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»Der Mitternachtsberg« von Jean-Marie Blas de Roblès ist ein Roman über eine außergewöhnliche Freundschaft, ein magisches Tibet - und eine abenteuerliche Reise, auf der Wahrheit und Lüge ineinander verschwimmen. Bastien ist Hausmeister einer Schule in Lyon. Er liebt Tibet und lebt so zurückgezogen wie ein buddhistischer Mönch. Als die alleinerziehende Rose mit ihrem kleinen Sohn in Bastiens Nachbarschaft zieht, beginnen sich der geheimnisvolle Einzelgänger und die junge Historikerin einander anzunähern. Schon bald beschließen sie gemeinsam nach Tibet aufzubrechen – eine abenteuerliche Reise, auf der Bastien zum ersten Mal das Schweigen über seine dunkle Vergangenheit brechen wird und Rose eine unglaubliche Geschichte erfahren soll. Eine Geschichte, die sie und den Leser in eine Zeit zurückführt, in der die Nationalsozialisten angeblich eine okkultistische Expedition nach Tibet unternommen haben sollen. Ein tiefgründiger wie ergreifender Roman über eine ungewöhnliche Freundschaft und ein unterdrücktes Tibet vom preisgekrönten französischen Autor Jean-Marie Blas de Roblès. »Blas de Roblès brilliert mit seinen lebendigen und phantastischen Reisebeschreibungen des unterdrückten Tibet.« Le Canard enchaîné
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2017
Jean-Marie Blas de Roblès
Der Mitternachtsberg
Roman
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
FISCHER E-Books
Zwei Vögel, in Freundschaft eng verbunden, sitzen auf demselben Baum. Der eine frisst von der süßen Feige. Fastend schaut der andere aufmerksam zu.
Mundaka-Upanishad
Er war ein jugendlicher alter Herr, der Hausmeister des Lycée Saint-Luc, einer jener wie falsch wirkenden Greise mit Kindergesicht unter einer Perücke und drei oder vier grob aufgeschminkten Falten um die Augen herum. Die Schüler nannten ihn das Wiesel, die Lehrer bei seinem Namen Monsieur Lhermine. Ein zum Mobiliar der Schule gehörender Lyoner, ein bedauernswerter Kerl, niemand hätte gedacht, dass er dereinst bei Berlin sterben würde, in enger Fühlung zu dem Skandal, der sein Leben über den Haufen geworfen hatte.
Eines schönen Dezembermorgens erwachte Bastien Lhermine seiner Gewohnheit gemäß gegen fünf Uhr früh; er schlug die Augen nur auf, um einem allzu vertrauten Albtraum zu entkommen, einer unvermittelten Flut von Nägeln und Aas.
Die Häufigkeit dieses Traums beunruhigte ihn mittlerweile, denn er legte einen melancholischen Schatten auf die ersten Momente seines Tages. Bastien stand auf, faltete seinen Schlafanzug sorgfältig zusammen, rollte die alte Bambusmatte auf und begann mit den morgendlichen Tai-Chi-Übungen.
Die traditionelle Form namens »Der weiße Kranich breitet seine Flügel aus« mochte er besonders gern; er genoss die Kunstfertigkeit der verschiedenen Stellungen, die Langsamkeit und das Fließen, die nötig waren, damit die Nachahmung nicht lächerlich wurde. Bastien vollführte seine Übungen nackt in seiner kleinen Zweizimmerwohnung im Haus Nummer sechs in der Rue d’Auvergne, die Fenster auf die noch kaum anbrechende Dämmerung des Stadtteils Fourvière geöffnet, und er brauchte keinen Spiegel, um sich der Eleganz seiner Bewegungen bewusst zu sein. Ihre Exaktheit spürte er an der Energie, die während der Ausführung sein ganzes Wesen erfüllte. An jenem Morgen erwies sich diese Gymnastik jedoch als weniger effektiv denn sonst: Der Wechsel in der Direktion des Gymnasiums machte Bastien mehr zu schaffen, als er sich eingestehen wollte. Dass man Père Fargeot in den Ruhestand versetzt hatte, war durch dessen hohes Alter gerechtfertigt, doch sahen alle einmütig darin ein Zeichen für die Machtergreifung der jungen Garde der Jesuiten in der Anstalt. Diese Schule gehörte ebenso wie das Gebäude, in dem Bastien, der Hausmeister, wohnte, der Gesellschaft Jesu, etwas, das ihm bislang nur zu recht war, doch jetzt drohte die Ankunft des neuen Direktors die Karten neu zu mischen. Dieser Père Metz trug keine Soutane, er war so elegant gekleidet, dass sein weißer Kragen und das winzige, am Jackenaufschlag steckende Kreuz eher modischer Schmuck zu sein schienen als die Insignien seines Standes. Als er am Morgen zuvor sein Amt antrat, hatte er es sich nicht nehmen lassen, einen jeden einzeln zu begrüßen. Alle waren sie im Hörsaal des Gymnasiums versammelt; Lehrer, Verwaltungsangestellte und sogar die Putzfrauen kamen in den Genuss seines Handschlags, begleitet von einer kleinen, liebenswürdigen Bemerkung.
Bastien wusste nicht, was der Direktor zu den anderen gesagt hatte, doch war ihm die herablassende Leutseligkeit des Mannes aufgefallen und ihm selber gegenüber der unerträglich schmeichelhafte Tonfall, hinter dem sich Verachtung gegenüber Untergebenen zu verbergen pflegt. Nichts hätte allerdings auch nur zur geringsten Befürchtung Anlass gegeben, höchstens der böse Blick von Mademoiselle Chubileau, der alten Ziege von Verwalterin. Er zeigte Bastien, dass sie bereit war, die Feindseligkeiten ihm gegenüber wieder aufleben zu lassen, jetzt, da er nach Père Fargeots Abschied ohne Beschützer in der Schule dastand. Gleich am Nachmittag hatte er sie vor dem Büro des Direktors ertappt; ihr Blick, in dem schlechtes Gewissen und die Selbstzufriedenheit der erfüllten Pflicht miteinander wetteiferten, verriet ihm, dass sie die erste Gelegenheit ergriffen hatte, um ihr Gift zu versprühen. Nur wenig später benachrichtigte die Sekretärin von Père Metz Bastien, der Direktor wünsche ihn gleich morgen früh um neun Uhr zu sprechen, wenn ihm das passe.
Auf das Fensterbrett gelehnt, sann er nun über all das nach. Allmählich wurde es Tag auf dem Hügel von Fourvière, nach und nach tauchten die vertrauten Einzelheiten auf: Links die Kirche Saint-Just, ein wenig entfernt, doch an den von innen erleuchteten Fenstern gut erkennbar, dann die massiven Streben des früheren Paulaner-Klosters, die Stützmauer des römischen Theaters gleich oberhalb der Antiquaille und schließlich die Basilika Notre-Dame neben ihrem kleinen Eiffelturm. Zusehends wurden die sich an die Abhänge schmiegenden roten Dächer unterscheidbar, die Platanen- und Zypressenhaine, die safrangelben Mauern, all das erbebte in der aufkommenden Helligkeit und gab diesem Teil der Stadt das Gepräge einer aus der Zeit gefallenen Akropolis. Bastien konnte sich nicht daran sattsehen, eine Art Fata Morgana, deren Zauber mit dem Erscheinen der Sonne seinen Höhepunkt erreichte; wenn an schönen Wintertagen, wie es heute einer zu werden versprach, der erste Strahl die byzantinische Masse von Notre-Dame traf, ihr Mauerwerk weißte, und sich die zinnenbewehrten Türme vor dem tiefblauen Himmel abhoben, dann transformierte das die Schwerfälligkeit des Gebäudes, das sonst wie ein umgestürzter Dickhäuter wirkte. Ganz oben flammte die vergoldete Jungfrau auf, und trotz des Fernsehsenders, der die Aussicht ein wenig störte, erhielt das Ensemble eine orientalische Dimension, oder, um es gleich zu sagen: Bastien sah eine Ähnlichkeit mit einem tibetanischen Tempel, so dass an diesem Augenblick des Tages stets seine Sehnsucht danach erwachte, eines Tages doch noch auf den Terrassen des Potala-Palastes zu stehen. Dieser geheime Traum war durchaus kein Hirngespinst, sondern sein ganzes Streben, sein größter Wunsch, das letzte Teil, das noch zu dem lachhaften Puzzle fehlte, das man das Leben eines Mannes nennt. Es war Bastien nur zu klar, dass er nicht die geringste Chance hatte, jemals nach Lhasa zu kommen – trotz seiner bescheidenen Lebensführung konnte er mit seinem schmalen Hausmeistergehalt gerade so überleben –, doch litt er weniger an dieser Unmöglichkeit als daran, dass er sich wieder einmal beim Wünschen ertappte, ein Beweis dafür, wie weit er noch vom Erreichen seines buddhistischen Ideals entfernt war.
Als Bastien wenig später am selben Tag auf den Treppenabsatz des vierten Stocks herunterkam – als selbstverordnetes Training nahm er nie den Fahrstuhl –, begegnete Bastien der Frau, die unter ihm wohnte. Soweit es ihr enger Rock erlaubte, versuchte sie, in der Hocke ihrem Sohn den Mantel zuzuknöpfen, dabei kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und fluchte, als ihr klarwurde, dass sie die Autoschlüssel auf dem Tischchen im Bad vergessen hatte.
»Guten Tag«, grüßte Bastien freundlich. »Zu früh scheinen Sie ja nicht gerade dran zu sein.«
»Nein, wirklich nicht. Ich weiß auch nicht, wie ich das anstelle, aber es ist jeden Tag derselbe Zirkus. Hör auf, Paul! Halt still, wenn ich dich anziehen soll … Und du willst schon fünf sein? Was soll Monsieur Lhermine von dir denken, hm? Ich hoffe, er stört Sie nicht zu sehr …«
»Keine Sorge, ich höre ihn überhaupt nicht. Und wenn doch, was soll’s! Kinder brauchen Bewegung, da herrscht wenigstens Leben im Haus …«
Rose Sévère war kürzlich hier eingezogen, und soweit Bastien wusste, lebte sie mit ihrem Sohn allein. Sie war eine gutaussehende Rothaarige in den Vierzigern, mit braunen Augen und einem recht markanten Schönheitsfleck unter dem linken Nasenloch. In ihrem Blick lag eine sympathische Traurigkeit, wegen der er sie gern näher kennengelernt hätte, doch da sie ebenso zurückhaltend schien wie er selbst, beschränkte ihre Nachbarschaft sich auf den Austausch einiger höflicher Worte.
Unten in der Toreinfahrt prüfte Bastien, ob die beiden großen Flügel der Holztür zur Rue d’Auvergne hinaus ordentlich fixiert waren, dann ging er zurück zu der elektrischen Schranke, die Zugang zum Lehrerparkplatz bot. Korrekt, wie er war, benutzte er die kleine Gittertür, schlängelte sich zwischen den wenigen bereits geparkten Autos hindurch und gelangte direkt auf den Schulhof des Lycée Saint-Luc. Dass er so nah an seinem Arbeitsplatz lebte, war zugleich Vorteil und lästig: Zwar verlor er keine Zeit mit dem Weg zur Arbeit, doch war ihm so auch keine Pause gegönnt. Die Pflichten als Hausmeister, die sich aus seinem ungeschriebenen Vertrag mit Père Fargeot ergaben, umfassten auch die Überwachung des Schulgeländes während sämtlicher Ferien; vor allem deswegen gönnte man ihm die beiden Fenster zum Hof hinaus mit direktem Blick auf das Gymnasium. Die Nächstenliebe seiner Wohltäter hatte Bastien all diese Jahre über auf seiner Stelle gefangen gehalten; er beklagte sich darüber nicht, sondern sah in dieser fast klösterlichen Verpflichtung eine Art Gerechtigkeit, auf der auch sein inneres Gleichgewicht beruhte.
Um Punkt neun Uhr ließ man ihn in das Büro des Schuldirektors, dessen ausweichender Blick ihm sofort sagte, dass dieses Gleichgewicht aufgekündigt war.
»Guten Tag, Monsieur Lhermine, bitte setzen Sie sich doch. Was ich Ihnen zu sagen habe, wird vielleicht nicht recht angenehm sein, darum möchte ich es kurz machen. Mein Vorgänger hat darauf Wert gelegt, mir Ihre Situation genau zu erklären. Er hat mir alles berichtet, von Anfang an – ich betone, alles … Sie verstehen gewiss, worauf ich anspiele?«
»Gewiss«, entgegnete Bastien und ließ sein Gegenüber nicht aus dem Blick.
»Ich habe Sie nicht zu beurteilen und werde es auch nicht tun. Père Fargeot hat so warm zu Ihren Gunsten gesprochen, dass ich mich bei den Gerüchten nicht aufhalten will, die manche aufrechten Seelen über Sie verbreiten; ich war sogar bereit, dieses Arrangement hinzunehmen, das sie nichts als seinem Mitleid verdanken, doch bei erneuter Aktendurchsicht bin ich auf Ihr Geburtsjahr gestoßen … Sind Sie wirklich im März 1916 geboren worden?«
»Ja, Herr Direktor.«
»Dann ist Ihnen auch klar, dass Sie schon seit langem in Rente sein müssten. Sie werden es wohl nicht wissen, aber Père Fargeot hätte Sie schon rein rechtlich unter diesen Umständen nicht weiter beschäftigen dürfen. Ich trete hier an, um wieder etwas Ordnung in unser schönes Gymnasium zu bringen, und Sie werden begreifen, dass damit eine strikte Beachtung der Gesetze einhergehen muss …«
»Und das soll heißen?«
»Das soll heißen, Monsieur Lhermine, dass Sie ein wenig an den Ruhestand denken sollten. Mit Rücksicht auf Père Fargeot und den laufenden Finanzplan werden wir Ihre Dienste noch bis zum Ende des Schuljahres in Anspruch nehmen. Ihr Nachfolger beginnt dann Anfang Juni; ich verlasse mich darauf, dass Sie ihn einarbeiten. Die mit der Renovierung Ihrer Räume beauftragte Firma wird ihre Arbeit erst am ersten August aufnehmen, also haben Sie«, er rechnete im Geiste nach, »acht Monate, um Ihre Vorkehrungen zu treffen.«
»Entschuldigen Sie«, konnte Bastien irgendwie hervorbringen, »aber Père Fargeot hat Ihnen vielleicht nicht die genaue Form meiner Vergütung geschildert … Ich meine, wenn Sie mir die Wohnung wegnehmen, kann ich keine andere mieten. Überhaupt keine andere.«
»Darauf wollte ich jetzt zu sprechen kommen. Dank seiner guten Beziehungen hat Père Fargeot für Sie einen Platz in der Residenz Louis-Pradel am Boulevard de la Croix-Rouge finden können. Sie brauchen nur noch dort vorzusprechen mit dem Empfehlungsschreiben, das Ihnen zu gegebener Zeit ausgehändigt wird.«
»Sie schicken mich also ins Heim …«
»Daran ist nichts Herabsetzendes. Père Fargeot ist selbst in ein solches Haus gezogen, das die Gesellschaft in der Rue Grenelle in Paris unterhält. Und wenn ich mich nicht täusche, ist er deutlich jünger als Sie …«
Angesichts von Bastiens Schweigen blickte der Direktor auf die Uhr und stand auf:
»So. Ich bedaure wirklich sehr, dass wir uns unter solchen Umständen kennenlernen, aber ich hoffe doch, dass Sie erkennen, wie viel Sie diesem Gymnasium und unserem Orden verdanken, sehr viel mehr als umgekehrt. Wie auch immer, vergessen Sie nicht, das ist nichts Persönliches. Ich schließe Sie in meine Gebete ein.«
Die Ankündigung, dass man ihn loswerden wollte, bewirkte bei Bastien weder Bedrücktheit noch Empörung, sondern es war, als hätte man eine Krankheit diagnostiziert, von der er schon längst wusste, dass sie ihn befallen hatte. Sorgfältig und zuverlässig wie immer erledigte er seine Arbeit und ging erst im Dunkeln nach Hause, eine Stunde, nachdem die letzte Putzfrau das Schulgebäude verlassen hatte.
Am 8. Dezember findet in Lyon alljährlich die Fête des Lumières statt, das Lichterfest. Abends stellen alle Einwohner kleine Kerzen auf ihre Fensterbretter, und die ganze Stadt wird zu einem flackernden Traumbild. Bastien hatte sich immer gern an dem charmanten Ritual beteiligt; der Tradition gehorchend, stellte er Teelichter auf und grüßte die Kinder, die hinter den erleuchteten Fenstern auf der anderen Straßenseite winkten. Als ihm klarwurde, dass er das wahrscheinlich zum letzten Mal tat, musste Bastien doch seufzen. Im Sommer würde sein Leben eine so grundlegende Wende nehmen, dass man sich mit Recht fragen konnte, ob die ihm bestimmte Zukunft das Weiterleben noch lohnte. Etwas in ihm beantwortete diese Frage entschieden und wie ohne Widerspruch zu dulden mit Nein.
Bastien machte sich einen Salat, dann wärmte er einen Rest Reis mit Butter und geriebenem Käse auf. Zum Essen setzte er sich gar nicht erst hin, sondern nahm seine kleine Mahlzeit auf einer Ecke der Spüle ein, so sehr drängte es ihn auf einmal, zu seinem Mandala zurückzukehren. Er hätte gar nicht sagen können, warum diese Struktur ihn so fesselte, doch zeichnete er seit seiner Jugend Mandalas, schon bevor er die Bedeutung dieser bunten, kreisförmig-geometrischen Anordnungen überhaupt kannte. Das allererste hatte er in der Tibet-Abteilung des Museums für asiatische Kunst gesehen, des Musée Guimet; es stellte das Rad der Zeit dar: eine Art Überlagerung von konzentrischen Kreisen und Vierecken in lebhaften Farben, bevölkert von geheimnisvollen Schriftzeichen, Monstern und nackten Leibern. Bereits als Kind hatte sich Bastien in diesem Labyrinth verlaufen und nie wieder hinausgefunden.
Seit der ersten Begegnung hatte er diese Formen unzählige Male kopiert oder neu erfunden. Ein Mandala aus Sand zu legen, hatte jedoch eine ganz andere Tragweite. Die kleinste falsche Linie, der geringste Fehler bei der Farbgebung konnten dramatische Folgen für das Karma haben. Erst im Frühling dieses Jahres hatte Bastien sich dazu entschließen können. Jetzt war das Werk so gut wie vollbracht, aber er arbeitete immer langsamer, erfüllt von einer Art Furcht, in der sich die Ungeduld, das Ende zu erreichen, mit der Angst vor der darauf folgenden Leere mischten. Der verschiedenfarbige Sand, den er dazu verwendete, stammte ausschließlich von seinen Spaziergängen durch die Stadt: der rote Ocker von der Place Bellecour, Gelb und Weiß verdankte er dem, was der Zufall ihm an Baustellen beschert hatte, das Blau hatte er vom Grund eines auf den Sperrmüll geworfenen Aquariums. Alle anderen Farben oder Nuancen waren das Ergebnis subtiler Mischungen zwischen diesen vier Grundfarben.
Obgleich er so wenig wie möglich an seinen üblichen Tagesablauf ändern wollte, stellte Bastien die Arbeit an dem Mandala schon nach einer Viertelstunde ein. Es gelang ihm nicht, sich zu konzentrieren, zu sehr grübelte er über die Folgen seines Gesprächs mit dem Schuldirektor nach. Als er sich aufrichtete – der Rücken tat ihm wegen der gebeugten Haltung am Tisch jetzt schon weh –, kam ihm unvermittelt die Idee, alle Kinder des Hauses zu einer kleinen Weihnachtsfeier einzuladen und auf diese Weise der erlittenen Kränkung eine gute Tat entgegenzustellen. Er würde kiloweise Bonbons und Schokolade kaufen, dazu etwas kleines Spielzeug, alles, was es braucht, um im Gedächtnis der Kleinen eine Spur zu hinterlassen. Ja, so wäre es gut.
Bastien verfasste ein Einladungsschreiben, steckte sich eine Rolle Klebestreifen in die Manteltasche und ging hinab in den Hauseingang, um das zusammengefaltete Blatt Papier an die Glastür des Windfangs zu hängen. Gedämpft hörte er die Musik vom Fest und ging aus der Haustür, um in dieser besonderen Nacht ein wenig Luft zu schnappen. Überall war die freudige Erregung zu spüren, die in der ganzen Stadt herrschte: Die Passanten beschleunigten den Schritt, um zu den beliebten großen Straßen zu gelangen, Paare hielten ganze Girlanden von Knirpsen an der Hand, die stolz ihre Lampions trugen, in den Augen aller funkelte der Widerschein der unzähligen Kerzen auf den dunklen Fassaden. Die Musik kam vom Square Ampère, wo ein Studentenorchester afrokubanische Rhythmen spielte. Auf dem Cours Victor-Hugo schob sich die Menge in Zeitlupe voran, wie von den fernen Lichtern geleitet, die die Kirche Notre-Dame de Fourvière anstrahlten. Bastien ließ sich mittragen und tauchte in der allgemeinen Fröhlichkeit unter.
Kurz hinter der Place Bellecour, mitten auf dem Pont Bonaparte, hatten zwei geschickte Mädchen Flaschenzüge installiert, mittels derer sich Windlichter, die beschriebene Zettel trugen, auf das Wasser der Saône hinabsenken ließen. Die Leute drängten sich um einen Tisch, zahlten ein paar Cent und vertrauten ihre geheimen Wünsche dem guten Willen des Flusses an. Bastien ließ sich anstecken, kritzelte zwei Zeilen auf einen der für die Schaulustigen bereitgehaltenen Zettel, faltete ihn zweimal und übergab ihn der lächelnden jungen Frau, die ihren originellen Stand betreute. Dann sah er zu, wie sie sein Briefchen in ein kleines leeres Joghurtglas legte und ein brennendes Teelicht daraufstellte. Sie tat sein Glas zu einem guten Dutzend anderer in einen Drahtkorb, auf dessen einer Seite die Streben entfernt waren. Immer langsamer wurde er dann hinabgesenkt, bis er das Wasser berührte und die kleine Flotte hoffnungstragender Lichter der Strömung übergab. Bastien blickte ihnen voll Rührung hinterher und dachte nach, was in all seinen Träumen wohl das Bild des Potala-Palastes würde ersetzen können.
Als Rose am nächsten Morgen aus dem Fahrstuhl stieg, stand Madame Bretèche vor Bastiens Aushang.
»Haben Sie das da schon gesehen?«, fragte die Nachbarin und deutete auf die Glastür.
»Erst einmal: Guten Tag, Madame Bretèche«, antwortete Rose freundlich tadelnd. »Was soll ich denn bitte gesehen haben?«
»Oh, entschuldigen Sie … Ich bin so aufgebracht, dass ich ganz vergaß, Sie zu grüßen. Aber jetzt schauen Sie bloß, was dieser alte Knacker sich ausgedacht hat!«
»Aber das ist doch sehr freundlich von ihm«, sagte Rose, nachdem sie die Einladung gelesen hatte. »Umso mehr, als er wohl nicht geradezu in Geld schwimmt. Wenn tatsächlich alle Kinder des Hauses kommen, dürfte das ganz schön kostspielig werden … Hat er so ein Fest noch nie veranstaltet?«
»Nein, das ist in dreißig Jahren das erste Mal. Und was mich wirklich wundert … Ach egal, da kommt sowieso niemand.«
»Warum denn? Ich will mit Paul hingehen, und ich bin sicher, dass meine Nachbarn ihre Kinder auch schicken …«