Der Marionettenmacher - Vanne van Ares - E-Book

Der Marionettenmacher E-Book

Vanne van Ares

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Beschreibung

Berlin 1952. Als die Polizei erneut zu einem außergewöhnlichen Tatort ausrücken muss, wird jedem klar, dass ein Serientäter umgeht: Wieder wurde eine Frau wie eine Marionette an Seilen aufgehängt und grausam verstümmelt – daneben ein Grammophon, das Kriegsschlager abspielt.
Kriminalrat Müller überträgt Karl Kron die Leitung der neu gegründeten Soko Strippenzieher, obwohl er ihn nicht leiden kann. Denn der junge Kommissar und Frauenheld missachtet gern die vorgeschriebenen Dienstwege und zeigt zu wenig Respekt gegenüber seinen Vorgesetzten.
Weil aber nicht nur Kron ein Geheimnis mit sich herumschleppt, gerät der Fall schnell aus dem Ruder und der Kommissar selbst ins Visier der Ermittlungen.

Ein authentischer, historischer Berlin-Krimi im Spannungsfeld zwischen Kriegstrauma, Wirtschaftswunder und der gerade unaufhaltsam fortschreitenden Teilung der Stadt.

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periplaneta

VANNE VAN ARES: „Der Marionettenmacher“ Kommissar Kron ermittelt

1. Auflage, Oktober 2023, Periplaneta Berlin, Edition Totengräber© 2023 Periplaneta – Verlag und MedienInh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin

periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Thomas ManegoldCoverbild: Marion Alexa MüllerGrafik-Design, Satz & Layout: Thomas ManegoldLiedzitate: „Lili Marleen“ (Text von Hans Leip, 1937); „Brüderchen, komm tanz mit mir“ (Volkslied um 1800, Textadaption „Maikäfer flieg” (Volkslied um 1800, Textadaption aus „Der Wehrwolf“ von Herman Löns, 1910)

Quelle für die historischen Daten auf dem Cover: berlingeschichte.de

print ISBN: 978-3-95996-266-7epub ISBN: 978-3-95996-267-4

Vanne van Ares

Der Marionettenmacher

Kommissar Kron ermittelt

periplaneta

„Denn das deutsche Volk, ein Volk der Ordnung, wußte nichts mit seiner Freiheit anzufangen und blickte schon voll Ungeduld aus nach jenen, die sie ihm nehmen sollten.“

Stefan Zweig, Die Welt von gestern, 1942

Erster Teil

“Fräulein,tanz mit mir”

Eins: Der Tanz beginnt

Berlin, Juni 1952

Die Angst kehrt zurück. Sie schlägt die Augen auf, die sich nach Tagen in der Dunkelheit an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben.

Sich bewegen? Ausgeschlossen. Die Knochen und Gliedmaßen, auch jene, die er noch nicht gebrochen hat, sind kunstvoll, fast seemännisch korrekt verschnürt.

Ihr Atem geht schneller. Ist da eben eine Autotür zugeschlagen worden?

Schwere Schritte sind zu hören.

Ihre Augen weiten sich, doch den Kopf zu heben, ist unmöglich. Die Nadel des Grammophons kratzt über die Platte. Die Leander fängt an zu trällern: „Wenn mal mein Herz unglücklich liebt …“

Blank geputzte Armeestiefel treten in ihr Sichtfeld. Man könnte meinen, das eigene Antlitz spiegele sich darauf. Doch das Leder ist zu grob.

Die Seile, die ihren Körper aufrecht halten, sind an einem kleinen Lastenschwenkarm unter der Decke angebracht. Er zieht sie zu sich in die Mitte des Raumes, und seine angenehme, sonore Stimme flüstert ihr ins Ohr: „Gnädiges Fräulein, darf ich bitten?“

Im selben Augenblick legt er seine rechte Hand auf ihre Hüfte, nimmt ihren zertrümmerten rechten Arm in seine andere Hand und wirbelt sie herum.

„Davon geht die Welt nicht unter …“ ist das Letzte, was sie hört.

Zwei

„Na toll!“, schnauzte Karl, als er mit seinen frisch polierten Schuhen aus dem Rand der Blutlache stakte, „Die hatte ich gerade geputzt.“

Der Schutzpolizist neben ihm sah ihn entgeistert an, dann wanderte der Blick des Mannes zurück zu der grässlich entstellten Frauenleiche, die gefesselt an mehreren Flaschenzügen und einem Schwenkarm unter der Decke des Bootshauses hing.

„Ach, ignoriere den Kron. Unser Schönling hat halt nichts Besseres zu tun, als sich über Blutspritzer auf seinen Schuhen auszulassen, egal was um ihn herum passiert“, kommentierte ein zweiter Schupo, der einige Schritte entfernt auf dem Boden kniete.

„Es kann ja nicht jeder wie ein Lump daherkommen“, fauchte Karl und griff dabei instinktiv nach dem Kamm in seiner rechten Gesäßtasche, um ihn anschließend durch sein schwarzes, mit Pomade frisiertes Haar zu ziehen und eine widerspenstig abstehende kleine Strähne an ihren Platz zu verweisen.

,Diese naiven Vollidioten von der Inspektion E, wieso muss man sich als höherer Beamter nur mit solch einem Volk herumärgern?‘, dachte er sich.

Er legte nun einmal pedantischen Wert auf sein Äußeres. Die dunklen Anzüge mussten stets akkurat gebügelt, die dazu passenden Schuhe am Glänzen, die schwarzen Haare fein säuberlich nach hinten gekämmt sein. Selbstverständlich vervollständigten eine schmale Krawatte und eine passende Anzugweste das Erscheinungsbild.

Ohne sein silbernes Zigarettenetui und seinen Kamm verließ Karl nie die Wohnung – nur für den Fall, dass doch einmal eine Strähne nicht dort saß, wo sie hingehörte, wie eben gerade jetzt. Den Damen gefiel sein Auftreten. Zumindest konnte er sich nicht beklagen, was seine Erfolgsquote in diesem Bereich anging.

Karl ließ die Schutzpolizisten stehen und wandte sich aus sicherer Entfernung der Leiche zu. Die Gliedmaßen waren unnatürlich verdreht, und jedem war klar, dass im Inneren kaum ein Knochen mehr ganz sein konnte. Der Kopf lag abgetrennt auf dem Boden, die Haare bedeckten das Gesicht der Frau. Teilweise waren ganze Hautpartien entfernt worden, und mehrere tiefe Stich- und Schnittverletzungen bildeten ein bizarres Muster auf dem bleichen Körper.

„Das gibts doch nicht. Noch ein Opfer. Die Misshandlungen und das Aufhängen des Körpers – das habe ich doch gestern erst an einem anderen Tatort gesehen“, murmelte Karl.

Er hatte schon kein gutes Gefühl gehabt, als er und seine Kollegen von der Mordkommission in den Spandauer Norden gerufen worden waren. Denn gerade mal zwölf Stunden zuvor hatte er vor einer ähnlich zugerichteten Leiche gestanden. Auch hier war das Opfer zwischen 25 und 30 Jahren alt, schlank und hatte schulterlange Haare.

Der Körper war mit Seilen gefesselt und wie eine Marionette unter der Decke eines alten Schuppens aufgehängt worden.

Nach geraumer Zeit des Folterns war das Opfer mit einem Beil geköpft worden. Und genau wie hier hatten die Polizisten ein altes Grammophon gefunden, auf dem noch eine Schellackplatte mit Kriegsschlagern lag.

Karl ging grübelnd vor die Tür des Verschlags.

Er bückte sich, um unter dem Band, womit der Tatort abgesperrt worden war, hindurch zu schlüpfen.

Dort wartete bereits der Hobbysegler Albers, der die Leiche entdeckt hatte.

„So, guter Mann, dann fangen wir mal an. Bitte teilen Sie mir zur Vollständigkeit nochmals Ihre Personalien mit und erzählen Sie, was passiert ist.“

Albers, eine kleine, behäbige, irgendwie unscheinbare Gestalt mittleren Alters, rieb sich die verschwitzen Hände und blickte unstet hin und her.

Er holte tief Luft, bevor er sprach: „Mein Name ist Reinhold Maria Albers, ich wohne in der Charlottenstraße 126 in Konradshöhe. Heute Morgen wollte ich mit meinem Segelboot einen Ausflug machen, um dem Ärger zu Hause zu entkommen. Mal die Seele baumeln lassen, ein bisschen Ruhe genießen, verstehen Sie?“

Karl dachte an die Schwierigkeiten mit Barbara in der letzten Zeit. Obwohl er von vornherein immer betont hatte, an einer festen Beziehung kein Interesse zu haben, wollte oder konnte Barbara ihn einfach nicht verstehen. Ihr klammerndes Verhalten hatte ihn dazu bewogen, das Intermezzo ein für alle Mal zu beenden. Als wirksamste „Waffe“ kam ihm Hilda Baumgart, Karls neues Objekt der Begierde, genau recht. In den letzten Wochen hatte er sich des Öfteren mit dem Fräulein Baumgart getroffen – heimlich versteht sich – währenddessen die Stimmung daheim immer schlechter wurde.

Vor drei Tagen war das Maß dann endgültig voll. Ihm platzte sprichwörtlich der Kragen, weil Barbara ihn mal wieder mit ihrer „mütterlichen“ Fürsorge erdrückte und morgens an seinem Krawattenknoten herumnestelte, der angeblich nicht richtig gebunden war. Es brach aus ihm heraus und er erzählte ihr von der neuen Bekanntschaft. Dieser letzte Streit endete mit unzähligen zerdepperten Tellern und Tassen und Karls roter Wange, hervorgerufen durch eine schallende Ohrfeige, bevor Barbara weinend aus der Wohnung gestürzt war.

Er hatte jedoch sein Ziel erreicht. Veni – vidi – vici.

Gedankenverloren nickte Karl und grinste: „Ja, Herr Albers, so sind se, die Frauen, machen uns das Leben nicht leicht. Sie fuhren also mit Ihrem Boot los. Und weiter?“

„Na ja, erst fuhr ich mit dem Boot nach Norden Richtung Hennigsdorf, hab dann eine Wende gemacht und bin am rechten Ufer Richtung Tegeler See gefahren. Es muss so um zehn Uhr morgens gewesen sein. Als ich in die Nähe des Bootshauses kam, bemerkte ich sofort diesen stechenden Gestank, der in der Luft waberte. Ich dachte, vielleicht ist ein Tier verendet. Ich meine … also bei diesen warmen Sommertemperaturen können schnell unangenehme Gerüche auftreten, nicht? Außerdem stand die Tür ein Stückchen offen, die sonst mit einem Vorhängeschloss versehen ist. Das alles kam mir merkwürdig vor, deshalb legte ich am Ufer an, stieg aus, ging zum Schuppen und öffnete die Schiebetür. Und da sah ich sie schon hängen. Oh mein Gott, ich werde diesen Anblick niemals vergessen!“

Albers fing an zu schluchzen und nestelte dabei an seinem Hemd herum.

„Wissen Sie, wem dieses Bootshaus gehört?“, fragte Karl, der sich nicht ablenken ließ oder irgendwelche Emotionen zeigte.

„Es gehörte einmal dem alten Herrn Siever, der ist jedoch kurz nach dem Krieg an den Spätfolgen seiner Gefangenschaft verstorben. Bei den Engländern, wissen Sie? Da er keine Erben hatte, gingen die Gebäude an das Land Berlin.“

„Verstehe.“ Karl machte sich Notizen in seinen Block. „Haben Sie sonst noch etwas Merkwürdiges gesehen?“

„Nein, leider gar nichts. Ich bin sofort in Panik rückwärts raus, Richtung Straße gerannt und habe beim nächstgelegenen Haus Sturm geklingelt. Dort gab es Gott sei Dank ein Telefon und ich habe die Polizei verständigt. Das wars“, sagte der Zeuge.

„Ok, Herr Albers. Vielen Dank fürs Erste. Wenn wir noch weitere Fragen haben, werden wir uns an Sie wenden.“

Karl steckte seinen Notizblock ein und näherte sich dem voll ausgestatteten Polizeiauto, intern als Mordauto bekannt, wo sein Chef bereits Stellung bezogen hatte.

Eberhard Müller war ein alter SS-Mann, dem seine guten Verbindungen einen bequemen Posten als Leiter der Mordkommission verschafft hatten. Jeder in der Inspektion wusste, dass der bullige Kriminalrat dem Dritten Reich mehr als nur eine Träne nachweinte.

„Antreten, Kron“, schnauzte Müller in seinem typischen Kommandoton.

,Manche Sitten kann man anscheinend nur schwer ablegen‘, dachte sich Karl.

„Die Leiche der jungen Frau wird zur weiteren Untersuchung umgehend in die Pathologie zu Doktor Jansen gebracht. Sie werden den Transport mit dem Streifenwagen begleiten und die Papiere mit den Untersuchungsergebnissen für die Akten ins Präsidium bringen. Sellin soll mit den Schupos zurück zur Wache fahren. Konnten Sie aus dem Wicht“, dabei zeigte er auf Albers, „etwas Sinnvolles herausholen?“

„Nein, Kriminalrat Müller, der Zeuge hat keinen Verdächtigen gesehen und konnte zum Tatgeschehen keine sonderlich hilfreichen Angaben machen. Die Leiche hat er heute Morgen gegen zehn Uhr entdeckt.“

Karl kramte in seiner Hosentasche nach dem Zigarettenetui.

„Kron, Sie sind im Dienst. Mir fehlt es bei Ihnen an soldatischem Anstand. Und so einer war mal bei der Wehrmacht. Zigaretten weg, und stehen Sie aufrecht!“

Karl verdrehte die Augen, ließ das Etui zurück in seine Tasche gleiten, richtete sich gerade auf und erwiderte in zackigem Tonfall: „Jawohl, Herr Kriminalrat. Zu Befehl.“

„Wegtreten“, raunzte Müller.

Karl stapfte zurück zum Bootshaus, in dem sich der Kommissaranwärter Heinz Sellin aufhielt. In der Zwischenzeit hatte der Erkennungsdienst seine Arbeit beendet und zwei Angestellte des Bestattungsunternehmens waren gerade dabei, die geköpfte Leiche der jungen Frau auf eine Bahre zu heben.

„Hallo Heinz, Müller sagt, dass du später bei den Schupos mitfahren sollst. Ich werde den Streifenwagen nehmen, um den Leichentransport zu eskortieren.“

„Hallo, Kommissar Kron“, murmelte Sellin abwesend, während er gerade die letzten Aufnahmen vom Tatort schoss und die verbliebenen Nummerntafeln einsammelte, mit denen die gefundenen Spuren markiert gewesen waren.

„Hast du mir überhaupt zugehört?“, fragte Karl.

„Ja ja, selbstverständlich. Entschuldigen Sie, aber ich war zu sehr in meine Arbeit vertieft. Verzeihung. Wir haben es wirklich mit einem ungewöhnlich grausamen Täter zu tun. Hier die Schlüssel für das Fahrzeug.“

Während er so vor sich hinmurmelte, fasste Sellin sich mit der rechten Hand an die Schläfe und schüttelte langsam seinen Kopf.

„Danke, Heinz!“

Karl sah noch, wie der Kopf, den die Bestatter der Leiche auf den Bauch gelegt hatten, bedrohlich hin und her rollte, als sie die Bahre in den Leichenwagen luden. „Passt doch auf“, rief er ihnen zu, während er die Tür des Streifenwagens öffnete.

Er ließ sich in die durchgesessenen Ledersitze des VW Käfers fallen, steckte sich eine Overstolz in den Mund und ließ den Motor an. Sollte doch der Müller später über den Rauchgeruch fluchen, wie er wollte.

Karl hatte sich noch nie viel von einem Vorgesetzten sagen lassen – genauso wenig wie damals von seinen Eltern.

Er dachte zurück an das Jahr 1941. Er war gerade 16 geworden. Der Überfall auf die Sowjetunion und die vorangegangenen Kriegserfolge hatten ihn beflügelt und er meldete sich daraufhin freiwillig zur Wehrmacht. So kam es, dass er eines Tages einfach zu dem in der Nähe gelegenen Ersatzbataillon fuhr und sagte: „Hier bin ich.“

Niemand hatte sich darum geschert, dass er zu diesem Zeitpunkt noch nicht volljährig gewesen war, und somit durfte er seine Grundausbildung antreten. Ab Mai 1943 war dann sowieso sein kompletter Jahrgang einberufen worden.

Das alles trug sehr zum Leidwesen seiner Mutter bei, da sein Bruder Andreas erst wenige Monate zuvor in Frankreich „für Führer, Volk und Vaterland“ sein Leben gelassen hatte.

Doch die Schatten der Vergangenheit waren jetzt nicht sein größtes Problem. Und auch nicht die absehbare Standpauke des Chefs. Wegen dieses Falls wurden zu allem Übel seine Abendpläne über den Haufen geworfen, wo er doch eigentlich Hilda zum Essen ausführen wollte. Zwar war bis auf einen gehauchten Kuss zum Abschied letzten Dienstag noch nichts weiter geschehen, aber was nicht war, konnte ja noch werden.

Nachdem die Sache mit Barbara jetzt geregelt war, wäre die Bühne für einen perfekten Abend frei gewesen, doch stattdessen würde er den mit einer Leiche verbringen.

Er musste unbedingt Zugang zu einem Telefon bekommen.

Da fuhr auch schon der Leichenwagen an Karl vorbei, und er legte den ersten Gang ein, um sofort aufzuschließen.

Ab in Richtung Invalidenstraße.

Drei

„Ach, mein lieber Kron. Schön, Sie mal wieder zu sehen. Wie geht es Ihnen denn?“ Doktor Jansen war ein mittelgroßer Mann in den besten Jahren, mit Seitenscheitel und Schnauzbart. Seit dem Umzug des Landesinstituts für Gerichtsmedizin war er hier in der Invalidenstraße 52 der Chef im Keller. Er streckte Karl erfreut die Hand entgegen.

„Kann nicht klagen, Doktor Jansen. Sagen Sie, dürfte ich vielleicht in das Büro Ihrer Sekretärin gehen und das Telefon benutzen? Ich muss einen sehr wichtigen Anruf tätigen.“

„Aber sicher, bitte hier entlang.“

Der Doktor führte Karl den langen Flur mit dem dunkelgrünen Linoleumfußboden und den hautfarbenen Wänden hinunter, hin zu einem kleinen Arbeitszimmer.

Auf dem Schreibtisch stand das schwarze Wählscheibentelefon.

„Hier, bitte sehr. Ich muss mich leider gleich runter in den Keller begeben, um die Untersuchung an der Leiche vorzunehmen. Sie können sich nach Ihrem Anruf vorne im Foyer gegenüber der Pförtnerloge hinsetzen und warten, bis ich mit der Obduktion fertig bin.“

„Danke“, sagte Karl und war bereits dabei, Hildas Nummer zu wählen.

Wenige Minuten später setzte er sich erleichtert auf die unbequeme Holzbank gegenüber dem Pförtnerhäuschen und zündete sich die nächste Zigarette an. Sie hatte Verständnis für die kurzfristige Absage gehabt und war sogar bereit, sich morgen Abend erneut mit ihm zu treffen.

Was für ein Glück!

Karl ließ seinen Gedanken freien Lauf und träumte vor sich hin.

Er konnte sich gut an die erste Begegnung mit ihr im Selbstbedienungsladen erinnern. Nach einer langen Schicht im Präsidium hatte er einen Einkaufswagen und dann zwei Flaschen Doornkaat geschnappt und sich den Gang zwischen den Regalen hinuntergeschleppt.

Er war auf der Suche nach dieser neuen Frisiercreme mit dem herb-süßlichen Duft in der roten Verpackung gewesen.

Wie hieß die doch gleich? Er hatte es schon wieder vergessen.

Als sein Blick so durch den Laden schweifte und auf dem Werbeplakat für Goldmanns Taschen-Krimi haften blieb, konnte er nur müde lächeln: jeder Band 1,90 Mark. Vielleicht sollte er seinen Beruf an den Nagel hängen und Krimiautor werden. Er bräuchte nur ein Tagebuch führen und den ein oder anderen Namen abändern, hatte er noch so bei sich gedacht.

Doch seine Träumereien wurden jäh unterbrochen, als er mit dem Wagen, dessen rechtes vorderes Rad durch eine undefinierbare Ansammlung von Staub und Dreck immer mal wieder blockierte, einen Konservendosenturm streifte und diesen dadurch zum Einsturz brachte.

Ehe er sich versah, stand Karl umringt von Südgewürz – Das Gewürz mit Pfiff im Laden und der Kolonialwarenhändler im weißen Kittel eilte schimpfend auf ihn zu: „Ja, was haben Sie denn hier veranstaltet? So ein Durcheinander!“

Karl war bereits damit beschäftigt, die Dosen auf dem Boden wieder einzusammeln und unbeholfen aufeinanderzustapeln, als ein paar schwarze Spangenpumps in sein Sichtfeld traten und er hörte, wie eine Frau beschwichtigend auf den Händler einredete: „Sie müssen das Missgeschick bitte entschuldigen. Mein Mann hat eine leichte Sehschwäche. Selbstverständlich werden wir hier wieder Ordnung schaffen. Gehen Sie ruhig.“

Tatsächlich wandte sich der Verkäufer murrend ab und verschwand hinten in seinem Lager.

Die Unbekannte kniete sich neben Karl und begann, ihm ohne ein weiteres Wort, beim Aufräumen zu helfen.

Als er aufschaute, blickte er in ein junges, hübsches Gesicht mit strahlend blauen Augen.

„Danke, Fräulein. Da ham Se mir ja wirklich pfiffig aus der Patsche jeholfen“, war alles, was er herausbrachte.

Er kam sich bei diesem Kalauer ziemlich blöd vor und bereute bereits das Wortspiel. Sie nahm indes eine Dose in die Hand, drehte sie und schaute schmunzelnd auf das Etikett: „Tja, die richtige Wortwahl gewürzt mit einem koketten Augenaufschlag zahlt sich eben manchmal aus.“

Die beiden stellten sich einander vor und hatten ihre Telefonnummern bereits ausgetauscht, noch ehe der Konserventurm wieder vollständig aufgebaut war.

Karl fuhr an diesem Abend äußerst beschwingt nach Hause.

Plötzlich schrak er auf.

Doktor Jansen stand vor ihm und hielt ihm eine grünliche Mappe unter die Nase: „Hier, Kommissar Kron, die Unterlagen für Kriminalrat Müller.“

„Danke.“ Karl schlug die Mappe auf. Er überflog den Bericht: multiple Frakturen der äußeren Extremitäten, Gewebeeinblutungen, Quetschungen. „Meine Güte, mit was für einem Sadisten haben wir es hier eigentlich zu tun?“, entfuhr es ihm.

„Nun ja, oftmals sind die gewählten Foltermethoden abhängig von den speziellen Bedürfnissen und Lebenserfahrungen des Täters“, dozierte Doktor Jansen, der sich gern reden hörte, „die Frau muss über einen längeren Zeitraum an den Seilen gehangen haben.“

„Wie lange schätzen Sie?“

„Schwer zu sagen, mindestens 72 Stunden halte ich aber aufgrund der Verletzungen an den Handgelenken auch in tieferen Gewebeschichten für wahrscheinlich.“

„Drei Tage. Ich glaube nicht, dass er die ganze Zeit über zugegen war. Er muss das Opfer alleingelassen haben. Das zeugt von Routine. Der Täter fühlt sich seiner Sache sicher. Und wenn eine Stichwaffe im Spiel ist, steckt meistens auch eine sehr persönliche Tat dahinter“, sagte Karl.

„Denken Sie, der Mörder kannte seine Opfer?“

„Meiner Erfahrung nach ist das anzunehmen. Aber die ganze Geschichte kommt wie aus dem Nichts!“

„Vielleicht hat der Mörder sich jetzt erst getraut, seinen Neigungen bei Menschen nachzugehen?“

„Sie glauben, er hat sich vorher an Tieren vergriffen?“

„Herr Kron, ich bin seit vielen Jahren Gerichtsmediziner und habe Fälle aus dem gesamten Stadtgebiet auf dem Seziertisch. Solche Scheußlichkeiten verübt man nicht ad hoc. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass sich der Täter langsam an das Ausmaß von Gewalt herangetastet hat. Tierquälerei erscheint mir als ein probates Mittel.“

„Und was meinen Sie, Doktor? Haben wir es hier mit demselben Täter zu tun, wie in dem gestrigen Fall?“

„Davon ist schwer auszugehen. Die Art der Schnittführung und der Zustand der Geweberänder lassen auf ein und dasselbe Tatwerkzeug schließen. Auch die Spuren an der Leiche sind denen des anderen Opfers in vielerlei Hinsicht ähnlich. Der Täter muss Rechtshänder sein, da alle Schnitte von links unten nach rechts oben verlaufen bzw. von links oben nach rechts unten. Das kann man sehr schön am Torso des Opfers erkennen.“

Doktor Jansen nahm die Mappe an sich, blätterte im Berichtsanhang und zeigte Karl ein entsprechendes Foto.

„Sehen Sie? Die Schnitttiefe nimmt mit zunehmender Wundlänge ab. Der Wundrand ist ein wenig ausgefranst. Es könnte sich hier um ein nicht geschärftes Messer oder einen Dolch handeln. Auch diese Stichwunde am Bein finde ich äußerst interessant. Die Klinge ist nicht elliptisch, sondern dreieckig.“

„Hatten nicht die Grabendolche im Krieg eine solche Schneide?“, fragte Karl.

„Richtig. Vielleicht handelt es sich bei dem Täter unter Umständen um einen ehemaligen Wehrmachtssoldaten? Auch die Schellackplatten deuten darauf hin.“

„Nun ja, Doktor Jansen, wir wollen doch nicht etwa voreilige Schlüsse ziehen, oder?“

„Natürlich nicht, Herr Kommissar. Das steht mir auch in keiner Weise zu.“

Karl dankte, schloss die Mappe und machte sich auf den Weg ins Revier.

Dort gab er den Bericht bei Müllers Sekretärin ab und tauschte das Dienstfahrzeug gegen seinen eigenen Wagen, einen braunen Ford Taunus Spezial. Da der Abend ohnehin gelaufen war, entschloss er sich, noch einen Abstecher in den Obotrit zu machen. Vielleicht war Sif ebenfalls dort.

Die kleine typische Berliner Eckkneipe war für Karl ein Rückzugsort – ein bisschen auch sein zweites Wohnzimmer – und versprühte mit der urigen Atmosphäre, den vielen vergilbten Fotos an den vertäfelten Wänden und dem Eichenholztresen einen ganz eigenen, einen rauen Charme.

Meist war die Luft dort so stickig und rauchverhangen, dass man Einrichtungsmobiliar und Gäste im hinteren Teil nur schemenhaft erkennen konnte. Schnapsflaschen aus aller Herren Länder, die auf den oberen dunkelbraunen Regalbrettern hinter dem Tresen standen, waren mit einer dicken Staubschicht überzogen. Der Wirt hatte immer gut zu tun, und die Klientel, allesamt Männer aus dem umliegenden Kiez, kannte sich persönlich.

Als Karl die Eingangstür zum Obotrit öffnete, sah er bereits den typisch braunen Anzug, und seine Miene hellte sich auf.

Siegfried Ronge, den alle nur Sif nannten, war mit seinen 29 Lenzen schon reichlich kahl auf dem Kopf und bereits Träger eines Gebisses.

Als treuer Weggefährte an der Ostfront in Rumänien hatte er in einem Gefecht einen Granatsplitter ins Gesicht bekommen, der ihm den Kiefer zertrümmert hatte.

Karl hatte ihn damals in letzter Sekunde in einen Schützengraben gezerrt und ihm damit das Leben gerettet. Da er selbst kurze Zeit später auch schwer verwundet worden war, fanden sich beide im selben Lazarett wieder und wurden beste Freunde.

Nach dem Krieg hatten sie sich gemeinsam zum Polizeidienst gemeldet. Weniger aus Pflichtgefühl, als vor allem, weil es keinen besseren und einfacheren Berufseinstieg für ehemalige Soldaten gegeben hatte.

Karl entschied sich für eine Karriere in der Mordkommission und Sif kam zur Sittenpolizei. Mord und Totschlag hatte er im Krieg zu Genüge erlebt und gesehen. Sifs Familie und auch seine erste Frau waren in Königsberg eingekesselt worden. Ob sie nun verhungert oder in der Ostsee ertrunken waren oder gar Suizid begangen hatten, ließ sich nach dem Krieg, trotz aller Bemüh­ungen durch das Rote Kreuz und Sifs eigener Recherche, nicht klären. Und er hatte wirklich alles versucht.

Als nach dem Aufruf des Bundespräsidenten Heuss die Menschen in Scharen zu den Rathäusern und Amtsstuben geströmt waren, hatte Karl seinen Freund begleitet, damit dieser auf den vorbereiteten Karteikarten persönliche Angaben zu seinen Angehörigen machen konnte.

Sif hatte auch Flüchtlinge aus Ostpreußen befragt und sich jede freie Minute zwischen Nissenhütten, Holzverschlägen und in Elendssiedlungen herumgetrieben. Immer in der Hoffnung, sie zu finden. Oder wenigstens doch noch etwas über den Verbleib seiner Lieben in Erfahrung zu bringen.

Selbst Heimkehrer aus Kriegsgefangenschaften hatte er befragt.

Nichts. Er war ganz allein gewesen.

Zielgerichtet steuerte Karl auf seinen Freund zu und klopfte ihm von hinten auf die Schulter.

„Sif, Mensch, wie schön, dass ich dich hier antreffe.“ Und zum Wirt gewandt: „Ein Bier, bitte.“

„Hallo Karl, wie geht es dir, du siehst so blass aus? Was macht Barbara?“

„Ach Sif, lass mich mit Barbara in Ruhe. Ich habe das Thema letzte Woche beendet und möchte darüber auch nicht weiter reden.“

„Du willst nie reden, Karl. Genau das ist ja das Problem. Sie war so ein nettes Mädchen.“

„Hör auf, Sif, du bist schlimmer als meine Mutter. Außerdem habe ich jemand Interessantes kennengelernt. Sie heißt Hilda und wir treffen uns morgen Abend.“

„Ach Karl! Irgendwann musst auch du mal häuslich werden“, sagte Sif.

„Du meinst, wie du? Nicht jeder ist für Hochzeit und Kinder geschaffen. Und ich bin es definitiv nicht! Natürlich freue ich mich mit dir über die frohe Kunde deiner Margot, wo sie doch nach drei Jahren endlich schwanger ist. Aber das ist kein Leben für mich. Frau am Herd. Die Wohnung voller Kinder. Am Ende noch ein Hund, was? Nein, Sif. Familien sind nicht glücklich und sie machen einen auch nicht glücklich. Lass dir das gesagt sein.“

Sif musste lächeln. Sie hatten das gleiche Gespräch schon oft geführt.

„Lassen wir das, Karl, wir kommen ja doch nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Aber erzähl, du hast etwas. Ich kann es dir ansehen.“

„Mhh, der momentane Fall beschäftigt mich sehr. Ein komplett Irrer hat nun schon die zweite Frau brutal abgeschlachtet.“

Sif hob erstaunt die linke Augenbraue, verzog die Mundwinkel und schluckte das letzte bisschen Bier hinunter.

„Du meinst, ein Serienmörder? So wie der Schlächter vom Schlesischen Bahnhof? Oder der Massenmörder aus dem Falkenhagener Forst? Oder dieser verrückte Bruno Lüdke? Hier im Kiez?“

„Nicht so laut!“, schimpfte Karl.

Sif zögerte einen Moment: „Aber so was haut dich doch sonst nicht um?! Was ist an dem Fall so anders, dass er dir so nahegeht?“

Karl fasste sich an die Stirn, fuhr sich durchs Haar und seufzte: „Weil die Taten überaus grausam sind und wir noch absolut keinen Anhaltspunkt haben, wer der Täter oder die Opfer sind, geschweige denn, was das Motiv des Täters sein könnte.“

Vier

Nach ein paar Bierchen und dem obligatorischen Doornkaat, einem dreifach gebrannten Korn, fuhr Karl nach Hause in seine Junggesellenbude.

Reichlich angeheitert stieg er aus dem Wagen und fummelte an seinem Schlüsselbund herum, um den Taunus ab- und die Haustür aufschließen zu können. Vom Geklapper angelockt, schoss Kaiser bereits um die Ecke.

Der dicke, schwarz-weiß-rot gescheckte Kater war Karl vor zwei Jahren zugelaufen und hatte bisher keine Anstalten gemacht, wieder zu gehen.

Während Kaiser ausführlich um seine Beine strich, schob Karl ihn sanft in die Wohnung. Er konnte sich selbst nicht so recht erklären, warum er bei seinen Mitmenschen so pedantisch und ordentlich war, die übergewichtige dreifarbige Fellkugel jedoch die Erlaubnis bekam, überall ihre Haare in seine Besitztümer regelrecht einzuarbeiten. Es kostete Karl allmorgendlich mindestens 15 Minuten zusätzliche Zeit, den Anzug mit der Kleiderbürste wieder sauber zu bekommen.

„Na, Eure Durchlaucht? Haben Sie Hunger?“

Karl kniete sich herunter und streichelte den Rücken des Katers, der sofort zu schnurren anfing.

„Dann lasst uns mal in die gute Stube gehen.“

Gnädig quittierte Kaiser den Pluralis Majestatis und scharwenzelte seinem Futterlieferanten hinterher.

In der Küche legte Karl seine Anzugjacke über den Stuhl und setzte eine Pfanne auf den Gasherd. Ein kurzer Blick in die Küchenschränke verhieß nichts Gutes für Kaiser. Karl fand die Kartoffeln, die Barbara noch vorgekocht hatte, warf diese in die Pfanne und ließ sie zusammen mit zwei Spiegeleiern eine Weile lang braten. Anschließend teilte er den Großteil des Pfanneninhaltes auf einen großen und einen kleinen Teller auf und stellte den Größeren samt Eiern auf den Küchentisch, den kleineren auf den Fußboden.

Kater und Herrchen schlugen sich sogleich die Bäuche voll.

Beim Essen der Spiegeleier frönte Karl mit Hingabe einer Marotte, die er sich als Kind bei seinem Großvater abgeschaut hatte: Wie ein Chirurg schnitt er mit dem Messer ganz vorsichtig den orangenen Dotter kreisrund aus. Die Kunst bestand nun darin, das Eigelb im Ganzen, auf der Messerspitze balancierend, in den Mund zu bugsieren, ohne dabei die Membran zu verletzen, und es erst unter dem Gaumen zerplatzen zu lassen. Was für ein Genuss!

Nur so und nicht anders konnte man Spiegeleier essen.

Nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, war Karl froh darüber, dass es in seinem Haus seit Anfang dieses Jahres kein Plumpsklo mehr auf dem Hof gab. Seit Neustem brauchte er vor dem Zubettgehen nur noch die halbe Treppe zur Toilette herunterzuwanken, um Bier und Doornkaat loszuwerden. Ein kleiner Wermutstropfen war allerdings dann doch dabei, denn das stille Örtchen musste er sich mit der Familie Schmidt von gegenüber teilen.

Karl hatte eigentlich mit keinem der Nachbarn viel zu tun.

Dafür war er zu selten zu Hause, und er legte auch wenig Wert auf Kontakt. Doch Familie Schmidt – das war ein Kapitel für sich.

Der damalige Arbeitgeber von Herrn Schmidt, eine Farbenfabrik, war infolge der Inflation pleitegegangen und er selbst bereits seit Jahren arbeitslos. Seine Frau machte ihm deshalb regelmäßig Vorwürfe, er sei ein fauler Hund. Doch in seinem fortgeschrittenen Alter war es eben nicht einfach, eine neue feste Anstellung zu finden.

Daher begnügte er sich mit Gelegenheitsjobs oder als Tagelöhner. Die paar verdienten Kröten wurden nach Erhalt in seiner Stammkneipe sofort wieder ausgegeben. Immer wenn er danach total betrunken nach Hause kam, beschimpfte ihn seine Frau aufs Schlimmste. Und der Göttergatte ließ sich die Butter nicht vom Brot nehmen und brüllte zurück.

Die Streitereien waren dann im ganzen Gebäude zu hören. Auch vor gegenseitigen tätlichen Übergriffen schreckten die Eheleute nicht zurück.

Karl war nur einmal dazwischen gegangen, weil er der Frau beistehen wollte. Er hatte es als seine Pflicht angesehen, schließlich war er Polizist.

Doch am Ende gingen beide Nachbarn gemeinsam auf ihn los.

Er hatte sich daraufhin entschlossen, den Rückzug anzutreten und die beiden Streithähne sich selbst zu überlassen.

Sollten die sich doch gegenseitig die Köppe einschlagen.

Kaiser hatte es sich in der Zwischenzeit in seinem Pappkarton, der als Katzenschlafplatz diente, gemütlich gemacht.

Karl entledigte sich nach dem Toilettengang seiner restlichen Sachen, wickelte sich nackt in seine Bettdecke und schlief sofort ein.

Fünf

„Pass auf!!!!!“

Ein ohrenbetäubender Knall. Dreck spritzt auf.

Überall Blut, abgerissene Extremitäten.

Der Blick ist verschwommen.

Alles liegt nun wie in Nebel gehüllt.

Das schrille Klingeln im Ohr will einfach nicht verstummen.

„Soldat, Soldat, können Sie mich hören? Den hat es voll erwischt! Sani, pack mal hier an, der muss auf die Bahre. Los, los, los!“

Weiße Zeltplane, Schreie, Gestank.

Ein Frauengesicht mit weißer Haube beugt sich über ihn.

Die Dienstkluft hat Flecken.

Sie wirkt müde, freundlich, aber der Blick will sich nicht gänzlich schärfen.

„Können Sie mich hören? Sie sind schwer verwundet.“

Ihr Gesicht befindet sich nun direkt vor seinen Augen.

Erst sind es vereinzelte Tropfen, dann läuft Blut in Strömen aus Augen, Mund und Nase der Frau.

Von irgendwo dringt Musik an sein Ohr – Zarah Leander – Davon geht die Welt nicht unter.

„Tanzen Sie mit mir, Herr Panzergrenadier!“

Eine blasse, kalte Klaue ergreift seinen Arm, zerrt ihn nach oben und schleudert ihn durch das Lazarettzelt. Die Augen aufgerissen, sich nicht gewahr, was hier geschieht, stiert er die vermeintliche Krankenschwester an.

„Es ist unhöflich, wenn eine Dame den Herren auffordern muss. Ich bin sehr enttäuscht!“

Er meint, ein Lächeln erkennen zu können. Dann kippt der Kopf der Frau nach hinten weg und rollt über den gestampften Boden bis an die Zeltwand. Er hält nur noch blutverklebte Kittelfetzen in den Händen.

Wie er da so steht, ist plötzlich alles um ihn herum still. Nur ein Kratzen ist zu hören, als die Nadel am Tonabnehmerarm die Auslaufrille der Schellackplatte erreicht hat.

Karl wachte schweißgebadet mitten in der Nacht auf.

Letzte Bildfragmente hingen vor seinem inneren Auge.

Er betastete seinen Körper. Alles noch dran.

Dabei streiften seine Finger auch über den vernarbten rechten Unterarm. Die Haut war hier viel empfindlicher als an anderen Stellen, fast wie dünnstes Pergament. Zart, weich, verletzlich – und wetterfühlig.

Ein Andenken an Rumänien.

Sechs

An Schlaf war nach dem Albtraum nicht mehr zu denken.

Den Rest der Nacht verbrachte Karl damit, sich immer wieder hin und her zu wälzen, bis er es aufgab, sich anzog und einen Kaffee aufsetzte.

Auch Kaiser war wieder auf den Beinen. Zwar blinzelte der zunächst verwundert mit seinen bernsteinfarbenen Augen, streckte sich dann aber und folgte ihm in die Küche. Schließlich wollte jede Möglichkeit ausgenutzt sein, um an Futter zu gelangen. Karl kratzte die Kartoffelreste aus der Pfanne zusammen und stellte sie Kaiser hin. Noch ziemlich mitgenommen schlurfte er ins Bad und machte sich fertig für den Tag, während der Kater genussvoll die letzten Speisereste vom Teller schleckte.

Verschlafen blickte Karl in den Spiegel und betastete sein Kinn, auf dem schon wieder die ersten rauen Bartstoppeln sprossen.

Er griff zu seinem Etui mit dem Nassrasierer, denn von elektrischen Apparaten hielt er wenig. Vielleicht war das aber auch nur ein Überbleibsel seiner Erziehung, denn sein Vater war es, der ihm und seinem Bruder damals beigebracht hatte, wie sie den jugendlichen Flaum fachgerecht mit dem Barbiermesser entfernten.

Karl schnitt sich beim ersten Versuch eine ansehnliche Kerbe in die Lippe und auch Andreas hatte einige blutige Stellen davongetragen, die er im Nachgang mit etwas Spucke und Zeitungspapierstückchen verarztet hatte.

Andreas. Als wäre es gestern gewesen, schossen plötzlich Erinnerungen durch den Kopf. Karl kam gerade von der Schule, als er vor dem elterlichen Haus den Ortsgruppenleiter der NSDAP aus einem schwarzen Auto steigen sah. Seine Mutter hatte die Tür geöffnet und war beim Anblick des Mannes sichtlich zusammengezuckt. Ihr wurde ein Kuvert überreicht. Der Ortsgruppenleiter salutierte, murmelte etwas, das Karl nicht verstand, und ging zurück zu seinem Wagen. Karl rannte, wie er noch nie im Leben zuvor gerannt war.

Seine Mutter saß bereits wimmernd auf dem Treppenabsatz und knetete den Brief krampfend in ihren Händen. Er nahm ihr das Schriftstück ab.

Aus dem Umschlag glitten Feldpostbriefe und eine halbe Erkennungsmarke: 9. Jnf./F/Rgt. 243 – Nr. 76 0.

Er hatte dieses Stück Blech aufgehoben. Wie einen Schatz gehütet. Bis zum heutigen Tag. Die Plakette lag in einem Pappkarton ganz hinten links in seinem Kleiderschrank.

Auch ein Schreiben war in dem Kuvert. Zittrig entfaltete Karl das Papier. Er kannte noch immer jedes einzelne verdammte Wort:

Im Felde, den 18.5.1941

Sehr geehrter Herr Kron!

Am 12.5.41 fiel Ihr Sohn, der Soldat Andreas Kron, im Kampf um die Freiheit Großdeutschlands in soldatischer Pflichterfüllung. Zugleich im Namen seiner Kameraden, spreche ich Ihnen meine wärmste Anteilnahme aus. Die Gewissheit, dass Ihr Sohn nicht gelitten hat, möge Ihnen in dem schweren Leid Kraft geben und Ihnen ein Trost sein.

In aufrichtigem Mitgefühl grüße ich Sie mit Heil Hitler.

In den darauffolgenden Tagen schwirrte es im ganzen Haus, wie in einem Bienenstock. Nachbarn, Freunde, Bekannte und Verwandte, aber auch für Karl völlig fremde Personen sprachen ihm, seiner Schwester und den Eltern Beileidsbekundungen aus.

Alles hohle Phrasen. Was wussten die schon von seinem Bruder?

Und dann war da noch der Grabkranz mit Schleife, obwohl es kein Grab zum Trauern gab. Das alles prasselte auf Karl ein und widerte ihn als jungen Menschen an. Allem voran der Leichenschmaus.

Wie konnten die sich alle nur dickfellig ins elterliche Wohnzimmer setzen, reden, lachen und Kekse essen?

Am liebsten hätte er damals vor aller Augen das Blumengebinde, das prominent auf der großen Anrichte lag, durch das geschlossene Fenster geworfen. Ein letzter Gruß stand darauf – pah. Wir sehen uns, Andreas wäre für ihn damals ein viel treffenderer Trauerspruch gewesen.

Karl versuchte, die Gedanken an die Vergangenheit abzuschütteln, befeuchtete sein Gesicht mit einem Lappen, rührte mit dem Pinsel den Rasierschaum am Seifenstück an und verteilte ihn großzügig auf Hals, Wangen, Kinn und Oberlippe. Dann klappte er das Messer auf, legte seinen Zeigefinger oben auf den Erl, seinen Daumen darunter und den Mittelfinger auf die Angel. Die Klinge begann langsam an seinen Wangen hinabzugleiten. Die Bewegungen waren fast hypnotisch.

Rauf und runter.

Als er fertig war, wusch er die Schaumreste mit eiskaltem Wasser ab. Er beobachtete, wie sich im Spülbecken über dem Abguss ein kleiner Strudel aus Bartstoppeln und Seife bildete, sich mit ein paar Tränentropfen vermischte und dann verschwand.

Warum war es passiert? Wie war es passiert? Und wo genau war es passiert? Diese Fragen würden für immer unbeantwortet bleiben.

Seelenkrebs.

So nannte Karl derartige emotionale Rückfälle. Nur für und vor sich selbst, um seinem stillen Leid, an dem er niemanden teilhaben lassen wollte, einen Namen zu geben. Manchmal fragte er sich, ob etwas mit ihm nicht stimmte. Wie sieht Trauer eigentlich aus? Oder wie darf sie aussehen?

Wie trauert man richtig? Gibt es dafür überhaupt eine Norm?

Verwitweten wird ein offizielles Trauerjahr zugestanden, aber wie lange darf man um den geliebten Bruder trauern? Ist es jemals vorbei?

Auch diese Fragen vermochte er einfach nicht zu beantworten.

Karl schniefte. Er musste langsam los zur Arbeit, reinigte Pinsel und Rasiermesser gründlich, legte noch etwas Tarr-Aftershave auf … fertig.

Als er den Kopf hob, blickte ihn aus dem Spiegel wieder der unerschütterliche Kriminalkommissar Kron an.

Nach einem weiteren Kaffee und der obligatorischen Morgen-Zigarette nahm er die Schlüssel und verließ das Haus. Das alles waren Angewohnheiten, die Barbara zur Weißglut getrieben hatten.

„Karl, du musst doch etwas Gescheites essen. Karl, muss das sein? Karl, warum qualmst du die Küche voll, hier wird gekocht!“

Karl hier, Karl da, Karl dort. Er machte zehn Kreuze, dass dieses Gezeter ein Ende hatte. Kaiser sah ihm verständnislos nach und kehrte in seinen Karton zurück. Die Chance, heute noch bei Tageslicht herausgelassen zu werden, ging gen Null.

Sieben

„Meine Herren, vielen Dank für Ihr pünktliches Erscheinen. Bitte setzen Sie sich.“

Müller bot dem anwesenden Direktor des Präsidiums eilig einen Stuhl an.

,Dieser Molch. Vorauseilender Gehorsam und bei der Obrigkeit schleimen, aber nach unten treten‘, dachte sich Karl. ,Eigentlich hat sich seit der NS-Zeit nicht gerade viel verändert.‘

„Ruhe, bitte! Zunächst begrüße ich Direktor Doktor Emil Wunst, der wegen der Brisanz des Falles heute bei unserer Sitzung zugegen ist. Ich habe diese außerordentliche Dienstbesprechung einberufen, weil sich durch die gestern sichergestellten Spuren am Tatort und die Obduktionsergebnisse von Doktor Jansen bestätigt hat, dass wir es mit einem Serientäter zu tun haben. Beide noch unbekannten Opfer sind weiblich und zwischen 25 und 30 Jahren alt. Durch etliche Knochenbrüche, Stich- und Schnittverletzungen, wie auch durch massive stumpfe Gewalteinwirkung, trat der Tod nur langsam ein. Sexuelle Handlungen sind laut Aussage der Gerichtsmedizin nicht vorgenommen worden. Die Opfer wurden an Händen und Füßen gefesselt, geköpft und an Flaschenzugkonstruktionen unter der Decke hängend an den jeweiligen Tatorten aufgefunden. Dabei handelte es sich im gestrigen Fall um ein altes Bootshaus im Spandauer Norden, beim ersten Tatort um einen alten Schuppen in Gatow. An beiden Tatorten konnten Schellackplatten mit Kriegsschlagern sichergestellt werden. Es wird daher die Sondereinheit Strippenzieher gebildet, die mit dem Fall betraut wird. Sie wird aus Kriminalkommissar Karl Kron, Kommissaranwärter Heinz Sellin und den Schutzpolizisten Hans Geiger und Detlef Sauerfeldt bestehen. Jegliche Ermittlungsergebnisse sind mir unverzüglich mitzuteilen. Sie bekommen Einsatzfahrzeuge gestellt. Kommunikation mit der Presse erfolgt ausschließlich über mich. Noch Fragen?“

Einstimmig erklang im Saal: „Nein, Herr Kriminalrat Müller!“

Damit war die Sitzung beendet.

Die Ernennung Karls zum Sokoleiter war für alle insofern keine Überraschung, da Eberhard Müller, trotz seiner Abneigung gegen den Kriminalkommissar, ihm dessen Qualitäten als Ermittler nicht absprechen konnte. Die Brisanz des Falles und das Interesse allerhöchster Stellen, in Form von Direktor Wunst, übten zusätzlichen Erfolgsdruck auf den Kriminalrat aus. Aber nicht nur deshalb biss dieser in den für ihn sauren Apfel und übertrug Karl die Verantwortung – falls die Aufklärung nämlich scheiterte, könnte er seinem verhassten Kommissar die Schuld dafür in die Schuhe schieben, um damit seinen eigenen Posten zu retten.

Doch Karl ärgerte sich auf dem Weg in sein Büro aus ganz anderen Gründen über seinen Chef. Wieso musste er ihn ausgerechnet mit Hans Geiger zusammen in eine Soko stecken? Sie beide waren in der Vergangenheit immer wieder heftig aneinandergeraten. Geiger hatte Karl sogar schon mal um eine Beförderung gebracht – dieser aufgeblasene, intrigante, boshafte Tunichtgut. Normalerweise hätte solch ein kleines Licht schon längst seinen Hut bei der Polizei nehmen müssen. Wer jedoch den Kriminalrat höchstpersönlich hinter sich hatte, konnte sich eben mehr Schnitzer erlauben als die anderen. Aber Karl war nicht unvorbereitet …

Er wollte für den Fall der Fälle etwas gegen seinen Widersacher in petto haben. Wozu arbeitete der beste Freund schließlich bei der Sitte?

Und es sollte auch nicht lange dauern, bis seine Vorsicht belohnt wurde.

„Kriminalkommissar Kron. Was für eine Freude, wieder für Sie tätig sein zu dürfen. Als Chef unserer Einheit haben Sie mit Sicherheit schon eine Idee, wo wir mit unserer Arbeit beginnen wollen.“

Feist griente Hans Geiger Karl unverhohlen ins Gesicht, zog die Lippe hoch, bleckte die Zähne und nahm Haltung an.

Sellin und Sauerfeldt hatten gerade den Sitzungssaal verlassen und näherten sich dem Duo im Gang, waren jedoch noch außer Hörweite.

Karl lächelte zurück und beugte sich leicht vor: „Jetzt hör mir mal zu, Geiger. Ich bin Karl Julius Wilhelm Kron. Beginnend mit dem Namen des ersten Kaisers und endend mit dem des letzten. Leg dich nicht mit mir an, sonst lasse ich unserem Direktor eindeutige Beweise über pornografischen Besitz und Mitwirkung an der Erstellung von Schmuddelbildern zukommen. Und ich verspreche dir, dass dich selbst Müller dann nicht mehr retten kann. Also kooperiere oder stell dich auf deine unehrenhafte Entlassung ein.“

Geiger, der genau wusste, worauf Karl anspielte, entglitten die Gesichtszüge. Die Bilder von nackten, geknebelten Frauen in eindeutigen Posen waren alt, doch sie durften auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen, wenn ihm seine Karriere lieb war. Schließlich war es nicht gerade schwer, den jungen Komparsen zu identifizieren, der genau an den richtigen Stellen Hand anlegte.

Zähneknirschend kam ein „Jawohl, Herr Kriminalkommissar!“ über seine Lippen, als sich die restlichen beiden Mitglieder der Sonderheit gerade hinzugesellten.

„Na geht doch. Warum nicht gleich so, Herr Geiger? Wir beginnen mit der erneuten Recherche in den Vermisstenmeldungen, da es sonst noch keine Anhaltspunkte gibt, die zur Identifizierung der Toten beitragen könnten. Opfer führen bekanntermaßen zu einem Muster und das letztendlich zum Mörder. Gleichzeitig werden wir uns die Spuren vornehmen, die uns bereits vorliegen. Geiger und Sauerfeldt werden die Vermisstenanzeigen und auch die Fingerabdrücke mit den entsprechenden Karteien abgleichen, vielleicht finden Sie eine Übereinstimmung. Sellin, Sie übernehmen die am Tatort gefundenen Haarproben und lassen die mikros­ko­pisch untersuchen. Außerdem möchte ich, dass Sie mir säm­tliche Fälle, in denen es im Stadtgebiet zu Tiermisshandlungen oder -tötungen kam, vorlegen.“

Geiger begann, eine Katze zu imitieren und versuchte, eine angedeutete laszive Kratzbewegung mit einem geflüsterten „Miau“ zu untermalen.

„Verdammt, findest du das etwa lustig, Geiger? Es geht hier um Tötungsdelikte!“

„Darf man nicht mal ein bisschen Spaß bei der Arbeit haben? Haben doch sonst nichts zu lachen hier, Herr Kommissar.“

„Du bist echt das …“, begann Karl.

„Mit Verlaub, aber was haben denn Misshandlungen von Tieren mit unserem aktuellen Fall zu tun?“, fragte Sellin.

Die anderen setzten ebenfalls einen neugierigen Blick auf.

„Ist nur eine Vermutung, aber wenn jemand einen Menschen derart gewaltsam zu Tode bringt, dann hat er seine Schnittführung eventuell vorher an anderen Lebewesen perfektioniert. Ich werde mit dem Dienstfahrzeug diverse Waffengeschäfte abfahren, um mehr über die mögliche Tatwaffe zu erfahren. Antritt in meinem Büro heute fünf Uhr.“

Danach trennte sich die Gruppe, um die zugewiesenen Tätigkeiten aufzunehmen.

Geiger, der immer noch mit einer Zornesfalte vor sich hin stierte, wurde vom Kollegen Sauerfeldt abrupt aus seinen Gedanken gerissen: „Mensch Hans, was ist dir denn heute für eine Laus über die Leber gelaufen? Biste angefressen, weil du von Müller keine Leitungsaufgaben zugewiesen bekommen hast oder weil unser einsamer Wolf Kron jetzt das Sagen hat?“

Innerlich kochte Geiger immer noch: Wie konnte Kron es wagen, ihn zu erpressen? Er würde es diesem Verräter schon noch heimzahlen.

Blitzschnell setzte er ein Lächeln auf und wiegelte ab: „Ganz und gar nicht, habe nur nachgedacht. Diese Mordserie ist schon mysteriös. Komm, wir haben zu tun. Wollen unserem neuen Leiter doch zeigen, was gute Polizeiarbeit ist.“

Währenddessen holte Karl seinen Mantel und ging über den Hinterhof des Präsidiums, um das für die Soko bereitgestellte Polizeifahrzeug in Empfang zu nehmen.

Acht

Das Waffenarsenal Peters war ein enges, staubiges Kabuff, das selbst in einem Kettenraucher wie Karl den Wunsch erweckte, sämtliche Fenster aufzureißen.

Es war bestimmt der zehnte Laden, den Karl aufsuchte und seine letzte Station, bevor er zurück ins Präsidium fahren wollte, um die Ergebnisse dieser nervigen Untersuchung mit seiner Truppe zu besprechen.

Sämtliche Ladenbesitzer hatten sich als Spinner entpuppt, die meist angetrunken den ‚guten alten Zeiten‘ hinterhertrauerten und ihm nur irgendwelche Kriegsdevotionalien unterjubeln wollten. Karls Erwartungen hielten sich daher in Grenzen.

Ein kleiner, runzeliger Mann mit schütterem Haar und runden Brillengläsern schlurfte hinter den Tresen. „Womit kann ich dienen, mein Herr?“

„Kriminalpolizei. Ich suche nach einer Hieb- und Stichwaffe, die solch eine Verletzung herbeiführen kann.“

Karl zeigte ihm seinen Polizeiausweis, legte ein Schwarz-Weiß-Foto der Oberschenkelverletzung des letzten Opfers auf die Tresenplatte und tippte auf die dreieckige Einstichwunde.

Der ältliche Mann schob seine Brille höher auf die Nase und besah sich das Bild.

„Mhh, es gibt mehrere Messerarten, die eine solche Klingenform aufweisen. Es könnte ein Culter, Panzerstecher, Bajonett, Degen oder ein Grabendolch sein.“

Karl wurde hellhörig. Sollte er auf die letzten Meter doch noch einen kundigen Fachmann aufgetan haben?

„Entschuldigen Sie bitte, Herr Peters. Aber könnten Sie mir erklären, was ein Culter überhaupt ist?“

„Es ist ein römisches Opfermesser, das zum Ausbluten der Tiere verwendet wurde. Die Klinge ist allerdings leicht konkav, damit die Halsschlagader besser durchschnitten und die Opferung ohne Zwischenfälle vonstattengehen konnte. Die anderen Messerarten sollten Ihnen ja geläufig sein.“

„Warten Sie, ich habe noch ein weiteres Foto, auf dem die Einstichtiefe mit einem Messstab zu ersehen ist. Bei einem Culter ist die Klinge konkav, sagten Sie?“

Karl war nun hellwach und legte das zweite Bild auf den Tresen. So weit war er in keiner der vorherigen Befragungen gekommen, da bereits die erste Frage maximal unbefriedigend beantwortet worden war und somit weitere von vornherein sinnlos erschienen.

Peters besah sich auch dieses Foto genauestens, dann räusperte er sich. „Herr Kommissar, die Sache ist für mich klar. Anhand der Stichverletzungstiefe und der Stellung des Messstabs muss es sich um einen Grabendolch handeln. Der Stichkanal ist gerade und nicht gebogen. Der Culter fällt damit raus. Panzerstecher, Degen und Bajonett sind einfach zu lang und der Stichkanaldurchmesser wäre bei der angezeigten Schnitttiefe um einiges schmaler als auf dem Bild. Die Waffe in Ihrem Fall muss ein Grabendolch sein. Nur bei dieser Waffe stimmen alle drei Merkmale: Klingenschliff, -länge und -durchmesser überein. Wegen der ausgeprägten Rautenform tippe ich auf ein jüngeres Modell. SS oder NSKK.“

,Also hatte Doktor Jansen mit seiner ersten Vermutung doch recht‘, schoss es Karl in den Sinn.

„Vielen Dank, Herr Peters, Sie haben der Polizei Berlin einen großen Dienst erwiesen. Guten Tag.“

Karl tippte sich an seinen Hut und verließ das Geschäft.

Neun

Zurück im Präsidium steuerte Karl sofort sein Büro an.

Im Vorraum saß die ihm zugeteilte Sekretärin, Fräulein Schneider, ein schüchternes Mädchen, das mit seiner Mutter aus Ostpreußen geflohen war und zusammen mit anderen Flüchtlingen in einer der Nissenhütten am Stadtrand wohnte.

„Herr Kron, da sind Sie ja. Kriminalrat Müller hat bereits nach Ihnen gefragt. Er möchte umgehend über die Fortschritte der Soko informiert werden.“

„Wie soll ich Fortschritte machen, wenn ich ständig bei Müller im Büro sitze?“

„Es tut mir leid, Kommissar Kron, ich gebe nur die Anweisungen des Herrn Kriminalrat an Sie weiter.“

„Ist ja gut. Entschuldigung, Fräulein Schneider. Bitte seien Sie so gut und brühen Sie Kaffee auf, ja?“

„Selbstverständlich, Herr Kron.“ Sie eilte beflissentlich aus dem Büro, Richtung Flur. In ihrem grauen Bleistiftrock mit passendem Jackett und den hochgesteckten Haaren sah sie um einiges älter aus, als sie tatsächlich war.

Karl schaute auf die große Wanduhr: Kurz vor fünf, seine Kollegen müssten jeden Moment hier auftauchen. Tatsächlich klopfte es nur wenig später und Heinz Sellin steckte seinen Kopf durch die Tür.

„Dürfen wir eintreten, Kommissar Kron?“

„Sicher. Kommen Sie herein. Was sind Ihre aktuellen Erkenntnisse?“

Die Männer drängten in Karls enges Büro, dicht gefolgt von seiner Sekretärin, die jedem der Anwesenden eine Tasse Kaffee einschenkte und das Milchkännchen und die Zuckerdose in die Tischmitte stellte.

„Vielen Dank, Fräulein Schneider. Würden Sie bitte zu Block und Stift greifen, um zu stenografieren? Der Bericht muss der Fallakte beigelegt werden.“

„Sehr wohl, Herr Kron, einen Augenblick bitte.“

Mit roten Wangen holte sie ihren Stenoblock und setzte sich sittsam und still in die hintere Ecke des Raumes.

„Dann können wir ja beginnen. Sellin, Sie waren mit den Auswertungen der Haarproben vom Tatort und den Fällen zu Tierquälerei beauftragt. Was konnten Sie in Erfahrung bringen?“