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Der Protagonist, ein erfolgreicher Brückenbauer mit einem besonderen Faible für die Natur und die Einsamkeit Islands, verstrickt sich immer tiefer in seine eigene Gedankenwelt. Auch die Liebe zur "schönsten Frau der Welt" rettet ihn nicht: Tag und Nacht fühlt er sich umgeben von Lüge und Betrug. Er ist ein Träumer, ein Schwarzseher, durch und durch pessimistisch. Wie ein Besessener stürzt er sich auf die Lektüre von Todesanzeigen, spürt der Lebensgeschichte eines verstorbenen Arztes nach und entdeckt plötzlich Überraschendes. Ein spannender und äußerst aktueller Roman über die zerstörerische Kraft der Lüge und ihre Überwindung.
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Seitenzahl: 443
Veröffentlichungsjahr: 2019
Claus-Olaf Gravittsson
Der Lügensammler
Das Buch
Der Roman beginnt mit der Scheidung des Protagonisten, eines erfolgreichen und international gefragten Brückenbauers, von seiner wunderschönen Frau Tamara, die er Jahre zuvor auf einer Zugfahrt zufällig kennengelernt, und die er mit der ihm eigenen Leidenschaft und Hartnäckigkeit für sich eingenommen hatte.
Diese Liebesbeziehung wird von Anfang an überschattet von den Erfahrungen des Protagonisten, der von seiner einstigen Geliebten Vera betrogen und zutiefst verletzt wurde. Seit dieser Zeit sieht er sich Tag und Nacht Lügen ausgeliefert. Er fühlt sich von ihnen umzingelt und beginnt schließlich – einem ärztlichen Rat folgend – sich mit dem Wesen der Lüge zu beschäftigen und überall nach Lügen zu suchen: im Supermarkt, bei der Bank, beim Autohändler, in Todesanzeigen und auch bei Beerdigungen. Und dort, in der besonderen Lebensgeschichte eines Arztes, entdeckt er schließlich die Lösung und es wird ihm auf einmal klar, welch rettende Kraft die selbstlose Liebe einer Frau haben kann.
Der Autor
Der Autor, mit dem Pseudonym Claus-Olaf Gravittsson, ist von Beruf Arzt.
Aufgewachsen in Baden-Württemberg, studierte er Medizin und Biochemie u.a. in Basel, Innsbruck, Tübingen, Hamburg und München, um danach seine Ausbildung als Assistenz- und Oberarzt an einer Universitätsklinik fortzusetzen und sich dort zu habilitieren. In der Folge leitete er über viele Jahre eine große medizinische Abteilung eines Städtischen Klinikums. Er verfasste zahlreiche Fachpublikationen. Seine wissenschaftlichen Bücher wurden in sieben Sprachen übersetzt.
"Der Lügensammler" ist sein erster Roman.
Claus-Olaf Gravittsson
Der Lügensammler
„Island zwingt Dich, Dich auf Dich selbst zu besinnen.“
Halldór Laxness
Isländischer Nobelpreisträger für Literatur
© 2019 Claus-Olaf Gravittsson
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7482-9615-7
Hardcover:
978-3-7482-9616-4
e-Book:
978-3-7482-9617-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für Isabella-Constanze, Sophie, Jens und Philipp – con amore
Kapitel 1
Ich kenne viele Städte, Hamburg aber liebe ich. Zu allererst, Sie werden lächeln, liebe ich den hanseatischen Wind, zärtlich wie der Hauch eines Kusses, verheißungsvoll wie Champagner an einem Maitag, an dem man sich den Sommer erhofft, oder wild und ungestüm, wenn er durch die Stadt brüllt und das Meer gegen die Dämme jagt.
Die Hamburger liebe ich, die weniger sagen als sie sind. Ihre Distanz liebe ich: keiner, der mir in dieser Stadt auf die Schulter klopft und Freund sein will oder zumindest Bekannter, auf die fröhliche, unverbindliche, rheinische Art.
Die Kontore dieser Stadt liebe ich, in denen sich Geschäfte immer noch per Handschlag abwickeln lassen und die für das Grobe nicht zuständig sind.
Ich liebe, lachen Sie nicht, die Hamburger Hunde, die ihren Herren so gleichen und höchstens aus purer Notwehr bellen.
Ich liebe die Hamburger Wirtshäuser. Ich liebe es, alleine an einem Tisch zu sitzen, den ganzen Abend unbelästigt, und ohne nach dem Essen gefragt zu werden, ob es auch geschmeckt habe. Kein Kellner, der mich bedrängt mit dem ewigen Probeschluck, so, als ob ich es sei, der verantwortlich wäre für die Qualität des Weines. Besonders liebe ich die Oper: keiner sieht mich scheel an, nur weil ich nichts halte von manuellem Beifall.
Süchtig bin ich nach dem Hafen. Ich betäubte mich an seinem Geruch, jener Mischung aus Brackwasser, Dieselöl und Farbe, der von den Schiffen ausströmt mit ihren verheißenen Namen und fernen Destinationen.
Ich liebe es, auf dem Flughafen anzukommen, empfangen von meinem Taxifahrer, der auf einsame Fragen mit einer bloßen Handbewegung antwortet, allenfalls mit einem kleinen, nie ausartenden Satz.
Kurz: Ich lebe von den distanzierten Horizonten, die von dieser Stadt ausströmen, meiner Seele entgegen – Horizonte, die mir himmlisch anmuten.
Hier wohne ich seit zwei Jahren mit Tamara. Ohne zu übertreiben: unser Glück war lange Zeit beträchtlich. Man zeigte auf die Beispielhaftigkeit unserer Ehe. Tamara hatte zu mir gehalten durch die Zeit hindurch, bis meine Sucht über uns zusammenschlug, ich nur noch durch das Land reiste, den Lügen hinterher, sie sammelte, Tag und Nacht, getrieben von allen Lügen dieser Welt, aufbewahrt in meinem Gehirn, meinen Notizbüchern.
Auch das Unerträgliche lässt sich ertragen durch Zuneigung oder Gewöhnung. Tamara blieb mir zugeneigt, tapfer, tolerant, tröstend.
Meine Seltsamkeit jedoch steigerte sich. War es zunächst nur eine meiner Absonderlichkeiten, so steigerte sich meine Vorstellung allmählich zur Sucht, wickelte mich ein, beherrschte mich, verschlang mich. Von Zwängen gibt es kein Entrinnen, kein Erbarmen, keine Gewöhnung. Die Grenze lag schon hinter uns, das Ende war erreicht, die Zeit der Krankheit hatte uns besiegt.
So kamen wir überein, auseinander zu gehen.
Deswegen stehe ich heute in dieser verwandelten Stadt unter einem herzlos - grauen Portal. Das Gebäude blickt auf mich herab mit jener milden Verächtlichkeit, die es sich im Laufe seiner Vergangenheit zugelegt hat. Über mir die Inschrift: „Amtsgericht“ – bedrohlich genug. Auch gegenüber der Straße, gleichermaßen grau und hochmütig nur Neugotisches: die Hauptpost vielleicht oder ein Gymnasium mit verblassendem humanistischem Anstrich.
So stehe ich da und warte auf Doktor Laghover, meinen Rechtsanwalt. Regen hat eingesetzt. Kein herkömmlich-hanseatischer, plätschernder Regen, von dem man weiß, was einem bevorsteht. Vielmehr ein zorniger, waagerecht vom Wind getragener, wie man ihn in Irland kennt, der einen durchnässt, ohne dass man es merkt. Ich weigere mich, ohne Doktor Laghover in das Gebäude zu treten. Ich trotze den bösartigen Böen, der gemeinen Luft, der Nässe und dem Blick des Pförtners, der mich für ein Subjekt hält, zumindest für einen Angeklagten, verdächtig auf jeden Fall.
Ich denke zurück an den ersten Besuch im Büro des Rechtsanwaltes: die Kanzlei im vierten Stockwerk. Ich läute, etwas dyspnoeisch, kein Wunder nach vier Treppen ohne Aufzug. Ein kühles, galliges Wesen in der Türe: flachbrüstig und zeitlos. Ihre Diktion wie ein Feldwebel, denke ich: Name? Grund des Besuches? Termin vereinbart, ja oder nein?
Ich unterzeichne („hier links“) irgendeine Vollmacht, erdulde ihre „Sie-können-hier-in-der-Zwischenzeit-Platz-nehmen“- Handbewegung, fast elegant, jedenfalls viel geübt. Ich darf mich setzen auf einen der drei Armesünderstühle an der Wand, geradlinig, ungepolstert und beinhart wie in der katholischen Kirche, wenn auch ohne Kniebänke. Mein Blick auf eine Art Louis Quatroze-Schreibtisch, Hort und Heimat der Kühlen, spitznasig ist sie und ihr Gesicht angedörrt unter einem vergeblichen Make-up, an das sie selbst nicht mehr glaubt. Orchideen auf den Fenstersimsen, kolorierte Stahlstiche mit Schiffsabbildungen an den Wänden.
Zwei Glastische ohne belästigende Zeitschriften - Makellosigkeit, wie in einem schwäbischen Treppenhaus nach vollendeter Kehrwoche. Ich sitze, warte, schweige stille, betrachte ihre spitzen Knie gut passend, denke ich, zu ihrer Scharfzüngigkeit.
Leicht, denke ich, leicht hat sie es nicht: ihr angeledertes Gesicht, ihre Nasolabialfalte, ihr starrer Blick auf den Text, den die Schreibmaschine ausspuckt. Daneben milder Tee in großer Porzellantasse, bemalt mit „Gruß von Schloss Linderhof“ samt zweiten Ludwig in vollem Ornament.
Ich fühle ihre Magengeschwüre, die jedem Kamillentee trotzen. Sicher, vermute ich, eine einsame Wohnung, penibel aufgeräumt, steril wie ein Operationssaal: Vom Boden könnte man essen, glauben Sie mir. Daheim zwei Angorakatzen als lebende Wesen, gelbäugig und maligne seit Geburt, aber geliebt von der Katzenmutter.
Makellose Silberrahmen, oft geputzt, auf dem Regal mit makellosen Fotos „Sonnenuntergang auf Sylt, mit Karl, 1976“ daneben „Jungfraujoch und Aletschgletscher, 1978“, jetzt ohne Karl.
Bettflasche im Bett, vermute ich, auch im Sommer, dabei nicht einmal fünfzig – mit einem Wort, leicht hat sie es nicht.
Dann plötzlich, ob Sie es glauben oder nicht, schalmeiengleich: Es dauert nicht mehr lange und ob ein Wasser genehm sei oder sonst etwas?
Ich frage nicht nach dem „sonst etwas“ und was sich gegebenenfalls dahinter verbergen würde, bitte um Wasser, lediglich Wasser, egal ob sprudelnd oder nicht.
Sich dehnende Minuten.
Ich sitze, jetzt gewässert, vorschriftsmäßig – stumm, hart und leidend. Meine Frage in die verendete Zeit: Ob es so etwas wie eine Korrelation gäbe, sozusagen also ein Verhältnis zwischen Wartedauer und Polsterung der Stühle, etwa in dem Sinne, dass harte Stühle kurzes, gut gepolsterte hingegen längeres Warten nach sich ziehen würde.
Ihre Antwort: ein weiteres Glas Wasser und ihr Vorschlag, das Fenster zu öffnen.
Wir sind uns einig in gegenseitiger Abneigung. Ich schweige beschämt, denke an die katholische Kirche, ihre qualvollen Kniebänke und daran, wie gut ich es doch habe, weil Protestant.
Endlich eine erlösende Stimme, endlich.
„Wir lassen bitten“, sagt sie, „wir“. Eine traurige Anforderung, denke ich, das „wir“, herüber gerettet aus längst vergangenen Tagen, als die Zeit ihre Hoffnung noch trug, Ehefrau des Rechtsanwaltes zu werden, an Stelle der Endlosigkeit einer frustranen Liebschaft, heute längst vergraben in hilfloser Resignation.
Der Herr Rechtsanwalt in der Türe. Blühendes Leben, sachliche Unverbindlichkeit. Amouröse Residuen? Ich bitte Sie, kein Hauch, kein Hauch!
Ich fühle die Abwegigkeit meiner Gedanken und trete ein in die juristische Festung, sein Arbeitszimmer.
Mein erster Eindruck: eine Robbe. Klein und zu schwer für seine Größe, „Homme sans coup“, wie der Vater, der in Öl hinter dem Schreibtisch an der Wand hängt. Also doch genetisch, vermute ich. Hochdruck-Gesicht, rot und etwas schweißig. Tapferer Schnurrbart, aber irgendwie robbenartig-hängend, Kinderhand, besser Flosse, die mich fast drucklos begrüßt.
Ein durchsessener Stuhl, auf dem ich Platz nehme. Doktor L. versunken hinter einem Ungetüm aus Mahagoni, wahrscheinlich Erbstück. Also sagt er, also, und meint offenbar mich und meine Vorgeschichte, die ich immer und immer wieder wiederholen muss. Seine seziererischen Fragen: Ihre Frau wann kennen gelernt? Geheiratet, wann? Wo? Kinder? Ehefrau berufstätig, warum? Mein Verdienst? Geschätzter Verdienst meiner Frau? Ehevertrag ja – nein? Und so weiter, und so weiter.
Dann Details aus meinem Leben: Meine Sucht, interessant, aber unwichtig. Was zählt sind Tatsächlichkeiten, nicht Gefühle. Urteil nach Aktenlage, sozusagen, wenn Sie verstehen was ich meine.
Kurz: die Unterhaltung schrecklich. Blutende Wunden, die seine Sachlichkeit schlagen. Fakten, Fakten, nichts weiter – höchstens noch ein paar dürftige Beweisbarkeiten, Belege gar, zumindest Unterfütterungen – ich bitte Sie.
Immer und immer wieder seine verbalen Quälereien, sein ewiges, aufmunterndes, penetrantes „also“, während er Notizen kritzelt mit seiner Flossenextremität. Sein Erstaunen über mein Einkommen („tatsächlich?“), Größe meines Besitzes („Sie irren sich nicht?“), mein Vermögen. Was er wahrscheinlich blitzschnell kalkuliert: die Höhe des mutmaßlichen Streitwertes, die Erfreulichkeit seines Honorars. Endlich: ein Hauch von persönlichem Interesse, kurzes Aufblicken von den gekritzelten Zeilen, verbindliches Lächeln, Aussicht auf das Ende der Vivisektion, hoffe ich.
„Also“ sagt er zum hundertsten Mal, „also“ und fügt hinzu, dass wir es dann hätten, immerhin „wir“, wie ein verbündeter Arzt zu einem Moribunden, den er nicht alleine lassen will.
Die Gegenseite wird sich melden. Dann sehen wir weiter. Haben Sie noch? Nein, erwidere ich, keine Fragen. Die Sache damit klar. Seine letzte Mahnung: Weglassen aller Gefühle. Dadurch beste Erfolgschancen (er sagt tatsächlich „Erfolg“, den er mir zumutet) – ach, Tamara.
Dann wieder diese Flossenhand, weich und schweißig, drucklos wie eingangs, sein letztes „also“, seine distanzierte Verabschiedung, gut trainiert, wie ich finde, schließlich sein finales Auf Wiedersehen–Lächeln, dann schon im Vorzimmer bei der Angedörrten, meine Flucht zum Aufzug, den ich im Heraufsteigen übersah. Die Frage eines dort Wartenden, ob ich auch nach unten wolle. Sein Kopfschütteln, als ich entgegne, ich wäre schon unten genug.
Tamara, wie man so sagt, auf der Gegenseite – wie soll ich damit leben?
Ein lapidarer Brief, den die Post bringt. Kalte Amtlichkeit auf wieder verwendbarem Papier: Ort und Zeit der Verhandlung, freundliche Grüße, unleserliche Unterschrift, im Auftrag.
Gestern ein überraschendes Telefonat. Der Rechtsanwalt und seine Strategie. Gegnerische Anwältin offenbar erfahren, aber kompromissbereit: Einigungswille, Gütlichkeit, halb und halb als Prinzip. Unterstellt dabei meine Großzügigkeit, meine Glassammelung, meine Raritäten aus Bordeaux, jeweils gerecht geteilt, halbiert, wie er sagt. Auch Häuser, Autos, Porzellan – alles. Wie lange schon getrennt lebend, fragt er mit leiser Stimme. Seit einem Jahr, mehr als einem Jahr, sage ich, leider. Seine strenge Stimme. Vor allem bei der Verhandlung, sagt er, solle ich jedes „leider“ weglassen – aus Prinzip. Eine kleine Weile vor Verhandlungsbeginn, sagt er, wäre ein kurzes Gespräch sinnvoll und ich rätsele, was er darunter versteht unter „kleiner Weile“. Diesseitig, wie er ist, denke ich, wird er nicht Eichendorff lesen, allenfalls alle zehn Jahre ein verirrtes Rilkegedicht, allenfalls.
Oder die ganze Jurisprudenz in ihrer alltäglichen Öde nur als Maskerade? Broterwerb bei unsäglichen Klienten oder bloßes Zeitfülsel bis zu seiner Emeritierung? Doktor L. als verkappter Romantiker?
Sie werden mir ein Lächeln gestatten, denke ich.
Ich stehe wartend und bedrückt. Der Regen regnet in meine Seele hinein. Dabei zähle ich unter die sogenannten gestandenen Mannsbilder, auch wenn der Begriff nur im Süden zu Hause. Gestandene 47 Jahre, Bauingenieur, habilitiert, reicher als reich, anerkanntes Sprachgenie, zuhause in meinem Beruf, zuhause in der Welt, auch barfuß größer als die meisten anderen, stattlich und mit ungefärbten Haaren, die den Friseur noch rechtfertigen – kurz: viel beneidet bis vor kurzem. Jetzt jedoch drohend das Tribunal, der Schiedsspruch, final und von mir selbst verschuldet.
Gibt es schlimmere Strafen als die selbst auferlegten?
Die Neugotik des Gerichtsgebäudes lächelt auf mich herab, ungerührt mit ihrer langen Erfahrung: „Wer hier eintritt, darf alle Hoffnung fahren lassen“. Nur noch um die Höhe der Schuld geht es, um nichts weniger. Endlich eine daherschwebende Limousine, schwarz und lautlos, englisches understatement. Alles handgearbeitet, vermute ich: Mahagoniholz und argentinisches Büffelleder vom Feinsten – Sie wissen, was ich meine. Aussteigt der Chauffeur: uniformiert wie zu Kaisers Zeiten; Mütze, Handschuhe, lachen Sie nicht. „Der Chauffeur nimmt mit der linken Hand seine Kopfbedeckung ab, geht um den Wagen, öffnet mit der rechten Hand die hintere Wagentüre mit leichter Verbeugung“. Es gibt Regeln, die auch beim Weltuntergang gelten!
Doktor L. sich aus der Karosse wälzend, Aktentasche schwarz und unheil-schwer. Seine Ruderbewegung die Treppe hinauf. Doch eine Robbe, denke ich, Mensch geworden, aber kein Zweifel: Robbe auf Landausflug. Kleine Schweißperlen auf der Stirn, aber jovial: Ob ich schon lange? Nein, sage ich, nein, und danke der Nachfrage, sage ich. Sein Blick auf meine nassen Hosenbeine, meinen regentropfenden Hut. Dann sein „Lassen-Sie-uns-Eintreten, Herr Professor“, forsch, wie ein General vor der Schlacht. Im Gerichtsgebäude depressives Linoleum. Vergeblich die Gegenwehr gegen das tägliche Bodenwachs. Billiger Geruch, wie man ihn von ungelüfteten Gymnasien kennt. Spärliches Licht in glitschigen Gängen, wie seinerzeit, denke ich, im düsteren Staat der Arbeiter und Bauern – Einladungen zum Stolpern, als ob es nicht schon genug andere Fallen geben würde auf dem Weg zum Schafott.
Doktor L. gänzlich unbekümmert, ungerührt von Äußerlichkeiten. Letzte Parolen vor Beginn der Schlacht:
Die Sache einfach, der Ausgang gewiss, unsere Karten exzellent. Mein Rat: Ich spreche, Sie halten sich zurück, in jeder Hinsicht, in jeder. Körperliche Anwesenheit ausreichend, schweigsame, verstehen Sie, am besten. Ich frage nicht, warum meine Zurückhaltung nützlich sein soll. Ich gehe wie ein Kind neben dem Vater, mag er das Fallbeil abwenden oder nicht – ach, Tamara, ach. Ob ich Tamara noch einmal die Hand?, frage ich. Er: Möglich, aber nicht zwingend. Ich lerne: Begrüßung der gegnerischen Anwältin durch Kopfnicken, ernst, gefasst, aber nicht unterwürfig.
Endlich Saal 008 im dritten Stock, eine Art klagloses Lehrerzimmer nach der Notenkonferenz. Beleuchtung, wie gesagt, aus der DDR entlehnt, Richtertisch etwas erhöht, grauer Tag, der uns durch die Fenster anstarrt, freudlos und ohne Mitleid. Stühle für Anwalt und Klienten mit aussichtslosem Polster, vormals vielleicht grün, wer weiß. Meine schweißigen Hände wie bei der Einweihung meiner letzten Brücke, mein Puls so schnell wie auf der Höhe des Montblanc.
Doktor L. ungerührt. Kollegiales Zunicken zur gegnerischen Anwältin, etwas knochig und mit unaussprechlichem Doppelnamen. Tamara neben ihr, blicklos, gefasst, in hanseatisch-blauer Korrektheit, Hochfrisur, was sie strenger macht. Ihre Modigliani-Nase, ihre klugen Ohren, ihr Zierrat – freier Hals, Schwanenhals vielleicht, auf jeden Fall einmalig, einmalig – ach, Tamara.
Mein vergebliches Nicken. Blicke, die sie nicht erwidert. Zwischen unseren Stühlen der Gang, der uns trennt. Nicht nur er, sage ich mir, ohne es auszusprechen – ach, Tamara.
Die Sitzung wie geplant: Personalien, Sachlichkeit, Vortrag der Anwälte, gelegentlich ein Hab-ich’s-nicht-gleich-gesagt-Blick von Doktor L. Sein Schnurrbart jetzt wieder tapfer, weil regenfrei, dabei rotes Gesicht, ungewöhnlich zu dieser Stunde. Rotwein, denke ich, oder Bluthochdruck oder beides, wer weiß.
Ich so ruhig wie beim Zahnarzt, wenn dieser sich an die hintersten Backenzähne wagt. Der Raum voller Fachausdrücke, Kommunikation unter Spezialisten: Ehevertrag, Zugewinngemeinschaft, Mühelosigkeiten, wie ich bemerke, für die Robbe. Schließlich Dokumentation der gütlichen Vereinbarung, wie erhofft: Bordeauxsammelung gegen die Sammlung meiner Gläser, Haus in Sylt gegen Haus am Luganer See, Porsche gegen Porzellan und so weiter, und so weiter.
Was ich bewundere: die freihändige Logik der Robbe, schwimmend in ihrem Element und grandios. Seine anerkennende Handbewegung: Das Haus in Sylt mit der gesamten Bibliothek an Ihre Frau? Großzügigkeit is the name of the game. Schon der Blick auf das Meer – unbezahlbar. Wie oft sahen wir von dort in die Ferne, waren uns nahe, consensus animorum – ach, Tamara.
Zahnarzt oder Scheidungsprozess – irgendwann geht alles zu Ende. Keine welterschütternde Einsicht, ich weiß, ich weiß.
Der Vorsitzende schließt die Sitzung. Das letzte „also“ der Robbe und sein „Das-hätten-wir“, freundlich und sorgsam, wie zu einem Minderbemittelten. Tamara schon im Hinausgehen, kleinschrittig, wie stets, dabei aufrecht wie ein Gardeoffizier bei der Parade. Ihr gelerntes Gehen, Schreiten wie sie sagte, Relikt der Ballettschule und Teil von ihr, wie angegossen. Wie vereinbart: kein Theater, auch nicht nach Schluss der Veranstaltung. Jeder geht seinen Weg, klaglos, wenn möglich und alleine. Schon unter der Türe plötzlich ihr zarter Handrücken an meiner verlorenen Wange, dabei wortlos – ernst, dann schnell durch die Türe schreitend, irgendwohin in die Einsamkeit meiner Erinnerungen. Weiterhin Regen, gut passend zu diesem grauenvollen Tag. Meine Verabschiedung von Doktor L. Seine Standardratschläge für solche Fälle: Whisky, nicht zu wenig, Ausschlafen bei guten Freunden – Sie wissen schon. Seine terminbelegte Zeit. Leider, sagt er, leider. Was ich ablehne, dass der peinliche Chauffeur mich mitnimmt, nachher, wenn es seine Zeit erlaubt. Sein allerletzter Gruß, mühsam durch die schon geschlossene Fensterscheibe bei entschwebender Limousine.
Mein Aufatmen, das im Regen stehen bleibt.
Ein frisch geschiedener Herr unter dem Portal des Amtsgerichtes stehend, an einem 4. Dezember, 16: 47 Uhr, bei mäßigem Nordwest und leichtem Regen – das ist alles.
Benötigt er einen Ratschlag? Lebenshilfe? Handreichung? Spezielle Literatur für derartige Momente?
Literatur gibt es für jede Situation: Dienstanweisungen, Regie-Sätze, Handlungsanleitungen, Schilder, Plakate, Hinweise, ich weiß, ich weiß – nur nicht für frische Scheidungen.
Ich erinnere mich an meinen letzten Hotelaufenthalt in Frankreich. „Im Brandfalle“ las ich auf dem Schild an der Zimmertüre, im Brandfalle: „Ne criez pas au feu. Gardez au sang froid, appelez numero 9.“
Bitteschön, Nummer neun wird weiterhelfen!
Aber hier, unter dem Portal des Gerichtsgebäudes, als frisch Geschiedener ohne numero neuf bin ich angewiesen auf mich selbst.
Ich erinnere mich an einige anerzogene Lebenshilfen. Wollen Sie einen kleinen Auszug hören?
Bei Rot nicht über die Straße gehen,
beim Essen nicht schlürfen,
Frauen im Aufzug nicht auf den Busen starren,
nicht in der Nase bohren,
nicht Fisch mit dem Messer essen.
Nicht mit vollem Mund sprechen,
Rotwein ohne Eiswürfel trinken,
zum Smoking keine Krawatte tragen,
zum Papst nicht „Grüß Gott Herr Papst“ sagen – solche Dinge.
Aber so sehr ich auch mein Gehirn martere, nichts dabei, nichts dabei für frisch Geschiedene.
Gardez au sang froid – leicht gesagt. Stehen Sie einmal unter diesem neugotischen Portal im kalten Regen, der ihren Nacken beträufelt – sang froid, ich bitte Sie. Wenn man nicht weiß, wie sich zu verhalten, ist es am besten man steht stille, sucht nach tunlichen Gedanken und hofft, dass ein vernünftiger dabei ist.
Der Regen hat kein Einsehen, steht mir fast bis zum Hals, tropft aus allen Gesimsen in meine spärlichen Gedanken hinein. Lange stehe ich so, alleine im eigentlichen Sinn, leer, amputiert, bloße Hülle ohne Inhalt, mir selbst ausgeliefert wie noch nie in meinem Leben.
Ich bin auf einer selbst gefertigten Insel, sozusagen Robinson Crusoe persönlich, versuche es mit Galgenhumor, pfeife ein Lied in den Wind hinein, der mich auslacht, erinnere mich an Doktor L. Mit seinem Schlafen-Sie-sich-erst-einmal-gut-aus-Rat, was mir nicht weiterhilft. Mir schaudert vor der Wohnung, in der jeder einsame Schritt in mein Gedächtnis hineinhallen wird. Ich schaudere, nicht nur wegen der Kälte, die an mir heraufkriecht. Ich bin eine Zumutung für jeden. Aus der Welt gefallen durch eigene Schuld, wenn es das überhaupt gibt in meinem Falle: Schuld.
Der Regen vermischt sich mit einigen wenigen Schneeflocken. Somit in der ganzen Hansestadt nichts anderes als Verkehrschaos. Endlich ein Taxi, in das ich fliehe.
Die Frage des Fahrers: „Wohin soll die Reise gehen?“ „Ja, wenn ich das wüsste“ antworte ich zögernd. Der Taxifahrer ratlos. Offenbar ein Irrer. Noch mehr als ich sage, eigentlich, sage ich, eigentlich ist meine Reise bereits vorbei, endgültig vorbei. Der Taxifahrer: Wohin ich wolle, eigentlich wolle? Ja eben, entgegne ich, das ist ja die Frage. Seine Drohung mich hinaus zu werfen, ersatzweise, mich zu einem Nervenarzt zu fahren. Schließlich mein Einfall: Zum Grandhotel, bitte. Mein Trinkgeld in erstaunenswerter Höhe, passend zu einem Lebensretter.
Meine Flucht vor mir selbst.
Ich fahre zu Jack. Jack heißt eigentlich Hans Weber, aber jedermann ist überzeugt, dass er, Herrscher über alle äthanolischen Möglichkeiten, die die Bar eines angesehenen Hotels bietet, nicht anders heißen kann als Jack, einfach Jack.
Jack findet das korrekt. Ich nicht. Ich nenne ihn Herr Jack, Betonung auf Herr. Tatsächlich ist er mehr als ein bloßer Herr. Ein Gentleman, wenn auch ein verkleideter. Außen wie ein Igel: Stachelhaare, gedrungene Statur, kleine aufmerksame Augen, tiefblau, wie man sie sonst nur bei Graubündnern trifft. Innen herzensgut, nicht mehr, nicht weniger.
Jack duzt keinen und keiner duzt Jack. Als Barchef, sagt er, sei er vieles gleichzeitig, sozusagen Barkeeper und Beichtvater in Personalunion. Für alle Religionen, sagt er. Jack urteilt selten, verurteilt nie. Sünden sind bei ihm gut aufgehoben.
So ist Jack.
Jack gut getarnt durch seine Spirituosen, Verkäufer von Menschlichkeit, sozusagen geöffnet bis Mitternacht und in Notfällen darüber hinaus, wenn Sie verstehen, was ich meine.
So ist Jack, der alleine lebt nach dem Tod seiner Frau und nie alleine ist und der sich sicher weiß, sicher durch die Berge von Gläsern, Flaschen und sonstigen Wehrhaftigkeiten.
So ist Jack, der Flüchtlinge empfängt mit menschlicher Freundlichkeit. Wundert es Sie, dass ich ihn aufsuchte an jenem Abend?
„Es scheint ziemlich zu regnen, Herr Professor.“ Ziemlich, sagt er, mit etwas bedenklichem Blick. Jack ist diskret. Es ist der Regen, nichts als der Regen.
Ich bekomme meinen Sessel am wärmenden Kamin. Unbestellt erscheint ein Abendessen, über das ich herfalle, dankbar, hungrig und erschöpft, müde bis zum Umfallen. Ich esse unter seinen sorgsamen Augen. Ich esse kleinbissig und unschlüssig wie ein Kind, das nicht weiß, ob es nur hungrig oder aber todmüde ist.
Jack in gehöriger Distanz. Leicht nach vorne gebeugt, voll beobachtender Zurückhaltung, bereit zum Eingreifen, wenn nötig. In seiner Hand plötzlich eine Flasche Chateau Figeac, mein Lieblingswein. Jack sagt: „Für Notfälle“ und lächelt ein wenig. „Himmel im Glas“ antworte ich und füge hinzu: „Schenken Sie ein, Herr Jack, bis ich Halt sage.“
So ist Jack und so das Refugium, das mich aufnimmt in dieser schrecklichen Nacht, Gott sei Dank.
Ich esse in kleinen Bissen, spüre die Wärme des Kaminfeuers, trinke in kleinen Schlucken das göttliche Getränk, fühle, wie die Stille mich allmählich umfängt wie ein tröstender Mantel, der die Gegenwart mehr und mehr vertreibt und ich beginne mich zurück zu träumen in die Welt meiner Vergangenheit.
Kapitel 2
Ich will nicht herumreden: Ich bin das einzige Kind reicher Eltern. Ziemlich reicher. Ich bin begabt für Mathematik und Physik, Sprachen lerne ich mühelos, man könnte auch sagen nebenbei. Sieben Sprachen beherrsche ich fließend, allein grönländisch hat mir ein wenig Mühe gemacht. Ich bin korrekt bis zum Übermaß. Um nicht zu sagen zwanghaft. Die Logik der Mathematik ist für mich verlässlich. Eine feste Wegmarke, nicht mehr, nicht weniger. Vielleicht sind Ihnen die Hyperbeln und Parabeln zuwider, die Integrale fremd. Mich faszinieren sie.
Ich wuchs behütet auf. Meine Mutter Hausfrau, gütig, ordentlich und einfach ein lieber Mensch. Mein Vater mehr genial, manchmal chaotisch. Oft sagte er: Ordnung hemmt, und meinte wahrscheinlich seine schnellen, vorwärts gerichteten Gedanken. Ingenieur ist er, wie ich auch, ein Brückenbauingenieur, um genau zu sein und ein berühmter dazu. Er hat ein großes Büro und viele Neider. Weil er sein metier beherrscht. Aus dem ff., wie man so sagt. Kein Tal, kein Fluss zu breit, keine Schlucht zu tief – alles überbrückt er, alles. Gelegentlich speit ein Vulkan auf eine seiner Brücken oder ein Orkan rüttelt an ihnen, eine Sturmflut nagt an den Pfeilern – no problem. Weltweit ist er bekannt und seine Zuversicht ist einer dieser Pfeiler für die Familie und für mich.
Wenn Sie etwas über meine Schulzeit wissen wollen: Sie war entsetzlich öde und die Lehrer dozierten, was sie immer schon dozierten, ein ganzes Lehrerleben lang, dreißig oder vierzig oder fünfzig Jahre, meinetwegen. Jedes neue Schuljahr war Gallien eben in drei Teile getrennt – Cäsar lässt grüßen, und ich sagte oft, es ist eine Kunst, dabei nicht verrückt zu werden.
Die Schule fiel mir leicht, gelegentliche Anstrengungen ausgenommen. Lernen konnte ich, falls gefordert, wie ein Büffel und überall, im Zug, im Auto, selbst im Freibad, trotz der Bikinimädchen. Die Noten flogen mir mehr zu als ich mich um sie bemühen musste. Vater half gelegentlich mit verflossenen Spruchweisheiten: „Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige.“ Solche Späße, über die er selbst lachen konnte. Mutter sorgte für frische Hemden und entfernte meine Pubertätspickel. Unsere Köchin verpackte ihre Zuneigung in ungarisches Gulasch, ersatzweise in überquellende Dampfnudeln. Unser Chauffeur hieß Karl ohne Nachnamen, einfach Karl, und bekam von meinem Vater gelegentlich eine Havanna, die er hinter sein Ohr steckte – für später. Karl war ziemlich myop, chauffierte zuverlässig, überholte aber jeden, aus Prinzip, nicht aus Notwendigkeit.
Wie ich schon sagte, wir waren nicht eben arm. Unser Haus galt als Villa, unser Schwimmbad als Pool, unser Garten als Park. Ein Mann war angestellt, extra angestellt als Vermögensverwalter, mit eindeutigem Scheitel und auch sonst unsympathisch. Trotzdem lobte ihn mein Vater regelmäßig und vor allem am Jahresende, zur Bilanzzeit, wie er sagte.
Dass das Abitur eine Hürde sein soll, war mir unbekannt.
Um meine Zukunft machte ich mir Gedanken. Immer schon. Rar ist die Zeit, und sie will genützt werden. An Alltagschnickschnack kann ich keinen Gefallen finden, angefangen von den sportlichen Sinnlosigkeiten (einer meiner Freunde springt, an einer Schnur festgebunden, von Brücken in die Tiefe, in der Hoffnung, dass der Schnurmensch die Länge des Seils richtig berechnet hat) bis hin zu den üblichen toxischen Veranstaltungen (zwei Männer, eine Flasche Wodka).
Das Studium ebenso öde wie die Schulzeit. Frontalunterricht von Professoren, darunter viele graue Mäuse mit beklagenswertem Spezialwissen, Räte und Oberräte, die selbst ihre Stempel mit dem belasten, was sie für einen akademischen Titel halten. In den Bänken der Hörsäle das gleiche Bild: zaghaft und fleißig die meisten Studenten, mit seltenen Fragen und noch selteneren Zweifeln – himmelschreiend.
Das Studium fiel mir leicht. Mein Hoffen auf die große, entscheidende Anstrengung, Examen genannt – noch heute warte ich darauf.
Nebenbei der übliche universitäre Heiratsmarkt mit unerreichbaren Sportstudentinnen, die an mir vorbeisahen, als ob ich nicht existierte. Ich bin nun einmal ungeeignet für den dreifachen Salto vom schwindelerregenden 10 m Brett, den die Sportlerinnen als Eintrittskarten für ihre muskulösen Kreise forderten. Auch eine Winterbesteigung der Eiger-Nordwand mit Biwak in der Hängematte samt Blick in eine tausendfache Tiefe ist mir einfach ein wenig zu frisch.
Zugegeben, es gibt ansehnliche Juristinnen, aber sie sehen überall juristische Probleme und wenn keine vorhanden sind, werden flugs welche hergestellt, so, als ob wir laufend umgeben wären von ihren Paragraphen.
Wenn Sie mir ein kleines Beispiel gestatten?
Vielleicht die Parabel vom undulösen Werkzeug?
Der Fall ist einfach und kommt, sagen diese Jüngerinnen des Rechtes, millionenfach vor und geht wie folgt:
„Der A. verspricht dem debilen B. ein Auto, wenn er, der B., dem verhassten C. mit dem Hammer auf den Schädel schlägt. Wer ist schuld?“
Der Debile, sage ich dann, eindeutig der Debile, denn dieser hat mir schon immer gefallen in dieser verkopften Welt.
Bärbel, meine juristische Freundin, antwortet in solchen Fällen: Dein IQ, mein Lieber, liegt deutlich unter 100, deutlich, und über die Brücken, die Du einmal bauen willst, mag gehen wer will – ich nicht.
Was Wunder: Ich bestehe das Examen mit Auszeichnung und promoviere wenig später über Schrägseilbrücken in Zonen hoher tektonische Aktivität, wenn es Sie interessiert.
Wie gesagt, man muss sich früh spezialisieren und mein Gebiet sind nun einmal die Brücken, diese Herausforderungen in den Grenzbereichen von Physik und Statik. Wenn die Erde wackelt, darf eine Brücke nicht einstürzen, höchstens schwanken, ein wenig, ein wenig.
Gestern erhielt unser Büro einen Großauftrag. Eine Brücke soll über einen Meeresarm gebaut werden. Man denkt offenbar an eine Schrägseilbrücke mit Fahrbahnträgern aus Beton, mit zwei Pylonen wegen der Spannbreite.
Die Konferenz fand in Vaters Büro statt. Alle waren sich einig, wir nehmen den Auftrag an. Sechs Augenpaare schauten mich an, die meines Vaters inbegriffen: Die Brücke soll nicht sozusagen „um die Ecke“ errichtet werden, sondern in Nordisland, wo es, wie jeder weiß, tagtäglich Erdbeben gibt. „Dein Thema“ sagten sie und „Theorie muss sich in der Praxis beweisen“ und „Island ist schön und die Leute sind nett“ fügten sie als Trostpflaster hinzu.
Was die Organisation anlangt, kannst du dich auf uns verlassen. Die ersten Pläne liegen bereits vor. In einem Monat kannst du fliegen. Akureyri ist die Hauptstadt des Nordens, vielleicht ein bisschen kühl und im Herbst etwas dunkel, aber die Landschaft ist großartig und die Isländer liebenswert. Mit einem Wort: Du bist ein Glückspilz. Danach Händeschütteln, Schulterklopfen, tolle Sache für einen jungen Brückenbauer – unsere Gratulation!
Ich brauche nicht erwähnen: Widerworte sind zwecklos, friss oder stirb. Ich entscheide mich für das Fressen.
Wo um Himmelswillen liegt Akureyri?
Der Flieger landete in einer Juninacht in Keflavik. Nacht ist übertrieben. Im Juni verabschieden sich die Tage in Island nicht. Heitere, helle Luft, noch zur sogenannten Mitternacht, Toskanaartig, denke ich.
Schon daheim wurde mir aufgetragen: Nimm ein Taxi, fahre hinein nach Reykjavik, sage dem Fahrer einfach nur „Bergstadastraeti“ und „Holt“ und er wird antworten: Sie haben gut gewählt, sehr gut.
Das Hotel von außen bescheiden, von innen eine Pracht: die schönsten Gemälde an allen Wänden, offenbar eine private Sammlung. In der Bibliothek: tiefe Ledersessel, abgesessen und lebendig, wie es sich für Ledersessel gehört. Überall nur leise Töne, die aus der vertrauensvollen Bar zu mir herüberschwappen. Ein einladender Kamin mit verlässlichem Feuer, Geborgenheit von Anfang an, home far from home, wie man so sagt, kurz: Ich wohne im Holt, für mich im besten Hotel der ganzen Insel.
Die Hauptstadt selbst dörflich mit lustigen Wellblechhäusern in zackigen Farben, einige Hochhäuser dazwischen gemischt, grau und weiß und kahl und etwas fremd, ein pfiffiges Gebäude am Hafen mit kubischen Fenstern, Harpa mit Namen, wie von Vasarely entliehen, Zentrum für Musik, Theater, Feste, Stolz der ganzen Nation und alles eingetaucht in eine nie untergehende Sonne und den sogenannten Islandsommer, ausnahmsweise heute regenfrei und glühend heiß mit 15° im nicht vorhandenen Schatten.
Mein erster Abend in Island, meine Verlorenheit in den Sträßchen, bis ein Gasthaus mich aufnimmt, Suppe bietet, soviel man will, Salate dazu und rückgratfreies Bier, mehr Zumutung als Getränk. Dazu Männer, die wie Fischer aussehen, an vielen Tischen mit vielen Pfeifen, dazwischen gemengt luftige und blonde Damen, mit einem Wort – Islandsommer.
Die Selbstverständlichkeit ihrer Neugierde: meine dunklen Haare, mein kärgliches Isländisch, das von der Nachsicht meiner Tischnachbarn lebt, meine Weigerung, Englisch zu sprechen.
Dann die üblichen Fragen: meine Profession (Ingenieur), mein Alter, mein Familienstand (ledig) und was ich hier so treiben würde (Brückenbau). Gleich danach: ob mir Island gefalle (keine Ahnung, da erst einen Tag im Land) und die Isländer als solche (was mich in Verlegenheit bringt), meine Herkunft (Süddeutschland), ob ich dem VfB Stuttgart anhängen würde (meine Unkenntnis über diesen Ballspielverein).
Es gibt an jenem Abend viel von dem zaghaften Bier und Salate über Salate, wunderlich für ein Land der Gletscher und Vulkane und des andauernden Eises. Dann meine Frage nach Wein für alle hier am Tisch. Gläser, die als Weingläser gelten sollen, werden gebracht, dazu eine Art Rheinwein von der lieblichen Sorte, zu Preisen wie ein veritabler Chateau Petrus.
Vor Mitternacht dann eine leise schwankende Erde, immer noch diese Mischung aus Nordwind und Hering, meine Wanderung durch Straßen mit unaussprechlichen Namen, endlich wieder das vertraute Holt. Nein, sagt der Pförtner, hier bei ihm habe die Erde nicht geschwankt, ausnahmsweise nicht.
Am nächsten Morgen mein Flug von Reykjavik nach Akureyri.
Wir fliegen in geringer Höhe. Unter uns Menschenleere. Ab und zu die vorgeschriebenen Gletscher, pseudopodienhaft sich verlierend in buntem Gebirge, Schluchten, zerteilt von geschlängelten Flüssen, gelegentlich Autopisten, die sich im Dunst verlieren. Die Erde, wie gesagt, bunt, Gesteine voll ungesehener Farben, impressionistisch fast, verpackt in die Klarheit einer gläsernen Luft.
Angeschnallt solle man bleiben, sagt Anna, die Stewardess, angeschnallt, bis das Flugzeug zum finalen Stopp gekommen sei und dann, sie mögen es glauben oder nicht, sagt sie „Velkomin heim“ zu jedem von uns Zwölfen, die wir der Maschine entsteigen. Kleine Stupsnase mit lachenden Sommersprossen, blaues Kostüm, das ist Anna – Willkommen zu Hause!
Ich werde Anna noch einmal begegnen in dem kleinen Café, das Laut heißt und das den botanischen Garten zu einem Lystigarnur macht, einem Lustgarten, und sie wird mir sagen, dass es nichts Besonderes sei bei der Ankunft alle, auch die Fremden, willkommen zu heißen, denn Fremde seien ein Geschenk, das wisse jeder, und ob ich mich jetzt nicht schon zu Hause fühlen würde, ein wenig zumindest, das fragte sie mich auch.
Anna hat meerblaue Augen – falls Sie das interessiert.
Es ist keine Schande, wenn Sie von Akureyri wenig wissen: eine Stadt an einem Fjord, Eyjafjördur genannt, „Hauptstadt Nordislands“ nicht eben sonderlich groß, vielleicht 20.000 Damen, Herren, Kinder, Greise, natürlich auch Hunde, Schafe, Islandpferde. Ein Spital gibt es, eine Uni, einige Banken; im Sommer dazu südliche Lebensfreude: „Florenz des Nordens“, naja, mit Blumenkübeln überall, Straßencafes, Mädchen mit luftigen Kleidern bei heißen 14°, dazu eine erstaunliche Kirche mit mächtiger Orgel, von einem Deutschen gefertigt. Einen botanischen Garten gibt es seit 1912 wie ich lese, Werk und Aufgabe unermüdlicher Damen der Stadt, der nördlichste der Welt, bitteschön, mit allen Pflanzen des Landes, Bäumen aus allen Weltgegenden, zum Anfassen schön, dazwischen, wie gesagt, ein stilvolles Kaffeehaus, mitten in dieser Wunderwelt mit Blick auf den Fjord und überall Blumenduft.
In der Stadt selbst, lachen Sie nicht, das beste Speiseeis des ganzen Landes mit Menschenschlangen vor der Eisbude, die Brynja heißt, daneben Wirtshäuser voller Fischgerichte, das obligatorische Schwimmbad, ein Golfplatz mit unzähligen Löchern, ein Flugplatz mitten im Fjord mit täglichen Fliegern in die wirkliche Hauptstadt.
Dazu kommt, sagen die Einheimischen, die ansteckende, lachende Heiterkeit im Sommer mit einer nie ermüdenden Sonne. Im frühen Winter jedoch bereits mehr Nacht als Helle, kein Wunder bei der Nähe zum Polarkreis. Als Trost ein Skizentrum in verlässlicher Nähe (das beste in ganz Island), „Icelandic Winter Games“ auf gut beleuchteten Hängen – kein Platz für Depressionen.
Ich reise mit kleinen Koffern. Das heimische Büro hat gut vorgesorgt. Das umfangreiche Gepäck und alle Unterlagen bereits im Hotel. Zum Greifen nah der Blumengarten, das obligatorische Schwimmbad direkt um die Ecke, zum Rathaus ein Spaziergang. Der Angestellte der Rezeption des Hotels: „Velkomin“, herzlicher als ich es erwartet hatte. Im Salon, bitteschön, schon zwei Herren der Stadtverwaltung, die mir die Stadt zeigen wollen. John und Frederik, „nichts Dienstliches, wir bitten Sie, nach so einer langen Reise und ob ich morgen Zeit hätte, vielleicht gegen elf, der Bürgermeister hätte Sie gerne empfangen“. Ich nicke mein Einverständnis.
Die leisen Töne sind es, denke ich, die Vertrauen spenden, die Freundlichkeit der Distanz, das unaufdringliche Willkommen.
Unser Fjord, sagen die beiden und deuten auf das Wasser, unser Fjord, den wir überbrücken wollen mit Ihrer Hilfe und dass ich gut schlafen solle, hier bei uns, sagen sie in dieser ersten Nacht und sie sagen es so, als ob ich schon zu ihnen gehörte bereits am ersten Tag, dem hunderte folgen werden.
Am nächsten Tag mein Termin beim Bürgermeister. Ein Mann wohl in den Fünfzigern, sorglos gekleidet, Stoppelhaare, irgendwie igelhaft, der Händedruck eines Fischers. Vertrauenswürdige Augen, Lachfalten, bis zu den Ohren. Er kenne mich schon lange, sagt er, meinen gesamten Lebenslauf, mein beruflicher Werdegang, alles. Euer Büro hat mich perfekt informiert, you know, perfect.
Wir besprechen das große Projekt: Der Meeresarm vor der Stadt soll mit einer Brücke überquert werden. Unter der Brücke Platz für Schiffe, auf der Brücke Autos, Fahrräder, Fußgänger, wie Sie wollen. Im Winter, you know, klirrende Kälte mit Eisschollen, die auf die Pfeiler drücken, Winterstürme, wie ihr sie gar nicht kennt, als kleine Zugabe gelegentlich ein Erdbeben und natürlich, sagt er, soll dieses Projekt am besten schon übermorgen fertig sein.
Der Bürgermeister war einmal in New York. Eine Brücke wie über den East River, sagt er, würde ihm vorschweben, sozusagen eine hybride Brücke, nichts anderes als eine Hängebrücke kombiniert mit einer Schrägseilbrücke.
Das Hauptproblem, sage ich, das Hauptproblem bei allen Brücken und das anspruchsvollste Problem überhaupt, das sind die Spannweiten.
Hier über den Fjord, sage ich, und angesichts möglicher Erdbeben wäre eine einfache Schrägseilbrücke das Optimale: Harfenartig und ästhetisch wären die Schrägseile auf jeden Fall und wie viele Pylonen wir benötigen würden, das könnte ich ihm bald sagen. Und was die Spannweite anginge, sage ich, so wollen wir ja keinen Weltrekord aufstellen und auch nicht mit der japanischen Brücke konkurrieren, die seit mehr als fünfundzwanzig Jahren den Spannweitenrekord hält mit fast zwei Kilometern.
Ich weiß nicht, wie lange wir bereits in diesem ersten Tag diskutierten. Aber schon an diesem Tag ein erstes Resultat: Schrägseilbrücke mit mutmaßlich vier Pylonen, zwei Fahrbahnen, zwei Radwege und zwei Wege für die Fußgänger – fertig.
Schließlich wieder sein Fischer - Händedruck, fest, aber nicht grob. Ein Berg unbeantworteter Fragen, aber stimmige Chemie, helle Augen, wahres Gesicht.
Schon beim nächsten Treffen: Call me Sigur und ich entgegne: I‘m Hans.
Wir werden in den folgenden Monaten wie die Tiere arbeiten, hart und ohne uns um die Tageszeiten zu kümmern, wir, Ingenieure, Bauleiter, Statiker und ein Heer fleißiger Isländer, die das Bauwerk tagtäglich mehr in die Höhe wachsen lassen.
Natürlich sprechen wir nicht nur über das Bauprojekt.
Sigur hat zwei Hobbys: seine Familie und das Angeln. Sein Lieblingssport: Schach. Sein größter Wunsch: Einmal tagelang durch einen richtigen Wald zu wandern, sozusagen stets unter Bäumen, immerzu unter richtigen Bäumen und nicht nur durch diese isländische Kärglichkeit, die sie hier Wald nennen.
Mein Vorschlag: Nach dem Richtfest Durchquerung des Schwarzwaldes. Westweg, zum Beispiel, eine Woche nur Bäume, Bäume, Bäume.
Sigur lächelt, gutmütig und ein wenig behindert durch seine Pfeife, ein Teil seines Körpers.
Nach einer Pause: Ob ich fischen würde?
Meine Antwort: Weder im Trüben, noch sonst. Forellen, sage ich, Forellen sind mir angenehm, aber nur, wenn tot, filetiert und nach der Art einer Müllerin zubereitet.
Sigur schwärmt vom Fliegenfischen. Im Gebirge. In einem Bach, der manchmal zu einem kleinen Fluss anschwellen würde. Dort, sagt er, habe er eine Hütte, aber nur für Fischer.
Ich bin nicht erpressbar, schon gar nicht mit Forellen, mit denen ich im Grunde Mitleid habe.
Angeln, sagt Sigur, Angeln sei wundervoll, denn beim Angeln, sagt er, beim Angeln darf man nicht reden. Geschwätz sagt er, erkennen die Fische sogleich, auch wenn sie sich gemeinhin stumm stellen.
I don‘t believe him – Jägerlatein, isländisches.
So robben wir uns allmählich aufeinander zu.
Ich muss gestehen, ich habe mich breitschlagen lassen. Wir sind ins Gebirge gefahren, an jenen Bach, den Sigur Fluss nannte.
Er in hüfthohen Stiefeln mitten im Wasser.
Ich am Ufer, folgsam, schweigend, fisch-gerecht eben.
Unsere Kommunikation meistens: Non – verbal.
„Siehst Du“ ruft er, wenn er wieder einmal etwas an der Angel hat.
Ich sehe, lege den Finger auf den Mund, schweige wie ein ausgewachsener Fischer.
Manchmal sehe ich, dass mich die Forellen prüfend beobachten.
Ich werde nicht schwach. Ich rufe nicht: Da ist eine riesige!
Ich sitze in der Sonne, schweige vor mich hin und freue mich an einem kleinen Käfer, dessen Lieblingsgericht isländisches Moos ist.
Das Gebirge wirft einen vorsorglichen Schatten. Der Nachmittag verwelkt.
Ich sage: Deine Ausbeute reicht für eine ganze Kompanie.
Sigur lacht und klettert aus dem glitschigen Fluss.
Seine prüfenden Augen auf die vielen Forellen und ob er zu viel versprochen habe, fragt er.
Ich sage, dass das Fischwasser himmlisch und die Luft unbeschreiblich sei, genauso wie der Himmel und die Stille hier im Gebirge und füge die Forellenausbeute hinzu, anstandshalber.
Wir fahren zurück in die Stadt. Katja, seine Frau, bereitet die Forellen zu.
Sie haben es schon erraten: Müllerin-Art, nichts anderes.
Bei der Verabschiedung aus dem gastlichen Haus: Komm bald wieder. Und: Wir freuen uns.
Unsere Zuneigung wächst zur Freundschaft. Die berufliche Kooperation, der Bau der Brücke, anstrengend und eine Freude zugleich. Zwei Männer für ein gemeinsames Ziel, nicht mehr, nicht weniger.
Nach zwei Monaten verlasse ich das Hotel und ziehe in Sigurs Haus. Ich werde dort wohnen, bis ich Island verlasse. Ich gehöre zur Familie, längst auch zu den beiden Kindern, wie diese zu mir.
Mehr und mehr nimmt das Werk Gestalt an. Die Pfeiler stehen fest, betongrau und bereit für jede Last.
Mein Isländisch wächst, wird allmählich zur Selbstverständlichkeit, nur Witze verstehe ich nicht immer und auch fluchen würde mir schwer fallen.
Kapitel 3
Ich habe Anna wieder getroffen.
Unverhofft, ob Sie es glauben oder nicht.
Mitten auf einer dieser unaussprechlichen Straßen, deren Namen mit „Braut“ enden.
Ich habe ihre Einladung nach zuhause angenommen.
Ihr Zuhause ist ein Fels im Meer, geteilt vom Polarkreis.
Sie werden Grimsey nicht kennen.
Unter uns gesagt: kein Beinbruch.
Eine Insel, verloren im Nordmeer, nördlich von Akureyri, bewohnt von vielleicht einhundert Menschen, der Rest Vögel. Überall nichts als Vögel. Mitten durch die Insel der Polarkreis, den man sehen und anfühlen kann. Ein dickes Metallrohr, Symbol genug für Touristen, die über den polaren Kreis klettern. Manche küssen sich auch über die Grenze hinweg, glückversessen.
Anna ist eine dieser wenigen Bewohner. Ihre Eltern, ihre Großeltern, alle Geschwister wohnen dort, der Rest, wie gesagt meistens Vögel, außerdem ein Postamt, eine Kirche, ein Friedhof und ein Tante-Emma-Laden. Dazu ein Hafen, eine Piste für wagemutige Flugzeuge und einige dämliche Schafe, die von der Landebahn verjagt werden müssen, wenn sich ein Flieger nähert. Nach Bäumen sucht man vergeblich, wie meist in Island. Die Fähre braucht drei Stunden vom Festland und der motorisierte Vogel weit weniger.
Anna sagt, alle würden sich freuen, ich auch, sagt sie, und ein Wochenende in der windigen Einsamkeit wäre gut gegen die Hektik der Großstadt. Großstadt sagt sie und meint Akureyri – stellen Sie sich vor!
Tage darauf im Flieger der Nordlandair mit Anna im Cockpit, neben dem Piloten, weil Kollegin, gewissermaßen. Flug entlang des Fjordes, dann offenes Meer mit kräftigen Böen. Die Maschine hüpft wie ein Pferd. Mein Magen auch. Schließlich die Landung mit mehreren Sprüngen in aufflatternde Vögel (Puffins) hinein.
„There we are“ sagt der Kapitän und dass das mit dem Hüpfen kein Wunder sei, denn ich hätte soeben den Polarkreis überflogen – Hallo!
Herzlicher Empfang durch die Großfamilie. Dabei bin ich kein Schwiegersohn, auch kein potentieller. Fünfzehn Jahre, fünfzehn Jahre älter als Anna, die gerade neunzehn ist, außerdem Deutscher, wurzellos in Island, hierher geschwemmt wegen des Fjordes, den es zu überbrücken gilt – nicht mehr.
Ihre Bewunderung für mein Isländisch. Dabei lückenhaft. Wie gesagt, Witze kann ich nicht erzählen ohne Annas Hilfe, nicht einmal Witze.
Tee in riesigen Mengen, dazwischen Verdauungsschnäpse. Die ganze Familie heiter in dieser Umgebung der Stille. Ich frage nach Winter und nach Sturm (kein Zugang zur Außenwelt) nach Blinddarmentzündung (Krankenschwester, sonst Flieger zum Spital), ich frage nach so genannter Abwechslung (Kino etc.), ich lerne, dass Anschluss an Internet perfekt, außerdem als lehrreiche Abwechslung Schach mit hoher Expertise bei den meisten Insulanern, darunter viele Schachmeister. Ich frage nach Badestränden (Lachen der ganzen Familie, nicht einmal im höchsten Hochsommer!), ich frage nach weißen Nächten (viele und unvergessliche), ich frage nach Winternächten (Nordlichter, geisterhaft und von unglaublicher Farbschönheit), ich frage nach Gymnasien (auf dem Festland) und nach Einkäufen fragte ich wahrscheinlich auch.
Ich spüre meine Abhängigkeiten. Ich beneide Anna und ihre Familie um ihre selbstverständliche Heiterkeit. Anna sagt, ihr Glaube würde dazu führen, dass man das Gegebene schätzt und das sei alles. Von Genügsamkeit will sie nichts hören. Sie lebt in einer besonderen Selbstverständlichkeit, die nie ausartet.
Nach dem Abendessen stehen wir noch ein wenig vor dem Haus. Das Meer glänzt mit Schaumkronen und verliert sich in die nahen Sterne hinein.
Wir wandern zum Polarkreis, der markiert ist und unübersehbar. Das erste und einzige Mal, dass ich jemand die Hand reichte über diese gewichtige Linie hinweg. Ich hüte mich, mehr draus zu machen als einen Händedruck über eine Grenze, hinter der die Sonne nicht untergeht, zumindest an manchen Tagen nicht. Ich beschäftige mich mit Brücken. Ich versuche, analytisch zu denken. Ich wehre mich gegen romantische Anwandlungen, in die ich manchmal falle.
Wir gehen zurück ins Haus. Anna, ein lieber Mensch, wahrhaftig. Ich sage: „Du hast die herzlichen Augen deiner Mutter.“
Ich höre noch heute ihr „Wir-sind-halt-so“-Lachen, das sie nie verlieren wird.
Tags darauf fliegen wir zurück. Ich sage, die Insel wird bei mir bleiben. Anna entgegnet, sie habe das gehofft, ja erwartet. Grimsey sei eben mehr als ein bloßer Felsen im Meer. Mehr sagt sie nicht.
Wochen später erhalte ich eine Postkarte aus Reykjavik: „Grimsey braucht noch eine Brücke zum festen Land – wäre das nicht etwas für Dich? Anna.“
Ich weiß noch, was ich ihr antwortete. Liebe Fliegerin, schrieb ich, nur vierzig Kilometer bis zum Festland, das schaffen wir.
Ich schrieb nicht „zu zweit“, ich schrieb nicht, dass ich ihre blauen Augen vermisse und die Herzlichkeit, die ihr Wesen dominiert. Ich schrieb nicht, dass ich ihr „Willkommen daheim“ nicht vergessen werde, das sie damals, als ich im Flugzeug ankam, allen entbot, auch mir.
Anna wurde versetzt. Sie fliegt künftig Langstrecke, irgendwohin. Ich bin sicher, dass sie ihre Insel nie verlassen wird, egal, wo sie sich im Augenblick befindet.
Anna sah ich noch einmal, dann lange nicht mehr, zu lange – ich Narr!
Nach zwei Jahren war das Werk vollendet, der Fjord sicher überbrückt. Ich hatte mit dem Bürgermeister und hohen Politikern aus der Hauptstadt das Einweihungsband durchschnitten, war über die Brücke gelaufen, wurde unzählige Male beglückwünscht, fand mich wieder in der Stadthalle zu einem Fest der Überschwänglichkeiten, die man nüchternen Isländer nur insgeheim zutraut, musste selbst eine Rede auf Isländisch halten, in welcher ich alle lobte, wurde abgelichtet, interviewt von der lokalen Presse, kam zusammen mit dem Bürgermeister und dem ganzen Team im Fernsehen. Das deutsche Büro schickte ein Vertreter, der mich um einen einleitenden Satz auf Isländisch bat, erhielt Anrufe von Wildfremden, die mich nach Hause einladen wollten, bekam Briefe von isländischen Damen, meinen Junggesellenstatus und seine Beendigung betreffend, ohne dass die Brücke dabei erwähnt wurde.
Kurz: Ich war erschöpft, sozusagen müde bis in die Knochen und blass wie eine vornehme Dame des 19. Jahrhunderts, war ausgelaugt wie noch nie in meinem Leben. Spaziergänge im botanischen Garten, Eisessen mit Anna, mit dem Fahrrad den Sund entlang zu radeln – alles hatte ich der Arbeit geopfert, alles.
Sigur, mein Freund, rät zu einer längeren Pause, einer, in der Dich keiner stören kann, Dich niemand sieht, niemand Dich mit Mails, Telefonaten, Terminen und sonstigen Dringlichkeiten quält – mit einem Wort: Ich gebe Dir den Schlüssel für meine Hütte im Gebirge, falls Du jemals auf den Gedanken kommen solltest, sie auf- oder gar abzuschließen. Ich gebe Dir den Jeep, und Du bist, wie man bei euch in Deutschland sagt, eben mal weg, und zwar im Gebirge, wo es nichts gibt außer der Stille, die Dir gut tun wird.
Der Herbst hatte sich bereits über das Gebirge geschlichen. Die Tage werden kürzer, die Sonne macht sich rar, kleine Nebelfetzen schlummern verloren über dem Fjord und warten auf die Kälte. Das Lächeln der Menschen wurde zaghafter, Eisessen zur Ausnahme und die Blumenkübel verließen die Straßen. Die Straßenlampen, früh schon eingeschaltet, vergossen ihr Licht auf einsame Hunde, die immer noch auf einen Altweiberherbst hofften und auf wärmende Sonnenflecken, in denen sie dem Winter entgegen träumen konnten. Eine heimliche Ruhe hatte sich über die Stadt gelegt. Die Fischer schickten sich an, ihre Boote winterfest zu machen, ihre Netze zu überprüfen und ihre Bilanzen. Die Flüge in die Hauptstadt wurden seltener und selbst das herbe Geschrei der Möwen, so schien mir, wurde gedämpfter – kein Zweifel: Vorboten des Winters, die sich unmerklich andeuteten, zurückhaltend zwar, aber unübersehbar.
Sigur nimmt die ewige Pfeife aus dem Mund:
Ob ich mir das zutrauen würde, alleine in dieser Jahreszeit oben im Gebirge, drei Stunden von hier mit dem Auto, dann Fußmarsch, eine halbe Stunde, um dann, wie gesagt, mein Grassodenhaus, warm zwar, weil Gras bewachsen und halb unter der Erde, somit gut geschützt gegen Sturm und Kälte, als Behausung für mehrere Wochen anzunehmen, das, sagte er, solle ich mir gut überlegen. Komfortabel sei das Wohnhaus, weil seit kurzer Zeit versorgt mit dem kostbaren elektrischen Strom, ein unerhörter Luxus in dieser Umgebung.
Sigur fuhr fort, dass Jonas, offenbar Jäger aus Leidenschaft und seit mehreren Jahren geschieden, in der Nähe leben würde, zusammen mit seinen Hunden. Allerdings sei das mit der Nähe ein relativer Begriff in Island und vor allem im Gebirge: etwa zwei Stunden Fußmarsch, den Bach entlang und dann wirst Du auf sein Haus stoßen. Einmal im Jahr, sagte Sigur, kommt Jonas zurück in die Zivilisation um das Nötigste zu kaufen, sich kräftig zu betrinken, um dann wieder alleine zu leben. Sonderlich sei er, der vormalige Chirurg, aber das Leben und sein Weib hätten ihn so gebeutelt, dass die Einsiedelei der einzige Ausweg für ihn sei, der einzige. Natürlich werden wir ihn einmal finden und ihn dann hier begraben – wann, weiß nur Gott alleine.
Sie werden mir zustimmen: Alles andere als eine erfrischende Perspektive, die sich mir auftat an jenen Tagen nach der Brückeneinweihung. Jedoch: Ich sehnte mich nach mir selbst, wollte die Fremdbestimmung, in die ich mich Hals über Kopf hinein begeben hatte, hinter mir lassen und ich dachte vielleicht auch an das Motto der altehrwürdigen Tübinger Alma Mater: attempto – ich wag‘s.
Einsiedler zu werden von heute auf morgen ist nicht einfach.
Ich mache Listen, viele Listen, Einkaufslisten, Memory-Listen, Listen für absolut Dringliches und Listen für vielleicht Entbehrliches und Sigur lächelt in sich hinein, der Schuft. Du musst wissen, sagt er, dass es Dein Rücken ist, der all das tragen muss was Du Dir ausgedacht hast. Und: Ein Viertel von dem genügt und ein Viertel ist doch mehr als genug.
Endlich der Tag der Abreise. Aufbruch der Expedition sozusagen ins eigene Nichts. Eremit auf Zeit, wenn Sie so wollen. Unendlich die Umarmungen, Küsse, Ermahnungen, die ich erhielt: Was tun bei Halsschmerzen und was bei Durchfall? Wie lange muss ich schlafen und wie kann ich heizen? Wanderungen nur bei klarem Wetter und mit Kompass und Biwaksack. Trotz des Baches niemals die Wasserflasche vergessen. Cognac nur bei Magen- und nicht bei sonstigen Verstimmungen usw., usw.
Die Grassodenhütte hätte ich fast verfehlt, weil perfekt getarnt, mit Gras überzogen bis auf die Fenster, die zum dünnen Bach hinabsehen. Das Haus weit hinein in den Hang gebaut, somit geschützt gegen jeglichen Unbill mitten in der Rauheit des Gebirges.
Das Bächlein erträgt die Trittsteine, über die ich stolpere, mit erprobter Gelassenheit. Die Haustüre unverschlossen, der Lichtschalter tut seine Pflicht, ein Wasserhahn spendet Eiswasser, welches bei jedem Amerikaner Entzücken hervorgerufen hätte.
Auf dem Tisch ein Zettel, unverkennbar Sigur‘s Handschrift:
„Rotwein unter dem Bett, Satellitentelefon im Schrank, ebenso Mausefallen, Speck fehlt – good luck.“
Kein Wort, dass er Tage zuvor hier war, um mein Überleben zu unterstützen, kein Wort. Ich bin gerührt und fühle mich wohl und umsorgt. Nicht Kilometer sind es, die eine Distanz ausmachen, schreibe ich tags darauf in mein Tagebuch.
Ich richte mich ein mit mir selbst.
Ich bin gespannt, wie sich das Leben gestaltet, wenn nichts ist außer Stille, absolute Stille, die kleinen Geräusche ermuntert in die Gegenwart zu treten. Ich höre den Bach, der sich murmelnd über die Trittsteine beschwert, die seinen dünnen Lauf hemmen. Gestern ein kleiner Stein, der vom nahen Felsen herunterplumpste mit einem Pfeifton, der an einen einsamen Vogel erinnerte. Ich höre den Gebirgswind, der mit vertraulichem Stöhnen sich das Tal hinauf bewegt, so, als ob er Mühe mit dem Steigen hätte.
Ich besitze keine Uhr. Ich entbehre das genaue Datum, das mir nicht fehlt.
Ich gewöhne mich daran, jeden Abend einen Strich an einen Holzbalken zu machen.
Heute bin ich bei Strich 17. Ich bin immer noch gespannt.
Ich schreibe in mein Tagebuch:
Die Langeweile hat mich noch nicht aufgefressen. Ich habe wenig Sehnsucht nach Äußerlichkeiten, vermisse nichts und fange an das Schweigen, innen wie außen, sozusagen das Schweigen für Fortgeschrittene, zu lieben.
Ich gewöhne mich an die Zeit an sich. Und an die Langsamkeit meiner Gedanken, die ich genieße, die die Zeit ausfüllen in geordneter Ruhe. Ich lasse die Zeit verstreichen ohne Trauer. Ich belästige sie nicht mit meinen Alltagsbeschäftigungen. Ich spüre, dass ich ein Geschehen nicht brauche.
Manchmal ist die Stille bedrückend. Die Welt dann versunken im Nebel, der das Tal und den Bach entlang heraufschleicht. Der einzige Laut: mein Atmen und manchmal die hohlen Tritte meiner Schuhe. Für solche Notfälle erinnere ich mich an die zuverlässigen Schätze unter meinem Bett, den trinkbaren Roten vom linken Ufer der Gironde und an die lesbaren Schätze, die ich auf das Bücherregal gebettet habe. Allen voran russische Meister und mein Lieblingsroman, die Brüder Karamasow, die mich einnehmen in ihrer ganzen Kraft mit der alles entscheidenden Disputation: Jesus erwünscht oder doch lieber nicht?
Mehr und mehr gewinnt die Nacht an Kraft.
Die zaghafte Sonne, die sich nur noch gelegentlich über den Gebirgskamm wagt.
Ich fange an, die Polarjäger zu verstehen, die in der Einsamkeit Spitzbergens überwintern, denen die Stille alles bedeutet, und die durch sie überleben.
Ich fange an, ihre Hoffnung zu verstehen, die in der Gewissheit der Erlösung mündet:
Die unbeschreibliche Helligkeit wird kommen, das ist gewiss – Lohn der Nacht, aber welch eine Anstrengung, spüre ich, der Kampf mit dem Nichts, der bedrohlichen Dunkelheit, der großen, der absoluten, unverrückbaren Stille.