Der Mann, der seinem Gewissen folgte - Janet Lewis - E-Book

Der Mann, der seinem Gewissen folgte E-Book

Janet Lewis

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Beschreibung

»Sören Qvist ist einer jener außergewöhnlichen Menschen, die lieber sterben, als sich damit abzufinden, dass nichts auf der Welt von Bedeutung ist.« Janet Lewis Ein Indizienprozess erschüttert Jütland. Der für sein Mitgefühl bekannte Pastor Sören Qvist lässt sich für ein Verbrechen verurteilen, das er nicht begangen hat. Freunde bemühen sich um entlastendes Material, seine Kinder eröffnen ihm eine Fluchtmöglichkeit aus dem Gefängnis. Doch Sören Qvist bleibt standhaft. Was bewegt einen Menschen dazu, seine moralische Integrität über sein Leben zu stellen? Dieser Roman, der auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1625 basiert, leuchtet mit seinen Fragen hell in unsere Gegenwart hinein.

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Seitenzahl: 320

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Über das Buch

Ein Indizienprozess erschüttert Jütland. Der für sein Mitgefühl und seine Güte bekannte und hochgeschätzte Pastor Sören Qvist steht vor Gericht: Er soll seinen Knecht Niels in einem Anfall von Jähzorn ermordet und in seinem Garten verscharrt haben. Niemand kann sich vorstellen, dass dieser freundliche Mann zu einer solchen Tat fähig wäre, obwohl alle Indizien gegen ihn sprechen. Und tatsächlich lässt Sören Qvist sich für ein Verbrechen verurteilen, das er nicht begangen hat. Freunde bemühen sich um entlastende Aussagen, seine Kinder eröffnen ihm in der Nacht vor der Hinrichtung eine Fluchtmöglichkeit aus dem Gefängnis. Doch Sören Qvist bleibt standhaft. Was bewegt einen Menschen dazu, seine moralische Integrität über sein Leben zu stellen?

1

Das Wirtshaus lag in einer Mulde, dahinter erhob sich der niedrige, sanft geschwungene und mit winterlich kahlen Buchen bestandene Hügelzug, der gerade hoch genug war, dass die darüber steigenden Fallwinde den Rauch, der an diesem kalten Tag aus den Schornsteinen des Wirtshauses aufstieg, zu Boden drückten. Die Luft war klamm. Es war ein Spätnachmittag Ende November, im Westen schien keine Sonne, und nach Osten hin verdichtete sich der Nebel über der Küste Jütlands zu einer dichten Wolkenbank. Selbst hier, einige Meilen von der Küste entfernt, roch die Luft nach Meer, aber der Wanderer, der jetzt vor sich das Wirtshaus erblickte, war schon seit so vielen Tagen in Meeresnähe unterwegs, dass er das Salzaroma nicht mehr wahrnahm.

Er kannte das Wirtshaus und glaubte sich an das zu erinnern, was hinter der Biegung der Straße lag, die um den bewaldeten Hügel herumführte und in den Schatten verschwand. Doch etwas erschien ihm an dem Anblick auch unvertraut, als er hinunterblickte auf das Haus, das von seinen eigenen Dünsten eingehüllt war. Das Schild mit der Aufschrift »Zum goldenen Löwen« hing noch über der Tür, aber ein guter Teil der leuchtend gelben Farbe war abgeblättert. Die letzten verblassten Farbplacken hatten denselben Ton wie die wenigen verbliebenen Blätter an den Buchenschösslingen am Waldrand. Als er das Haus das letzte Mal gesehen hatte, war die Farbe so leuchtend wie die von Butterblumen gewesen. Damals, in der Hochzeit der Liebschaften des Königs, hatte man das Wirtshaus zu Ehren der Bastardkinder des Königs so benannt – alles Goldene Löwen und edler als die ehelichen Kinder der meisten anderen Menschen. Jetzt, da der König alt und Dänemark unter seiner Herrschaft geschrumpft und verarmt war, hatten sich einige der Goldenen Löwen als wahrhaftig edel erwiesen. Andere hingegen waren untereinander zerstritten. Aber selbst hier in Jütland, das am meisten unter den Kriegen des Königs gelitten hatte, galt die Regentschaft von Christian IV. noch immer als ruhmreich. Auch der Wanderer, der auf das Schild des Goldenen Löwen hinuntersah, dachte an den König – wenn er denn an ihn dachte – als glorreichen Herrscher. Obwohl die Gesundheit des Königs inzwischen nachgelassen hatte, man schrieb das Jahr 1646, und er seit der großen Seeschlacht auf der Kolberger Heide auf einem Auge blind war, genoss Christian im Alter von neunundsechzig Jahren beim Volk noch größeres Ansehen als damals in seiner ungezügelten, ausschweifenden Jugend.

Aber es war nicht nur die fehlende Farbe auf dem Schild, die das Äußere des Wirtshauses verändert hatte. Der Wanderer hatte Bilder im Kopf von einer offen stehenden Tür, von Licht, das hell zur Straße hinausströmte, von Menschen, die kamen und gingen. An diesem Abend waren die Tür und sämtliche Fensterläden geschlossen. Kein Mensch war zu sehen. Auch an der Form des Hauses hatte sich etwas verändert, aber nachdem der Wanderer sein Gedächtnis gründlich durchforscht hatte, kam er zu dem Schluss, dass es nicht am Haus lag, sondern dass in seiner Umgebung etwas fehlte. Ganz bestimmt erinnerte er sich an ein kleines Holzhaus am anderen Ende des Hofes und an ein zweites auf der gegenüberliegenden Straßenseite, aber beide waren verschwunden. Das Wirtshaus stand allein.

Vor verrammelten Türen und geschlossenen Fenstern zu stehen, war für ihn, seit er die Randbezirke Jütlands erreicht hatte, nichts Neues. Er hatte ungastliches Land mit halb verlassenen Dörfern durchwandert. Er war an schlecht bewirtschafteten Höfen vorbeigekommen und an Bauernhäusern ohne Dächer, wo das robuste Gras Jütlands verkohlte und eingestürzte Balken überwucherte. Aber in seinem Stumpfsinn hatte er fest daran geglaubt, dass in seiner Heimatregion und seiner eigenen Gemeinde alles so sein würde wie früher, die Türen offen und die Menschen freundlich.

Er stieg den kleinen Hügel hinunter, humpelnd, da an einem Stiefel der Absatz fehlte und sich an dem anderen die Sohle löste, sodass Sand und lauter Steinchen hineindrangen. Er kam zum Wirtshaus und klopfte an die Tür. Das Schild des Goldenen Löwen hing reglos und ohne zu quietschen über ihm in der unbewegten, feuchten Luft. Ein hellbrauner Hund mit einem Schwanz so lang wie eine Peitsche kam um die Ecke und sah ihn misstrauisch aus gelben Augen an, und als er die Tür aufgehen hörte, machte er kehrt und rannte davon, den langen Schwanz unter dem Bauch zusammengerollt. Eine junge Frau, hochgewachsen und von ansehnlicher Erscheinung, mit fester Brust und geraden Schultern, trat aus dem Haus und zog die Tür hinter sich zu, ließ aber eine Hand auf dem Riegel liegen.

Sie brachte den Wirtshausgeruch mit sich. Er hing in ihrer Kleidung aus grober Baumwolle, und sie stand, umgeben von sinnlicher Wärme, vor dem Fremden. Bier und Holzfeuer, Fleisch und Fisch vom Grill, Wolle und Leder, vollgesogen mit Fett und Schweiß – dieses Gemisch aus Gerüchen, das von Geselligkeit und guten Speisen zeugte, bewirkte, dass der Magen des Fremden sich schmerzhaft zusammenzog. Sie stand in der Tür, die Arme wegen der Kälte vor dem Körper verschränkt, und wartete, dass er etwas sagte.

Der Fremde nahm seinen breitkrempigen Filzhut ab, steckte ihn sich unter den rechten Arm und fragte die Frau unterwürfig, ob sie die neue Wirtin des Goldenen Löwen sei. Ihr Blick ging kurz zu dem Schild über ihren Köpfen, dann hinunter zu seinem Aufzug, zu seinen abgetragenen Stiefeln, und sie antwortete, ja, sie sei die neue Wirtin.

»Dann könntest du mir Essen und einen Schlafplatz für die Nacht geben?«, fragte er.

Ihr Blick wanderte immer noch prüfend über ihn, und obwohl sie Wärme und Gastlichkeit ausstrahlte, blieb der Ausdruck in ihren Augen abweisend und kalt. Ein Mundwinkel zog sich kaum merklich in die Höhe, als sie sagte:

»Als Gast oder als Bettler?«

»Ja, heute Abend«, sagte er, sah hinunter zu seinen abgewetzten Stiefeln und hob den Blick verlegen zu ihren kalten, hellen Augen, »heute Abend bin ich mittellos. Aber das könnte sich ändern«, fügte er schnell hinzu. »Und ich bin fast am Verhungern.«

»Aber heute Abend«, sagte sie, »habe ich Gäste, eine Hochzeitsgesellschaft, und das Haus ist voll belegt. Ich habe keinen Platz für Bettler.«

»Ich war Soldat«, sagte er.

»Soldaten sind bei uns nicht sonderlich beliebt«, gab sie zur Antwort.

»Du solltest den Hungrigen Nahrung geben, dann wirst du einen Schatz im Himmel haben«, sagte er, aber es klang nicht so, als glaubte er wirklich an solche Schätze. »Wenn gefeiert wird, fällt manches vom Tisch ab«, sagte er mit größerer Überzeugung.

Sie musterte ihn weiter, vielleicht hoffte sie, doch noch etwas zu finden, das ihre ablehnende Haltung ändern würde. Dass der Mann erschöpft war, sah sie deutlich an seiner grauen Haut und dem erschlafften Gesicht. Er war nicht rasiert, die untere Gesichtshälfte war schwarz von Bartstoppeln, und das strähnige schwarze Haar, in das sich etwas Grau mischte, fiel auf den Kragen seines Wamses. Er trug kein Leinen, aber dem Wams sah man an, dass es einst ein gutes Stück gewesen war, es bestand aus rotem gefüttertem Satin, die Steppnähte waren mit goldenem Faden in einem Rautenmuster genäht, und es hatte Volants im französischen Stil. Jetzt war es schmutzig und am rechten Ellbogen gerissen. Sehr gut möglich, dass er Soldat gewesen war. Über diesem feinen französischen Wams trug er eine schwere Lederweste, und darüber war ein Lederband diagonal über eine Schulter geschlungen, in dem er eine Pistole oder ein Messer bei sich hätte tragen können. Der linke Ärmel seines Wamses war ab dem Ellbogen leer und steckte hochgeklappt im Armloch der Lederweste. Seine zerschlissenen derben Stiefelhosen wollten nicht recht zu dem purpurnen Wams passen. Der Hut, den der Mann unter seinem rechten Arm hielt, war mit den Jahren grün geworden und hatte weder Feder noch Schnalle. Die kleinen grünen Augen in dem erschöpften Gesicht des Mannes waren auf die Wirtin geheftet und bar jeden Ausdrucks, außer dem von Hunger. Unterwürfigkeit und Furcht waren daraus verschwunden. Sein Flehen war so stark, dass sie sich wünschte, er möge verschwinden.

»Soldaten und Bettler sind hier nicht sonderlich beliebt«, sagte sie wieder. »Geh am besten deines Weges.«

Sie wandte sich um und hätte den Schnappriegel gedrückt, wäre da nicht sein bitterer Ausruf gewesen.

»Meines Weges! Als wäre ich nicht schon seit Wochen, ach, Monaten, meines Weges gegangen. Und wenn ich in meine eigene Gemeinde komme, wo ich eines Tages wieder reich sein könnte – ja, reich und ehrenwert –, da sagt man mir, ich soll meines Weges gehen.« Dann, als hätte er sich von den Veränderungen in der Landschaft täuschen lassen, fragte er: »Dies ist doch die Gemeinde Aalsö, oder?«

»Doch, schon«, sagte sie, »und ein paar Meilen weiter liegt das Dorf Aalsö, immer die Straße entlang.«

»Dann sag mir noch eines«, sagte er, »bevor du die Tür zuschlägst – nur noch eines.«

»Und was soll das sein?«

»Kennst du einen Morten Bruus?«

»Schon, warum?«, antwortete sie knapp.

»Ja, und lebt er oder ist er tot?«

»Tot«, sagte sie. »Tot, seit vor dem Johannistag.«

Der Bettler hob jetzt die Hand, in der er immer noch den Hut hielt, und fuhr sich mit dem Handrücken mehrmals über den Mund, fuhr hin und her, fast als wollte er das Lächeln verbergen, das auf seinen Lippen lag, oder als wollte er seine Zufriedenheit über diese Mitteilung ausdrücken, und diese Zufriedenheit war offensichtlich und entsetzlich. Sie leuchtete in den kleinen grünen Augen, die jetzt hell in dem dumpfen Gesicht standen. Dann sagte er:

»Tot, seit fast einem halben Jahr, das versprichst du mir?«

»Gewiss tot, tot wie ein Stein«, sagte sie.

»Warte noch«, sagte der Bettler. »Es ist mir ein Trost, das zu hören.«

»Und vielen anderen auch«, sagte sie. »Dann gute Nacht.«

Diesmal drückte sie den Riegel, und er hörte das Klicken.

»Warte«, rief er. »Wenn du mich heute Abend nicht einlässt, wo soll ich Rast finden? Du wirst doch nicht so hartherzig sein, gute Wirtin, und einen armen Soldaten ins Nasse und Kalte hinausschicken. Du merkst ja selbst, wie kalt es heute Nacht wird. Gibt es in Jütland keine Barmherzigkeit mehr?«

Die Wirtin des Goldenen Löwen zuckte die Schultern. »Du kannst den Pastor fragen«, sagte sie.

»Den Pastor?«, fragte der Bettler. Dann, als müsste er den Namen aus dem tiefen Schlamm seines Gedächtnisses hervorholen, sagte er: »Das ist der Pastor Peder Korf.«

»Nein«, sagte sie knapp. »Peder Korf ist tot, Friede seiner Seele. Der neue Pastor ist Juste Pedersen, und das ist ein sehr guter Mensch.«

»Pastor Juste«, wiederholte der Bettler. »Ist er ein gütiger und gastfreundlicher Mann?«

»So gütig wie Sören Qvist«, sagte sie und öffnete die Tür wieder einen Spalt.

»Ah!«, rief der Bettler plötzlich. »Kanntest du Pastor Sören denn?«

»Wie soll ich ihn gekannt haben?«, sagte die Frau. »Als er lebte, lag ich noch in der Wiege. Die Leute sagen das so in dieser Gegend. So gütig wie Sören Qvist. So großzügig wie Sören Qvist – das sagt man so. So reden die Menschen.«

»Und sagen sie nie: So zornig wie Sören Qvist?«, fragte der Bettler mit dem Anflug eines verschlagenen Grinsens.

Die Frau sah ihn einigermaßen überrascht an, gab aber keine Antwort, als verdiente die Frage keine. Einen Moment lang schien der Bettler sie weiter ausfragen zu wollen. Doch dann setzte er sich seinen alten Hut auf und sagte listig unter der Krempe hervor, in einem Ton, der einem Bettler angemessen war:

»Ich bin in diesen Landen ein Fremder – vielmehr, ich war so lange fort, dass ich jetzt als Fremder gelte. Aber steht das Pfarrhaus noch da, wo es früher war?«

»Warum sollte sich das geändert haben?«, sagte sie.

Darauf gab er keine Antwort, sondern warf ihr unter der Krempe seines Huts hervor noch einmal einen merkwürdigen Blick zu und machte sich auf den Weg. Trotz der Kälte blieb die Wirtin stehen und sah ihm nach, die Hand weiterhin auf dem Riegel, bis die humpelnde Gestalt um die Biegung der Straße aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Während sie noch dastand, wurde die Tür hinter ihr aufgezogen, und ein Mann trat neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Was verweilst du so lange, mein Mädchen?«, fragte er. Er war ein stattlicher Mann von Mitte vierzig, nur wenige Falten durchzogen sein wettergebräuntes Gesicht, und das volle blonde Haar fiel auf einen sauberen weißen Leinenkragen. Die Wirtin drehte sich lächelnd zu ihm um und sah ihn eindringlich an, als müsste sie ein unangenehmes Bild vor ihrem inneren Auge tilgen.

»Ein Bettler, nichts weiter«, sagte sie schließlich, »aber ein verdreckter Hund, ein Teufelssohn. Er hat nach Morten Bruus gefragt. Und jetzt kommt es mir so vor, als hätte er eine seltsame Ähnlichkeit mit Morten. Hatte Morten einen Bruder?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nur den, von dem du schon gehört hast. Und das waren zwei zu viel von einem Wurf«, sagte er.

»Er war erfreut, von Mortens Tod zu hören.«

»Selbst die Bettler auf der Straße«, sagte der Mann.

In dem Saal hinter ihnen fing jemand mit tiefer, wohlklingender Stimme zu singen an, und bald stimmten die anderen Festgäste ein. Die Wirtin und ihr Gefährte standen noch draußen, das Licht strömte aus der offenen Tür um sie herum und verschwamm in der nebelfeuchten Luft. Dann beugte sich der Mann zum Ohr der Frau und sagte, ohne die Stimme zu heben:

»Morten Bruus, möge Gott ihm, obwohl er tot ist, für alle Zeiten einen fühlenden Körper geben, dass er sämtliche Qualen des Fleisches in alle Ewigkeit erleiden muss. Möge ihm die Haut in kleinen Fetzen, nicht größer als ein Fingernagel, abgezogen werden. Mögen Würmer seine Eingeweide durchwühlen, möge sein Magen mit Glasscherben gefüllt und sein Gaumen versengt werden, mögen ihm seine Augenlider weggeschnitten werden und seine Augen schutzlos auf das Feuer um ihn herum gerichtet sein, für alle Zeiten. Möge Gott ihm nie erlauben, für sein Leben Buße zu tun, damit er für seine begangenen Taten nie Vergebung erlangen kann. Amen.«

Dieser Redefluss, Ausdruck eines stillen, unpersönlichen und wohl abgewogenen Hasses, wurde Satz für Satz in aller Ruhe vorgetragen und von dem fröhlichen Gesang im Saal begleitet. »Amen«, sagte die Wirtin, und dann war nur noch die Musik zu hören.

2

Der einarmige Bettler schlug die Richtung zum Dorf Aalsö ein. Nachdem ihm die zum Greifen nahe Wärme und Nahrung verweigert worden waren, kam ihm der Abend umso einsamer vor, und die Kälte fuhr ihm noch mehr in die Knochen. Das Zwielicht schwand so langsam, dass es im Vergehen eher wie eine Verdichtung der Luft schien, und die Nachtdünste, die als ungut und schädlich galten, sammelten sich in den Kuhlen neben der Straße, im niedrigen Gebüsch und in den Schatten der Buchenhaine. Die hellbraunen und blassgelben Farbtöne der trockenen Gräser und der sandigen Straße in der sanften Landschaft überzogen sich langsam mit Dunkelheit, und das stumpfe Gold der Stoppelfelder fand im Himmel keine Entsprechung von Mattgold. Der Bettler in seinem schmutzigen Purpurwams, einem Stück verglühender Kohle gleich, humpelte mühsam zwischen den Feldern und Hecken entlang und erreichte schließlich Aalsö. Vom Krieg gezeichnet wie alle Dörfer Jütlands lag es da, verschlossen und dunkel, obwohl es noch früh am Abend war. Aber es war bewohnt, das konnte er erkennen. Rauch stieg aus den Schornsteinen auf. Er bog von der Straße in einen Weg ein, der durch ein gepflügtes und bestelltes Feld führte, und während ihm beim Gehen die Einzelheiten des Geländes immer vertrauter wurden, überquerte er auf einer Planke einen Bach und erreichte so ein kleines geweißeltes Fachwerkhaus.

Das musste das Pfarrhaus von Aalsö sein, auch wenn es kleiner war als in seiner Erinnerung. Zwar war er als Junge nicht so oft dorthin gegangen, wie er geschickt worden war, aber er erinnerte sich an das Haus. Er ging zur Tür und klopfte, und während er auf ein Geräusch wartete, hob er die rechte Hand und berührte das dunkel gewordene Reetdach, das wie ein Schal über dem Eingang lag.

Rechts von der Tür hätte ein Vorsprung sein sollen und darüber das höhere Dach des Anbaus, der, wie er sich erinnerte, die neue Stube genannt wurde. Der war jedoch nicht mehr da, offenbar schon seit geraumer Zeit nicht mehr; das alte Haus hatte ein neues Reetdach, und der noch stehende Teil der Außenwand der neuen Stube war bis auf Schulterhöhe abgetragen worden und bildete jetzt die Grenzmauer des Hofes. Der Bettler warf einen Blick über die Mauer und sah, dass zwischen den Backsteinen des ehemaligen Fußbodens Gras wuchs. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes war ein kleiner Kuhstall, dessen Tor halb offen stand; in dem Moment kam eine alte Frau heraus, die unter jedem Arm ein braunes Huhn trug. Sie bemerkte ihn nicht gleich, da sie beim Gehen den Blick auf die unebenen Backsteine gesenkt hielt, und als sie schließlich den Kopf hob und ihn sah, erschrak sie. Sie blieb stehen, wich zurück zum Kuhstall und drückte die Hennen fester an sich. An seiner Erscheinung – der Umriss des breitkrempigen, verwegenen Hutes, das lange schwarze Haar und das schimmernde Purpur des französischen Wamses – erkannte sie, dass sie einen Soldaten vor sich hatte, und so wie die Wirtin vom Goldenen Löwen mochte auch sie keine Soldaten. Doch nachdem der erste Schreck verflogen war, ging sie festen Schrittes weiter, trat durch das schwingende Holztor in der Seitenmauer und blieb vor dem wartenden Fremden stehen.

Der Fremde hatte nie eine große Fähigkeit zum Betteln besessen, aber während er sich der Wirtin als Soldat vorgestellt hatte, war er jetzt klug genug, den Bettler herauszukehren. Er zog den zerdrückten Hut ab und bat um Essen und Unterkunft. In seiner Unterwürfigkeit lag eine gewisse Aufrichtigkeit, denn Hunger und Erschöpfung hatten ihn all seiner Kräfte beraubt.

Das Gesicht der alten Frau war freundlich, ihre zarte und gesunde Haut voller Runzeln. Die blauen Augen waren sanft und rund, und sie trug eine Haube aus mattblauer Wolle. Die weiße Umrahmung ihres Gesichts bestand nicht, wie man zunächst denken mochte, aus Leinen, sondern aus ihrem weißen, weichen Haar. Sie fragte:

»Kommst du von weit her?«

»Von Hamburg, allein im letzten Monat. Davor aus Böhmen. Aber als Junge habe ich in der Gemeinde Aalsö gelebt. Hier habe ich meinen Katechismus gelernt«, erzählte er ihr redselig, »bei Pastor Peder Korf.«

»Ach, wirklich«, sagte sie und trat einen Schritt vor. »Und wolltest du zu Pastor Peder?«

»Ich habe gehört, er ist tot.«

Sie nickte.

»Und dass Pastor Juste so gütig ist wie Sören Qvist.«

Sie lächelte nicht, sondern nickte ernst. »Ja«, sagte sie, »er ist gütig. Wenn du wartest, sage ich ihm Bescheid, dass du hier bist.«

Sie schob sich an ihm vorbei, drückte die Tür mit dem Ellbogen auf, wobei sie darauf achtgab, dass sie die Hennen nicht fallen ließ, und schloss die Tür hinter sich. Kurz darauf kam sie zurück und ließ den Bettler in die Küche des Pfarrhauses von Aalsö.

Weil es in dem Raum so dunkel war, konnte der Mann zunächst außer der erhöhten Feuerstelle nichts erkennen, aber es war warm, warm und behaglich. Mit Wohlgefühl nahm er die nahen Wände und schweren Balken der niedrigen Decke wahr. Er war zu lange ohne Schutz gewesen, unter freiem Himmel heftigem Wind oder dichtem Nebel ausgesetzt. Jetzt empfand er es als angenehm, das Dach nah über dem Kopf zu spüren. Er ging über den Backsteinboden zu einem Schemel beim Kamin, setzte sich darauf und streckte die Hand zum Feuer aus. Die alte Frau machte sich in der dunklen Ecke der Küche zu schaffen. Er hörte das Klappern ihrer Holzschuhe auf dem Fußboden, das Rascheln ihrer schweren Röcke und hinter sich Flügelflattern und ein verschlafenes Glucksen. Kurz darauf kam die alte Frau mit einem Holzteller, auf dem ein ungeschnittener Laib Brot lag. Sie zog eine kleine Bank zum Feuer und stellte den Teller darauf, dann machte sie einen Schritt zurück und wickelte ihre Hände in die Schürze. Der Bettler sah von dem Brotlaib zu der Frau, die mit ihrem weißen Mieder und ihrer blauen Schürze, den hellen Widerschein des Feuers im Gesicht, aufrecht vor ihm stand und ihn betrachtete. Das Licht schimmerte golden auf der glasierten Seite des Laibs. Sein Blick ging zu dem Brot, dann, weil sie keine Anstalten machte, streckte er die Hand danach aus.

»Halt!«, rief die alte Frau, ließ die Schürze los und griff selbst nach dem Laib. »Du wirst doch mein gutes Brot nicht mit deinen schmutzigen Fingern anfassen! Wo ist dein Messer? Kannst du dir keine Scheibe abschneiden wie ein Christenmensch?«

»Ich habe kein Messer«, sagte der Bettler verblüfft. »Hätte ich ein Messer, hätte ich es im Wirtshaus gegen einen Krug Bier eingetauscht. So hilf mir, bitte, ich habe kein Messer, und wenn ich eins hätte, könnte ich es nicht sehr geschickt führen.«

Die alte Frau musterte ihn. »Dreh dich zum Feuer«, befahl sie ihm. Folgsam drehte er sich auf dem Schemel um. »Gut«, sagte sie, »auf dem Rücken wenigstens trägst du kein Messer, und« – sie zögerte ein wenig, wie zur Entschuldigung – »mir ist nicht gleich der leere Ärmel aufgefallen. Ich habe einmal einen spanischen Soldaten gesehen«, fuhr sie fort, »der mit Wallensteins Armee kam, und der hatte einen Gurt wie du über der Schulter, in dem er einen langen Dolch auf dem Rücken trug. Ich schneide das Brot. Warst du Soldat?«

»Bis ich den Arm verlor«, sagte er. »Aber was kann ein Mann mit nur einem Arm ausrichten? Seitdem bin ich Bettler.«

Nachdem sie das Brot geschnitten hatte, gab sie ihm auch eine Scheibe Käse, und sie bemerkte, dass seine Hand, die sich nach dem Essen ausstreckte, vor Erregung zitterte und dass er aß, als hätte er alles um sich herum vergessen, alles außer dem Geschmack von Brot und Käse in seinem Mund. Während sie ihm zusah, so wie sie vielen anderen vor ihm in der Küche des Pastors zugesehen hatte, spürte sie Mitleid, das an die Stelle von Angst trat, und sie füllte einen Zinnkrug mit Bier und stellte ihn, um das Bier zu wärmen, zu den Kohlen. Hungernde Menschen, hungernde Tiere, seit über vierzig Jahren bestand eine ihrer Aufgaben darin, ihnen Speise und Obdach zu geben. Die Vorräte waren kleiner als früher, sodass es weniger zu verteilen gab, aber was der Pastor erübrigen konnte, bekamen die Bedürftigen, und ihr oblag die Zuteilung.

»Du kannst im Kuhstall schlafen«, sagte sie. »Da ist es sauber, und bei den Tieren ist es warm.«

Er verzehrte Brot und Käse bis auf die letzte Krume und trank das gewärmte Bier, dann saß er mit dem Krug in der Hand da und starrte eine Weile ins Feuer, bevor er wieder sprach.

Er sagte, fast wie zu sich selbst: »Ich habe nichts, nicht einmal ein Messer. Nichts außer den Lumpen an meinem Körper. Aber das ist vielleicht nicht für alle Zeiten so.« Das warme Bier in seinem leeren Magen hatte sein Selbstmitleid geweckt. Bei einem warmen Feuer Selbstmitleid zu empfinden, war angenehm. Langsam regte sich auch sein Verstand wieder, und ihm fiel ein, warum er nach Aalsö gekommen war. Bestimmt nicht, um in der neuen Stube, die jetzt nicht mehr da war, Luthers Katechismus zu lernen, sondern weil er mit Pastor Peder hatte sprechen wollen. Zu der alten Frau sagte er bedächtig und zugleich unbeteiligt: »Kennst du einen Morten Bruus?«

»Ja«, sagte sie kühl. »Er hat in dieser Gemeinde gelebt.«

»Dann ist er also tot? Wie ich schon gehört habe?«

»Ja, tot, und niemandem ist es leid drum.«

»Mir sicherlich nicht«, sagte der Bettler. »Na, wir können nicht alle betrauert werden.«

»Wir müssen aber nicht gehasst werden«, sagte sie.

»Er war verhasst, ja?«, fragte der Bettler.

»Wenn du seinen Namen kennst, dann weißt du, dass er verhasst war«, gab sie zur Antwort.

Sie stand auf und verstaute den restlichen Laib Brot in einer Holztruhe auf der anderen Seite des Feuers, und der Bettler sah ihr mit einem bedauernden Blick zu, wagte aber nicht zu protestieren. Neben der Truhe gab es eine Tür, die, wie er sich erinnerte, zum Schlafzimmer des Pastors führte, und eingelassen in die Wand war der Alkoven, wo die Kissen und Decken der Haushälterin gestapelt lagen. In all den Jahren, die er fort gewesen war, hatte er nicht ein einziges Mal versucht, sich diesen Raum zu vergegenwärtigen, aber jetzt, da er hier saß, kehrte seine Erinnerung zurück und es war so, wie es immer gewesen war, nur dass man die Tür zur neuen Stube vermauert hatte. Was die alte Frau betraf, so glaubte er sich auch an sie zu erinnern, aber je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er, dass die Haushälterin des Pastors kleiner gewesen war, mit stechenden schwarzen Augen und flinken Händen. Sie hatte nicht dieselbe Langmut gehabt wie Peder Korf.

»Dann ist der alte Pastor also tot«, sagte er nach einer Weile. »Ist das lange her?«

Die alte Frau ließ sich auf der Bank nieder, die als Tisch für das Brot gedient hatte.

»Ziemlich lange«, sagte. »Ich war noch jung. Oder vielmehr, ich war noch in den Vierzigern, und das zählt heute als jung.« Sie seufzte, und der Bettler fragte:

»Dann war nicht das Alter der Grund, warum der Pastor gestorben ist. Wahrscheinlich eher die Pest.«

»Eine Pest von katholischen Banditen«, sagte die alte Frau. »Eine Bande von Wallensteins Männern. Möge Gott ihnen nie vergeben.«

Der Bettler dachte darüber nach. »Ja, das ist lange her, denn damals war ich noch nicht lange aus Jütland weg.«

»Torstensons Männer waren Diebe und Plünderer«, sagte die Alte, »aber wenigstens waren sie keine Katholiken, sondern einfach nur Schweden. Ach, aber Jütland hat gelitten, gelitten für ganz Dänemark. Ich weiß nicht, warum Gott uns so viel Leid zugedacht hat. Wallensteins Männer aber, die waren die schlimmsten.«

Der Bettler sagte nichts, und die Alte, die aus einer tiefen, alten Traurigkeit heraus sprach, fuhr fort:

»Wer die Kraft dazu hatte, floh auf die Inseln, die meisten taten das. Der Pastor wollte nicht weg, und ich bin bei ihm geblieben. Aber als sie kamen und wir über Aalsö und den Höfen in der Nähe die Flammen lodern sahen, bin ich in den Wald gerannt. Der Pastor blieb bei der Kirche. Er war ein tapferer Mann, der Pastor Peder Korf. Er sagte, womöglich kämen seine Gemeindemitglieder um Hilfe zu ihm gelaufen, und er wollte bleiben und sie beschützen.« Sie hörte auf zu sprechen, und der Bettler schwieg, er hatte den Kopf vorgebeugt und sah sie unter schwarzen Brauen aus seinen kleinen grünen Augen an. Die Alte atmete tief ein und fuhr fort: »Als ich zurückkam, hing der Pastor an der Buche, bei der Tür da, man hatte ihn am Bart aufgehängt und er war von Messerstichen übersät; er war tot. Das Haus stand in Flammen. Das Vieh war verschwunden. Bis auf das letzte Huhn. Das Gerstenfeld, das kurz vor der Ernte stand, war in Brand gesetzt worden. Ich kam zurück und sah ihn an, und ich sah das Blut auf dem Boden, da, wo er hing. Sie haben das getan, um ihn zu verspotten, um einen Pastor wegen seines Bartes zu verspotten. Er hatte einen sehr kräftigen Bart, und wenn er nachdachte, fuhr er sich mit den Fingern hindurch. Das Feuer brannte fast die ganze Nacht. Dann, kurz vor Tagesanbruch, fing es an zu regnen. Und als Torstenson vorletztes Jahr hier durchzog, haben wir uns alle versteckt. Pastor Juste ist durchs Dorf gegangen und hat alle seine Leute eingesammelt, wir haben uns im Buchenhain versteckt, und so sind wir am Leben geblieben. Die Schweden haben viel niedergebrannt und alles gestohlen. Es war trotzdem nicht so schlimm wie damals, als die Katholen kamen.« Sie hielt inne. Dann sagte sie: »Dass Gott solche Männer macht.«

»Ich war in Wallensteins Armee«, murmelte der Bettler, fast wie zu sich selbst. »Ich war mit ihm in Böhmen. Aber«, sagte er scheinheilig, »als er Richtung Jütland zog, habe ich mich abgesetzt. Ich wollte auf keinen Fall als Soldat nach Jütland ziehen.«

»Möge Gott das bedenken, wenn deine Zeit gekommen ist«, sagte die Haushälterin, »dass du Häuser nur in fremden Ländern angesteckt hast. Aber es ist spät. Komm. Ich zeige dir, wo du schlafen kannst.«

Der Bettler nahm seinen Hut vom Boden auf und erhob sich widerstrebend. Er blickte in die Glut, rotgolden und fast durchsichtig in der Herdstelle, einige Stücke noch in der exakten Form von Ast oder Zweig, verwandelt, aber heil, und umflackert von blauen Flämmchen.

»Es ist jammerschade, ein so gutes Feuer zu verlassen«, sagte er.

Die Haushälterin hatte eine Hand auf die Klinke gelegt und wartete auf ihn.

»Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal einem von Wallensteins Männern Essen und Trinken geben würde«, sagte sie nur.

»Vielen Dank für das Essen«, sagte der Soldat. »Trotz alledem.«

Er zog ein Bein nach, als er zur Tür ging, den Hut in der Hand, drehte sich aber noch einmal nach der Glut im Herd um.

»Ich kann den Pastor bestimmt morgen früh sprechen?«, fragte er.

Die Alte antwortete mit einem Kopfnicken.

»Dieser Morten Bruus«, sagte er und verweilte noch. »Wenn alle Höfe in Jütland zweimal geplündert wurden, dann kann er ja nicht mehr sehr reich gewesen sein. Wurden seine Häuser auch angesteckt, wie die der anderen?«

»Aber nein«, sagte die Alte. »Der Teufel hat ihm Schutz geboten, wenn du mich fragst. Seine Häuser wurden nicht angezündet, seine Felder nicht niedergetrampelt, und als er starb, war er der reichste Mann von Vejlby, und von dieser Gemeinde auch.«

»Ist das so? Ah, gut.« Der Bettler ließ sich diese Auskunft durch den Kopf gehen und hakte dann vorsichtig nach: »Hat er denn eine reiche Witwe zurückgelassen, dieser Bruus?«

»Keine Frau, auch keine Witwe, weder Kind noch Kegel«, sagte die Alte.

»Auch keinen Freund? Hat er sein Vermögen in einer Schenkung einem Freund überlassen?«

»Er hat niemals, weder lebend noch tot, einem Menschen etwas geschenkt, soweit ich das gehört habe«, sagte sie. »Du willst viel über Morten Bruus wissen. Kanntest du ihn?«

Der Bettler streckte seinen Arm in einer frohlockenden Geste aus.

»Das will ich dem Pastor morgen erzählen«, sagte er. »Ich werde reich sein. Ich war der ärmste unter den Menschen, jetzt werde ich der reichste sein. Ich bin Niels, Mortens Bruder.« Er lachte kurz auf, und der Schall prallte von den Kupfertöpfen an der gegenüberliegenden Wand zurück, aber es schwang darin weder Heiterkeit noch Wärme mit. Die Alte fuhr zusammen, und sie machte einen Schritt zurück, gerade so, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht bekommen.

»So ist das also«, sagte sie voller Hohn. »Und vielleicht warst du auch nie einer von Wallensteins Männern. Das könnte ich dir verzeihen. Ein Schwein hat dir den Arm abgebissen, und du bist den ganzen Weg von Aalborg hierhergekommen, kein Zweifel, aber vielleicht hast du Jütland dein ganzes Leben lang nicht verlassen. Eine feine Geschichte ist das mit dem Bruder von Morten Bruus, aber damit bist du hier am falschen Ort.« Sie stieß die Tür weit auf und wartete, dass er ging. »Für solche Lügen solltest du fortgeschickt werden«, sagte sie, »aber der Pastor sagt, du kannst bei den Tieren schlafen. Also dann, gute Nacht«, fügte sie ungehalten hinzu.

Doch der Bettler blieb bei seiner Geschichte.

»Ich lüge nicht«, sagte er. »Ich bin wirklich der Bruder von Morten Bruus. Ich kann es auch beweisen, denn es ist die Wahrheit.«

»Du bist Niels Bruus?«, fragte die Alte.

»Niels, Mortens Bruder.«

»Was für ein verlogener Halunke du bist«, sagte die Alte mit noch größerer Verachtung. »Was für ein erbarmungswürdiger Lügner. Hör mir zu. Mit meinen eigenen Augen habe ich gesehen, wie vor vielen, vielen Jahren die Leiche von Niels Bruus aus der Erde gegraben wurde; er war schon so lange tot, dass er stank. Und jetzt kommst du und erzählst mir, dass du Niels Bruus bist?«

Diese Worte hatten eine seltsame Wirkung auf den Bettler. Er starrte die Alte mit vor Staunen ausdruckslosen Augen und offenem Mund an. Dann zog sich ein Grinsen über sein Gesicht, ein dummes, böses Grinsen, und schließlich brach er in Lachen aus. Er schlug sich mit dem Hut auf den Schenkel, um so seine Heiterkeit über das, was sie gesagt hatte, zu unterstreichen, und sie fand, dass sie nie etwas Dümmeres und Böseres gehört hatte als dieses Gelächter, das den kleinen Raum erfüllte.

»Hör auf«, rief sie. »Sei still.« Und sie stampfte fast panisch mit ihren Holzschuhen auf den Backsteinboden, sodass die beiden Geräusche in Wettstreit miteinander traten. »Hast du den Verstand verloren?«

Der Bettler hielt in seinem Lachen inne und fragte: »Und war mein Gesicht von Schlägen ganz entstellt, gute Frau?« Und als sie vor ihm zurückwich, fuhr er fort: »Hast du vielleicht einen feinen Bleiohrring an diesem Ohr gesehen?« Er deutete mit dem Hut auf sein linkes Ohr.

Der alten Frau stand pures Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Langsam hob sie die Hand und bekreuzigte sich.

»Sag doch«, fuhr der Bettler fort, »hat Pastor Sören mich auch gesehen? Und mich gerochen, he? Sag mir doch, wer mich ausgegraben hat und wo ich begraben war.«

Die Alte, die erst ein paar Schritte zurückgewichen war, blieb jetzt stehen und sammelte sich. Sie sah ihn voller Verachtung an, stemmte die Hände in die Seiten und antwortete mit fester Stimme, als wolle sie einen Dämon austreiben:

»Ich habe gesehen, wie Morten Bruus in Pastor Sörens Garten den Spaten in den Boden stieß und die Leiche seines Bruders Niels ausgegraben hat; ich und viele andere haben das gesehen. Es braucht schon mehr als einen Bettler aus Aalborg, um mich davon zu überzeugen, dass Niels nicht tot und auf dem Friedhof von Vejlby begraben liegt. Du glaubst, du kannst mit Mortens Geld ein reicher Mann werden? Was bist du doch für ein Dummkopf!«

»Aber ich weiß, dass das Gesicht entstellt war und dass die Leiche meine Sachen anhatte und dass mein Bleiohrring in seinem linken Ohrläppchen war, so wie ich ihn früher getragen habe. Woher, glaubst du, weiß ich das alles?«

Die Frau zuckte mit den Achseln.

»Das kann jeder wissen«, sagte sie.

»Ja, aber ich weiß noch mehr«, sagte der Bettler leise. Als er weitersprach, klang seine Stimme verschlagen. »Ich weiß, dass Morten die Leiche begraben hat. Deshalb wusste er, wo sie lag. Das war«, sagte er scheinbar vertraulich, »Mortens kleiner Streich, den er dem Pastor spielen wollte. Morten mochte den Pastor nicht, wie du bestimmt noch weißt.«

Sein Blick war auf die runden blauen Augen der alten Frau gerichtet, und er glaubte zu sehen, wie sich darin eine entsetzliche Erkenntnis ausbreitete.

»Ja«, sagte er triumphierend, »ein kleiner Streich, den Morten dem Pastor gespielt hat, das kann ich dir alles erzählen.«

Die Alte wandte sich abrupt von ihm ab und ging durch die Küche zur Tür des Pastors. Sie klopfte, den Rücken dem Bettler zugewandt, betrat dann das Zimmer des Pastors und schloss die Tür hinter sich.

Der Bettler konnte vor Erregung nicht ruhig auf einer Stelle bleiben. Er humpelte zum Kamin und sah einen Moment lang in die Glut mit den blauen Flämmchen. Dann ging er quer durch die Küche zu der Wand, wo früher die Tür zur neuen Stube gewesen war. Ohne diese Tür wirkte die Küche kleiner, erst recht, da die Tür zum Zimmer des Pastors verschlossen war. Sein Blick wanderte über die Schränke mit ihren Türen, und er versuchte sich zu erinnern, hinter welcher die Alte den Käse verstaut hatte, doch dann wurde er sich seiner schmerzenden Füße bewusst, und er setzte sich wieder auf den Schemel beim Feuer und zog die Stiefel aus. Die Backsteine an seinen Füßen waren kalt, und doch war die Luft in der Küche wärmer als das nasse, rissige Leder. Er rieb sich die Füße, und so, in gebeugter Haltung, saß er da, als die Alte wieder in die Küche kam.

Hinter ihr betrat ein Mann den Raum, der eine schwarze, lose hängende Kutte aus abgetragenem Stoff mit einem Pelzkragen trug. Er hatte ein eng anliegendes Scheitelkäppchen auf, unter dem ein Kranz weißer Haare hervortrat. Das Gesicht des Mannes war hager, seine dünne Gestalt leicht gebeugt. Nach dem Klackern der Holzpantinen der Haushälterin klangen seine Schritte leise, denn er ging auf Socken, und sein stilles Erscheinen sowie sein Äußeres, das von hohem Alter und großer Sanftmut zeugte, riefen in dem Bettler eine gewisse Ehrfurcht wach. Die Heiterkeit, die ihn eben noch erfüllt hatte, verschwand, aber seine Erregung blieb. Er erhob sich und nickte dem alten Mann achtungsvoll zu.

»Pastor Juste Pedersen«, sagte die Alte, »das ist der Mann, der behauptet, der Bruder von Morten Bruus zu sein.«

»Setz dich, mein Freund«, sagte der alte Mann. »Setz dich, Vibeke.«

Er zeigte auf die Bank beim Feuer, und die Haushälterin setzte sich wieder auf ihren Platz. Der Pastor zog einen Schemel heran und rückte ihn so, dass er sowohl die Haushälterin als auch den Bettler ansehen konnte. Der Feuerschein erhellte sein Gesicht und warf einen goldenen Schimmer auf die abgetragene Kutte, auf die hohe, wie gemeißelt wirkende Stirn und die dünnen Hände mit den geschwollenen Fingergelenken, die still auf seinen Knien lagen.

»Dann lasst uns«, sagte Pastor Juste in sachlichem Ton, »der Wahrheit auf den Grund gehen.« Er musterte den Bettler in aller Ruhe mit dem Blick eines Mannes, der im Studium des Mienenspiels reich an Erfahrung war, und ihm entging nicht die große Erregung, die der Mann in Gegenwart der Respektsperson zu zügeln versuchte. »Vibeke Andersdatter hat mir erzählt«, sagte er, »dass du früher in dieser Gemeinde gelebt hast und jetzt hier bist, um das Vermögen von Morten Bruus als deins zu fordern. Erzähl mir doch, warum du damals aus der Gemeinde fortgegangen bist.«

»Morten hat mich weggeschickt«, sagte der Bettler.

»Aha! Und wann war das?«

Der Bettler überlegte.

»Es war nach der Ernte und vor dem ersten Schneefall. Und das Jahr war vor Lutter-am-Barenberge. Im Herbst vor dem Sommer, als der König bei Lutter geschlagen wurde. Richtig, genauso war es.«

»Warst du auch in Lutter?«, fragte der Pastor.

»Ja, das war ich.«

»Hast du da deinen Arm verloren?«

»Nein, das war viel später. In Lutter war ich mit Wallenstein.«

»Willst du damit sagen, du hast gegen unseren König gekämpft?«, fragte der Pastor.

»Na ja, Morten wollte, dass ich aus Jütland verschwinde. Also bin ich nach Deutschland gegangen. Was sollte ich tun? Es war Winter, Helfer in der Landwirtschaft wurden nicht gebraucht. Aber Krieg gab es immer. Außerdem hat Wallenstein viel besser gezahlt als der König.«

»Es hat nichts mit dem Fall zu tun«, sagte der Pastor, »trotzdem möchte ich gern wissen, wo du deinen Arm verloren hast.«