aufgetischt hatte, kam ich jedes zweite Wochenende in die Heimat. Da reichte die Zeit in den USA nicht, mich unters Messer zu legen. Und zu Hause reichte es nicht, zu begreifen, wie ernst es tatsächlich um Papa stand.

Er bemühte sich, mir vorzugaukeln, es ginge ihm prächtig, er habe nur gerade keinen Appetit. Er mochte nicht mehr essen, wenn ihm jemand zuschaute. Von unserer Haushälterin Frau Ströbel hörte ich, dass er sich beim Schlucken immerzu an den Kehlkopf fasste, als könne er den Bissen von außen weiterbefördern.

Frau Ströbel vermutete, er habe Kehlkopfkrebs. Das bestritt er energisch. Er hatte überhaupt keinen Krebs, weder am Kehlkopf noch sonst wo, er doch nicht! Er war immer ein sehr großer und stattlicher Mann gewesen, nun wurde er zusehends weniger.

Als er auf fünfundsechzig Kilo abgemagert war, bei einer Körpergröße von einem Meter neunzig, als ein Schwächeanfall den nächsten jagte, kam ich endgültig zurück. Dreißig Jahre alt, immer noch viel zu dick, immer noch allein, und was ich als schlimmer empfand: Immer noch unberührt.

Es hätte sich wahrscheinlich ein barmherziger Engländer oder ein notgeiler Cowboy für eine unverbindliche Nacht gefunden. Doch daran wäre ich erstickt. Allein die Vorstellung, dass der Samariter anschließend jemandem erzählen könnte, wie das gewesen sei mit einer Speckschwarte: Vielen, herzlichen Dank.

Papa gab sich redlich Mühe, mir einzureden, es sei längst nicht so tragisch mit meiner Figur, wie ich meinte. »Ich habe dir doch immer gesagt, das ist Babyspeck, Geli, es wächst sich aus.«

Schon die Korrektur meiner Nase war für ihn bodenloser Leichtsinn gewesen. Allein die Andeutung, dass es auch in Deutschland Ärzte gab, die gut mit einem Skalpell und einer Saugkanüle umgehen konnten, versetzte ihn in Panik.

»Bist du noch bei Trost, Geli?«, musste ich mir anhören. »Man lässt sich doch nicht ohne Notwendigkeit im Leib herumstochern. Hast du eine Vorstellung, was dabei alles passieren kann?«

Natürlich hatte ich eine Vorstellung: Von einem schlanken, wohlgeformten Körper und Büstenhaltern mit Körbchengröße C. Für ein junges Mädchen war das üppig gewesen, für eine Frau in meinem Alter fand ich es ideal. Ich war längst bei Größe E.

 

Papa erzählte mir etwas von inneren Werten und versuchte gleichzeitig, mich auf seinen Sessel im Verlag vorzubereiten. Er hoffte wohl, dass mich berufliches Engagement von persönlichen Defiziten beziehungsweise Überschüssen und der Lebensgefahr, in die ich mich deswegen begeben wollte, ablenkte. Als er begriff, dass es das nicht tat, schaute er sich nach Abhilfe um, wollte mich mit Erich Nettekoven verkuppeln und meinte, wir würden uns vortrefflich ergänzen.

Nettekoven war seit den Anfängen dabei und inzwischen unser Verlagsleiter. Papa bezeichnete ihn gerne als »meine Rechenmaschine.« Vom Geschäft verstand Nettekoven wirklich etwas, vor allem im kaufmännischen Bereich. Mein Metier war das Lektorat. Insofern wären wir mit Blick auf den Verlag vermutlich das ideale Paar gewesen. Aber im Privatleben war Erich Nettekoven gewiss nicht das, was ich mir vorstellte. Mein Mann fürs Leben. Wenn ich das im Zusammenhang mit ihm dachte, schauderte es mich.

Er war fünfzehn Jahre älter als ich und Vater eines Sohnes, der bereits Anfang zwanzig war. Vor drei Jahren hatte er seine Frau bei einem Autounfall verloren und lebte seitdem allein. Die grauen Anzüge mit Weste besaß Nettekoven im Dutzend. Unter der Weste stand der Bauch ziemlich vor, ein Spitzbauch.

Da musste ich mir zwangsläufig vorstellen, wie unsere Bäuche aufeinander klatschten und verhinderten, dass die Fortpflanzungsorgane zueinander fanden. Dazu trug Nettekoven einen Schnurrbart, der seinem stets leicht abwesend wirkenden Gesicht wohl ein wenig Strenge verleihen sollte. Er hatte sehr gepflegte Hände, ließ sich regelmäßig die Fingernägel maniküren. An der linken Hand trug er einen mächtigen Siegelring und rechts die beiden Eheringe, den Ring seiner verstorbenen Frau am kleinen Finger.

Einmal ließ ich mich von ihm zum Essen ausführen, nur Papa zuliebe, den ich kurz zuvor nach einem erneuten Schwächeanfall notgedrungen in ein Krankenhaus hatte bringen müssen. Gegen seinen Willen. Papa war furchtbar wütend auf mich.

Die Ärzte hatten zuerst ihm, dann mir, weil er das nicht hören wollte, eröffnet, das er im Höchstfall noch ein halbes Jahr zu leben hatte. Ein Bronchialkarzinom, weit fortgeschritten, die Lymphknoten waren bereits befallen, in anderen Organen hatten sich Metastasen gebildet. Eine Behandlung war nicht mehr möglich. Papa wollte in einem Krankenhaus auch nicht behandelt werden.

 

Ich wusste, dass ich bald ganz auf mich allein gestellt und niemandes Kind mehr wäre, als ich mich von Erich Nettekoven in ein französisches Restaurant einladen ließ. Da saßen wir dann, brauchten vier Stunden für fünf Gänge, unterhielten uns über Papas Zustand und sein bevorstehendes Ende, über die Zukunft des Reuther-Verlags und die unerbittliche Konkurrenz, die uns wieder einmal einer soliden Einnahmequelle berauben wollte. Papa wusste noch nichts davon und sollte es nach Möglichkeit auch nicht mehr erfahren.

Ausgerechnet einer unserer Stammautoren, Gottfried Möbius, von dem es niemand erwartet hätte, wollte die Situation für einen Wechsel nutzen. Seine Werke erschienen seit zwei Jahrzehnten im Reuther-Verlag. Papa hatte Möbius entdeckt, aufgebaut und bekannt gemacht. Möbius war mindestens einmal im Monat unser Gast gewesen. Deshalb war ihm nicht verborgen geblieben, wie es mit Papas Gesundheit bergabging.

Papa hielt ihn für absolut loyal. Aber Möbius bezweifelte nun, dass seine Werke bei uns noch in guten Händen wären, wenn der Verleger das Zeitliche gesegnet hatte. In Wahrheit versuchte die Konkurrenz schon seit geraumer Zeit, ihn mit allerlei Versprechen und hohen Vorschüssen zu ködern.

Gottfried Möbius gehörte zu den Autoren, bei denen es kein Lotteriespiel war, ein neues Buch auf den Markt zu bringen. Man konnte den Gewinn im Voraus kalkulieren. Verschätzt hatte Nettekoven sich dabei im letzten Jahrzehnt nicht einmal.

Er regte sich ziemlich darüber auf, dass Möbius nicht mit offenen Karten spielte, es sogar gewagt hatte, ihm in die Augen zu schauen, während er Zweifel an seinen Fähigkeiten als Verlagsleiter laut werden ließ. Ziemlich aufregen hieß bei Nettekoven, dass er nach jedem Bissen sein Besteck ablegte, zur Serviette griff und sich den Mund abtupfte, um anschließend in dezenter Lautstärke das nächste Sätzchen Empörung von sich zu geben. Er hatte kein Blut in den Adern, nur lauwarmes Wasser.

Nach dem Dessert kam der Wassermann endlich zum Kern der Sache, sprich dem tatsächlichen Grund unseres Beisammenseins. Dass er seine Frau über alles geliebt habe, erklärte er mir, und dass sein Leben seit ihrem Tod sehr einsam sei. Einerseits sehne er sich nach einer neuen Partnerin, andererseits könne er sich nicht vorstellen, dass irgendeine Frau die seine ersetze.

Er meinte, das müsse ich nachvollziehen können, weil Papa es ebenso gehalten hatte. Und wir beide seien schließlich erwachsene Menschen, die ein großes, gemeinsames Interesse hatten, den Reuther-Verlag. Seinem Sohn müsse ich die Mutter nicht ersetzen. Ich würde mit dem Gang zum Standesamt den letzten Wunsch meines sterbenden Vaters erfüllen. Und auch eine vertrauensvolle, rein verstandesmäßige Bindung könne auf Dauer zu einem stillen Glück führen.

Stilles Glück, das höre ich heute noch. Ich wollte kein stilles Glück. Ich wollte Raserei, bersten vor Leidenschaft. Ich wollte, dass ein Mann mir die Kleider vom Leib riss, ohne vorher zu überlegen, ob ich sie in einer teuren Boutique oder im Schlussverkauf bei Takko erstanden hatte. Ich wollte geliebt werden, bis ich den Verstand verlor. Wenn ich das nicht haben konnte, wollte ich gar nichts.

Keine Kompromisse, lieber noch ein Eis zum Nachtisch. Und anschließend das heulende Elend vor dem Spiegel.

 

»Eine Frau ist nur schön, wenn sie sich selbst lieben kann«, sagte Bruno einmal. »Das kannst du nicht, Angelique, lass es mich für dich tun.« Bruno und seine Sprüche. Er wurde oft pathetisch.

Dabei war seine geschwollene Art zu reden nur ein Zeichen von Unsicherheit. In Wortgefechten war er mir unterlegen, wahrscheinlich nicht nur mir. Ich nehme an, die Erfahrung hatte er vorher schon bei drei Dutzend anderer Frauen gemacht.

Deshalb sprach er meist langsam, hatte jeden Satz dreimal durchdacht, ehe er ihn herausließ. Er legte großen Wert auf seine Aussprache und seine Formulierungen. Das fiel mir schon am ersten Abend auf.

Das war kurz nach Papas Tod, was einige wohl schockieren wird. Ich weiß auch nicht, wie ich es erklären soll, ohne den Eindruck zu vermitteln, ich hätte kein Herz im Leib gehabt und nur an mich gedacht. Den Vater unter die Erde gebracht und anschließend die Sau rausgelassen.

Nicht ordinär werden, Angelika. Das kann man auch anders ausdrücken. Sag doch einfach: Ich hatte noch nicht die Zeit gehabt, den Tod meines Vaters zu verinnerlichen und war nicht ganz bei Sinnen, als ich Bruno kennenlernte.

Das war ich wirklich nicht. Ich war innerlich zerfressen von Schuldgefühlen und Entsetzen vor mir selbst und äußerlich immer noch die Frau, die sich nicht ausstehen konnte. Von morgens bis abends eingezwängt in ein Korsett, in dem ich keine zwei Treppen hinaufsteigen konnte, ohne eine Pause zwischen den Stockwerken einzulegen, weil es kurzatmig machte, die überflüssigen Pfunde nach innen zu pressen. Aber wenn ich sie rausließ, schnürten sie mir erst recht die Luft ab.

Ich weiß nicht mehr, wie oft ich in meinem Bett gelegen und mir vorzustellen versuchte hatte, ich sei nicht allein. Ich hatte mich nie überwinden können, selbst für ein bisschen Entspannung zu sorgen, weil es mich ekelte, mich anzufassen. Unter der Dusche musste ich, da funktionierte es dann auch manchmal mit der Selbstbefriedigung.

Vielleicht hatte Bruno recht mit seiner Feststellung, dass ich mich nicht lieben konnte. Vielleicht hatte sogar Papa recht, wenn er mir erklärte, es sei nur halb so wild. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass es für mich schlimm war. Wie ein feuriger Klotz im Innern. Sehnsucht mag schön sein, für mich war sie grausam.

Wenigstens einmal wollte ich es erleben: Einen Mann an meiner Seite haben, der all das mit mir tat, was sich unter dem Gesamtausdruck Liebe machen zusammenfassen lässt. Und der es mich tun ließ. Ich wollte ebenso anfassen, streicheln und küssen, wie ich angefasst, gestreichelt und geküsst werden wollte. Und ich wusste, dass ich es nicht haben konnte, solange ich mir nicht mit einer Saugkanüle im Leib hatte herumstochern lassen, jedenfalls nicht mit einem Mann, der mich gereizt hätte, ihn anzufassen.

Ich konnte schon lange keine Filme mehr anschauen oder Romane lesen, in denen ein Mann und eine Frau sich küssten, von mehr ganz zu schweigen. Jedes Mal hatte ich dabei das Gefühl, innerlich zu zerreißen. Papas Krankheit und sein Sterben lenkten mich nur vorübergehend davon ab.

 

Es war eine scheußliche Zeit, die mich um eine Erfahrung reicher machte, auf die ich liebend gerne verzichtet hätte. Kann man den einzigen Menschen, von dem man ehrlich und aufrichtig geliebt wird, den man selbst über alles liebt, töten?

Natürlich kann man.

Vielleicht kann es nicht jeder, aber ich konnte es, als ich die Situation nicht mehr verkraftete und es mir unerträglich wurde. Als der Punkt erreicht war, an dem ich bei aller Liebe zu Papa nur noch meinen Frieden haben wollte. Von solchen Punkten gibt es viele im Leben. Die Reue kommt immer erst hinterher.

 

In den letzten Wochen seines Lebens war Papa an ein Krankenbett gefesselt und auf ein Sauerstoffgerät angewiesen. Natürlich stand das Krankenbett daheim, die Bibliothek war groß genug, und da hatte er stets vor Augen, was ihm Zeit seines Lebens so wichtig gewesen war, all seine Bücher. Lesen konnte er nicht mehr, aber anschauen konnte er sie.

Er bekam Morphium in hohen Dosen, hatte keine Schmerzen. Aber er hatte sich so verändert nach dem kurzen Aufenthalt im Krankenhaus. Unduldsam und tyrannisch war er geworden. Wahrscheinlich hatte er Angst vor dem nahen Ende. Das leugnete er vehement, die Furcht ebenso wie den Tod.

»Mach dir keine Hoffnungen. Geli, ich sterbe nicht.«

Ich wollte doch gar nicht, dass er starb. Ich wollte nur in Liebe und Frieden Abschied von ihm nehmen, all die Dinge sagen, von denen ich meinte, dass sie unbedingt noch gesagt werden müssten. »Ich liebe dich, Papa, ich werde dich immer lieben. Ich habe doch sonst keinen Menschen, den ich lieben könnte. Ich werde den Verlag in deinem Sinne weiterführen. Ich werde ihn hüten wie einen Augapfel und der bösen Konkurrenz die Stirn bieten.«

Es war nicht möglich, ihm das zu sagen. Ich konnte es nur denken, wenn ich bei ihm saß und mir sein Gezeter anhörte.

Er gab mir die Schuld an seiner elenden Verfassung. Ich hätte ihn nicht ins Krankenhaus bringen dürfen, wo unzählige Bakterien nur darauf lauerten, kerngesunde Menschen zu befallen und umzubringen. Er hatte keinen Krebs! Mit der Behauptung wollten die Ärzte nur verschleiern, was tatsächlich geschehen war. Er hatte sich im Krankenhaus mit einer Lungenentzündung infiziert!

Und wehe mir, wenn ich etwas anderes behauptete.

Er konnte nicht mehr essen und lehnte es ab, sich durch eine Magensonde ernähren zu lassen. Infusionen wollte er auch nicht. In seinen Körper wurde nichts mehr hineingestochen, damit öffnete man nur weiteren Bakterien Tür und Tor.

Flüssigkeit mussten wir ihm löffelweise einflößen. Nach jedem Löffel hustete er, spuckte aus, betrachtete den Schleim, entdeckte darin mit bloßem Auge Dutzende von Bakterien und freute sich, dass er wieder so viele losgeworden war.

Mich würgte es jedes Mal, wenn ich gezwungen war, ihm dabei zuzuschauen. Und in den Nächten war ich allein mit ihm. Morgens kam ein Krankenpfleger, um ihn zu waschen und frisch anzukleiden. Bei ihm wagte Papa keinen Widerspruch, nickte brav, wenn es hieß, er sei zu schwach, um im Sessel oder im Rollstuhl zu sitzen. Mehr als einmal täglich ließ er den Pfleger jedoch nicht an sich heran. Wozu hatte er eine Tochter?

Tagsüber war ich im Verlag, dann kümmerte unsere Haushälterin sich um ihn. Frau Ströbel kam seit über zehn Jahren ins Haus und ließ sich auch nur bedingt schikanieren. Sie schaffte es sogar, ihm klarzumachen, dass er nicht rauchen durfte, weil die Raumluft durch das Sauerstoffgerät in ein hochexplosives Gemisch verwandelt worden sei. Nur ging Frau Ströbel, wenn ich heimkam.

Natürlich kam ich immer zu spät. Und kaum war ich allein mit ihm, hieß es: »Ich habe lange genug gelegen, Geli. Schalte den Apparat ab, mach das Fenster auf und hilf mir in den Rollstuhl. Ich brauche frische Luft und eine Zigarette.«

Wie oft ich diese Sätze gehört habe, weiß ich nicht mehr.

Er war nur noch Haut und Knochen. Ich traute mich nicht, fest zuzupacken, aus Furcht, ihm einen Arm oder ein paar Rippen zu brechen. Aber wenn ich versuchte, ihm das begreiflich zu machen, war ich ein Biest, noch dazu bequem und dämlich.

Das Schlimmste für mich war, dass er nicht schlief. Unser Hausarzt meinte, das Morphium müsse ihn müde machen. Tat es nicht. Nacht für Nacht war ich gezwungen, bei ihm zu sitzen und aufzupassen. Er lauerte nur darauf, dass mir die Augen zufielen. Kaum nickte ich ein, versuchte er die Beine aus dem Bett zu bringen. Manchmal schaffte er es. Mehr als einmal verhinderte ich in letzter Sekunde, dass er stürzte. Das Bett mit hochgeschobenem Gitter zu sichern, half auch nicht viel. Dann kam er zwar nicht heraus, aber er schob die Beine durch und zeterte unentwegt.

Mehrfach bettelte ich bei unserem Hausarzt um Schlaftabletten. Die durfte er nicht verordnen, weil sie Papa hätten umbringen können. Das ist kein Witz. Das ist Gesetz.

Schließlich erbarmte unser Arzt sich und schrieb Rezepte für Beruhungsmittel aus. Haldon-Tropfen, damit wurden in der Psychiatrie die renitenten Patienten außer Gefecht gesetzt. Papa wurde ziemlich agil damit. Als Nächstes probierten wir es mit Tropfen auf Diazepam-Basis, die betäubten Papa auch nur kurzfristig, und danach war er völlig verwirrt. Zuletzt bekam ich Schaumtabletten, die sich im Mund auflösten, ich musste nur vorher etwas Wasser einträufeln. Eine halbe Tablette sollte ich abends verabreichen, das brachte gar nichts. Also wurde mir mit Hinweis auf das Risiko, er könne im Schlaf ersticken, eine ganze erlaubt.

 

Und dann kam der Abend, an dem ich mich nur noch nach Schlaf sehnte. Ich war so entsetzlich müde. Papa wog nur noch knappe fünfzig Kilo, war zu schwach, um seinen Kopf zu heben. Aber die Beine konnte er immer noch durch das Bettgitter schieben und klemmte sich die Hüfte ein. »Raus«, murmelte er immer wieder.

Ich schob seine Beine zurück und sagte: »Du kannst hier erst raus, wenn du loslässt. Du musst jetzt loslassen, Papa. Es ist Zeit zum Sterben.«

Ich hatte ihm bereits eine Schaumtablette in den Mund geschoben. Nun flößte ich ihm noch einen Löffel Wasser ein und schob die zweite in eine Backentasche. Er schaute mich an. Ich glaube, er wusste genau, dass ich etwas tat, was unser Hausarzt nicht erlaubt hatte. Dass ich ihn umbrachte. Ich wollte es nicht lesen in seinem Blick, wollte sein Gemurmel nicht mehr hören, legte ihm ein Kissen aufs Gesicht und schaltete das Sauerstoffgerät ab.

Dann setzte ich mich in den Sessel und wartete. Volle drei Stunden dauerte sein Todeskampf. Und in keiner Minute hatte ich das Bedürfnis, das Gerät wieder einzuschalten und das Kissen wegzunehmen. Ich saß nur da, schaute zu und hörte mir sein Röcheln an, bis es endlich verstummte.

 

Bevor am Morgen der Krankenpfleger und Frau Ströbel eintrafen, schaltete ich das Sauerstoffgerät wieder ein, nahm das Kissen weg und rief unser Hausarzt an. Er kam sofort und stellte den Totenschein aus. Als Todesursache gab er das Bronchialkarzinom mit ausgedehnter Metastasenbildung an. Dann legte er mir eine Hand auf die Schulter und sagte: »Danken Sie dem Himmel, Angelika, er hat ausgelitten.«

Anschließend nahm er alle Medikamente an sich, die auf dem Tisch lagen. Er muss gesehen haben, dass ich die Schaumtabletten zu hoch dosiert hatte. Aber er sagte nichts. Ich denke, auch Frau Ströbel schöpfte Verdacht. Das Kissen lag neben Papas Kopf statt darunter.

Nachdem ein Bestattungsunternehmen die Leiche abgeholt hatte, erzählte Frau Ströbel, sie habe mehrfach daran gedacht, es aber nicht gewagt, weil sie mir nicht die Chance rauben wollte, Abschied zu nehmen. Sie sprach von Erlösung und einer heroischen Entscheidung. Kein Mensch sollte auf eine so elende Weise zugrunde gehen müssen, das sei unmenschlich, sagte sie. Vielleicht durfte man es so sehen, mich brachte das schlechte Gewissen trotzdem fast um den Verstand. Noch Tage nach der Beerdigung wusste ich nicht, wo mir der Kopf stand. Und dann kam Bruno.

 

Er kam zu einem unschicklichen, aber dem richtigen Zeitpunkt, um zu verhindern, dass ich einen Geisterbeschwörer oder ein Medium anheuerte, um Kontakt zu Papa aufzunehmen und mich zu entschuldigen. Jetzt könnte ich - wie Herbert Roßmüller es getan hat - behaupten, ich sei eine leichte Beute gewesen. Wie habe ich ihn gehasst, als er das sagte. Aber er hatte recht, ich war eine leichte Beute, voller Schuldgefühl und zu dick.

 

Papa hatte vor Jahren, als er noch dabei war, den Reuther-Verlag aufzubauen, eine Lebensversicherung zu meinen Gunsten abgeschlossen. Von ihm sollte ich auch etwas mehr erben als die Verantwortung für sein Lebenswerk. Im Laufe der Zeit war die Summe mehrfach aufgestockt und dem Umsatz angepasst worden. Ich wusste davon, dachte allerdings nicht daran, meine Ansprüche geltend zu machen, weil ich andere Dinge im Kopf hatte als Geld.

In der Woche nach der Beerdigung klingelte abends das Telefon, es meldete sich ein Versicherungsvertreter. Er hatte die Todesanzeige gelesen. Ein aufmerksamer Mensch, nicht wahr? Und ein wahrer Menschenfreund.

Wer hat denn schon erlebt, dass eine Versicherung sich freiwillig meldet, um eine Forderung zu erfüllen? Ich wollte ihn an den alten Roßmüller verweisen. Mir stand nicht der Sinn danach, einen Versicherungsvertreter zu empfangen. Doch so leicht ließ Bruno sich nicht abwimmeln.

Bruno Lehmann, ein Allerweltsname, der nichts über den Mann aussagt. Drei Jahre älter als ich, einen Meter sechsundachtzig groß und schlank, breite Schultern, schmale Hüften, ein braungebranntes Gesicht unter dichtem, braunem Haar, graue Augen, nicht so dunkel wie die von Herbert Roßmüller, und ein schöner Mund.

Ich weiß nicht, warum, ich habe bei Männern immer zuerst auf den Mund geschaut. Meiner Ansicht nach sagt die Form der Lippen eine Menge über den Charakter aus. Wenn sie zu schmal sind, ist das ein Zeichen von Härte. Sind sie zu voll, zeugt das von Genusssucht. Das ist nur meine persönliche Philosophie, ob sie zutrifft, ist mir egal. Bei Bruno gibt es ohnehin keine Deutung.

Seine Lippen waren nicht zu schmal und nicht zu voll, sie waren ideal wie alles an ihm. Er konnte mich damit in einen Zustand versetzen, als hätte ich ein Rauschmittel geschluckt, LSD oder sonst etwas in der Art. Ich habe keine Vergleichsmöglichkeiten, nie gekokst, nicht mal Hasch oder Marihuana geraucht. Aber das ist vermutlich so ähnlich. Im Kopf totale Leere, in den Ohren ein Singen und Brausen und hinter den geschlossenen Augen herrliche Farbspiele. Die Beine so lahm und schwer, dass ich nie lange aufrecht stehen konnte, wenn er mich küsste.

Er war der glühende Kern, um den sich mein Leben nach Papas Tod zwei Jahre lang drehte. Ein Magnet, dessen Anziehungskraft mich in einer Bahn hielt, obwohl ich dort alles andere als optimale Bedingungen vorfand. Meine Sonne vielleicht.

Ja, das ist ein treffender Vergleich. Wer einer Sonne zunahe kommt, wird zuerst geblendet und verglüht dann.

Jetzt ist meine Sonne erloschen. Und niemand wird mir eine Hand auf die Schulter legen und sagen: »Danken Sie dem Himmel, Angelika, er hat ausgelitten.«

 

Es sieht so aus, als wäre schon fast eine Stunde vergangen. Die Kassette hat sechzig Minuten Spieldauer. Tina Turner: »This is my Life, what can I do«, passte am besten für den Einstieg, fand ich. Ich hatte ja auch ein Leben vor Bruno. Ich hatte sogar noch eins mit ihm. Damit geht es auch gleich weiter, ich wechsle mal schnell, kann nicht erkennen, wie viel Band noch auf der linken Spule ist. Das Kassettenfach hat zwar ein Sichtfenster, das war wohl mal durchscheinend, die Zeit hat es bräunlich gefärbt. Die rechte Spule sehe ich, die scheint mir ziemlich voll zu sein.

Wen lösche ich denn als Nächsten? Vivaldi. Nein, das ist eine Kassette mit hundertzwanzig Minuten Laufzeit. Die sind noch empfindlicher als die mit neunzig Minuten.

Bei der Ersten Allgemeinen Verunsicherung fehlen etliche Meter von den neunzig Minuten. Bruno musste sie herausschneiden, nachdem das Band sich um den Tonkopf gewickelt hatte.

Was haben wir denn noch Feines bei den sechziger Bändern? Damit kann ich auch die Zeit besser abschätzen. Ich weiß nämlich nicht, wo meine Armbanduhr hingeraten ist.

Schade, dass keine Schnulzen von Andy Goltsch dabei sind. Bruno mochte ihn nicht. Dabei wäre »Wenn Herzen brechen«, genau das Richtige für die nächste Stunde.

 

Ach, wie lieb. Er hat mir Pierre Brice zu Händel geklemmt. Wo hat er denn die alte Schallplatte aufgetrieben? Ich wusste gar nicht, dass ich die noch hatte. Dann nehme ich doch Händel. Abgesehen von der Tageszeit passt es, vielleicht hilft’s auch.

Ich steh allein in einsamer Nacht. Und der Wind trägt mein Lied in die Ferne. Tausend silberne Sterne halten …

Band zwei

O-Ton - Angelika

Der Weg zu dir ist noch so weit, doch es wartet auf uns …

So, liebe Freunde. Ich hoffe doch sehr, dass es Freunde sind, die sich meine Geständnisse zu Gemüte führen. Solange ich meine Ergüsse nicht als Beweismaterial kenntlich mache, hat die spanische Polizei eigentlich keinen Grund, mal hineinzuhören.

Aber man sollte die Neugier nicht unterschätzen. Sie würden kaum ein Wort verstehen und einen Dolmetscher zuziehen müssen. Und der Ärmste bekäme in den nächsten Minuten vermutlich rote Ohren.

 

Was Bruno damals am Telefon sagte, weiß ich noch in fast allen Einzelheiten. Ich hatte immer ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Dialoge. Einleitend drückte er mir sein Mitgefühl aus und äußerte die Vermutung, meine Trauer verhindere, dass ich verlange, was mir zustehe. Er wollte mir gerne dabei behilflich sein, betrachtete das als seine Aufgabe. Ich fand das irgendwie doppeldeutig. Was mir zustehe. Aber die Art, wie er sprach, machte mich ganz weich und nachgiebig.

Später habe ich mich mehr als einmal gefragt, wie oft er den Spruch wohl schon aufgesagt hatte, dass er ihm so flüssig und nach Aufrichtigkeit klingelnd über die Lippen kam. Nachdem ich ihm minutenlang zugehört hatte, hätte ich ihm stundenlang zuhören können und war bereit, ihn am nächsten Abend zu empfangen.

Er kam auf die Minute pünktlich, war vermutlich etwas früher da gewesen und hatte im Auto gewartet, bis es Zeit wurde, auf den Klingelknopf zu drücken. Er trug einen dezenten grauen Anzug von der Art, die auch mein Verlagsleiter bevorzugte, aber ohne Weste. Das Jackett war aufgeknöpft, darunter trug er ein hellgraues Hemd mit einer gestreiften Krawatte.