Der magische achte Tag (Band 2) - Marliese Arold - E-Book

Der magische achte Tag (Band 2) E-Book

Marliese Arold

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Beschreibung

Einen achten Tag in der Woche zu besitzen, ist Fluch und Segen zugleich. Während Laura und ihre Freundinnen lernen, ihre besonderen Fähigkeiten besser zu kontrollieren, greifen die Ereignisse aus der magischen Welt immer stärker in ihren Alltag ein. Olivia fühlt sich ausgeschlossen und Laura droht, ihre beste Freundin zu verlieren. Gleichzeitig taucht ein Mann, der aussieht wie Magister Darius, an einem normalen Wochentag auf – und trifft sich ausgerechnet mit Bernd Asshoff, dem neuen Freund von Lauras Mutter. Als Laura auch noch herausfindet, dass Asshoff sie und ihre Familie ausspioniert, wird sie erst recht misstrauisch ... Ist die Welt des achten Tages in Gefahr? Vier ungewöhnliche Heldinnen in einem spannenden magischen Abenteuer. Die neue Mädchenbuchreihe von der Autorin der 'Magic Girls'!

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Seitenzahl: 208

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Der magische 8. Tag Verborgene Kräfte eISBN: 978-3-96129-085-7

Edel:Kids Books Ein Verlag der Edel Germany GmbH Copyright © 2018 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburgwww.edel.com

Projektkoordination: Christiane Rittershausen Text: Marliese Arold Covergestaltung: Geviert Grafik & Typographie unter Verwendung von Motiven von © EVA105/Shutterstock und © iktash/Shutterstock Layout und Satz: Uhl + Massopust, Aalen Herstellung: Frank Jansen ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Ein schrecklicher Zwischenfall
Schlechte Aussichten für die Ferien
Nicht mein Tag!
Ein unerwartetes Wiedersehen
Seltsame Mücken
Noch mehr Rätsel

Ein schrecklicher Zwischenfall

»Au!« Laura starrte auf ihre Hand. Blut tropfte von ihrem Finger herunter. Sie hatte sich beim Kartoffelschälen geschnitten.

»Lass mal sehen!« Shirin war sofort an Lauras Seite. »Wir brauchen ein Pflaster für dich.« Suchend sah sie sich um und seufzte tief.

Laura kramte ein unbenutztes Papiertaschentuch aus ihrer Hosentasche und wickelte es um ihre Hand. Der Schnitt tat nicht sonderlich weh, aber vom Küchendienst war sie jetzt hoffentlich befreit. Nicht, dass sie sich extra geschnitten hätte!

In der Feenküche herrschte Chaos pur. Der Raum war so niedrig, dass die Mädchen die Köpfe einziehen mussten. Die runden Schränke bestanden aus ausgehöhlten Baumstämmen und hatten keine Tür. Innen stapelte sich das Geschirr, aber ohne jegliche Ordnung. Die kleinen Feen schienen jedoch genau zu wissen, wo ein bestimmter Teller oder Topf stand.

Im Moment befanden sich neun dieser magischen Wesen in der Küche. Sie waren ungefähr so groß wie Babypuppen, und um die Arbeitsplatte zu erreichen, mussten sie sich auf einen Hocker stellen. Es machte Laura total nervös, wenn eine Fee neben ihr oder hinter ihr herumwuselte. Manche Feen flogen auch durch die Küche, um Sachen herein- oder hinauszubringen, und es hatte schon fast zwei Beinahe-Crashs gegeben. Die Feen stießen beim Fliegen oft einen schrillen Warnton aus, der Trommelfelle und Nerven zum Flattern brachte. Laura hatte sich den Küchendienst angenehmer vorgestellt. Leider war sie von Magistra Elisa dazu verdonnert worden, den Feen einen ganzen Vormittag lang zu helfen. Zum Glück standen Anouk und Shirin Laura zur Seite, während sich Merle vor der Arbeit gedrückt hatte.

»Jetzt könnten wir Merle gut gebrauchen«, murmelte Laura und presste die Hand auf das Papiertaschentuch. Merle könnte in Windeseile ihre Verletzung heilen. Sie hatte das Talent dazu. Shirins Begabung dagegen war, das Wetter zu beeinflussen. Anouk konnte schweben. Laura war schon ein wenig neidisch auf ihre Zimmergenossinnen gewesen, weil jede von ihnen eine besondere Begabung hatte. Aber seit wenigen Stunden wusste Laura, dass sie auch ein Talent besaß: Sie konnte Gedanken lesen! Bisher nur manchmal und auch noch nicht perfekt, aber immerhin!

»Hier gibt es wahrscheinlich nirgendwo ein Pflaster«, meinte Shirin, die schon in etliche Schränke gesehen hatte. »Die Feen heilen ihre Schnittwunden vielleicht mit ihrer grünen Spucke, wer weiß.«

»Igitt!« Laura schielte nach links, wo eine Fee in einem Affentempo mit einem viel zu großen Messer Kräuter zerhackte. Dabei hatte sie eine so grimmige Miene aufgesetzt, als würde sie einen Feind zerstückeln.

Die Feen waren geheimnisvolle Geschöpfe mit weißer, fast durchsichtig wirkender Haut. Jede Fee hatte leuchtend blaue Augen und eine niedliche Stupsnase. Ihre Gesichtchen hätten wunderschön sein können, wären da nicht die Zornfalten und zusammengekniffenen Lippen gewesen. Schlechte Laune schien bei ihnen an der Tagesordnung zu sein. Außerdem wirbelten die Feen ständig hektisch herum. Sie schienen dabei keinerlei System zu haben, trotzdem wurden die Mahlzeiten immer pünktlich fertig.

»Also mir reicht’s jetzt!« Shirin knallte den Spülschwamm in eine Schüssel. »Ich habe sowieso das Gefühl, dass wir hier mehr stören als helfen. Laura und Anouk – kommt ihr mit?«

In diesem Moment begann der Küchenboden unter ihnen, leicht zu vibrieren. Laura klammerte sich automatisch an eine Tischplatte. Sie ahnte, was das Beben zu bedeuten hatte: Die magische Welt, in der sie sich gerade befand, wurde für einige Sekunden instabil!

Und so war es auch. Das Beben nahm zu, und die Wände wurden für einen Moment durchsichtig. Die Küchenfeen kreischten noch lauter als sonst. Geschirr fiel zu Boden, ein Kürbis kullerte über den Tisch, Pfannkuchen flogen umher, und von der Decke bröselte der Putz.

Es kam Laura wie eine Ewigkeit vor, dabei hatte der Spuk höchstens zehn Sekunden gedauert. Danach war alles wie zuvor – oder auch nicht. Die Wände in der Küche waren wieder massiv, aber im Mauerwerk waren einige deutliche Risse zu sehen.

Die Feen schienen wenig beeindruckt zu sein. Sie begannen schon mit den Aufräumarbeiten. Eine Fee flog sogar schon mit einem Gipsbecher durch die Gegend, um die Risse zuzuspachteln.

Anouk presste die Hände auf die Brust. »Ich habe mich so erschrocken! Was passiert hier? Wir hatten das in der letzten Zeit schon ein paar Mal, aber so schlimm wie heute war es noch nie!«

Shirin rannte schon aus der Feenküche. Laura folgte ihr, obwohl sie spürte, dass die rosa Pantoffeln an ihren Füßen Widerstand leisteten. Klar, sie waren »magisch programmiert«, damit Laura in der Feenküche blieb und ihre Strafe abarbeitete.

Es war, als klebten die Pantoffeln auf dem Boden. Als Laura einmal fast stürzte, wurde es ihr zu bunt. Sie schlüpfte aus den Schuhen und nahm sie in die Hand. Anouk hinter ihr machte es ihr nach.

Shirin blieb so plötzlich stehen, dass Laura in sie hineinlief.

»Oje!«, stöhnte Shirin laut.

»Was ist los?«, fragte Laura.

»Da … liegt … Mäxchen!« Shirin bückte sich.

»Mäxchen?«, schrie Anouk voller Panik. Mäxchen war ihr kleines zahmes Seidenäffchen. Es war neugierig und frech und hatte die Mädchen schon oft zum Lachen gebracht.

Shirin drehte sich um. In der Hand hielt sie ein goldgelbes Fellbüschel. Laura sog vor Schreck die Luft ein. Sie sah, dass Mäxchens Kopf unnatürlich zur Seite hing. Das seidige Fell war voller Blut …

»O nein!« Anouk presste die Hände auf den Mund. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Shirin schluckte. »Ich fürchte … es ist … Ich habe nichts gemacht, es lag einfach so auf der Treppe! Es tut mir so leid!«

Anouk streckte die Hände aus, und Shirin legte das leblose Äffchen hinein. Anouk schluchzte laut. Tränen rannen ihr über die Wangen. Auch Laura begann zu weinen. Das süße kleine Äffchen! Hoffentlich war Samson nichts zugestoßen! Der schwarze Kater strolchte sicher wieder irgendwo im Schloss herum.

Anouk sprach keinen Ton, bis die Mädchen ihr Zimmer erreichten. Merle war nicht da. Shirin schaute gleich unter ihr Bett, um sich zu vergewissern, dass es ihrer Schildkröte Euphemia gut ging. Der Kater Samson rekelte sich faul auf Lauras Bett. Laura fiel ein Stein vom Herzen.

Anouk hatte auf einem Stuhl Platz genommen. Unaufhörlich streichelte sie das tote Äffchen, als könnte sie es so ins Leben zurückbringen. Shirin wollte tröstend den Arm um sie legen, aber Anouk schüttelte ihn ab.

»Warum ausgerechnet Mäxchen? Warum? Er war doch noch so jung. Warum habe ich ihn nur mit in den Keller genommen? Wäre er hier im Zimmer geblieben, wäre er jetzt noch am Leben …«

»Du darfst dir keine Vorwürfe machen«, sagte Laura. »Du weißt doch so gut wie ich, dass sich Mäxchen nicht hat einsperren lassen. Er wollte nichts verpassen! Und wenn du ihn nicht mitgenommen hättest, dann wäre er dir trotzdem gefolgt.«

Anouk nickte und schluchzte lautlos. Shirin hielt ihr hilflos eine Schachtel Papiertaschentücher hin. Anouk langte hinein, holte ein Tuch heraus und putzte sich die Nase.

»Wir müssen Mäxchen begraben«, sagte sie dann mit tonloser Stimme. »Ich … ich habe überlegt, ob ich ihn dazu in die reale Welt zurückbringe. Aber er ist hier gestorben … und vielleicht … vielleicht ist seine Seele noch hier. Und deswegen …«

Laura spürte einen Druck auf der Brust. Es war so traurig, mit ansehen zu müssen, wie Anouk litt. Vielleicht würde es Anouk tatsächlich helfen, Mäxchen zu begraben. Dann konnte sie das Grab immer besuchen und sich daran erinnern, was für ein fröhliches Äffchen Mäxchen gewesen war.

»Hast du schon einen Platz im Sinn?«, fragte Shirin behutsam.

»Am Ufer des Sees«, murmelte Anouk. »Da haben wir zuletzt gespielt, Mäxchen und ich. Ich hab einen kleinen Ball geworfen, und den hat mir Mäxchen immer wieder zurückgebracht.« Ihre Lippe zitterte bei dieser Erinnerung. Laura sah, wie Anouk erneut gegen eine Tränenflut kämpfte. Sie streichelte mitfühlend ihren Arm.

Anouk stand auf. »Am besten machen wir es gleich.« Sie ging zu ihrem Teil des Schranks, öffnete die Tür und nahm einen türkisfarbenen Schal heraus, in den sie das tote Seidenäffchen wickelte.

Wenig später standen die drei Mädchen am Ufer des Sees, der das Schloss der Ewigkeit umgab. Wie immer sah das Wasser dunkel und gefährlich aus. Am Grunde des Sees lebten unheimlich Kreaturen, mit denen man besser keine Bekanntschaft machte.

Shirin hatte einen kleinen Spaten dabei, den sie sich von einem der Feenmänner ausgeliehen hatte. Sie lief am Ufer hin und her und stieß den Spaten immer wieder probeweise in die Erde.

»Ziemlich hart hier. Alles voller Wurzeln. Vielleicht sollten wir uns doch lieber einen anderen Platz suchen«, meinte sie.

»Was macht ihr hier?«, fragte eine Stimme hinter Anouk und Laura.

Es war Merle.

»Mäxchen ist tot«, sagte Anouk. »Er ist ums Leben gekommen, als es vorhin wieder diese … Turbulenz gab.«

Merle zog die Augenbrauen zusammen. Sie streckte die Arme aus.

»Gib mir das Äffchen.«

Anouk zögerte. »Warum?«

»Ich will es mir ansehen.«

»Na gut.« Anouk schien Merle das tote Äffchen nur ungern zu überlassen. »Aber nur kurz.«

Merle schlug den Schal zurück. Vorsichtig berührte sie mit dem Zeigefinger das tote Tier. Anouk wurde ganz unruhig.

»Merle hat heilende Hände«, sagte Laura, obwohl ihr klar war, dass man das Äffchen nicht mehr heilen konnte. Es war mausetot. Der kleine Körper wurde bereits kalt.

Merle drehte sich um und entfernte sich ein Stück.

»Wo will sie mit Mäxchen hin?« Anouk wurde fast hysterisch.

»Bestimmt will sie sich nur in Ruhe von ihm verabschieden«, meinte Shirin. »Sie hat Mäxchen ja auch gerngehabt.« Sie legte den Arm um Anouk, die jetzt wieder furchtbar schluchzte.

»Er wird nie mehr auf meiner Schulter sitzen … Nie mehr aus meiner Hand fressen … Nie mehr in meinen Haaren wühlen …«

Während Shirin damit beschäftigt war, Anouk zu trösten, folgte Laura Merle. Sie versuchte, Merles Gedanken zu lesen, um zu wissen, was sie vorhatte. Aber es klappte nicht.

Vielleicht bin ich jetzt zu aufgewühlt, dachte Laura. Ich muss ruhig und konzentriert sein, sonst funktioniert es nicht.

Merle war stehen geblieben. Laura näherte sich ihr in einem großen Bogen. Merle malte mit der freien Hand merkwürdige Zeichen in die Luft. Sie murmelte leise vor sich hin. Ihre Miene war ernst, der Blick auf das Äffchen fokussiert. Ein dunkler Falter tanzte um ihren Kopf und schien unschlüssig zu sein, ob er sich auf ihrer Schulter niederlassen sollte oder nicht.

Plötzlich glaubte Laura, eine Bewegung zu sehen. Aber das konnte nicht sein! Oder doch? Mäxchen hob den Kopf! Seine dünnen Arme fassten nach Merles Kragen. Jetzt richtete sich das Äffchen auf und blickte in Lauras Richtung.

Laura hatte die Luft angehalten. Sie traute ihren Augen nicht. Mäxchen lebte!

Merle setzte ein zufriedenes Lächeln auf, wickelte den kleinen Kerl wieder in den Schal ein und ging so zu Anouk und Shirin zurück.

»Es war nur eine Art Schockstarre«, behauptete Merle, während sie Anouk das Äffchen vorsichtig in die Hände drückte. Mäxchen schien wieder ganz der Alte zu sein; er schaute neugierig umher, knabberte vergnügt an dem Schal – war quietschlebendig. »Wahrscheinlich hat er sich vorhin furchtbar erschreckt und sich dann lieber tot gestellt.«

»Aber … da war doch Blut … und sein Genick …«, stammelte Shirin, woraufhin ihr Merle einen so eisigen Blick zuwarf, dass sie einfach den Mund zuklappte.

Mäxchen war tot, dachte Laura. Ganz sicher. Er war ja schon kalt. Wie hat Merle das gemacht?

Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Konnte Merle nicht nur heilen, sondern auch den Tod besiegen? Laura schüttelte sich. Merle war ihr unheimlich.

Dagegen war Anouk überglücklich. Sie liebkoste das Äffchen, wiegte es im Arm und ließ es zu, dass Mäxchen auf ihren langen blonden Haaren herumkaute.

Shirin stand noch immer völlig verdattert da. Sie hielt den Spaten demonstrativ in die Höhe. »Den brauche ich jetzt wohl nicht mehr, oder?«

Erst am Nachmittag hatte Laura Gelegenheit, allein mit Merle zu reden. Diese war nicht besonders begeistert darüber.

»Was ist?«

»Wegen heute Vormittag. Mäxchen war tot, oder? Richtig tot, meine ich.«

Merle zuckte nur mit den Schultern.

»Ich will es wissen«, sagte Laura. »Du kannst nicht nur heilen. Du kannst noch mehr.«

Merle ließ sich Zeit mit der Antwort. »Und wenn?«, sagte sie dann.

»Aber Merle, das ist … das ist ja Wahnsinn!« Laura sprudelte mit einem Mal über. »Dann muss sich niemand mehr vor dem Tod fürchten! Das ist … großartig.«

Merle starrte auf ihre Hände. Ihre Miene war wieder düster, wie so oft. »Ich weiß nicht, ob das so großartig ist. Vielleicht ist es auch ein Fluch, diese Lazarus-Gabe.«

»Warum Lazarus-Gabe?«

»Kennst du nicht die Stelle in der Bibel, wo Jesus den toten Lazarus wieder zum Leben erweckt? Dabei war der schon vier Tage tot oder so.«

»Ach so, doch. Jetzt erinnere ich mich.« Ihr Vater hatte Laura die Geschichte vor einiger Zeit erzählt.

Merle hob ihre Hände hoch und sah sie so feindselig an, als gehörten sie nicht zu ihr.

»Anouk ist so froh, dass es Mäxchen wieder gut geht«, versuchte Laura, Merle aufzumuntern.

»Wenn sich das herumspricht, was glaubst du, was da los ist!«, sagte Merle leise. »Sie werden mir ihre toten Haustiere bringen. Und dann muss ich vielleicht auch Menschen …« Sie schlug die Hände vors Gesicht, ohne den Satz zu beenden. Laura hörte sie nur undeutlich murmeln. »Ich will das nicht, Laura! Diese Gabe belastet mich!«

Laura wusste nicht recht, was sie tun sollte. O ja, so eine Gabe war durchaus auch problematisch. Aber wie viel Gutes Merle damit bewirken konnte!

Merle nahm die Hände vom Gesicht. »Ich … fürchte, ich kann es auch andersherum.«

»Was meinst du damit?«, fragte Laura.

Merle sah sie nur an und sagte nichts.

Ich kann auch den Tod bringen …

»Du kannst …« Laura beendete den Satz nicht.

Merle nickte. »Allein mit der Kraft meiner Gedanken. Oder mit meinen Händen, ohne dass ich jemanden berühre.«

Laura schluckte schwer. »Das ist echt heftig.«

»Was glaubst du, Laura, wie große Angst ich habe, dass ich versehentlich jemanden umbringe? Ich trau mich gar nicht richtig, meine Gabe anzuwenden. Bisher habe ich es nur an Pflanzen ausprobiert. Es funktioniert. Sie verdorren, auch wenn ihnen sonst nichts fehlt.«

»Neulich … der Schmetterling auf deiner Hand …« Laura spürte wieder das kalte Gefühl, das sie damals gehabt hatte.

»Das ist mehr aus Versehen geschehen. Ich dachte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Ich war mir meiner Gabe nicht sicher. Glaub mir, ich bin selbst zu Tode erschrocken, als der Falter plötzlich reglos auf dem Rücken lag. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich daran schuld war. Ich dachte, die Lebenszeit des Schmetterlings sei eben abgelaufen gewesen. Passiert ja auch in der realen Welt. Ein Falter breitet noch einmal seine Flügel aus, dann ist er tot.«

Vielleicht funktionierte Merles Gabe ja überall, nicht nur hier. Laura hatte den Eindruck, dass jemand ihr die Luft abschnürte.

»Lass uns das Thema wechseln«, sagte sie mit gepresster Stimme.

»Nur zu gern. Und du musst mir versprechen, dass du die Klappe hältst. Verrate den anderen nichts von dem, worüber wir gerade geredet haben.«

»Versprochen!«

Schlechte Aussichten für die Ferien

Den ganzen Nachmittag musste Laura an das Gespräch mit Merle denken. Sie war hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Abscheu. In einem Moment fand sie es toll, was Merle konnte, im anderen packte sie das blanke Entsetzen. Sie hätte so gern mit jemandem darüber gesprochen, um eine zweite Meinung zu der Sache zu bekommen. Aber sie musste ja schweigen …

Kein Wunder, dass sich Laura beim Unterricht kaum konzentrieren konnte. Anouk schwebte im Flugunterricht bis unter die Decke und stieß sich schmerzhaft den Kopf.

»Wo hast du nur deine Gedanken, Anouk!«, schimpfte Magistra Elisa, die sonst sehr geduldig war. Aber anscheinend hatte sie einen schlechten Tag. »Beim Fliegen muss man schon aufpassen! Und die Decke ist ja nicht erst seit heute da.«

»Entschuldigung!«, murmelte Anouk. Nach einer schnellen und ungeschickten Landung saß sie mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Matte und betastete vorsichtig ihre Beule.

»Nun lauf schon und hol dir aus der Feenküche Eiszapfen, damit du deine Verletzung kühlen kannst«, forderte Magistra Elisa sie auf.

»Danke«, sagte Anouk leise und ging etwas schwankend zur Tür.

»Ich geh mal lieber mit.« Shirin schloss sich ihr an. »Nicht, dass sie noch ohnmächtig wird – falls es eine Gehirnerschütterung ist.«

Magistra Elisa klatschte in die Hände. »Hallo, ihr anderen! Genug pausiert! Wir versuchen es noch einmal. Stellt euch gerade auf die Matten und breitet eure Arme nach der Seite aus. Und jetzt stellt euch vor, dass ihr schwerelos seid! Die Füße heben vom Boden ab …«

Von den restlichen sechs Schülerinnen gelang es nur Catronia zu schweben. Ihre Füße hingen ungefähr einen halben Meter in der Luft.

»Du warst schon besser, Catronia!«, rief die Magistra. »Was ist heute los mit dir?«

Catronia knallte unsanft auf der Matte auf und rieb sich das Schienbein. »Mir geht’s nicht so gut.«

Magistra Elisa schüttelte den Kopf. »Ich kenne eure Welt auch, und ich weiß, dass viele Mädchen nicht am Sportunterricht teilnehmen, weil sie Bauchweh, Kopfweh oder irgendwelche Allergien haben. In dieser Welt gibt es kein Attest, das euch von der Teilnahme am Unterricht befreit.«

Jetzt klingt sie ganz nach meiner Mutter, dachte Laura befremdet. Die Ähnlichkeit, die Magistra Elisa mit Valerie Lilienstedt hatte, war ohnehin irritierend. Sie sah aus wie eine jüngere Ausgabe von Lauras Mutter. Im Verhalten war sie bisher allerdings ganz anders gewesen – verständnisvoll, geduldig und einfühlsam. Sie hatte auch immer ein offenes Ohr für die Anliegen der Mädchen gehabt.

Laura hob den Arm. Als Magistra Elisa ihr zunickte, begann sie zu reden: »Warum müssen wir anderen hier noch immer üben? Außer bei Anouk und Catronia zeigt sich doch bei niemandem Talent zum Fliegen. Meiner Meinung nach ist der Unterricht für uns andere völlig sinnlos!«

O weh, hatte sie das wirklich gesagt! Aber das war eine Frage, die Laura beschäftigte – und wahrscheinlich nicht nur sie.

Magistra Elisa funkelte Laura leicht verärgert an.

»Nichts ist sinnlos, was ich anordne, Laura. Konzentrationsübungen könnt ihr alle gebrauchen! Außerdem kann es sein, dass sich eine Begabung erst ziemlich spät zeigt, weil zunächst eine innere Blockade überwunden werden muss. Es kann auch passieren, dass ein Talent wieder verloren geht. In dieser Welt ist alles möglich. Deswegen quäle ich euch mit diesen Übungen. Ich werde euch rechtzeitig Bescheid geben, wenn ihr nicht mehr zu meinem Unterricht kommen müsst.«

Im Saal setzte leises Gemurmel ein. Bis auf Catronia dachten alle genauso wie Laura. Warum sollte man etwas üben, was man niemals beherrschen würde? Kein Mädchen glaubte wirklich daran, eine »Spätzünderin« zu sein, was die Flugkunst betraf.

»Na gut, da heute offenbar niemand besonders gut in Form ist, beenden wir vorzeitig den Unterricht«, sagte Magistra Elisa, jetzt wieder in der gewohnten Sanftheit. »Ihr habt Freizeit bis zum Abendessen.«

Als Laura zurück ins Zimmer kam, saß Anouk auf ihrem Bett und hielt ein Handtuch gegen ihren Kopf. In dem Tuch waren Eiszapfen. Mäxchen fand das toll und zerrte immer wieder an dem Tuch, sodass einzelne Eiszapfen herausfielen. Er schnappte sich einen, flüchtete damit auf den Schrank und begann, begeistert zu lutschen.

»Tut es arg weh?«, fragte Laura.

»Es geht so«, antwortete Anouk.

»Ich kann ja mal mein Glück versuchen.« Merle, die mit Laura zurückgekommen war, trat auf Anouk zu.

Zögernd nahm Anouk das Handtuch von ihrem Kopf und ließ zu, dass Merle die Hand auf ihre Haare legte.

»Mächtige Beule«, sagte Merle. »So groß wie ein Hühnerei.«

Anouk verdrehte die Augen. »Jetzt fang schon an.«

Merle konzentrierte sich. Ihre Hand lag jetzt nicht direkt auf Anouks Kopf, sondern schwebte einige Zentimeter darüber.

Zwei blaue Falter flatterten durch das geöffnete Fenster herein und umkreisten die beiden Mädchen. Laura sah gespannt zu. Sie war innerlich völlig verkrampft, denn inzwischen hatte sie mächtigen Respekt vor Merles Fähigkeit.

Sie könnte Anouk auch schaden!, schoss es ihr durch den Kopf. Merle könnte ihre Schmerzen noch verstärken …

Sofort schämte sich Laura für ihre Gedanken. Merle war kein böser Mensch!

Anouk traut mir seit heute Vormittag auch nicht mehr, obwohl ich ihr Äffchen gerettet habe. Und Laura guckt auch wieder ganz komisch …

Huch! Laura zuckte zusammen. Die Stimme in ihrem Kopf hatte ganz klar gesprochen. So deutlich hatte sie noch nie die Gedanken eines anderen Menschen wahrgenommen! Offenbar stimmte es, dass sich die Fähigkeiten nach und nach verstärkten – natürlich nur, wenn man seine Gabe akzeptierte und sie auch trainierte.

»Ist es jetzt besser?«, fragte Merle.

Anouk schien einen Moment lang zu überlegen und schüttelte den Kopf.

»Dann kann ich dir auch nicht helfen«, sagte Merle mürrisch und zog sich auf ihr Bett zurück.

»Danke trotzdem für den Versuch«, sagte Anouk.

Von Merle kam keine Antwort mehr. Sie spielte mit Brutus, ihrer weißen Ratte. Diese schnupperte zuerst an Merles Bauch, dann kletterte sie hoch und kroch in den Kragen. Nur der rosa Schwanz hing noch heraus.

Der schwarze Kater Samson machte Stielaugen. Er sprang mit einem großen Satz vom oberen Stockbett und näherte sich Merle.

»Scher dich bloß zum Teufel«, knurrte diese. »Meinen Brutus kriegst du nicht! Lauf lieber in die Feenküche, dort liegt genug Zeug herum, das du fressen kannst.«

Aber Samson kletterte lieber wieder in Lauras Bett, rollte sich auf dem Kissen zusammen und schnurrte.

Laura hatte sich vorgenommen, bis Mitternacht wach zu bleiben, um den Switch in die reale Welt nicht zu verpassen. Aber eine halbe Stunde vorher fielen ihr die Augen zu, und sie träumte lauter wirre Sachen, bis sie von Amys Roboterstimme geweckt wurde.

»Auf-s-tehen, bitte!« Die Teleskoparme zogen ihr die Bettdecke weg.

»Das ist fies, Amy!«, beschwerte sich Laura. »Man sollte dich umprogrammieren. Du solltest mich ganz sanft wecken und sagen: Heute ist ein wunderschöner Tag, Laura! Du könntest aufstehen, aber es macht mir auch nichts aus, wenn du liegen bleibst.«

»Nix umprogrammieren!«, brummte Amy und surrte zur Tür hinaus.

Es war ungewöhnlich ruhig in der Wohnung. Laura brauchte einen Moment, bis sie wusste, was fehlte: Elias’ Geschrei. Ihr neunjähriger Bruder war noch im Krankenhaus. Er litt an ADHS und hatte sich beim Herumtoben verletzt. In dieser Woche würde er entlassen werden.

Als Laura aus dem Bad kam, telefonierte ihre Mutter bereits wieder mit dem 3-D-Telefon. Laura erhaschte einen Blick auf das Hologramm und unterdrückte ein Stöhnen. Doktor Bernd Asshoff, Mamas Chef und seit Kurzem ihr Freund. Laura mochte ihn nicht, und das nicht nur, weil sie insgeheim hoffte, dass Mama und Papa wieder zusammenkamen. Laura fand Asshoff schleimig und unsympathisch, außerdem hatte sie den starken Verdacht, dass dieser Mann zwei Gesichter besaß: nach außen hin nett und freundlich, aber in Wahrheit berechnend und eiskalt. Warum sich ihre Mutter ausgerechnet in ihn verliebt hatte, war Laura ein Rätsel. Asshoff war das krasse Gegenteil von Papa.

»Hi, Laura, möchtest du Bernd nicht kurz Hallo sagen?«, flötete Mama und hielt das Telefon in Lauras Richtung. Holo-Asshoff verzog seinen Mund zu einem süßlichen Lächeln.

»Hallo, Laura, wie geht es dir?«

»Danke, sehr gut!«, schleimte Laura im selben falschen Tonfall zurück. »Hab nur keine Zeit, ich muss zur Schule!«

»Hab einen schönen Tag und bis bald«, säuselte Asshole, wie Laura ihn insgeheim nannte.

Wenn man einen Dartpfeil mitten in das Hologramm warf, was würde dann wohl passieren? Vielleicht funktionierte das wie beim Voodoo, und Asshole würde ordentlich Kopfschmerzen bekommen.

In der Küche hatte Amy schon das Lunchpaket für Laura vorbereitet. Sie frühstückte fast immer im Auto, weil morgens fast nie genug Zeit war. Auch für Elias lag ein Lunchpaket bereit.

»O Amy, Elias ist doch noch im Krankenhaus«, sagte Laura, woraufhin Amy das überzählige Paket schnappte und mit Wucht in den Mülleimer warf. Konnten sich Roboter ärgern? Es hatte jedenfalls so ausgesehen.

»Laura, wir müssen los«, drängte ihre Mutter, die endlich aufgehört hatte, zu telefonieren.

»Vergiss nicht, Samson zu füttern«, sagte Laura zu Amy, dann verließ sie mit ihrer Mutter die Wohnung.

Kurz darauf saßen sie in dem selbstfahrenden Auto, das Laura zur Schule und Mama in die Firma TEMP brachte. Laura packte ihr Lunchpaket aus, und Valerie Lilienstedt trank ihren unvermeidlichen Kaffee, ohne den sie offenbar nicht leben konnte.

»Was hast du eigentlich gegen Bernd?«

»Nichts, Mama.«

»Dann könntest du ruhig ein wenig netter zu ihm sein. Er soll nicht denken, dass du so ein ekelhafter Teenager bist, wie man ihn in manchen Netstream-Serien sieht.«

Laura verschluckte sich fast an ihrer Mohrrübe. Im Vergleich zu Elias war sie ja wohl harmlos!

»Ich finde einfach, dass er nicht zu dir passt, Mama!«

»Woher willst du das wissen? Du kennst ihn ja kaum.«

Laura zuckte mit den Schultern.

»Du wirst ihn schon noch mögen«, sagte Valerie Lilienstedt zuversichtlich. »Damit ihr euch besser kennenlernt, habe ich Bernd gefragt, ob du ein Praktikum bei ihm machen kannst. Nächste Woche sind Pfingstferien, und du solltest deine freie Zeit nutzen. Man kann nie genug Praktika vorweisen.«

Laura schnappte empört nach Luft. Das war wieder mal typisch Mama! Sie arrangierte etwas, ohne Laura zu fragen! Dabei hatte sich Laura schon darauf gefreut, wieder einmal ein paar Tage bei ihrem Vater verbringen zu können.

»Zu einem Praktikum bei TEMP habe ich absolut keine Lust!«, erklärte sie.

»Nicht? Schade.« Mamas Stimme klang merklich kühler. »Ich dachte, du freust dich. Normalerweise bekommt man nicht so schnell die Chance zu so einem Praktikum. Der Name TEMP macht sich sicher mal gut in deinem Lebenslauf.«