Der Mentor - Svenja Diel - E-Book

Der Mentor E-Book

Svenja Diel

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Beschreibung

Der erste Fall für die Hauptermittler Jakob Krohn und Nova Winter: Packend, blutig und grausam! »Dieses Buch fesselte mich mit seinen vielschichtigen Perspektiven und gut ausgearbeiteten Charakteren von der ersten bis zur letzten Seite. Eine absolute Empfehlung für alle Thriller-Fans!« testestrella_glow Der Mentor sprach: Töte! Zwei Frauenleichen, regelrecht abgeschlachtet und im Wald verscharrt. Im Nacken tragen sie eingeritzt die Zahlen I und III. Von Leiche Nummer II fehlt jede Spur. Für den Heidelberger Kommissar Jakob Krohn eine absolute Ausnahmesituation. Hilfe verspricht er sich von einer Sondereinheit des LKA München, doch Fallanalytikerin Nova Winter ermittelt am liebsten im Alleingang. Die beiden müssen sich zusammenraufen, denn die Spur führt zu einem studentischen Geheimbund und einem grausamen Antagonisten, der gerade erst mit dem Töten begonnen hat … Wagen Sie den Blick ins abgrundtief Böse? »Svenja diel beherrscht ihr Handwerk perfekt bis ins Detail und das hat sie mit ihrem Schreibstil sowie der tollen Charakterzeichnung und genialen Idee bewiesen. Spannung pur, die wie im Fluge vergingen.« e_bibliothekar *** Absolute Suchtgefahr und ein Muss für alle Thriller-Fans, die es besonders brutal mögen! ***

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Der Mentor

Die Autorin

Svenja Diel, Jahrgang 1985, ist in Aschaffenburg aufgewachsen. In ihren Thrillern erschafft sie komplexe Charaktere, die einem so nahe kommen, dass man sie nicht mehr loslassen will. Sie lebt und arbeitet in Köln, wo sie u.a. für eine bekannte deutsche TV-Serie schreibt.

Das Buch

Zwei Frauenleichen, regelrecht abgeschlachtet und verscharrt im Wald. Im Nacken tragen sie eingeritzt die Zahlen I und III. Von der zweiten Leiche fehlt jede Spur. Für den Heidelberger Kommissar Jakob Krohn eine absolute Ausnahmesituation. Hilfe verspricht er sich von einer Sondereinheit des LKA München, doch Fallanalytikerin Nova Winter ermittelt am liebsten im Alleingang. Die beiden müssen sich zusammenraufen, denn die Spur führt zu einem geheimen Studentenbund und einem grausamen Antagonisten, der gerade erst mit dem Töten begonnen hat …

Svenja Diel

Der Mentor

Thriller

Ullstein

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© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, MünchenTitelabbildung: Arcangel Images / © David CheshireAutorinnenfoto: © Christoph KronsederE-Book-Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-8437-3044-0

Emojis werden bereitgestellt von openmoji.org unter der Lizenz CC BY-SA 4.0.

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 110

Kapitel 111

Kapitel 112

Kapitel 113

Kapitel 114

Kapitel 115

Kapitel 116

Kapitel 117

Kapitel 118

Kapitel 119

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Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 1

15. Februar 1989

Der Geruch war bereits aus der Wohnung in den Hausflur gekrochen und so intensiv, dass Friederike Meyland sich Nase und Mund mit dem Pulloverärmel zuhalten musste, um nicht zu würgen. Stumm ermahnte sie sich, sich nicht so anzustellen. Empfindlichkeit hatte in ihrem Beruf nichts verloren.

Als die Polizei die Tür aufbrach, schlug ihnen der Gestank ungebremst entgegen. Es roch sauer nach Erbrochenem und Urin, nach verschwitzter Kleidung und Wänden, die seit Jahren täglich Zigarettenrauch einatmeten. Friederike trat mit klopfendem Herzen ins Wohnzimmer, wo sie sofort wieder stehen blieb. Da war noch etwas anderes. Ein seltsamer Geruch, den sie nicht einordnen konnte. Er schlängelte sich langsam in den Vordergrund und brachte die feinen Härchen in ihrem Nacken zum Zittern.

Friederike drückte den Ärmel noch fester auf die Nase und sah sich um. Im Wohnzimmer herrschte Chaos. Klamotten bedeckten den Boden, türmten sich auf dem durchgesessenen Sofa. Auf dem Couchtisch schimmelte ein Laib Brot neben einer offenen Dose Katzenfutter. Leere Wein- und Wodkaflaschen überall: am Boden, auf der Couch neben der Wäsche. Ein halb voller Aschenbecher balancierte auf der Sofalehne.

Friederikes Schultern verkrampften sich. Sie hatte die Stelle beim Jugendamt Darmstadt erst seit drei Monaten, aber in diesem Sozialwohnungsblock hier war sie schon mehrfach gewesen. Und es war nie schön ausgegangen.

Diesmal hatte eine Nachbarin das Jugendamt verständigt, weil der Briefkasten von Zeitungen und Werbung überquoll und sie den kleinen Jungen, der hier angeblich wohnte, seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Von seiner Mutter ebenfalls keine Spur. Wie der Junge hieß, hatte sie nicht sagen können. Die junge Mutter hätte jeglichen Kontakt zu den Nachbarn gemieden.

Unter Friederikes Schuhen knirschte es, als sie in die Scherben einer zerbrochenen Weinflasche trat. Sie streifte die Sohle am Teppichboden ab, und bei dem Gedanken, dass hier ein kleiner Junge lebte, schnürte sich ihr Herz zusammen.

Im Flur hinten rechts gegenüber dem Bad lag das Schlafzimmer. Und dort wurde es jetzt hektisch. Plötzlich rauschten Funkgeräte, die Polizisten sprachen laut und in Codes.

Friederike folgte ihnen ins Schlafzimmer – und sah die Frau. Wahrscheinlich die Mutter des Jungen. Sie lag auf dem Rücken, den Kopf unter dem Bett, die Beine ausgestreckt auf dem Teppichboden. Ein verdrecktes weißes T-Shirt war ihr bis zum Bauchnabel hochgerutscht, darunter trug sie nichts als einen rosafarbenen Slip. Friederike erkannte sofort die dunklen punktförmigen Einstichstellen zwischen den Zehen und an den Fußgelenken. Im Bereich der Leiste wuchsen grünliche Flecken. Fäulnis, schoss es ihr durch den Kopf. Das war der Geruch. Tod. Leiche. Es war ihre erste. Während einer der Polizisten das Fenster aufriss und den Kopf hinausstreckte, spürte auch Friederike, wie ihr flau im Magen wurde. Schwarze Punkte taumelten in ihr Blickfeld.

Sie wankte einen Schritt zurück, als sie plötzlich die Bewegung unter der Bettdecke sah. Im Bruchteil einer Sekunde war ihr Geist wieder klar und ihr Blick scharf. Sie lief um das Bett herum, zog die Decke vorsichtig hoch. Darunter lag der Junge. Er hatte sich zu einem Päckchen eingerollt und hielt sich mit seinen kleinen Händen die Ohren zu. Seine Haare waren völlig verklebt, er trug nur eine dreckige Unterhose, und sein Gesicht war verschmiert von Nasenschleim. Als er sie sah, löste er die Hände von den Ohren und atmete einmal tief ein, als hätte er in seinem Versteck die Luft angehalten. Friederike beugte sich zu ihm runter. Er war höchstens zwei Jahre alt. Sie musste ihn so schnell wie möglich hier rausbringen. Wie lange hatte er hier neben seiner toten Mutter ausgeharrt? Zwei Tage? Länger?

»Hallo, du«, sagte sie vorsichtig und half ihm, sich aufzusetzen. Für einen Moment rührte er sich nicht, dann reckte er das Kinn zu ihr empor. Friederike hielt inne. In seinem Gesicht lag weder Angst noch Verwirrung. Er erwiderte ihren Blick selbstbewusst und sah sie mit seinen hellblauen Augen durchdringend an.

Kapitel 2

Dienstag, 18. Oktober 2022Tag 1 der Ermittlungen

Jakob Krohn würde niemals den Tag vergessen, an dem er Tim hatte sagen müssen, dass seine Mutter gestorben war.

Sie hatten nebeneinander im Auto gesessen. Tims große grüne Augen hatten sich geweitet und den Fokus verloren. Für einige Sekunden war er erstarrt, dann hatte er ein paarmal geblinzelt, ehe er Jakob flehend und ungläubig angesehen hatte.

»Das kann nicht sein, du verarschst mich. Sie war doch nur im Kino, wie kann denn …? Ich habe sie doch gestern noch gesehen, wir haben zusammen gegessen und …«

Dass sie nur Stunden später tot sein sollte, ging nicht in Tims Kopf.

Genauso wenig wie in Jakobs.

Das war jetzt sechs Monate her.

Ein halbes Jahr, und Lindas Tod war immer noch so unwirklich. An manchen Tagen weigerte sich sein Gehirn sogar komplett, den Gedanken zuzulassen, und gaukelte ihm vor, sie sei noch da. Dann hörte er im Hintergrund die Dusche rauschen, obwohl er allein zu Hause war, oder spürte nachts im Halbschlaf, wie sie sich an ihn schmiegte und ihre Wange an seinen Rücken legte.

Jakob trank seinen Kaffee an die Spüle gelehnt. Noch 15 Minuten, bis sie das Haus verlassen mussten, und Tims Frühstück stand immer noch unangetastet auf dem kleinen Tisch vor dem Küchenfenster: die Müslischale, ein großer Esslöffel rechts daneben. Die Packung Knusperflakes in der Mitte des Tisches, daneben die Hafermilch. In der bauchigen VfB-Stuttgart-Tasse dampfte Pfefferminztee.

Alles war haargenau so, wie Linda es all die Jahre arrangiert hatte. Er hatte nie bewusst darauf geachtet, und erst als sie nicht mehr da war, hatte er gemerkt, dass sich sein Verstand alles detailgenau eingeprägt hatte.

Wenigstens hier machte er also keine Fehler.

Er schenkte sich Kaffee nach und trat mit der Tasse in den Flur.

»Tim? Dein Frühstück! Leg mal einen Zahn zu!« Oben wurde eine Zimmertür zugeworfen. Zumindest lag er nicht mehr im Bett.

Zurück in der Küche fiel Jakobs Blick durch das Fenster in den Garten mit den alten Buchen und Birken. Das Unwetter der letzten Nacht hatte Zweige und dünne Äste abgerissen, die jetzt im nassen Gras lagen. Nichts im Vergleich zu der Katastrophe im Keller … Jakob schob die unangenehme Erinnerung weg. Um den Garten würde er sich am Wochenende kümmern. Noch für einen Augenblick betrachtete er die jüngste der Birken, die sie vor fünf Jahren zu Lindas Geburtstag gepflanzt hatten, weil sie fand, dass man nie genug Bäume im Garten haben konnte. Dann fegte eine Böe hindurch und ließ buntes Herbstlaub zu Boden rieseln wie Schnee.

War es wirklich schon sechs Monate her, dass Linda nicht nach Hause gekommen war? Jakob wollte die Gedanken wegdrücken, aber heute schaffte er es nicht. An besagtem Abend war Linda mit ihren Freundinnen unterwegs gewesen. Erst Kino, dann Kneipe, so wie an jedem ersten Dienstag im Monat.

»Bleib nicht auf«, hatte sie zu ihm gesagt, als sie sich mit einem flüchtigen Kuss von ihm verabschiedet hatte. »Es wird sicher spät …«

»Nicht so schnell!«, hatte er protestiert und sie in eine feste Umarmung gezogen. Ihre letzte.

Er war gegen Mitternacht ins Bett gegangen und in tiefen Schlaf gefallen. Normalerweise wachte er mindestens einmal in der Nacht auf. Aber diesmal nicht. Und so hatte er nicht gemerkt, wie die Stunden der Nacht verstrichen waren, ohne dass Linda nach Hause gekommen war. Am nächsten Morgen war ihre Seite des Betts unbenutzt gewesen.

Jakob hatte sofort ein ungutes Gefühl, ließ sich das vor Tim aber nicht anmerken. Der Junge ging in die Schule, und er fing an, Lindas Freundinnen abzutelefonieren. Die Runde hatte sich kurz nach eins aufgelöst, und Linda war in ihr Auto gestiegen, das sie im Parkhaus der Unibibliothek abgestellt hatte. Sie hatte nichts getrunken.

Er rief seine Kollegen bei der Polizei an, und drei Stunden später standen zwei Beamte in Uniform vor seiner Tür.

Verkehrte Welt.

Normalerweise war er es, der an Türen klingelte und traurige Nachrichten überbrachte. Was nicht einfacher wurde, egal, wie oft man es tat oder wie viele Trainings man absolvierte.

An diesem Morgen stand er auf der anderen Seite – und hätte alles darum gegeben, zu tauschen.

In der Nacht hatte es geregnet.

Linda war mit ihrem Auto auf dem Heimweg von der Spur abgekommen und auf der Landstraße gegen einen Brückenpfeiler geknallt. Wahrscheinlich Sekundenschlaf. Sie war sofort tot.

Jakob war zu Tims Schule gefahren und hatte ihn aus dem Unterricht holen lassen. Er wollte mit ihm nach Hause fahren und ihm dort in Ruhe alles erzählen.

Aber Tim war nicht blöd. Der Vierzehnjährige wusste in dem Moment, als er aus dem Schulgebäude trat, dass etwas Schlimmes passiert war.

Im Auto sah er ihn voller Sorge an.

»Was ist los?«

Jakob hatte seine Hände zu Fäusten geballt, damit sie aufhörten zu zittern.

Er hatte in seiner Ausbildung gelernt, solche Nachrichten zu überbringen. Aber in diesem Moment fühlte er sich völlig unvorbereitet und auch – unzulänglich.

Wie sollte er diesem Jungen, der seine Mutter so sehr liebte, in dieser Situation gerecht werden?

Tim war nicht sein leiblicher Sohn, und sie hatten eine Zeit gebraucht, um sich aneinander zu gewöhnen. Jakob hatte Linda ein halbes Jahr nach der Scheidung von Tims Vater kennengelernt. Tim war damals sechs Jahre alt gewesen und nicht begeistert vom neuen Partner seiner Mutter. Aber dann hatten sie sich doch angefreundet, und als sein leiblicher Vater in die USA ausgewandert war, hatte er ihn sogar adoptiert. Seither war er Tims zweiter Papa.

Seit Lindas Tod gab Jakob sein Bestes, um für Tim so da zu sein, wie er es brauchte. Was nicht besonders gut lief, wenn er ehrlich war.

Vor allem wenn sie stritten, machte Tim keinen Hehl daraus, wie sehr er seine Mutter vermisste und wie viel lieber er sie an seiner Seite hätte – statt ihm.

Jakob sah auf die Uhr. Wenn Tim sich nicht in zehn Minuten auf sei Fahrrad schwang, würde er zu spät zur Schule kommen. Er trat erneut in den Flur und rief die Treppe hinauf.

»Tim?«

Keine Antwort. Stattdessen drang jetzt ein leises Summen an sein Ohr.

Jakob folgte dem immer lauter werdenden Geräusch die Treppe hinauf, bis er vor Tims Zimmertür stand.

Er klopfte an, und als sich nichts rührte, trat er ein.

Tim saß mit einem Fön in der Hand im Schneidersitz auf dem Boden. Um ihn herum verteilt wellige Zettel und Papiere. Zu seiner Rechten türmte sich ein Bücherstapel auf. Dicke Lexika, aus denen Papierecken und -kanten herauslugten.

Tim strich mit der linken Hand konzentriert ein Blatt Papier glatt und richtete mit der rechten den warmen Luftstrom darauf. Als er Jakob bemerkte, warf er ihm einen scharfen Blick zu.

»Kannst du nicht anklopfen?« Er schaltete den Fön aus und strich sich mit der anderen Hand eine schwarze, vom Duschen noch feuchte Haarsträhne aus der Stirn.

»Hab ich. Was machst du da, sind das …?«

»Ja, das sind Mamas Unterlagen. Ein paar sind total im Eimer, aber die meisten kann ich retten.«

Jakob spürte seine Schultern sinken.

Gestern Abend hatte es gegen 20 Uhr angefangen, wie aus Eimern zu gießen. Und es hatte nicht mehr aufgehört. Jakob konnte sich nicht erinnern, wann er in Heidelberg schon einmal so einen gewaltigen Sturzregen erlebt hatte. Die Straßen waren innerhalb einer Stunde überschwemmt, er konnte von seinem Küchenfester aus nicht mal mehr die Garage sehen, und der Garten verwandelte sich in eine Sumpflandschaft. Unvorstellbare Mengen Wasser waren vom Himmel über sie hereingebrochen und konnten nirgendwohin abfließen.

Der Keller lief voll. Wasser drang in den Abstellraum, in dem die Kartons und Kisten mit Lindas Habseligkeiten standen. Jakob hatte es nicht mehr ertragen, dass ihm jedes Mal, wenn er den Schrank öffnete, ihr Parfum entgegenwehte, und hatte ihre Kleidung im Keller verstaut. Ebenso ihre Notizbücher und Arbeitsunterlagen.

Tim war von Anfang an dagegen gewesen, aber Jakob hatte sich durchgesetzt.

Gestern Nacht hatten sie zusammen im knöcheltiefen Wasser gestanden, hatten Lindas Besitztümer in Sicherheit gebracht und Wasser geschippt, als es endlich aufgehört hatte zu regnen.

Tim hatte kein Wort mit ihm gesprochen.

Jetzt steckte er das getrocknete Blatt Papier in eines der Lexika und beschwerte es mit anderen Büchern.

»Du hast noch nicht gefrühstückt und solltest gleich los zur Schule«, sagte Jakob und erwartete einen schnippischen Einwand à la »Klar, dass dir Mamas Sachen egal sind«, aber so kam es nicht.

»Ich brauche noch zehn Minuten. Kannst du mich vielleicht fahren?«

Jakob war überrascht. Er nickte Tim zu und wollte ihm gerade seine Hilfe anbieten, da rauschte der Fön schon wieder.

Als er Tim eine halbe Stunde später ins Schulgebäude verschwinden sah, spürte er eine leise Hoffnung für sich und den Jungen. Vielleicht würde ja doch bald wieder so etwas wie Normalität zwischen ihnen einkehren. Blutsverwandt oder nicht, Tim war sein Sohn. Und er wollte ihn nicht mehr missen.

Das Klingeln seines Handys riss Jakob aus den Gedanken. Es war seine Kollegin Yeliz Demir. Sie sprach ruhig, aber er hörte die Anspannung in ihrer Stimme.

»Jakob, wir haben die Leiche von Fiona Keller gefunden.« Sie machte eine kurze Pause. »Und sie ist nicht die einzige …«

Kapitel 3

Als Jakob eine halbe Stunde später aus dem Auto stieg, sanken seine Gummistiefel zwei Finger breit in den Boden ein. Auch hier, am Westrand des Odenwalds, hatte das Unwetter seine Spuren hinterlassen und den Waldweg in einen schlammigen Trampelpfad verwandelt.

Seine Stiefel lösten sich mit einem lauten Schmatzen vom Untergrund, als Jakob auf Yeliz zuging, die an ihr Auto gelehnt auf ihn wartete. Sie war ganz in ihr Handy vertieft, die schwarzen Locken fielen ihr in die Stirn und verdeckten ihre Augen, der Daumen wischte wie ein Scheibenwischer in regelmäßigen Abständen über das Display. Yeliz war 36, fand sich auf Instagram und TikTok aber zurecht wie eine Sechzehnjährige. Sie war immer auf dem neuesten Stand und der Überzeugung, dass sie durch die sozialen Medien schwimmen musste wie ein Fisch im Wasser, wenn sie die Welt und Denkweise der jüngeren Generationen verstehen wollte.

Yeliz blickte auf und zog ihre kurz geschnittene Lederjacke zurecht. Sie war mindestens einen Kopf kleiner als er.

»Na endlich«, sagte sie und ließ ihr Handy in ihrer Tasche verschwinden, nur um mit demselben Handgriff etwas herauszuholen, das in Butterbrotpapier gewickelt war. Sie reichte es ihm.

»Hier, von Elli. Ich hab sie eben noch zur Schule gebracht. Sie ist ab heute Mittag wieder bei ihrem Vater. Als sie beim Frühstück gehört hat, dass ich dich heute sehe, hat sie darauf bestanden, dass du auch ein Pausenbrot bekommst.«

Jakob sah Yeliz von der Seite an. Sie wusste, dass es heute sechs Monate her war.

»Du musst mir keine Brote schmieren, Yeliz«, sagte er, aber die hob abwehrend die Hände.

»Wie gesagt – nicht meine Idee.« Sie machte eine Pause. »Ich kann Elli natürlich sagen, dass du ihr Käsebrot nicht wolltest …«

Jakob schnappte Yeliz das Brot aus der Hand. »Auf keinen Fall. Deine Tochter als Feindin kann ich mir nicht leisten. Sag ihr Danke von mir.«

Yeliz konnte sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. »Richte ich aus.«

Sie liefen in den Wald hinein, den Weg entlang auf das rot-weiße Absperrband zu. Als sie darunter hindurchschlüpften, wechselten sie in den Job-Modus.

»Fiona Keller also«, begann Jakob. »Dass sie verschwunden ist, ist jetzt etwa sechs Monate her.«

»Sieben«, korrigierte Yeliz. »Ich habe gerade noch einmal die Details nachgesehen. Sie ist am 11. März, einem Freitag, nach ihrer Schicht im Saphirblau nicht nach Hause gekommen. Die Studentenkneipe in der Altstadt, du weißt …«

Jakob erinnerte sich noch gut daran. Sie hatten mit einem Großaufgebot nach Fiona gesucht, hatten Hundertschaften mit Spürhunden losgeschickt, die die Umgebung Heidelbergs unermüdlich durchkämmt hatten. Daneben hatten sich in der Bevölkerung eigene Suchtrupps gebildet. Eine Gruppe Studierender war immer und immer wieder losgezogen, hatte Flugblätter verteilt. Fionas Vermisstenfoto klebte noch heute an jedem zweiten Laternenpfahl in der Stadt.

Vor Jakob verließ Yeliz den Weg und trat ins Unterholz.

Links fiel der Wald steil ab. Auf dieser Seite standen nur noch vereinzelt Bäume. Viele davon tote Fichten, die zum Großteil schon abgeholzt waren.

Etwa zwanzig Meter weiter unten suchten die Kollegen der Spurensicherung ein Areal so groß wie ein Fußballfeld ab.

»Durch den starken Regen sind ganze Erdteile abgerutscht«, fuhr Yeliz fort. »Der Förster war heute Morgen hier, um sich ein Bild von der Lage zu machen, und hat Fiona gefunden. Ein Bein hat aus der Erde herausgeschaut. Und jetzt ist eine zweite Leiche aufgetaucht. Noch eine junge Frau. Sieht aus, als hätte das Unwetter ihre Gräber freigelegt.«

Während Jakob konzentriert einen Fuß vor den anderen setzte, um beim Abstieg nicht abzurutschen, ging Yeliz mit großen Schritten voraus.

»Die Spurensicherung ist schon durch mit den Leichen. Professor Henning untersucht sie gerade.«

Yeliz war einige Meter weiter stehen geblieben und wartete auf ihn. Er kletterte die letzten Meter hinunter und hob dann den Blick, den er beim Abstieg an den Boden geheftet hatte.

Als er die Leichen aus der Nähe sah, musste er ein paarmal durchatmen, um das flaue Gefühl im Magen zu betäuben. In seinen nunmehr zehn Jahren im Dezernat für Kapitalverbrechen der Heidelberger Kriminaldirektion hatte er Dutzende Mordfälle untersucht. Er hatte Frauen gesehen, die von ihren Männern zu Tode geprügelt worden waren, mit eingeschlagenen Schädeln und bis zur Unkenntlichkeit zerschundenen Gesichtern. Er hatte den Mord an einer siebzehnjährigen Prostituierten untersucht, die in einem Hotelzimmer sexuell missbraucht und danach mit einem Kopfschuss hingerichtet worden war. Trotzdem – und das hatte er erst im Laufe der Jahre verstanden: Egal, wie viel er sah – nichts konnte ihn auf den nächsten Fall vorbereiten.

Die toten Mädchen lagen nackt nebeneinander auf einer großen dunkelblauen Plane. Die Haut war blass und zeigte keine Anzeichen von Verwesung, keine Fäulnis, nichts. Wie zwei ausgemusterte Wachsfiguren, die Körper mit Erde und Laub beschmutzt.

Links musste Fiona sein. Ihr klebten die hellbraunen Haarsträhnen wirr an Stirn und Wange. Halb geöffnete Augen starrten trüb in den grauen Himmel.

Das andere Mädchen hatte dunklere kurze Haare. Sie trug ein Nasenpiercing, und ihr Kopf war zur Seite geneigt, als wolle sie ihn auf Fionas Schulter ablegen.

Jakob betrachtete noch einen Moment die Gesichter der beiden, ehe er tiefer blickte.

Brustkörbe und Bäuche waren von Einstichen übersät, zum Teil waren Haut und Fleisch herausgerissen. Der Anblick zog ihm die Kehle zusammen. Diese Mädchen waren regelrecht abgeschlachtet worden. Er schloss zu Yeliz auf. Wie gewöhnlich schien sie derartige Anblicke besser wegzustecken als er.

»Hier, sie ist es wirklich.«

Yeliz hielt Jakob das Display ihres Handys hin. Ein Instagram-Post, mit dem nach Fiona gesucht worden war. Das Foto zeigte eine junge Frau mit schulterlangen hellbraunen Locken und Sommersprossen auf den Wangen. Sie trug ein schwarzes Tanktop und eine enge Halskette mit einem Anhänger – dem Buchstaben F. Sie lehnte hinter einem Tresen und lächelte breit. Jakob sah von dem Foto zu der toten jungen Frau. Es bestand kein Zweifel.

Neben ihm wandte sich Yeliz an Professor Henning. »Zwei Fettwachsleichen also.«

Die Rechtsmedizinerin, die eben noch vor der Dunkelhaarigen gehockt hatte, drehte den Kopf und blitzte sie mit ihren hellen wachen Augen an. Sie trug eine große Brille mit dickem weinrotem Rahmen, die silbergrauen Haare hatte sie zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden. »Sie sind gut, Frau Demir, Sie sollten sich auf meinen Job bewerben.«

Sie gab sich keine Mühe, den Sarkasmus in ihrer Stimme zu verbergen, stand langsam auf und nickte Jakob kurz zu. Was nichts zu bedeuten hatte. Von ihm hielt sie genauso wenig wie von Yeliz. Nicht, weil sie keine guten Ermittler waren. Aber sie befanden sich ganz klar außerhalb ihrer Blase.

Der Blase der Wissenschaft.

Prof. Dr. Greta Henning war seit zwölf Jahren Chefin der Heidelberger Rechtsmedizin. Unter ihren Mitarbeitern galt sie als äußerst streng, und Jakob wusste, dass sie nicht nur einen Anwärter auf ihren Stuhl vorzeitig abgesägt hatte. Sie war die Beste. Und würde sich so schnell nicht vom Thron stoßen lassen.

Mit spitzen Fingern zog sie ihren Mund-Nasen-Schutz herunter und atmete einmal tief durch. »Aber der Reihe nach: Wir haben hier zwei Frauen, ungefähr im gleichen Alter, schätzungsweise zwischen achtzehn und Mitte zwanzig. Beide weisen zahlreiche Stich- und Schnittverletzungen am Torso auf.«

Jakob betrachtete erneut Bäuche und Brustkörbe der Leichen. Auf Anhieb zählte er jeweils mindestens zwanzig Stiche. An manchen Stellen waren die Wundränder aufgerissen und ausgefranst. Ganze Hautlappen und Fleischstücke fehlten.

»Wir haben Stiche in unterschiedlichen Größen«, fuhr Professor Henning sachlich fort. »Vermutlich wurde mit dem Stichwerkzeug, wahrscheinlich einem Messer, unterschiedlich tief gestochen.«

Sie ging in die Hocke und drehte Fionas Hände um. Schnittverletzungen in den Handflächen. Eine besonders tiefe zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Abwehrverletzung«, kommentierte sie. »Sie hat versucht, sich gegen das Messer zu wehren …«

Jakob hörte konzentriert zu, sah vor seinem geistigen Auge, wie Fiona die Arme vors Gesicht schlang, wie sie versuchte, sich zu schützen und den Angreifer von sich wegzutreiben. Dabei erwischt sie das Messer. Die Klinge fährt durch ihre Handfläche. Ratsch. Blut quillt aus dem Schnitt hervor.

»Und jetzt zu Ihrer Vermutung, Frau Demir. In der Tat handelt es sich hier um zwei Fettwachsleichen. Der feuchte und lehmige Waldboden hat dafür gesorgt, dass sie nicht verwest sind. Normalerweise sorgen körpereigene Enzyme dafür, dass sich ein Leichnam zersetzt. Das geht aber nicht ohne Sauerstoff. Kälte und Sauerstoffmangel stoppen die Aktivität der Enzyme und verhindern, dass die körpereigenen Fettsäuren abgebaut werden. Nach etwa einem Monat verseift das Fett unter der Haut und um die Organe herum, und im Zuge einer chemischen Reaktion entstehen freie Fettsäuren und Glycerin. Im Klartext: Es bildet sich ein Fettpanzer, der sich kaum noch verändert.«

»Das heißt, sie lagen mindestens einen Monat hier vergraben«, folgerte Jakob.

Professor Henning schüttelte den Kopf.

»Die liegen schon länger. Es kann Monate bis Jahre dauern, bis die Umwandlung der Fette komplett abgeschlossen ist.«

Jakob deutete auf Fiona. »Sie ist vor sieben Monaten verschwunden.«

»Ja, das könnte hinkommen. Bei der anderen ist der Prozess noch nicht so weit fortgeschritten, würde ich sagen. Ist aber schwierig zu beurteilen.«

In Jakobs Kopf rasten die Gedanken.

»Wurden die beiden eigentlich nebeneinander gefunden?«

Professor Henning deutete auf eine tote Fichte etwa vier Meter entfernt. »Nicht direkt nebeneinander. Die Kurzhaarige lag dort drüben.«

Jakob sah sich um. Die Frauen wurden womöglich zu unterschiedlichen Zeiten getötet, wiesen aber die gleichen Verletzungen auf. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass hier noch weitere Frauen begraben lagen?

Yeliz fing seinen Blick auf. Sie dachte dasselbe wie er. Im nächsten Moment hatte sie das Handy am Ohr und forderte Leichenspürhunde an.

»Und es wurden keine persönlichen Gegenstände bei den Leichen gefunden?«, fragte Jakob unterdessen.

Professor Henning schüttelte den Kopf. Sie hatte sich wieder der Schwarzhaarigen zugewandt und machte sich Notizen auf ihrem Tablet. »Sie waren beide nackt, und soweit ich weiß, haben die Kollegen bisher nichts Weiteres gefunden.«

Jakob wandte sich an Yeliz, die noch immer telefonierte. »Die sollen außerdem schon mal die Vermisstenmeldungen der letzten Wochen und Monate durchgehen«, sagte er. »Ich erinnere mich, dass kurz nach Fiona noch ein zweites Mädchen verschwunden ist. Anna Menden.« Er warf einen kurzen Blick zurück zu der Dunkelhaarigen. »Das ist sie meines Erachtens nicht, aber …«

Yeliz nickte ihm zu, und während sie sich ein paar Schritte entfernte, betrachtete Jakob die dreckigen, geschundenen Körper der jungen Frauen, die zwischen den Bäumen lagen wie erlegtes Wild.

Jemand hatte sie abgeschlachtet und dann hier verscharrt. Tief genug, damit die Wildschweine, Dachse und Füchse sie nicht ausbuddelten und fraßen. Der Anblick machte Jakob fertig. Aber er zwang sich, weiter hinzusehen, und in ihm fing die Wut an zu brodeln.

Kapitel 4

11. März 2022Sieben Monate zuvor

Zuerst spürte er den kühlen Luftzug im Nacken, dann sah er die Bewegung im Augenwinkel. Der Jäger drehte sich um, und da war sie: die weiße Füchsin. Sie schlüpfte durch den Eingang und blickte sich zögernd um. Für ein, zwei Atemzüge froren ihre Bewegungen ein. Dann neigte sie den Kopf. Sie ließ die Atmosphäre auf sich wirken, nahm sie in sich auf, ehe sie sich wieder in Bewegung setzte und mit leisen, vorsichtigen Schritten den Raum durchquerte.

Im nächsten Moment hielt sie ein Glas Champagner in der Hand.

Der Jäger näherte sich ihr langsam und unauffällig. Er wollte sie sich ganz genau ansehen, sie dabei aber nicht verschrecken. Also blieb er in einigem Abstand stehen und senkte den Blick.

Sie war ganz in Weiß gekleidet. Ihre Füße steckten in Stilettos mit hoher Schnürung um die schmalen Knöchel. Das Cocktailkleid reichte bis zur Mitte der Oberschenkel. Als sie ein paar Schritte ging, beinahe stolzierte, warf das Kerzenlicht flackernde Schatten auf ihre Haut. Seine Finger sehnten sich danach, sie zu berühren. Wie zart und warm sie sich anfühlen musste …

Sein Blick wanderte höher, über ihre geschwungenen Hüften, die Brust und in ihr Dekolleté, in dem eine filigrane silberne Kette lag. Ein Anhänger mit dem Buchstaben F.

Der Anfangsbuchstabe ihres Namens? Der Jäger ließ die Frage los. Ihr Name interessierte ihn nicht im Geringsten. Was ihn viel mehr interessierte, waren ihre nackten Schultern und ihre haselnussbraunen Haare, die in sanften Wellen darüber fielen.

Sein Blick streifte ihr Kinn, ihre Unterlippe. Der Rest ihres Gesichts, Nase, Augen, die Stirn, wurde von einer hellen Maske verdeckt.

Die Maske der weißen Füchsin war die schönste, die er bisher gesehen hatte. Vermutlich Handarbeit, gefertigt aus echten weißen Gänsefedern – und zwei prächtigen braun gefleckten Fasanenfedern für die Fuchsohren.

Sie erzitterten, als ein erneuter Windzug durch den Raum wehte. Eine Gänsehaut überzog die Unterarme der Füchsin und stellte die feinen Härchen auf, obwohl der Kamin die Temperatur konstant auf über 23 Grad hielt.

Als er an ihr vorbeiging, atmete er ihren Duft ein. Ihre Haare rochen nach Zitrone und Rosmarin, ihre Haut warm und salzig – nach Aufregung, nach Lust auf Gefahr.

Der Jäger entfernte sich noch zwei, drei Schritte, ehe er sich an die Wand lehnte und sie wieder aus der Ferne betrachtete. Ab jetzt würde er sie nicht mehr aus den Augen lassen. Die weiße Füchsin gehörte ihm.

Es dauerte nicht lang, da hatte sie ihn bemerkt und sah ihn durch die Augenöffnungen der Maske durchdringend an. Sie gab ihm recht. Sie wusste es auch.

Und sie war ein wildes Biest. Zwei Stunden später schlug sie ihre Krallen in seinen nackten Rücken. Er schrie auf vor Schmerz und Lust. Zog sie noch dichter an sich, spürte ihren heißen Atem an der Seite seines Halses und ihren rasenden Herzschlag an seiner Brust.

Er hielt einen Moment inne, ließ sie los und legte eine Hand um ihren Hals. Sie stöhnte auf, ihre Mundwinkel zuckten nach oben. Das gefiel ihr. Er drückte zu. Erst leicht, dann immer fester, bis er das Pochen ihrer Halsschlagader in der Handfläche spürte.

Ihre Augen wurden groß.

»Hey!«, der Protest kam gepresst aus ihrem Mund, in ihren Augen flammte Panik auf. Gleich würden die ersten feinen Äderchen in ihren Augen platzen.

Der Jäger erwiderte ihren Blick starr. Er konnte jetzt nicht mehr zurück.

Als er ihren Hals fester zudrückte, begann das Blut in seinen Ohren zu rauschen. Sein eigener Herzschlag wurde immer lauter, immer schneller, schlug kraftvoll bis in die Kehle hinein.

Die Füchsin wand sich unter seinem Griff, ruderte mit den Armen und strampelte, um sich zu befreien. Er beschloss, ihr diesen kurzen Moment der Hoffnung zu gönnen, und ließ von ihr ab, nur um sie im nächsten Augenblick vom Tisch zu schleudern. Auf dem Boden krümmte sie sich zusammen und japste nach Luft wie ein Fisch, den man an Land geworfen hatte.

Der Jäger kniete sich über sie, ein Knie in den Bauch, eins auf die Brust. Es knackte. Luft entwich. Sie keuchte. Dann drückte er ihre heißen Schultern in den Boden. Sie warf den Kopf hin und her. Ihre Lippen bewegten sich hektisch, aber er hörte nicht, was sie sagte. Oder schrie. Er hörte nur seinen eigenen immer schneller werdenden Atem – und packte wieder ihren Hals, knallte ihren Kopf auf den Boden. Nicht genug. Er wollte mehr, er musste …

Und sein Hunger brannte jetzt nicht mehr nur in ihm. Er spürte die Energie der anderen. Sie wollten dasselbe. Sein Verlangen schwappte wie eine Welle durch den Raum und erfasste ihn von außen erneut und mit voller Wucht, erfüllte ihn mit Hitze und Unruhe.

Das Messer lag in seiner Hand, als wäre es schon immer da gewesen. Er drehte das Handgelenk und stach zu.

Er rammte der Füchsin das Messer in den nackten Bauch. Mit einer schnellen Bewegung durchbrach die Spitze die Haut. Dann schob er die Klinge fast wie in Zeitlupe rein, durchbrach das Gewebe, die oberen Muskelschichten.

Langsam zog er es raus.

Sofort quoll Blut aus der Wunde, und eine Welle der Erfüllung übermannte ihn. Sein Herz wollte explodieren.

Die Füchsin wand sich unter ihm, versuchte sich aufzubäumen.

Er stach noch einmal zu. Und noch einmal. In den Bauch und in die Brust. Neben ihm zückte jemand ein zweites Messer und traf den Körper in die Seite und tief in den Oberschenkel. Der andere musste den Griff mit beiden Händen packen, um die Schneide wieder aus dem Muskel zu ziehen. Blut quoll aus dem Schnitt, und vor den Augen des Jägers verschwammen ihre Bewegungen.

Als er wieder zu sich kam, hörte die Füchsin auf zu zucken, und ihre Glieder entspannten sich. Das Blut floss strahlend rot über ihre zarte Haut und sammelte sich neben und unter ihr in einer glänzenden Pfütze.

Der Jäger ließ sich neben der Füchsin nieder und berührte ihren warmen, weichen Körper.

Als er den Blick hob, sah er in das Gesicht des Mannes, der ihn hergebracht hatte.

Er lächelte.

Kapitel 5

Dienstag, 18. Oktober 2022Tag 1 der Ermittlungen

Die Frau duckte sich unter dem Absperrband hindurch und begann zu rennen, als Jakob mit Yeliz aus dem Unterholz auf den Waldweg trat.

»Passt da vorne denn keiner auf?«, ärgerte sich Jakob und ging ihr mit großen Schritten entgegen. Yeliz folgte ihm. Als die Frau nah genug war, sah er die Verzweiflung in ihrem Gesicht und die rot geweinten Augen. O nein. Wenn das eine Mutter …

»Ist meine Anna hier?«, rief sie ihnen entgegen und bestätigte Jakobs Vermutung. Ihre Stimme brach. »Meine Tochter. Haben Sie sie gefunden? Bitte, ich muss sie sehen!«

Es war die Mutter der verschwundenen Anna Menden.

Ohne seine Antwort abzuwarten, wollte sie sich an ihm vorbeidrängen. Aber Jakob hielt sie fest.

»Moment, Sie können hier nicht einfach so durch.«

Die Frau blieb stehen und hielt ihm ein Foto hin, das schon durch viele Hände gegangen war. »Das ist sie.«

Ihr Blick sprang nervös zwischen ihm und Yeliz hin und her.

Es war ein Porträtfoto, aufgenommen wahrscheinlich im Urlaub. Das Mädchen hatte grüne Augen, lange rote Haare und einen Pony. Ihre Wangen waren gerötet von der Sonne, ihre Unterlippe gepierct.

»Ich muss wissen, ob sie die junge Frau von dem Foto ist … oder eine der anderen!«, riss die Mutter ihn aus seinen Gedanken.

»Welches Foto?«, sprach Yeliz Jakobs Gedanken aus.

Die Frau fummelte ein Handy aus ihrer Tasche und hielt ihnen das Display entgegen. Zu sehen war ein Foto der toten Fiona Keller. Ihr Gesicht war großflächig verpixelt, sonst konnte man sämtliche Einzelheiten erkennen. Die blasse Haut, die Stichwunden …

Wie …? Jakobs ganzer Körper spannte sich an, während sich die Frau aufgeregt weiter erklärte. »Das Foto wurde getwittert. Und Anna, meine Tochter, sie ist seit fast einem halben Jahr verschwunden, ich muss einfach wissen …«

Jakob wurde heiß bei dem Gedanken, dass dieses Foto im Internet kursierte. Welche Konsequenzen das für ihre Ermittlungen haben könnte. Ab jetzt war der Täter gewarnt, wusste, dass sie die Opfer gefunden hatten …

Neben ihm streckte Yeliz ihre Hand aus.

»Darf ich?«

Die Frau nickte ungeduldig und gab Yeliz ihr Handy, die sich nun konzentriert durch die App klickte.

»Das Foto wurde bereits über 300-mal gelikt und geteilt«, stellte sie beunruhigt fest und hatte Mühe, ihren Ärger zu verbergen. »Zusammen mit dem Text: ›Endlich Frieden für Fiona und Anna?‹ Der Tweet stammt, wie es aussieht, von einem gewissen Nils Brenner.«

Die Frau nickte.

»Nils hat einen True Crime Podcast, in dem es um Kriminalfälle in Süddeutschland geht. Er hat ein paar Beiträge über unsere Anna gemacht, uns auch interviewt.«

Sie zeigte ihnen noch mal Annas Foto.

»Bitte, in dem Beitrag steht, dass hier mehrere Leichen gefunden wurden. Junge Frauen. Ist sie dabei?«

Jakob schüttelte den Kopf.

»Nein, ist sie nicht.«

Die Frau stieß ein Seufzen aus. Erleichterung stand für einen Moment in ihrem Gesicht, ehe ihr die Tränen kamen.

»Anna ist jetzt schon so lange weg …«

Die Worte sprudelten aus ihrem Mund, als hätte sie sie viel zu lange zurückgehalten. »Ich kann nicht mehr! Wieso findet sie denn niemand? Ich habe tatsächlich gehofft, dass sie hier … Aber ich will doch, dass sie lebt. Ein junges Mädchen kann doch nicht einfach so verschwinden.«

Jakob wollte sich gar nicht ausmalen, wie es sein musste, sein Kind auf diese Weise zu verlieren. Dieser Zustand zwischen ständiger Hoffnung und Trauer. Und die Unmöglichkeit abzuschließen, solange es nicht gefunden wurde … All das verstand er. Er konnte aber auch nicht verhindern, dass der Ärger über das veröffentlichte Foto immer weiterwuchs und sein Mitgefühl überlagerte.

»Sollten wir Anna finden, werden wir Sie sofort anrufen, okay?«, sagte er abgeklärter, als er wollte. »Aber jetzt müssen Sie bitte gehen. Und bitte verbreiten Sie dieses Foto nicht!«

Die Frau senkte den Blick und nickte.

»Ich danke Ihnen trotzdem«, sagte sie, bevor sie sich umdrehte und langsam davonging.

Jakob wartete, bis sie weit genug weg war, dann ließ er seinem Ärger freien Lauf.

»So eine verdammte Scheiße!«

Yeliz fuhr sich nervös durch die Haare. »Wer hat dieses Foto gemacht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer der Kollegen …«

Jakob überlegte fieberhaft. Sein Blick ging den Hang hinunter, wo über zwanzig Menschen arbeiteten. Hatte sich jemand in einen weißen Schutzanzug geworfen und unters Volk gemischt? Aber wie hatte er von dem Leichenfund erfahren? Den Polizeifunk hatten Journalisten vielleicht in den 90ern abgehört. Heutzutage funktionierte das nicht mehr so einfach.

Es gab noch eine andere Möglichkeit.

Jakob ging los, Yeliz folgte ihm.

»Was hast du vor?«

»Wir überprüfen die Leute, sehen uns jedes Handy an. Entweder es hat sich hier jemand eingeschleust, oder wir haben einen Maulwurf im Team.«

Jakob war die ersten Meter hinabgestiegen, als ihn aufgeregtes Bellen innehalten ließ. Er blickte den Hang hinab, sah aber nur einen der beiden Leichenspürhunde, und der lief konzentriert und ruhig an der Leine.

»Die sind da oben!«

Yeliz hatte recht. Das Bellen kam aus der anderen Richtung.

Sie machten kehrt und folgten dem Bellen rechts des Wegs in den Wald hinein.

Hier standen die Bäume dichter, und es war dunkler. Laub- und Nadelbäume wuchsen nebeneinander, hielten die Feuchtigkeit fest. Jakob sank mit jedem seiner Schritte tief in den aufgeweichten und mit Laub bedeckten Boden. Bald ging sein Atem schwer, und sein Herz schlug vor Anstrengung heftig in seiner Brust.

Das Bellen wurde lauter. Sie kamen näher.

Und dann sah Jakob den Hundeführer. Er stand in etwa zehn Metern Entfernung einfach nur da.

»Thomas?«, rief Jakob. Aber der Mann schien ihn nicht zu hören.

Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte nach oben. Sein Hund sprang mit den Vorderpfoten immer wieder gegen den dicken Stamm einer Eiche und kläffte sich die Seele aus dem Leib.

Kapitel 6

Jakob war stehen geblieben. Das Bellen des Hunds drang nur noch leise zu ihm heran, so als hätte er plötzlich Wasser in den Ohren. Er spürte das kräftige Pochen seiner Halsschlagader, und seine Kehle war mit einem Mal so trocken, dass er nicht schluckten konnte.

Sein Verstand sagte ihm, dass er sich abwenden sollte, aber er konnte nicht.

Weit über ihren Köpfen auf mindestens vier Metern Höhe schwebte eine weitere Leiche, eine Frau. Sie war nackt und hatte die Arme ausgebreitet, als wollte sie jeden Moment zum Sturzflug ansetzen.

Jakob musste mehrfach blinzeln, um zu erkennen, dass sie nicht wirklich schwebte.

Ihre Füße waren zusammengeschnürt und am Baumstamm festgebunden. Zwei weitere Seile wickelten sich um ihre Handgelenke und rissen ihre Arme in die Höhe. Die Seile mussten irgendwo an Ästen befestigt sein. Trotz des starken Regens in der vergangenen Nacht saßen sie noch straff, und nur die Knie der Frau waren leicht eingeknickt.

Ihr Kopf war nach vorne gekippt. Ein Windstoß fuhr ihr durch die halblangen Haare, und ihr Bauch …

»Du meine Güte«, Jakob geriet ins Schwanken, als sein Blick an der Körpermitte der Frau hängen blieb.

Ihr Bauch war komplett aufgerissen. Und das, was dort heraushing … Er wandte sich ab.

Neben sich hörte Jakob Yeliz schwer atmen. Sie fuhr sich nervös übers Gesicht und stemmte dann die Hände in die Hüften. Ihre Finger zitterten.

Plötzlich klickte es hinter ihnen. Kolja Liebold, Leiter der Kriminaltechnik, war ihnen gefolgt und richtete seine Kamera auf die Leiche. Als er sie sinken ließ, lag eine Mischung aus Faszination und Schock in seinen Augen.

»So was hab ich noch nie gesehen«, sagte er, ohne den Blick abzuwenden und mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Wie zur Hölle ist sie denn da hochgekommen?«

Diese Frage stellte sich auch Jakob. Eine Leiche zu transportieren, war schon schwer genug, sie aber in vier Metern Höhe an einem Baum festzubinden, und das nicht irgendwie, sondern so …

»Das hat der Täter auf keinen Fall allein geschafft«, sagte Jakob. »Er muss Hilfe gehabt haben.«

Kapitel 7

Eine halbe Stunde später bargen Feuerwehrleute die Leiche. Zunächst stieg Kolja mit zwei Männern hinauf, um Detailaufnahmen zu machen, danach wurde die Frau nach unten geholt.

Drei Männer und zwei Frauen waren nötig, um den Körper loszubinden, ihn auf einer Trage zu fixieren und somit möglichst unversehrt zu Boden zu befördern.

Inzwischen war auch Professor Henning zu ihnen gestoßen. Zu viert beobachteten sie, wie die Trage Zentimeter für Zentimeter nach unten gelassen wurde. Keiner sagte ein Wort.

Als die Trage auf dem Boden aufsetzte, hörte Jakob Professor Henning durchatmen und sah aus dem Augenwinkel, wie sie die Lippen zusammenpresste.

»Sieht aus, als hätten sich hier schon die Vögel bedient«, stellte sie trocken fest.

Die Vögel hatten der jungen Frau das Fleisch in Klumpen von den Knochen gerissen und nicht einmal vor dem Gesicht haltgemacht. Dort, wo einmal das rechte Auge gesessen hatte, war ein schwarzes Loch. Haut und Fleisch der rechten Gesichtshälfte waren beinahe komplett abgefressen, und so traten Wangen- und Kieferknochen nackt hervor.

Das, was mit der Körpermitte passiert war, hatten sie dagegen nicht den Vögeln zu verdanken. Das war das Werk eines Menschen. Auch auf dieses Opfer hatte jemand mit einem Messer eingestochen und – so, wie es aussah, den Bauch komplett aufgeschnitten. Die Bauchdecke war aufgerissen, lange Hautlappen hingen schlaff herab. Und dann war da noch der Teil der Eingeweide, den die Vögel übrig gelassen hatten.

Der Anblick war schwer zu ertragen.

»Auf den ersten Blick würde ich sagen, dass sie hier die frischeste Leiche ist«, sagte Professor Henning, die schon wieder in ihrem Element war. »Sie hat draußen im Regen gehangen, und trotzdem ist sie noch relativ gut erhalten. Ich schätze, sie ist erst ein paar Tage tot.«

Jakob trat näher heran, betrachtete das Gesicht der jungen Frau. Auch bei ihr handelte es sich nicht um Anna Menden. Sie hatte lange schwarze Haare und war insgesamt kräftiger gebaut als Anna.

Vor ihnen war Kolja in die Hocke gegangen und begann, die Leiche nach Spuren zu untersuchen. Als er ihren Kopf berührte, kippte er zur Seite.

»Moment«, Jakob trat näher heran. »Was ist das in ihrem Nacken?«

»Was meinst du?« Kolja hielt inne und betrachtete den Hals.

»Du hast recht. Da ist was.«

Er strich der jungen Frau vorsichtig die Haare aus dem Nacken und wandte sich seinem Kollegen zu.

»Dreh sie mal ein Stück, okay?«

Der Kollege griff nach der Schulter der Toten und drehte sie gerade so weit, dass sie ihren Nacken gut sehen konnten. Zum Vorschein kamen ein V. Eingeritzt mit einem feinen Gegenstand. Vielleicht einem Skalpell?

»Ein Haken oder ein V?«, fragte Kolja. »Nein, Moment, da ist noch ein Strich.« Jakob betrachtete den Nacken konzentriert, fuhr mit seinem Blick die Zeichnung nach.

Dann funkte er den Kollegen an, der unten bei den ersten beiden Leichen geblieben war.

»Schau bitte in ihren Nacken«, befahl er. »Ist da etwas in ihrem Nacken?«

Für einen Moment herrschte Stille in der Leitung. Jakob starrte gebannt auf das Gerät in seiner Hand.

»Drei Striche bei der Dunkelhaarigen«, meldete sich der Kollege zu Wort.

»Eine römische Drei«, schloss Jakob. »Wir haben hier oben Nummer IV. Und Fiona?«

»Ein Strich.«

»Danke dir.«

Neben Jakob ließ Yeliz den Blick beunruhigt durch den Wald wandern.

»Nummer II fehlt«, stellte sie fest, und Jakob nickte angespannt. Er rief den Hundeführer zu sich.

»Wir weiten den Radius aus. Wir gehen hier nicht weg, ehe wir Nummer II gefunden haben.«

»Warum hing sie im Baum und wurde nicht vergraben wie die anderen?«, fragte Yeliz, während sie kurze Zeit später zur Straße hinunterstiegen.

Jakob hatte keine Antwort darauf. Die Leichen mit den Markierungen I und III waren so gut versteckt gewesen, und diese hier wäre doch in den nächsten Tagen auf jeden Fall gefunden worden. Auch ohne das Unwetter und die anderen Funde.

Auf dem Waldweg blieb er stehen. Er sah, wie die Hunde unermüdlich den unteren Teil des Walds absuchten. Dass sie so lange nicht mehr angeschlagen hatten, wertete er als gutes Zeichen, denn auch wenn sie weiter nach Nummer II suchten, so hatten sie wenigstens keine Nummer V oder Nummer VI gefunden. Die Absurdität dieses Gedankens traf Jakob. Aber die Situation war auch außergewöhnlich und anders als alles, was er bisher erlebt hatte.

Ein Mord war immer eine Tragödie. Ein Doppelmord eine Katastrophe. Das hier war etwas völlig anderes. Und er fühlte sich absolut nicht bereit dafür.

Kapitel 8

Die Barista hatte ihm einen Schwan auf seinen Flat White gezaubert. Sie lächelte ihn an, während sie den Kaffee vor ihm abstellte, und da bemerkte er das winzige Croissant auf dem Unterteller. Es war gerade so groß wie eine Walnuss, und ein schneller Blick in die Runde verriet ihm, dass die anderen Gäste nichts dergleichen bekommen hatten.

Der Jäger sah der Barista hinterher, die im Gehen elegant leere Tassen einsammelte und den zwei Frauen am Nachbartisch zunickte. Sie hatte ein süßes Lächeln, das Grübchen in der rechten Wange machte sie jünger, als sie wahrscheinlich war. 20, 21? Geschmeidig wie eine Katze bahnte sie sich ihren Weg an den wartenden Gästen vorbei zurück zur Theke und stieg auf die Zehenspitzen, um eine Packung Bohnen von dem Regal zu holen. Sie war höchstens 1,60 Meter groß, und ihre rabenschwarzen Haare gefielen ihm besonders. Leider hatte sie sie zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, was ihnen nicht gerecht wurde. Wenn sie die Haare offen tragen würde … Aber halt. Ihretwegen war er nicht hier.

Der Jäger wandte sich von ihr ab und sah zur Tür, dann entsperrte er sein Handy. Die junge Frau auf dem Foto blickte ihn mit rehbraunen Augen herausfordernd an, ihr platinblonder Bob schloss akkurat auf der Kinnlinie ab. Was ihn jedoch am meisten anzog, war das Tattoo. Eine Rosenranke, die filigran die Seite ihres Halses hinaufwuchs und hinter dem rechten Ohr in ihrem Nacken verschwand.

Sie musste jeden Moment hier auftauchen.

Durch das Fenster sah er auf die enge Gasse. Das Kopfsteinpflaster glänzte nass. Er hielt Ausschau nach dem blonden Bob und versuchte, das immer aufgeregter werdende Gespräch der Frauen am Nachbartisch auszublenden. Die beiden lästerten jetzt schon mindestens zehn Minuten über eine Kollegin, die offenbar zwei Kinder von zwei Männern hatte und gerade in einer Trennung steckte.

»Und jetzt werden die Kinder zur Tagesmutter abgeschoben«, sagte die eine. Sie wippte ein kleines Mädchen auf dem Schoß, das vielleicht zwei Jahre alt war.

»Wenn man die Typen nicht halten kann, sollte man sich vielleicht nicht jedes Mal ein Kind machen lassen«, spottete die andere. Sie trug einen praktischen Kurzhaarschnitt und stieß in ihrer Begeisterung über ihren eigenen garstigen Kommentar einen spitzen Schrei aus.

Die Mutter verschluckte sich vor Lachen fast an ihrem Cappuccino, und die Kurzhaarige zog die Mundwinkel zu einem zufriedenen Grinsen hinauf.

Schon allein für diesen Kommentar sollte er die dumme Gans abstechen, dachte er. Einen einfachen Schnitt durch die Kehle, um sie danach langsam ausbluten zu lassen. Aber so lief das Spiel nicht.

Er zwang sich, nicht mehr hinzuhören, und fixierte die Tür.

Dienstags trank sie ihren Kaffee immer hier, immer um dieselbe Uhrzeit. Wo blieb sie?

In zwei Tagen würden sie wieder zusammenkommen. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren, und er hoffte, dass er mit ihr seine Nummer V gefunden hatte. Sie war ihm empfohlen worden, und er hatte recherchiert. Bisher sah es vielversprechend aus. Sie war 23 Jahre alt, vergnügungssüchtig, Medizinstudentin mit einem Faible für wohlhabende Männer und wechselnde Sexualpartner. Aber das reichte ihm noch nicht. Er musste sie selbst in Augenschein nehmen, sie in freier Wildbahn erleben, musste sehen, wie sie sich bewegte, ihre Mimik studieren. Und vor allem: sie riechen …

Als die Tür das nächste Mal aufschwang, trat sie ein. Alles um ihn herum verstummte. Von der ersten Sekunde an war ihm klar, dass ihr hier niemand das Wasser reichen konnte. Sie hielt einer älteren Dame die Tür zum Rausgehen auf und lächelte. Nicht aus Höflichkeit oder Gewohnheit, nein, sie war so. Sie hellte den Raum auf, nahm die Menschen um sich herum wahr. Auf dem Weg zum Tresen griff sie in ihre Handtasche, ein Designerstück, alt, aber gepflegt und nicht abgegriffen. Vielleicht secondhand. Der Jäger trank seinen Flat White aus und wollte sich gerade hinter sie in die Schlange stellen, als sie aus der Reihe trat und auf ihr Handy schaute. Kurz darauf hielt sie es ans Ohr und lauschte. Eine Sprachnachricht? Noch mit dem Handy am Ohr machte sie kehrt und verließ das Café.

Nein. Das war nicht der Plan. Kurz sah der Jäger ihr hinterher, dann lief er zur Tür. Sie hatte ihr Handy eingesteckt und eilte davon. Wenn er sie jetzt verlor … Er hasste es, improvisieren zu müssen, aber sie davonkommen zu lassen, war keine Option. Also zog er sich die Kapuze über den Kopf und folgte ihr in den Regen.

Kapitel 9

Von außen war die kleine Kaffeebude an der Königinstraße am Englischen Garten nicht viel mehr als ein notdürftig zusammengezimmerter Bretterverschlag, mintgrün gestrichen und vielleicht drei mal drei Meter breit. Aber drinnen wurden die besten Schokocroissants in ganz München gebacken, und genau so eins brauchte Nova jetzt.

Sie warf dem Barista einen flüchtigen Blick zu. Er war neu. Müde braune Augen, vielleicht zu viel Gin Tonic gestern, ein Höcker auf der schmalen Nase, darunter ein gelangweilter Oberlippenbart, Biscotti-Krümel im Mundwinkel, markantes Kinn. Klick.

Er reichte ihr die zwei Kaffee und die Tüte mit den Croissants, und nachdem sie bezahlt hatte, balancierte sie alles zu ihrem Auto. Drinnen wählte sie Ellens Nummer und fuhr los. Sie ging schon nach dem zweiten Klingeln ran.

»Ich bin noch in München«, platzte Nova heraus. »Wenn du es dir also anders überlegen willst, dann sag es. Dann komme ich sofort zurück.«

Ein Seufzen in der Leitung, und dann erklang Ellens warme Stimme. »Wirklich, Nova, du musst dir keine Sorgen machen. Wir haben es doch besprochen. Es ist alles gut. Mir geht es gut.«

Ihr ging es gut. Natürlich. War ja nicht so, als hätten sie Ellen vor zwei Wochen einen golfballgroßen Tumor aus dem Kopf geholt. Die OP war einwandfrei verlaufen, und nach jetzigem Stand brauchte sie noch nicht einmal eine Chemo, was fantastisch war. Aber dennoch …

»Mir wäre es wirklich lieber, wenn ich regelmäßig nach dir sehen und checken könnte, dass alles okay ist.«

»Aber es ist alles okay. Und du weißt, dass Kathi jeden Tag vorbeikommt.«

Kathi war Ellens Nachbarin.

Nova spürte, wie ihr Kiefer verkrampfte. Sie konnte die Unruhe in ihrem Bauch kaum ertragen. Rational wusste sie, dass Ellen recht hatte. Trotzdem würde sie ihr Wohlbefinden am liebsten zweimal täglich kontrollieren und alles mit eigenen Augen sehen. Sie wollte sich kümmern. Das war sie Ellen doch auch schuldig. Sie hatte sich all die Jahre wie eine Mutter um sie gekümmert, während ihre eigene irgendwo in New Mexico ihren Karriere­traum lebte und sich nicht für ihre Tochter interessierte.

»Ruf mich an, wenn du gut in Heidelberg angekommen bist, ja?«, sagte Ellen, und damit war es beschlossene Sache. Sie würde fahren.

Fünf Minuten später hielt sie vor Magnus’ Wohnung und stieg aus dem Auto. Von rechts kam ein Fußball angeflogen, Nova wich aus. Ein kleiner rothaariger Junge kam hinterhergeschossen.

»Entschuldigung!«

Sommersprossen, aufgeplusterte Backen, blaue Knopfaugen, eine kleine Narbe auf dem Kinn. Wahrscheinlich Windpocken. Klick.

»Hey, stehen geblieben!« Eine Frau kam in langen, wütenden Schritten hinter dem Jungen her und entschuldigte sich im Vorbeigehen bei Nova.

Sie war ebenfalls rothaarig. Große braune Augen, ausgeprägte Lachfältchen an Augen und Mundwinkeln. Schmale, zusammengepresste Lippen. Der Junge konnte sich auf was gefasst machen. Klick.