Der Minutenschläfer - Sue Schwerin von Krosigk - E-Book

Der Minutenschläfer E-Book

Sue Schwerin von Krosigk

4,8

  • Herausgeber: BeBra Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Der ewig klamme Hartung Siegward Graf von Quermaten zu Oytinghausen, von allen Hasi genannt, darf über den Sommer eine Villa voller Kunstschätze hüten. Als beim Raub eines Matisse-Gemäldes in der Nachbarschaft ein Mord verübt wird, gerät er in das Visier von Hauptkommissarin Lydia Klimm. Bei seinen Bemühungen, sich den Verdächtigungen der abgebrühten Ermittle¬rin zu erwehren, verstrickt Hasi sich immer tiefer in den Fall. Dabei begegnen ihm gierige Galeristen, skrupellose Immobilienhaie, Charitydamen, Esoterik-Nerds – und eine zarte blonde Frau, deren Leben zu retten er sich verpflichtet fühlt.

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Seitenzahl: 388

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Sue & Wilfried Schwerin von Krosigk

Der Minutenschläfer

Kriminalroman

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2016

© der Originalausgabe:

berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2016

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Gabriele Dietz, Berlin

Umschlag: Ansichtssache, Berlin,

Foto: © de-sign, photocase.de

ISBN 978-3-8393-6153-5 (epub)

ISBN 978-3-89809-544-0 (print)

www.bebraverlag.de

Ich öffnete das Fenster und fing das Tier im Fluge.

C.G. Jung

Inhalt

Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen

Sie wollte schreien, doch er hielt ihr den Mund zu

Sie machte einen Bogen um die Blutlache

Den hässlichen Riss hatte er völlig vergessen

Er musste hier weg, bevor sie ihm irgendein Angebot machte

Es ging hier nicht um Kunst, sondern um Mord

Man musste dem Jungen noch ein wenig auf den Zahn fühlen

Er würde wiederkommen, wenn man sein Gesicht vergessen hatte

Seine Pupillen flirrten heute umher wie Irrlichter

Er hatte gerade noch Zeit, sich frisch zu machen

Den Mord würde er sich jedenfalls nicht anhängen lassen

Im gleichen Moment knallte der Schuss

Die Beschaffungsmethoden seiner Geschäftspartner waren barbarisch

Schon ihr Name suggerierte etwas Gewalttätiges

Plötzlich spürte er etwas Metallisches an seiner Wange

Täter machen Fehler, wenn sie in Panik sind

Eine Leiche konnte sich doch nicht in Luft auflösen

Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr

Vielleicht hat er sich mit den falschen Leuten angelegt

Auch seine Höflichkeit hatte ihre Grenzen

Der Verdächtige und die Frau küssten sich

Es tat so weh, dass ihm Tränen in die Augen schossen

Mit beiden Fäusten schlug sie auf das Therapiekissen ein

Er trank einen langen Schluck Tee, um sich zu sammeln

In einem Verhör würde er in kürzester Zeit einknicken

Er hatte mit Schmetterlingen nichts zu schaffen

Zum ersten Mal hatte er das Vertrauen seines Arbeitgebers missbraucht

Keiner von ihnen wirkte vertrauenerweckend

Er bemühte sich, das schaurige Bild zu verdrängen

Entweder war er ein abgefeimter Lügner oder ein krankhafter Kleptomane

Er konnte nur mit Mühe die Augen offen halten

Gerade so, als würde sie ihren eigenen Galgen zimmern

So jemand glaubte, über dem Gesetz zu stehen

Vielleicht hatte sie nur ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn so ausnutzte

Zumindest im weißen T-Shirt würde sie nicht als Leiche enden

Sein Drahtesel war halsbrecherische Geschwindigkeiten nicht gewohnt

Die kahle Wand sprang ihr entgegen wie eine Ohrfeige

Sie schaute über ihn hinweg wie über ein lästiges Insekt

Sterbende waren selten angenehme Menschen

Sie musste endlich einen Schlussstrich ziehen

Es war hoffentlich nichts Perverses, mit allem anderen würde sie fertig werden

Für einen Moment war nichts anderes zu hören als sein leises Röcheln

Es lohnte sich nicht, über den Zufall nachzudenken

Der Katzenzustand war seine Lösung für das Hartmannproblem

Denken Sie an Ihre Zukunft!

Sue & Wilfried Schwerin von Krosigk

Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen

Selbst wenn er die Zeichen erkannt hätte, die zuweilen von kommenden Ereignissen wie ein Echo bis in die Gegenwart zurückgeworfen werden, hätte seine Fantasie niemals ausgereicht, um sich vorzustellen, dass er, Hartung Siegward Graf von Quermaten zu Oytinghausen, von Familie und Freunden kurz Hasi gerufen, sich in wenigen Tagen vor einer echten Mordkommission zu verantworten haben würde. Fantasie zu haben galt für ihn als Spross einer der Nüchternheit verpflichteten Familientradition als etwas ganz und gar Überkandideltes. Außerdem gehörte Hasi nicht zu der Sorte Menschen, die überhaupt mit der Polizei in Berührung zu kommen pflegten. Wenn er es sich recht überlegte, hatte er bislang noch nicht einmal einen Strafzettel für Fahren ohne Licht erhalten.

Hasi war auf dem Weg zu einem Geschäftstermin, wie immer mit dem Fahrrad. Nur ungern unterbrach er seinen Fahrtschwung, aber ein schleifendes Geräusch vom Hinterrad, das sich inzwischen zu einem handfesten Klappern gesteigert hatte, verhieß nichts Gutes und konnte nicht länger ignoriert werden. Der Störenfried war ein Stück Draht, das sich zwischen den Speichen eingeklemmt hatte und bei jeder Umdrehung innen am Schmutzfänger kratzte. Sonst gab es glücklicherweise keine Schäden, wie er feststellte, nachdem er seine italienische Seidenkrawatte ins Hemd gesteckt hatte, damit sie beim Entwirren des Drahtknäuels nicht litt. Auf gepflegte Garderobe legte Hasi Wert. Bei gewissenhafter Benutzung blieb Kleidung durchaus jahrelang tragbar. Gerade wenn man finanziell ein wenig eingeschränkt war, machte es Sinn, damit achtsam umzugehen.

Nachdem er den Draht herausgezogen hatte, knöpfte er sein für den lauen Maiabend einen Tick zu warmes Tweedsakko zu, schwang sich auf den abgewetzten Sattel und radelte weiter. Vor ihm tauchten die Gebäude der Freien Universität auf. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass er gerade noch genug Zeit für eine Stippvisite in der Cafeteria hatte, um sich ein belegtes Brötchen zum Abendbrot zu genehmigen. Es war nicht ratsam, mit leerem Magen in einen Geschäftstermin zu gehen, Hunger konnte sehr störend sein.

Als er das Universitätsgebäude betrat, wurde ihm ganz warm ums Herz. In den letzten neun Jahren war ihm dieser Ort sehr vertraut geworden, und er hätte seine Studien gerne weiter verfolgt, aber nach achtzehn erfolglosen Semestern gab es in seiner Familie niemanden mehr, der ihm das Studentenleben noch länger finanzieren wollte. Wofür er durchaus Verständnis hatte, denn es war ihm bedauerlicherweise nicht gelungen, in seiner ganzen Studienzeit auch nur eine Prüfung abzulegen, weil ihm seltsamerweise in Stresssituationen regelmäßig die Augen zufielen.

»Was soll’s denn sein, Herr Professor?«, fragte die junge Studentin hinter der Theke und lächelte Hasi an.

»Das Käsebrot und einen Kaffee bitte«, antwortete er und zeigte auf das letzte traurige Sandwich in der Auslage.

Hasi stutzte. Herr Professor. Hatte sie ihn tatsächlich so genannt? Er drehte sich zurück, aber es war zu spät für eine Richtigstellung, das Mädchen hatte sich schon seinem Hintermann zugewandt. Mit dem Tablett in der Hand steuerte er auf einen freien Tisch zu. Ein paar Studenten machten höflich Platz, auch sie schienen ihn für einen Lehrer zu halten. Hastig verschlang er das verwelkte Toastbrot. Wie ein Hochstapler kam er sich plötzlich vor, und es war ihm zum ersten Mal unangenehm, hier zu sitzen und in staatlich subventionierte Stullen zu beißen.

Als er aufstand, um sein Tablett wegzubringen, betrachtete er unauffällig sein Spiegelbild im Glas der großen Fensterfront. Er sah ganz passabel aus, ein schlaksiger, blonder Mann mit einer widerspenstigen Haartolle, die ihm oft ins Gesicht hing, vielleicht etwas farblos und für polizeiliche Zwecke, etwa eine Fahndung, ohne besondere Merkmale. Ob es an seiner Krawatte und dem Tweedsakko lag, dass man ihn mit einem Mitglied des Lehrkörpers verwechselte? Er erkannte seine Situation in aller Deutlichkeit. Im Vergleich zu ihm waren die Studenten an den Nebentischen im Schnitt fast zehn Jahre jünger, und mit seinen neunundzwanzig Jahren gehörte er hier nicht mehr hin.

Draußen vor dem Eingang zog er seinen Studentenausweis aus der Brieftasche und warf ihn in einen Abfallbehälter. Das gute Stück hatte ihm über einige Jahre gute Dienste geleistet und ihm zu allerhand Ermäßigungen verholfen, aber man musste sich auch trennen können. Er kettete sein Fahrrad los und radelte der Vergangenheit davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Als er an einer Reihe blühender Kastanien entlangfuhr, sog er befreit die würzige Luft ein. So schlecht war seine Lage nicht. Welcher abgebrochene Student konnte schon von sich sagen, dass er auf dem Weg zu einem wichtigen Geschäftstermin war? Seine drei älteren Schwestern hätten ihm das bestimmt nicht zugetraut. Dafür hatten sie mit vereinten Kräften sein Studium finanziert, bis ihnen die Geduld ausgegangen war.

Er trat übermütig in die Pedale, um ein wenig Tempo vorzulegen. Pünktlich zu sein war selbstverständlich bei einem Besichtigungstermin, und er wollte keineswegs außer Atem sein, wenn er das erste Mal einen Kunden begrüßte.

Sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten war nicht einfach gewesen. Seine wenigen Bewerbungsgespräche waren entweder mit der unangenehmen Frage nach seiner Ausbildung geendet, oder man hatte von vornherein Misstrauen gegenüber einem Bewerber, der einen Grafentitel trug. Von einem ungläubigen Personalchef wurde er sogar gefragt, warum ein »von und zu« sich für eine schlecht bezahlte Arbeit im Call Center bewerben wollte, als ob er etwas Illegales im Sinn hätte. Selbst im Arbeitsamt hatten sie ihn komisch angesehen, und er beschloss daraufhin, diese unfreundliche Behörde ganz bestimmt nicht um Unterstützung anzubetteln. Aber dann war er bei einem Empfang im Grunewalder Löwenpalais auf seinen alten Klassenkameraden Thomas gestoßen.

»Mensch! Ich habe mein Studium auch geschmissen, na und?«, sagte Thomas und reichte ihm eine Visitenkarte. Hasi betrachtete die Karte, die Thomas Beyerle als Immobilienmakler für Luxusobjekte auswies. Die Buchstaben stachen goldumrandet heraus, etwas aufdringlich für seinen Geschmack. »Hab meinen eigenen Laden. Das Geschäft läuft bombig, kann ich dir sagen, alter Freund!«

Hasi war verwirrt und sah Thomas fragend an. Damals im Internat waren sie eigentlich keine besonderen Freunde gewesen, wenn ihn seine Erinnerung nicht täuschte. Und wie konnte Thomas ein Studium aufgeben, wenn er noch nicht einmal das Abitur gemacht hatte, sondern in der elften Klasse von der Schule geflogen war?

Doch bevor Hasi nachfragen konnte, klopfte Thomas ihm schon wieder auf die Schulter wie einem Komplizen und stieß mit ihm an. »Auf die alten Zeiten. Hehe, wir zwei, wir hatten unseren Spaß, was?«

Hasi nickte lächelnd. Wahrscheinlich verwechselte Thomas ihn mit einem anderen Mitschüler.

»Wenn du einen Job brauchst, komm morgen Vormittag in mein Büro«, schlug Thomas vor.

»Danke, sehr freundlich, aber ich verstehe nichts von Immobilien und diesen Dingen.«

»Lass das mal meine Sorge sein«, winkte Thomas ab. So hatte sich dann ihre Zusammenarbeit entwickelt.

Hasi bog in die Rheinbabenallee ein. Von Weitem konnte er schon die quittengelbe Villa sehen, die er heute einem jungen Paar zeigen sollte. Ein Bauzaun stand noch davor. Ein halbes Dutzend Bäume war für einen monumentalen Anbau aus Glas abgeholzt worden. Er kettete das Fahrrad an den Bauzaun und zog das Schlüsselbund hervor. Er war zehn Minuten vor der Zeit und es war noch niemand da. Ausgezeichnet. Er schloss auf und trat in den Flur. Es war pikobello sauber. Nur die Marmorplatten hallten zu laut. Er konnte nicht sagen, dass ihm dieses Entrée zusagte, aber Thomas hatte ihm eingeschärft, dass man im Immobiliengeschäft besser vorankam, wenn man immer »positiv dachte«. Daher zog Hasi ein Faltblatt aus der Seitentasche und setzte sich auf eine Treppenstufe, um sich positiv einzustimmen. Thomas hatte dieses kleine Wörterbuch für Immobilienjargon selbst geschrieben. Er überflog die Begriffe, die allesamt sehr schmeichelhaft ausfielen. Ob hier eine »idyllische Lage« in Betracht kam? Oder war es eher »ruhig und zentral?« – eine Formulierung, über die er einen Augenblick nachdenken musste. War das nicht ein Widerspruch in sich? Angesichts des verschnörkelten falschen Stucks konnte man das Gebäude vielleicht als »Liebhaberobjekt« bezeichnen. Aber besaß es auch »Entwicklungspotenzial?« Wohin sollte es sich entwickeln? Dieses Immobiliendeutsch war nicht leicht zu verstehen. Auf alle Fälle war die Wohnung »lichtdurchflutet«, denn Fenster gab es schließlich überall. Er hörte einen Wagen vorfahren und steckte das Papier weg. Ein Pärchen stieg aus dem Mercedes. Die Dame lächelte überrascht, als er sie an der Haustüre mit einem Handkuss begrüßte.

»Graf von Quermaten«, stellte er sich vor. Eigentlich lag es ihm gar nicht, seinen Adelstitel so herauszustellen. Üblicherweise nannte er sich schlicht und einfach Quermaten, denn wer sich auskannte, redete ihn in aller Form an, und wer nichts davon wusste, den brauchte das auch nicht zu interessieren. Dass er mit seiner Gewohnheit brach, lag nur an den besonderen Geschäftsbedingungen, die Thomas mit ihm ausgehandelt hatte.

»Bei mir brauchst du weder Doktortitel noch Examen, sondern nur deinen guten Namen, und das reimt sich sogar!«, hatte Thomas gerufen und ihm zweihundert Euro als Vorschuss in die Hand gedrückt, bevor er protestieren konnte.

Hasi ging voran, die Stufen hoch, und schloss die Wohnung zum Hochparterre auf. Er hatte die Räumlichkeiten selbst noch nicht gesehen, und jetzt sträubten sich ihm die Nackenhaare, als er den beiden Interessenten durch die Zimmer folgte. Die Proportionen passten nicht zusammen. Man hatte offensichtlich mehrere Appartements in die ehemals hochherrschaftlichen Räume gepfercht. Was für eine Schande!

»Es tut mir leid, aber ich sehe die Wohnung auch zum ersten Mal.«

Der Mann starrte ihn erstaunt an. » Gefällt sie Ihnen nicht?«

»Sie ist schrecklich verbaut. Ich kann Ihnen so etwas nicht guten Gewissens empfehlen.« Er klopfte gegen eine Stuckverzierung. »Hören Sie, wie das klingt?« Sein Klopfen machte eine kleine Delle in das beleidigte Styropor.

Das Paar warf sich einen Blick zu. »Wieso machen Sie das Appartement schlecht?«

»In dieser Wohnung wird man sich auf Dauer nicht wohlfühlen, das ist mein Eindruck, wenn Sie erlauben.«

»Aber die Lage im Grünen –«, protestierte die Dame.

»Da haben Sie natürlich recht, die Lage an sich ist hervorragend, idyllisch und auch – zentral und ruhig. Aber Sie müssen sich darauf einrichten, dass die neu gepflanzten Bäume im Garten zehn Jahre brauchen, bevor sie Ihnen einen angenehmen Sichtschutz geben.«

Die beiden tuschelten miteinander, dann kam der Mann auf Hasi zu und schüttelte ihm die Hand. »Vielen herzlichen Dank.« Er reichte ihm eine Visitenkarte. »Wenn Sie uns etwas empfehlen können, rufen Sie bitte jederzeit an. Auf Ihren Rat möchten wir gerne hören.«

Hasi verbeugte sich. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.«

Er begleitete die beiden hinaus und öffnete der Dame die Autotür. Als er sich wieder auf sein Fahrrad schwang und sich von dem abendlichen Fahrtwind erfrischen ließ, war er sehr mit sich zufrieden. Schließlich stand er mit dem guten Namen seiner Familie für Qualität ein. Zu bedauern war höchstens, dass er wieder mal keinen erfolgreichen Abschluss tätigen konnte. Seitdem er für Thomas arbeitete, hatte er noch keinen Cent Provision verdient.

Es wurde jetzt schnell dunkel, und Hasi kippte den Dynamo an den Vorderreifen. Während er sich nach vorne bückte, übersah er einen dunkelgrauen Geländewagen mit getönten Scheiben, der von rechts über die Kreuzung fuhr, um dann Gas zu geben und davonzubrausen.

Erschrocken riss er den Lenker zur Seite. Sein Vorderrad sprang über die hohe Bordsteinkante, und er flog in hohem Bogen in eine Hecke. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Ohne sich zu bewegen, blieb er in der seltsamen Stellung hängen. Die Sträucher hatten seinen Aufprall gedämpft. Er war offenbar unverletzt, zumindest tat ihm nichts weh, abgesehen von einem kleinen Zweig, der ihn in die Nase piekste. Er schob ihn weg und begann sich vorsichtig aus dem Buschwerk zu befreien.

»Hallo, was tun wir denn da?« Eine scharfe Stimme drang in sein ramponiertes Bewusstsein. Mühsam drehte er den Kopf zur Seite. Am Straßenrand stand ein Polizeiwagen. Der Beifahrer hatte das Seitenfenster heruntergefahren und verfolgte Hasis Bemühungen mit skeptischer Miene.

»Ein Unfall«, erklärte Hasi, während er aus der Hecke kletterte und seine Gliedmaßen streckte. »Mir ist aber nichts passiert, danke.« Er hob sein Fahrrad auf und stellte den Lenker wieder gerade. Beim Aufsteigen bemerkte er, dass sein gutes Tweedsakko am Ärmel eingerissen war. Das war nun wirklich etwas ärgerlich, denn so üppig hatte er es momentan nicht dass er sich auf dem Flohmarkt eine neue Joppe leisten konnte.

»Nicht so eilig.« Die beiden Polizisten stiegen aus dem Wagen, und einer griff nach seinem Fahrradlenker. »Steigen Sie bitte ab.«

»Was hatten Sie an der Hecke zu suchen?«, fragte der andere.

»Ich sagte doch schon. Ein Unfall. Ich musste einem Fahrzeug ausweichen.«

Die Polizisten musterten ihn misstrauisch. Natürlich war der Geländewagen inzwischen längst weitergefahren. Offenbar hatte der Fahrer gar nichts von dem Malheur bemerkt. Einer der Polizisten inspizierte die Hecke und schob ein paar Zweige beiseite, sodass die dahinterliegende Villa sichtbar wurde.

»Von hier wollten Sie also ausspionieren, ob jemand zu Hause ist?«

»Wie bitte?« Hasi blickte die Beamten irritiert an. »Ich bin gestürzt, das ist alles. Kann ich jetzt bitte fahren?«

»Einen Ausweis hätten wir gerne noch gesehen.«

»Natürlich.« Hasi suchte in seinem Sakko nach seinem Studentenausweis, die einzige Legitimation, die er üblicherweise bei sich trug, bis ihm einfiel, dass er den Ausweis nach dem Mensabesuch in einen Abfallkorb geworfen hatte. Er spürte die Blicke der Polizisten auf seiner beschädigten Jacke. Ihm brach der Schweiß aus. »Tut mir leid«, sagte er kleinlaut, »ich habe meinen Ausweis leider nicht mehr. Ich heiße aber Hartung Siegward Graf von Quermaten, das können Sie mir glauben.«

»Warum nicht gleich der Kaiser von China?« Der Polizist verzog müde den Mundwinkel.

»Steigen Sie ein«, sagte der andere und öffnete die hintere Seitentür.

»Ich habe ein Fahrrad. Vielen Dank.«

»Jetzt machen Sie keinen Ärger. Sie kommen zur Feststellung Ihrer Personalien mit auf die Wache.«

»Und mein Fahrrad? Das kann ich nicht einfach hier lassen.«

»Ketten Sie es meinetwegen an einen Baum.«

Hasi bückte sich, um die Kette aufzuschließen, aber dann richtete er sich wieder auf. »Mir ist gerade eingefallen, wo ich meinen Ausweis gelassen habe. Können wir da nicht kurz hinfahren? Es ist ganz in der Nähe.«

Sie wollte schreien, doch er hielt ihr den Mund zu

Die beiden schwarz gekleideten Insassen des grauen Geländewagens, mit dem Hasi um ein Haar kollidiert war, verfolgten von einer Parkbucht aus durch die getönten Scheiben, wie die beiden Polizisten einen Ausweis entgegennahmen, den der Radfahrer mit dem ramponierten Sakko gerade aus einem Abfalleimer vor dem Universitätsgebäude gefischt hatte.

»Warum schmeißt jemand seinen Ausweis in den Müll?«, fragte der Fahrer kopfschüttelnd.

Der Beifahrer zuckte nur mit den Schultern. Sie beobachten schweigend, wie die Polizisten den Ausweis abfotografierten und dann zusammen mit dem jungen Mann wieder in ihren Wagen stiegen. Hätte jemand durch die getönten Scheiben ins Innere des grauen SUVs sehen können, wäre es ihm schwergefallen, die beiden Insassen auseinanderzuhalten. Es waren blonde, hünenhaften Zwillinge, die sich nur durch eine Narbe unterschieden, die sich quer über die rechte Wange des Fahrers vom Ohr bis zum Mundwinkel erstreckte. Der Beifahrer nickte knapp, und der Narbige ließ den Motor an und folgte dem Polizeiwagen in unauffälligem Abstand. Sie überließen nichts dem Zufall. Der unvorhergesehene Fahrradunfall bedeutete ein Sicherheitsrisiko. Deshalb waren sie über ein paar Querstraßen zum Unfallort zurückgefahren, wo sie Zeugen wurden, wie der Radfahrer unverletzt vor den Augen zweier misstrauischer Polizeibeamter aus der Hecke kroch. Anschließend waren sie der Polizei bis zur Mensa der Freien Universität in Dahlem gefolgt und nun zurück an den Ort des Unfalls. Nachdenklich beobachteten sie, wie die Polizei den Radfahrer neben seinem Fahrrad aus dem Wagen entließ und davonfuhr. Der Fahrer ließ den Geländewagen langsam näher rollen.

»Und? Was machen wir?« Der Beifahrer zog sich vorsorglich einen Schlagring über die Finger.

»Nichts«, entschied der Fahrer. »Der Mann ist auffällig geworden, das ist doch gut für uns.«

Sein Nebenmann nickte. »Die Bullen werden denken, er hätte unser Objekt observiert.«

Während Hasi sich auf sein Fahrrad schwang, nicht ahnend, welcher Gefahr er gerade entronnen war, bog der Geländewagen in eine Querstraße ab, um in der Dunkelheit zu verschwinden.

Es dauerte noch gute vier Stunden, bis das Objekt sturmreif war. Erst als die letzten nächtlichen Autofahrer verschwunden waren, rollte der Geländewagen lautlos und ohne Scheinwerferlicht zum zweiten Mal an die Villa hinter der Hecke heran. Die Männer streiften sich schwarze Masken über die Gesichter und drückten ihre Stoppuhren. Von nun an funktionierte jede Bewegung lautlos und mechanisch exakt nach Zeitplan. Den Grundriss der alten Gründerzeitvilla hatten sie sich zuvor genauestens eingeprägt. Durch das nur mit einem leicht auszuhebelnden Eisengitter gesicherte Küchenfenster konnten sie ins Innere gelangen, ohne den Alarm auszulösen. Von da an war es reine Routine, die Alarmanlage mittels Laptop und einer Dechiffriersoftware abzuschalten. Nach den Informationen ihrer Quelle waren die Eigentümer im Urlaub, aber sie verständigten sich aus Prinzip nur mit Zeichensprache. Alles andere wäre völlig unnötig gewesen, da sie genau wussten, was sie wollten und wo das Objekt sich befand. Zielort war die Bildergalerie im Erdgeschoss, und sie waren nur an einem einzigen der dort hängenden Gemälde interessiert. Ein handliches Bild, sie mussten es für den Transport nicht einmal aus dem Rahmen schneiden. Dafür war es ein echter Matisse, ein Meisterwerk aus einer frühen Periode, das auf dem Kunstmarkt ohne weiteres fünfzig Millionen bringen konnte. Natürlich war es völlig ausgeschlossen, ein gestohlenes Werk dieser Provenienz irgendwo auf diesem Planeten zum Kauf anzubieten. Doch um Geld ging es ihrem Auftraggeber nicht.

Die vermummten Eindringlinge zogen eine Schutzfolie über den Matisse, um ihn dann in einem schwarzen Kleidersack zu verstauen, als plötzlich ein Licht im Flur aufflammte.

Die Zwillinge erstarrten mitten in der Bewegung und schauten auf die junge Frau im gelb und lila geblümten Pyjama, die barfuss und verschlafen blinzelnd die Treppe herunterkam und sich mit der rechten Hand die verstrubbelten schwarzen Haare aus der Stirn wischte.

Melinda, Jurastudentin und Tochter des Hauses, war, anstatt in München für ihre Klausuren zu lernen, auf dem Weg nach Mallorca, wo sie mit ihrem Freund Chi ein Studio für Kampftechnik eröffnen wollte. Die Abwesenheit der nicht in ihre Zukunftspläne eingeweihten Eltern wollte sie nutzen, um ohne sich erklären zu müssen einige Sachen packen zu können und abzuhauen.

Ohne rechts und links zu schauen, tapste sie schlafwandlerisch durch den Flur auf die Küche zu und hielt dort ein Glas unter den Wasserhahn. Sie stutzte erst auf dem Weg zurück, als sie das offene Fenster und die aufgebogenen Gitterstäbe bemerkte. Eine Schrecksekunde blieb sie mitten in der Küche stehen. Als sie sich reflexartig umdrehte, stand bereits einer der Maskierten vor ihr wie eine Mauer. Sie wollte schreien, doch er hielt ihr den Mund zu. Im nächsten Augenblick zog er seine Hand mit einem unterdrückten Fluch zurück. Blut von einer Bisswunde tropfte durch den Latexhandschuh. Melinda entwand sich in einer überraschenden Linksdrehung seinem Griff und riss noch in der Bewegung ein japanisches Messer aus dem Messerblock auf der Anrichte.

»Hilfe, Polizei!«, kreischte sie, so laut sie konnte, während sie aus der Küche stürzte. Geschickt tauchte sie unter dem Faustschlag des zweiten Mannes durch und kickte ihm das Knie weg, sodass er ins Taumeln geriet. Als sie mit ausgestrecktem Messer auf ihn losging, sah sie zu spät, wie der andere von der Seite herankam, ihren Arm packte und den Schwung ihrer Bewegung auf sie zurücklenkte. Verblüfft bemerkte sie, wie sich ihre Hand mit dem Messer in einem ausholenden Bogen an ihrem eigenen Hals entlangzog. Sie wollte den Schwung zu einem neuen Angriff nutzen, doch plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Ein tiefer Schnitt des japanischen Messers hatte ihre Kehle gespalten, und nun entglitt es ihrer Hand. Sie sah, wie die beiden hünenhaften Männer vor ihr zurückwichen und sie auf den Boden sinken ließen, ohne sich weiter um sie zu kümmern. Sie wollte wieder schreien, doch aus ihrem Mund kam nur ein Gurgeln. Den fruchtlosen Versuch, ihre Wunde mit der Hand zuzuhalten, musste sie gleich aufgeben, und sie spürte, wie das Leben aus ihren Gliedern langsam herauslief wie das warme Blut aus ihrem Hals.

Mit Mühe hielt sie die Augen offen und beobachtete noch, wie die Diebe mit ihrer Beute durch die Terrassentür verschwanden. Ihr letzter Gedanke zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht. Zwei riesige Kerle gegen eine Frau, sie hatte gut gekämpft. Ihr Freund und Lehrer Chi konnte stolz auf sie sein.

Sie machte einen Bogen um die Blutlache

Lydia Klimm fuhr mit offenem Verdeck und ließ sich den Wind durch die grauen Haare wehen. Der brünstig röhrende Sportwagen passte überhaupt nicht zu ihr. Passanten und Neugierige waren regelmäßig irritiert, wenn sie sahen, wie sich eine mütterlich wirkende Zweiundsechzigjährige ächzend aus dem engen Zweisitzer schälte. Und noch größer wurde das Erstaunen für diejenigen, die miterleben konnten, dass die biedere Dame auch noch das Kommando am Tatort hatte. Lydia war Hauptkommissarin und Leiterin der achten Mordkommission. Das Fahrzeug war ein Erbe ihres verstorbenen Mannes, der ein Faible für hart gefederte englische Oldtimer mit Speichenrädern und spritfressenden Motoren gehabt hatte. Ihr eigener Stil war es nicht, aber es gehörte zu ihrer Trauerarbeit, diesen unbequemen Sportwagen so lange zu fahren, bis er seinen Geist aufgab, doch bei der Qualitätsarbeit des Modells war es höchst unwahrscheinlich, dass sie das zu ihren Lebzeiten noch erleben durfte.

Die Zehlendorfer Gründerzeitvilla, vor der sie nun in zweiter Reihe hielt, war bereits mit den Einsatzfahrzeugen von Polizei und Spurensicherung zugestellt. Eine üppige Hecke vor dem Haus hatte es den Einbrechern mal wieder zu leicht gemacht, erkannte sie, als sie auf dem Weg zum Eingang die verbogenen Gitterstäbe des Küchenfensters bemerkte. Ein Nachbar, dem aufgefallen war, dass die Gartenpforte nicht richtig geschlossen war, hatte die Anzeichen eines Einbruchs entdeckt.

»Guten Morgen, ihr Lieben«, grüßte sie die Gestalten in den weißen Schutzanzügen, die mit der Spurensuche beschäftigt waren. Das Opfer lag in einer riesigen Blutlache auf den Marmorfliesen im Flur neben der Tür zur Küche. Ein Metallgestell war über der Leiche aufgeklappt worden, auf dem der Gerichtsmediziner kniete, um bei seiner Untersuchung keine Spuren auf dem Boden zu zerstören.

Auf einem Stuhl neben der Haustür saß Torsten Nagel, Lydias Stellvertreter und der zweite Hauptkommissar des Teams, konzentriert über seinen Laptop gebeugt. »Morgen, Frau Klimm«, murmelte er, ohne aufzublicken.

»Schon was gefunden, Torsten?« Lydia lächelte dem dürren Mann zu. In ihrem Team, in dem sie die meisten mit Vornamen anzusprechen pflegte, blieb sie respektvoll Frau Klimm, was nicht nur damit zu tun hatte, dass die anderen vier Kollegen und Kolleginnen der achten Mordkommission zwanzig bis dreißig Jahre jünger waren, sondern auch die Tatsache würdigte, dass sie die Witwe eines exzentrischen Malerfürsten war und sich in Welten bewegte, mit denen die anderen wenn überhaupt, dann nur während einer gemeinsamen Mordermittlung in Berührung kamen.

»Sieht nach Profis aus, so wie sie die Alarmanlage ausgetrickst haben«, erklärte Torsten. »Ich versuche gerade, den Eigentümer ausfindig zu machen.«

»Nicht nötig. Bastian Lorenz, ein Sammler meines Mannes. Wenn er nicht hier ist, hält er sich meistens in seinem Ferienhaus auf Sylt auf.«

Torsten schaute hoch. »Wie sollen wir ihm das am Telefon sagen? Die Tote ist seine Tochter.«

»Sorg bitte dafür, dass ein Kollege auf Sylt ihn ausfindig macht. Er muss es heute erfahren. Stell dir vor, er liest es morgen in der Zeitung. Was ist denn gestohlen worden?«

Torsten zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Hier ist nichts durchgewühlt oder so. Vielleicht habe sie die Panik gekriegt und sind abgehauen.«

»Hallo, Frau Klimm! Wollen Sie bitte kommen?« Der kahl geschorene Gerichtsmediziner winkte zu ihr herüber.

Sie trat zu ihm auf die Metallbrücke und betrachtete das tote Mädchen darunter. »Dann legen Sie mal los, Doktor.«

»Also, Todesursache ist der Schnitt durch die Kehle. Ein schneller Tod, eher angenehm, würde ich sagen, auch wenn es gemein aussieht.« Er deutete auf das auf dem Boden liegende japanische Messer. »Beidseitig geschliffen und scharf wie ein Seziermesser, da fühlt man kaum etwas.«

»Und wann ist das passiert?«

»Fortgeschrittener Rigor mortis, etwas beschleunigt wohl noch durch ihren Kampf. Todeszeitpunkt zwischen ein und drei Uhr morgens, würde ich sagen.

»Natürlich«, sagte sie. »Die beste Zeit für einen Einbruch. Fingerabdrücke?«

»Stammen von ihr selbst, sagt die Spusi. Jemand scheint ihr die Hand mit dem Messer geführt zu haben.« Lydia nickte, als er auf eine bläuliche Druckstelle zeigte.

»Und hier haben wir etwas Interessantes«, erklärte er und hob vorsichtig mit einer Pinzette die Oberlippe der Leiche an. »Was sagen Sie dazu?«

Sie beugte sich über das Gesicht des Mädchens. »Sieht aus wie Hautfetzen zwischen den Zähnen. Und Blut. Ich würde sagen, sie hat jemanden gebissen.«

»Sauberes DNA-Material.« Der Gerichtsmediziner strahlte. »Können wir sie jetzt in die Obduktion bringen?«

»Ich brauche noch einen Moment.« Sie stieg von dem Metallgestell hinunter und stellte sich an den Treppenaufgang. Melinda hieß die Tochter, erinnerte sie sich. Sie war ein quirliger Teenager gewesen, als sie das Mädchen das letzte Mal gesehen hatte. Das war acht Jahre her, und da lebte Klimm noch. Sie waren zusammen hier gewesen, weil Bastian ein paar von Klimms Aquarellen erworben hatte. Und jetzt mussten sie ihm den Tod seiner Tochter beibringen, dachte Lydia. Sie sah, dass der Gerichtsmediziner sie ungeduldig beobachtete, und nickte ihm zu. »In Ordnung, wenn die Spusi hier fertig ist, könnt ihr sie haben.«

Sie machte einen Bogen um die Blutlache, um an der Küche vorbei in die hinteren Räume zu gelangen. Ihre Oberkommissarin Anke Baumann, eine dreißigjährige Frau mit dunkel geschminkten Augen und schwarzer Lederjacke, kam ihr entgegen. »Guten Morgen, Frau Klimm.«

»Morgen, meine Liebe. Würdest du dich bitte gleich um den Tatortreiniger kümmern?« Sie wies auf die Blutlache. »Der Vater des Opfers braucht nicht auch noch ihr Blut zu sehen.«

Bastian Lorenz war ungefähr ihr Jahrgang. Wie viele hatte er sein Geld in den Neunzigerjahren gemacht, als Berlin begann, sich in eine Weltstadt zu verwandeln. Ihm gehörten ein halbes Dutzend Mietshäuser und ein paar Firmenbeteiligungen. Was Bastian in ihren Augen auszeichnete, war seine Begeisterung für moderne Malerei. Das Zimmer, das Lydia betrat, erinnerte mehr an eine Galerie als an ein Wohnzimmer. Bis auf wenige edle Sitzgelegenheiten war der große Raum völlig leer. Ein wenig Stolz kam in ihr auf, als sie den Bilderzyklus von Klimm entdeckte. Die Aquarelle hingen immer noch an der gleichen Stelle wie damals. Die Wand daneben füllte eine großformatige Neuanschaffung, ein Clemente, dessen wilde Schönheit sie unwillkürlich einnahm, obwohl sie wusste, dass Klimm außer sich gewesen wäre, eine solche Malerei neben seinen eigenen Werken dulden zu müssen. Klimm hatte nur wenige Künstler als ebenbürtig anerkannt. Einer davon war Matisse, aber dort, wo dessen Gemälde mit den roten Goldfischen gehangen hatte, war nur eine leere Wand mit zwei einsamen Haken.

Sie trat wieder in den Flur, wo das Mordopfer in den Leichensack verschlossen wurde. Vom Eingang kamen zwei Polizisten mit dem Transportsarg herein. Hinter ihnen fand sie Torsten.

»Das war kein normaler Einbruch. Die hatten es auf ein bestimmtes Kunstwerk abgesehen.«

»Da wo die leere Wand ist?«

»Genau. Das letzte Mal, als ich hier war, hing da noch ein Matisse.«

»Sie meinen, die haben das recherchiert?«

»Garantiert. Das waren Experten. Schätz mal, was ein Matisse wert ist?«

Torsten kratzte sich an der Stirn. »Keine Ahnung. Vielleicht hunderttausend?«

Sie lächelte. Plötzlich stellte sie sich vor, wie wütend Klimm gewesen wäre, wenn er hätte erfahren müssen, dass seine Bilder von den Einbrechern verschmäht worden waren. Auch Kunstdiebstahl war ein Ausdruck der Wertschätzung.

»Es gibt Künstler«, sagte sie nachdenklich, »die ihre eigenen Bilder stehlen, nur um sich wichtiger zu machen und ihre Preise hochzutreiben.«

»Aber Matisse ist doch tot, oder nicht?«

»Schon lange. Deshalb sind seine Werke heute Millionen wert.«

»Ach du Scheiße«, entfuhr es Torsten.

»Ich denke, die haben das Haus schon länger observiert. Frag mal nach, ob die Streife hier in letzter Zeit was Auffälliges registriert hat. Irgendwelche herumlungernden Personen zum Beispiel.«

»Wir haben eine komische Meldung bekommen«, erklärte Torsten. »Die Streife hat gestern Abend jemand dabei erwischt, wie er sich offenbar an der Hecke zu schaffen machte. Er gab aber vor, mit dem Fahrrad gestürzt zu sein.«

»Warum erfahre ich das erst jetzt? Wer ist die Person?«

Torsten zuckte mit den Schultern. »Der Bericht ist etwas verworren. Jedenfalls haben sie die Kopie eines Studentenausweises. Ein Graf von und zu irgendwas.«

Sie winkte ungeduldig ab. »Mach den Herren ausfindig und bring ihn mir.«

Den hässlichen Riss hatte er völlig vergessen

Hasi war noch nicht ganz wach, als er hörte, wie sich draußen ein Schlüssel im Türschloss drehte und kurz darauf energische Schritte durch den leeren Flur hallten. Schon stand sein Arbeitgeber im Zimmer und rüttelte heftig an seinem Schlafsack.

»Was, noch in den Federn, du alte Filzlaus? Na, komm schon! Der frühe Vogel und so weiter!«, rief Thomas, während er sich dicht über Hasis Gesicht beugte.

»Oje. Wie viel Uhr ist es denn?« Hasi versuchte sich aus der befremdlichen Enge zu winden und richtete sich auf, um seine Hose von einer Sitzgelegenheit zu ziehen, die als Nachtisch und stummer Diener zugleich herhalten musste. Das sterile Einzimmerappartement war nur symbolisch eingerichtet, mit einigen Imitaten aus der klassischen Moderne, gerahmten Postern von einer Mondrian-Ausstellung und einem Regal aus Stahlrohr und Panzerglas mit ein paar Büchern, die ein kulturelles Ambiente suggerieren sollten. Hasi nächtigte seit einigen Tagen auf einem abweisend würfelförmigen Sofa. Er kam sich hier vor, als schlafe er in der Warenauslage eines Möbeldiscounters, aber man wollte sich nicht beklagen, denn dafür durfte er umsonst hier wohnen. Das improvisierte Quartier war eine Musterwohnung, die Thomas in einem halb fertigen Immobilienprojekt direkt an der Autobahnauffahrt Detmolder Straße für kaufwillige Interessenten eingerichtet hatte. Die Fenster gingen nicht auf, dafür hörte man den Lärm der Autobahn glücklicherweise nur gedämpft. Die Küche war nicht angeschlossen, die Schränke waren allesamt Attrappen, und er hatte seinen Fehler vom ersten Tag nicht noch einmal wiederholt, eine Tür aufmachen zu wollen, die er nach einem beherzten Versuch als abgerissene Pappe in der Hand gehalten hatte.

Thomas fing ungeduldig an, Hasis verstreute Habseligkeiten in den Koffer zu werfen, während der sich anzog. »Bitte, das musst du nicht für mich machen«, protestierte er und übernahm das Einpacken, um seine Sachen vor dieser groben Handhabung zu schützen. »Kriegst du Besucher? Soll ich für den Tag das Feld räumen?«

Thomas setzte sich aufs Sofa und sah Hasi vorwurfsvoll an. »Ich wollte nur mal wissen, wie es gestern in der Villa gelaufen ist«, sagte er gedehnt. »Die Kunden wollen auf einmal nicht mehr mit mir reden.« Er bemühte sich sichtlich um Lässigkeit. »Hast du ihnen vielleicht Angst eingejagt?«

»Das kann ich dir erklären«, antwortete Hasi und zog sein Notizbuch aus der Jackentasche. »Ich fürchte, man hat dich bei diesem Objekt zu übervorteilen versucht. Die Wohnung hat ein paar gravierende Mängel, auf die ich die Herrschaften glücklicherweise noch rechtzeitig hinweisen konnte.«

»Das kann nicht sein! Die Baufirma hat erstklassig gearbeitet.«

»Erstklassig kann man die Arbeit nicht mit gutem Gewissen nennen.« Hasi zeigte auf seine Notizen. »Plastik statt Stuck, falsche Säulen, Laminat dort, wo Parkett sein sollte. Bedaure, aber ich kann nur sagen, wie es ist.«

»Und das hast du denen auch so gesagt?«

»Keine Sorge, sie haben es sehr gut aufgenommen.«

Thomas schüttelte betrübt den Kopf. »Mensch Hasi, das waren erstklassige Klienten!«

Hasi nickte. »Meine Beratung hat ihnen gefallen. Ich bin mir sicher, dass sie eine der nächsten Wohnungen kaufen werden, vorausgesetzt natürlich, dass die dann in Ordnung ist und der Preis stimmt.«

Thomas hob die Stimme. »Wo lebst du denn? Es gibt doch in Berlin kaum bezahlbare Wohnungen auf dem Markt. So eine Villenetage kann doch ein Schimpanse verkaufen!«

»Wozu brauchst du mich dann?«, fragte Hasi verwirrt.

»Das frage ich mich allmählich auch.«

Thomas legte fürsorglich eine Hand auf Hasis Arm.

»Entschuldigung. Hasi, du machst dir deine Aufgabe nicht leicht, wirklich nicht. Und ich habe es mir auch nicht leicht gemacht, das kannst du mir glauben, mein Freund. Du hast ein fantastisches repräsentatives Potenzial. Damit kannst du überall was erreichen. Dir steht die Welt offen mit deinem Namen und deinem Auftreten.«

»Danke.« Es war ihm unangenehm, wenn man ihn ausgerechnet für seine Herkunft lobte.

»Denn so, wie die Sache steht«, fuhr Thomas fort, »werde ich leider auf deine Hilfe verzichten müssen.«

»Ach so.«

»Für dich ist das auch besser«, fügte Thomas schnell hinzu. »Jemand wie du sollte die Chance haben, richtiges Geld zu verdienen. Du hast ja bei mir die ganze Zeit umsonst gearbeitet.«

»Bitte mach dir deswegen keine Gedanken. Es hat mir Freude gemacht. Außerdem muss ich ja keine Miete zahlen.«

»Das hätte ich fast vergessen. Du musst hier leider raus.«

»Jetzt gleich?«

»Wenn es dir keine Mühe macht. Wir haben in einer halben Stunde einen Besichtigungstermin. Und dann geht es im Stundentakt weiter.« Thomas hob entschuldigend die Hände. »The show must go on. Übrigens, diese zweihundert Euro Vorschuss …«

»Klar, die bekommst du zurück, selbstverständlich.« Hasi griff nach seinem Portemonnaie, obwohl er das Geld natürlich längst angebrochen hatte. Er konnte nur hoffen, dass der Freund sich vorläufig mit der Hälfte zufriedengeben würde.

Thomas winkte ab. »Bitte, das eilt doch nicht. Wann auch immer.« Er grinste plötzlich. »Was ist dir denn passiert? Kleine Schlägerei unter Rittersleuten? Na, dann möchte ich mal nicht wissen, wie der andere aussieht, haha!«

Hasi folgte seinem Blick. Den hässlichen Riss in seiner Joppe hatte er völlig vergessen, doch wofür hatte man das praktische Gewebeband, das er für Notfälle immer mit sich führte? Es eignete sich fabelhaft dafür, sein kaputtes Sakko von innen so zu kleben, dass die Kalamität nicht weiter auffiel.

Ein erleichterndes Telefonat mit seiner Cousine Kiki später befand Hasi sich auf dem Weg zu ihrem Zehlendorfer Haus, wo zumindest sein Logisproblem für eine Weile gelöst sein würde. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, als er die Argentinische Allee in Richtung Westen radelte. Am Mexikoplatz kam er an einem Blumengeschäft vorbei und hielt an, um sein Gastgeschenk zu besorgen. Das künstlerische Arrangement bunter Sommerblumen mit etwas duftigem Grün dazwischen dezimierte sein spärliches Guthaben zwar um weitere achtzehn Euro, aber dafür war er mit dem Resultat sehr zufrieden. Eine charmante Verkäuferin half ihm, den verpackten Strauß auf dem Kofferdeckel zu befestigen, bevor er seine Fahrt am Schlachtensee entlang fortsetzte.

Als er in den Waldsängerpfad einbog, sah er schon von Weitem den verschnörkelten Giebel der Gründerzeitvilla über die Bäume emporragen. Kiki kam ihm durch den Garten entgegen. Sie sah mal wieder ziemlich verboten aus, trug einen Minirock aus giftgrünem Lackleder und ein Männerhemd aus schwarz glänzender Seide, das gut mit ihrer hellblonden Mähne kontrastierte.

»Da bist du ja endlich, Häschen!« Sie gab ihm einen Kuss auf den Mund und grinste, als sie den Koffer und die Blumen auf seinem Gepäckträger sah. »Wie praktisch, du hast gleich deine komplette Wohnungseinrichtung mitgebracht.«

»Die Blumen sind natürlich für dich, Kikilein.« Er wies auf ihren Rock. »Das Grün steht dir übrigens fabelhaft.«

»Habe ich extra für dich angezogen. Du siehst so etwas wenigstens, im Gegensatz zu meinem langweiligen Herrn Gemahl.« Sie gab ihm noch einen Kuss. »Danke für die Blumen. Komm rein. Das Rad kannst du in den Flur stellen.«

Er schob sein Fahrrad in die Eingangshalle, während sie voranging, um eine Blumenvase zu holen.

Kiki, geborene Donata Gräfin von Quermaten, und ihr Mann Dr. Johannes Brandmeier, Vorsitzender der Hamburger Privatbank Brandmeier & Anstetten, lebten seit zehn Jahren die perfekte Symbiose von verarmtem Adel und reichem Bürgertum. Die vor Energie überschäumende, exaltierte Kiki gab dem blassen Bankier etwas Farbe und Glamour, dazu noch ihre gesellschaftlichen Kontakte, und er bot ihr dafür ein solides Auskommen.

»Hasilein, ich muss dir ein Geständnis machen«, sagte Kiki, als sie ins Wohnzimmer gingen. »Der Schuppen im Garten ist leider nicht bewohnbar. Das blöde Dach ist vor ein paar Tagen eingekracht, und die Handwerker kommen erst nächste Woche, frühestens.«

»Aber du hast mir doch gesagt, es wäre alles tadellos.«

Sie lächelte. »Da habe ich wohl geflunkert. Schlimm?«

»Nein, wieso? Nur, ich versteh nicht ganz. Wozu soll das gut sein?«

»Wärst du denn sonst so schnell gekommen?«

Während Kiki in die Küche ging, wanderte Hasi zur Terrassentür und sah in den gepflegt verwilderten Garten hinaus, der sich hinter den großen Fenstern erstreckte. Zwischen rötlichen Kiefernstämmen schimmerte der zierliche weiße Gartenpavillon hervor. Ein abgebrochener dicker Ast hatte sich mitten durch das Dach gebohrt, es sah tatsächlich nicht gut aus.

»Wie ich dich kenne, hast du doch bestimmt Hunger«, sagte Kiki, als sie mit zwei Sektgläsern und einem Tablett mit Sandwiches zurückkam. »Ich freue mich ja so, dass du da bist!«

Hasi prostete ihr zu. »Sekt am Mittag, herrlich! Ich kann bestimmt auch bei Brezel unterkommen, wenn es zurzeit nicht passt.« Er nahm sich ein Sandwich.

»Johannes ist vorgestern nach Chicago geflogen, für eine Woche. So lange kannst du schon mal hier bleiben.«

Hasi strahlte. »Bist du sicher, dass ich dir nicht zur Last falle?«

»Im Gegenteil! Ich kann dich sehr gut gebrauchen, mein Häschen.« Kiki reichte ihm eine Einladungskarte. »Schon heute Abend kannst du dich nützlich machen und mich begleiten. Außerdem werde ich dich mit dem einen oder anderen meiner illustren Gäste bekannt machen. Vielleicht springt ja sogar ein netter kleiner Job dabei heraus. Hast du was zum Anziehen?«

Hasi hatte natürlich einen von Vetter Brezel abgelegten schwarzen Anzug in seinem alten Lederkoffer verstaut, und nachdem Kiki mit ihrem Notfallnähzeug ein Mottenloch unter dem Ärmel gestopft und eine kleine blanke Stelle mit dem Filzstift ausgebessert hatte, war er bestens für seinen Einsatz bei der Benefizveranstaltung vorbereitet.

Er musste hier weg, bevor sie ihm irgendeinAngebot machte

Auf der Bühne setzte eine kleine Combo ernster junger Männern mit halb heruntergelassenen Augenlidern an, ihren unbeteiligten Jazz herunterzuspielen. Das Kesselhaus in der Kulturbrauerei im Prenzlauer Berg, sonst eher Clubgängern und Touristen vorbehalten, quoll über vor Berliner Prominenz. Hasi war beeindruckt, wie Kiki es immer wieder schaffte, so viele wichtige Leute auf einmal zusammenzutrommeln und sie dann auch noch dazu zu bewegen, sich freiwillig von ihrem Geld zu trennen. Sie hatte ihn bereits einigen Unternehmern vorgestellt, die ihn auf ihre energische Ermutigung hin auch bereitwillig zu Vorstellungsgesprächen eingeladen hatten. Diese Tour kannte Hasi schon, und es tat ihm leid, Kikis Begeisterung im Vorfeld dämpfen zu müssen. Wenn man seinen mageren beruflichen und akademischen Werdegang unter die Lupe nahm, kühlte das anfängliche Interesse merklich ab, egal wie gut das Gespräch ansonsten auch laufen mochte. Doch Kiki ließ sich von solchen Bedenken nicht entmutigen. »Vertrau mir, Häschen, das ist meine Party, hier traut sich keiner, nein zu sagen«, bekräftigte sie und fügte hinzu, dass sie niemals einen nachträglichen Rückzieher akzeptierte. »Das wäre ja noch schöner! Denen steige ich so lange aufs Dach, bis sie klein beigeben.«

Ein Schwarm von Kellnerinnen strömte jetzt mit Tabletts voller delikater Kleinigkeiten heran. Hasi trat an einen der Stehtische und nahm sich ein Schälchen mit frittierten Garnelen. Eine junge Frau mit seidigen blonden Haaren ging vorbei, und er schluckte schnell seine Garnele hinunter. »Jowitha!«

»Hasi?«

»Darf ich dir sagen, du siehst fabelhaft aus!«

»Danke, Hasi!« Jowitha lächelte. Er sah, dass sich eine feine Haarsträhne aus ihrem damenhaften Knoten gelöst hatte, die sie mit einem kleinen Pusten wegzublasen versuchte. Die mädchenhafte Geste rührte ihn, er hatte sie schon gemocht, als er und Jowitha einige Monate liiert gewesen waren. Auf einmal erinnerte er sich nicht mehr, warum man damals eigentlich auseinandergegangen war.

»Was machst du denn hier?«

»Du siehst doch, ich stehe nur so rum.« Er grinste. »Aber jetzt wo du hier bist, hat sich das Herumstehen schon gelohnt. Es tut mir nur leid, dass ich dich gerade nicht küssen kann.« Er wies auf sein Garnelenschälchen. »Kann ich dir auch etwas holen?«

»Ich glaube, mein Mann bringt mir gerade etwas.«

Hasi stutzte, als er begriff. »Was – du bist verheiratet? Seit wann denn?«

»Die Hochzeit war vor drei Wochen. Es tut mir leid, aber die Feier war nur für den engsten Kreis. Sonst hätte ich dich natürlich –«

Er winkte ab. »Aber bitte, ist doch kein Thema. Ich freue mich für dich. Meinen herzlichen Glückwunsch!« Er merkte, dass seine Stimme mit seiner angestrengten Fröhlichkeit etwas laut geworden war, und räusperte sich dezent. Es war wieder einmal die gleiche Geschichte. Man mochte sich, war vielleicht auch mal verliebt gewesen, aber für eine ernsthafte Beziehung kam jemand wie er offenbar nicht in Frage.

»Da kommt er, Hasi, ich glaube, ihr kennt euch!« Jowitha strahlte.

Er drehte sich um, obwohl er schon ahnte, wer es sein würde. Und so war es natürlich. Auch wenn Sebastian inzwischen an den Rändern etwas unscharf geworden war, erkannte er ihn sofort, den alten Studienfreund, mit dem er in den ersten Semestern eine Bude geteilt hatte. Jetzt hatte er bestimmt schon ein gutes Auskommen und war bereits Partner in einer großen Kanzlei. Hasi gratulierte noch einmal und hörte sich mit halbem Ohr an, was die beiden für Zukunftspläne hatten. Alles entsprach in etwa den üblichen Vorstellungen von Glück: Eigenheim, Karriere und die Aussicht auf einen Badeurlaub auf irgendeiner Insel, deren Namen Hasi sich bestimmt nicht merken würde. »Entschuldigt mich bitte! Meine Cousine sucht mich schon.«

Er bahnte sich einen Weg durch die Menge, um in eine möglichst entfernte Ecke der Halle zu gelangen, wo auch das Licht schummriger wurde und er eine Chance hatte, sich unbehelligt wieder zu sammeln. Natürlich hatte Jowitha völlig recht, sich endlich jemanden zu suchen, der ihr ein gutes Leben bieten konnte, aber ihr so unverhofft zu begegnen, gab ihm einen Stich. So in Gedanken passte er nicht auf und wäre beinahe in eine Dame hineingerannt, die reaktionsschnell ihr Glas vor ihm rettete.

»Pardon«, sagte er, ohne genauer hinzusehen, und wollte bereits weitergehen, als sie sich ihm wieder in den Weg stellte.

»Nichts passiert, aber ich könnte Nachschub gebrauchen, mein Lieber.«

Die tiefe, verrauchte Stimme kam Hasi bekannt vor, er musste sich jedoch anstrengen, um die Frau bei der Beleuchtung zu erkennen. Sie hatte ein verlebtes Gesicht und trug einen zum Turban geschlungenen Seidenschal über ihren blondierten Haaren. Natürlich wusste er jetzt, wer sie war. Kiki nannte sie den »Tiger von Eschnapur«.

»Ah, Frau von Oltingen, ich bitte um Verzeihung.« Er beugte sich zu einem Handkuss vor. Eine Duftwolke aus Patchouli und Vanille wehte ihm entgegen.

»Aber, aber. Nicht so förmlich. Wir waren doch längst beim Du, Schätzchen!« Sie ließ seine Hand nicht los und schaute ihn herausfordernd an. »Ich bin die Angie, oder hast du das etwa vergessen.«

»Wie könnte ich?« Hasi rang sich ein Lächeln ab. Es war zu dumm. Bei den jungen hübschen Mädchen war er zwar als Tanzpartner begehrt, aber Chancen hatte er fast nur bei älteren Damen, denen es völlig schnuppe war, was er beruflich machte. Die nüchterne Kiki führte diese Misslichkeit auf seine mangelhaften Ernährerqualitäten zurück. Das war sein Schicksal, und die Baronin von Oltingen, eine Bekannte aus der Orientgesellschaft, schien das genau zu spüren.

»Warum machst du so ein trauriges Gesicht, Hartung? Liebeskummer?«

»Nein, nein, alles in Ordnung.« Er befreite seine Hand mit einem sanften Ruck. »Darf ich Ihnen etwas zu essen bringen?«

Sie winkte der vorbeikommenden Kellnerin. »Die haben hier keinen anständigen Whisky. Aber gegen den Durst wird das Prickelwasser reichen.«

Hasi nahm zwei Glas Sekt vom Tablett.

»Auf dich und mich!« Sie stieß mit ihm an. »Langweilige Party, lauter Spießer hier, findest du nicht?«

»Meine Cousine –«

»Ich kenne einen verschwiegenen kleinen Club hier ganz in der Nähe. Die haben einen guten Single Malt.«

Natürlich wollte er Frau von Oltingen nicht vor den Kopf stoßen, doch er musste hier weg, bevor sie ihm irgendein Angebot machte, aus dem er sich nur mit Mühe wieder herauswinden könnte. »Es war mir ein Vergnügen«, begann er und wollte einen höflichen Abgang einleiten, aber sie legte ihm einen Finger auf den Mund.

»Ah … ein Vergnügen … das freut mich aber. Das freut mich sehr!«

Er schüttelte den Kopf. »Bitte –« Hinter ihrer Schulter sah er seinen Vetter Brezel durch die Menge kommen und winkte ihm zu. Brezel musste die Panik in Hasis Gesicht erkannt haben, denn er schritt mit militärischer Zielstrebigkeit auf ihn zu. Der Korvettenkapitän – ein kompakter Mittfünfziger mit vollem Haarschopf, der akkurat auf seinem Kopf saß wie Kunstrasen – hieß eigentlich Ludwig Baron von Ettal und hätte, wenn man ihn fragen würde, nicht den geringsten Schimmer gehabt, wie er zu seinem komischen Spitznamen gekommen war.

»Mein Lieber, ich dachte schon, du seiest desertiert!«, rief er und griff Hasi am Arm. »Ich werde Ihnen den Kameraden jetzt leider entführen müssen, Frau von Oltingen, unsere Gastgeberin sucht ihn schon. Dienst am Buffet pipapo.«