Der Mond ist ein Licht in der Nacht - Jutta Schubert - E-Book

Der Mond ist ein Licht in der Nacht E-Book

Jutta Schubert

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Beschreibung

Jutta Schuberts Erzählungen sind Abschiedstexte zu Lebzeiten, die thematisch um Vergänglichkeit, Trennung und Flucht kreisen. Es geht darum, etwas zu bewahren, um das Leben weiterhin zu bestehen. Vom Vergehen der scheinbar endlosen Jugend bis zum beschwerlichen Alter. In allen Geschichten spielt der Mond motivisch eine Rolle, mal zentral, mal eher beiläufig. Der Mond ist das Licht in der Nacht, das ein alter Mann sieht, der in seinem Garten steht, den er nicht mehr bearbeiten kann. Es ist das Mondlicht, das die Flüchtlinge in einem französischen Camp benötigen, um nachts auf den Zug nach England zu springen. Oder er wird wie ein Amulett zum Schutzsymbol zweier Reisender.

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Table of Contents

Jutta Schubert: Der Mond ist ein Licht in der Nacht

Impressum

Widmung

Sommerschatten

Schneewittchens Flugzeug

Dann komme ich auch wieder

Drei Träume weiter

Show must go on

Der Mond ist ein Licht in der Nacht

Die Rücken der Kamele

Die Geschichte von Adam und Larissa

Die Besucherin

Die Pferde auf dem Hügel

Vielleicht der Regen

Battery Park

Halloween

Fahr nicht nach Cadaqués

Der Generalkonsul verliebt sich in Orenburg

Göttlich

Wir fangen noch mal an

Werbung

Jutta Schubert

Der Mond ist ein Licht in der Nacht

Erzählungen

Originalausgabe Februar 2023

Kulturmaschinen Verlag

Ein Imprint der Kulturmaschinen Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Freiburg

www.kulturmaschinen.com

Die Kulturmaschinen Verlag UG (haftungsbeschränkt) gehört allein dem Kulturmaschinen Autoren-Verlag e. V.

Der Kulturmaschinen Autoren-Verlag e. V. gehört den AutorInnen.

Und dieses Buch gehört der Phantasie, dem Wissen und der Literatur.

Umschlaggestaltung: Sven j. Olsson

Umschlagabbildung: wirestock

Eingestellt bei BoD

978-3-96763-256-9(kart.)

978-3-96763-257-6(geb.)

978-3-96763-258-3(.epub)

Für meinen Vater, der seinen Weg gefunden hat.

Und für Ina, die ihren Kampf verlor.

Heinz Leonhard Schubert, 1933 – 2017

Ina Decker, 1962 – 2018

Who wants to live forever?

Freddy Mercury

Sommerschatten

Zu der Zeit waren wir viel zu dritt unterwegs, Bastian, Tom und ich. Wir waren rausgefahren an dem Abend. Irgendwo im Hintergrund von Bastians Universum gab es Celia, aber die war für solche Touren nicht zu haben.

Ein bisschen war ich auch mit Celia befreundet. In der Klasse saß sie neben mir. Bastian und Tom be­suchten die Parallelklasse. Celia und ich teilten Stifte und Hausauf­gaben, Weingummis und Pausenbrötchen, aber es war eine Zweckgemeinschaft. Ich schämte mich, mit ihr gesehen zu werden, sie war klein und pummelig, trug eine hässliche grüne Brille, steckte ihre roten Haare zu einem Knoten hoch und sah damit aus wie die Schwester ­ihrer Mutter. Mir war das peinlich. Bastian ging offiziell mit ihr. Ich habe nie verstanden, was er an ihr fand. Er war groß, schlank, und sein blondes, halblanges Haar fiel ihm in die Stirn, was ihm etwas Verwegenes gab. Celia wirkte wie seine Gouvernante. Trotzdem waren die beiden eine feste Größe an unserer Schule, die Marke Celia und ­Bastian. Ich war keine Marke. Einfach nur ich.

Meine Freundschaft mit Bastian und Tom war besonders, stärker als jede Marke hätte sein können. Tom war Bastians bester Freund. Er konnte nichts mit Celia an­fangen, die meiste Zeit ignorierte er sie. Nie sprach er ihren Namen aus, ich denke, sie gehörte für ihn auf einen anderen Planeten. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals im Reihenhaus von Toms Eltern oder ihrem Garten gesehen zu haben. Bastian und ich gingen dort ein und aus.

Bei Bastian zu Hause war ich nie, da gab es irgendwelche schwierigen Verhältnisse. Und zu mir konnte ich meine Freunde nicht mitbringen. Meine Eltern empfanden jeden Kontakt ihres gut behüteten Einzeltöchterchens als Bedrohung, die verbal bekämpft wurde. Sie schotteten mich ab, so gut sie konnten. Deshalb trafen wir uns bei Tom.

An den Abenden in den Sommerferien Anfang ­August, wenn in der einsetzenden Dämmerung ein warmer, teeri­ger Geruch vom Asphalt aufstieg, und das Leben, das vor uns lag, endlos zu sein schien, fuhren wir zum See. ­Bastian besaß, seit er achtzehn geworden war, einen klapprigen mausgrauen Kadett, der Lack war stumpf, und man musste den Kassettenrekorder sehr laut stellen, um die Fahrgeräusche zu übertönen. Der See war eine still­gelegte Kiesgrube, Baden verboten. Bastian und ich schwammen nackt hinaus, der wasserscheue Tom blieb am Ufer zurück und drehte einen Joint.

Das Wasser war kalt, die Grube tief. Im Uferbereich wate­ten wir durch glitschige Pflanzen und weichen Schlamm. Tom fand das eklig, aber Bastian und mir machte es nichts aus. Das herrliche Gefühl, hinaus­zu­schwim­men, entschädigte uns dafür.

Neben Bastian zu schwimmen, war nicht einfach, er war Sport-Leistungskursler und schnell, und ich konnte noch nie gut kraulen. Draußen auf dem Wasser umfing uns das letzte Licht und eine dunstige schwere Stille. Wir ließen uns auf dem Rücken treiben und genossen den endlosen Himmel. Vereinzelt blitzten Sterne auf. Links überm Horizont stand hauchdünn die Mondsichel. Tom war ein Schatten im Ufergestrüpp und wir kehrten um. Bastian schüttelte seine nassen Haare wie ein Hund, es gefiel mir, die Spritzer abzubekommen. Wir zogen uns an, mir schlugen vor Kälte die Zähne aufeinander. Es war angenehm, in den warmen Kleidern zu trocknen.

Tom hatte eine Taschenlampe aufgestellt und wir saßen darum herum wie um ein Feuer. Vom Rauchen wurden Bastians Pupillen groß zum Hineinfallen, ruhig und schön. Ich rauchte nie mit. Sie akzeptierten das wie große Brüder, die ihre Schwester zärtlich beschützten, wenn der Joint zwischen ihnen hin und her wanderte und sie sorgfältig vermieden, dass er mir zu nahe kam. Ich genoss den herben Geruch, der von dem Stoff aufstieg, er gehörte für mich zu Tom und Tom gehörte zu Bastian und ich gehörte zu beiden.

Schräg über der Mondsichel stand die Venus am indigo­farbenen Himmel, über den von Osten die Nacht ihr sternen­besticktes Tuch ausbreitete. Wir waren frei, wie soll ich das erklären, dieses Gefühl, das einige Jahre andauerte und dann verging. Das Leben war so schmerzhaft nah und die Freiheit so überdeutlich, dass sie uns beinahe zerriss. Der See, der Himmel, das schlammige Ufer, das Schilfgras und der sanfte Wind in den Pappeln war für uns, wir befanden uns mitten darin, Teil davon, Beherrscher der Zeit, unsterblich.

Bastian lief zum Wagen, den er so nah wie möglich ans Ufer gefahren hatte. Er legte Musik ein und öffnete die Autotüren weit, Lola, Lady in Black, Smoke on the Water. Er schraubte die Vordersitze herunter und ich legte mich neben ihn. Die Hände hinterm Kopf verschränkt, sahen wir durch die Windschutzscheibe in den samtschwarzen Sommerhimmel. Neue Sterne gingen auf. Venus war nicht mehr allein.

Tom fing an, sich auszuziehen.

»Hey, was machst du?«, rief Bastian. »Doch noch die Fische besuchen?«

»Rüber, ans andere Ufer«, kam Toms kehlige Antwort.

Bastian und ich lachten. Tom war bekifft und kein guter Schwimmer. Wir hielten es immer noch für einen Scherz, nachdem er Jeans und T-Shirt als kleinen dunklen Haufen auf dem Kies zurückgelassen hatte und in Richtung Ufer stakste.

Take a Walk on the Wild Side. In der Ferne bellte ein Hund. Toms schmaler blasser Körper schimmerte im Dunkeln.

»Lass den Quatsch«, forderte Bastian ihn auf, und ich hörte, dass er es ernst meinte, obwohl er nur leicht die Stimme über Lou Reed erhoben hatte und sein Tonfall nichts von der ruhigen, Vertrauen einflößenden Bastianart eingebüßt hatte. Seine schöne dunkle Stimme trug ein Stück auf den See hinaus, wo winzige, plätschernde Wellen um Toms Füße leckten, der unbeirrt hineinstapfte.

»Du siehst doch gar nichts mehr!« Bastians Hand streifte meinen Arm, als er die Musik leiser drehte. Mich überlief ein Zittern.

Letzten Sonntag hatte Tom arbeiten müssen. Er hatte einen Ferienjob an den Wochenenden, als Nachtwache in einer kürzlich stillgelegten Fabrik. Alle zwei Stunden musste er mit einer großen Lampe und einem Riesenschlüsselbund einen Rundgang machen, bis morgens um sechs, dann kam ein Typ von der Wach- und Schließ­gesellschaft und löste ihn ab.

Bastian und ich hatten ihn oft abends dorthin gebracht. Aber diesmal war Tom mit seiner alten Kreidler gefahren, auf die meistens kein Verlass war. Bastian und ich blieben allein, wir kochten Spaghetti mit Tomatensoße, bei mir. Meine Eltern waren die zweite Woche verreist, ins Allgäu, ich hatte sturmfreie Bude. Das gehörte für mich zu den glücklichen Umständen dieses Sommers. In den Nächten schleppten wir die Matratzen auf den Balkon und schliefen zu dritt unter den Sternen. Aber an dem Abend war Tom nicht dabei.

Bastian und ich lagen lange in der Dunkelheit und ­redeten. Ich dachte, irgendwann würde er nach Hause fahren. Aber er blieb. In dem Moment, als ich das begriff, tat mein Herz einen Sprung. Wir saßen aneinander­gedrückt auf den Matratzen, rauchten gemeinsam eine Zigarette und sahen stumm in den schwarzen Garten hinaus, als er wie zufällig den Arm um meine Schultern legte. Sekunden­lang durchzuckte mich ein Glücksgefühl. Der Gedanke an Tom in seinem Pförtnerhäuschen zog ebenso schnell vorüber wie der an Celia mit ihren roten Haaren. Bastian küsste mich und sein Kuss schmeckte nach Rauch und herben Sommerschatten. Dann kuschel­ten wir uns eng zusammen. Es passierte nichts in dieser Nacht, außer dass ich einmal wach wurde, weil im ­nahen Baum ein Käuzchen schrie. Bastian lag leise atmend ­neben mir.

Mit einem Klatschen ließ Tom sich ins Wasser fallen und ruderte hinaus.

»Hey!« Bastian stieg aus dem Wagen. »Mach keinen Quatsch, Mann, komm raus!«

Aber Tom hörte ihn nicht, oder er hatte sich das jetzt einfach vorgenommen.

»Der spinnt doch«, sagte Bastian. Er schaltete die Schein­werfer ein und die Musik aus.

»Lass ihn, er wird schon wiederkommen.«

»Ach, Scheiße, mir ist nicht wohl dabei.« Bastian zog sich rasch aus, warf T-Shirt und Jeans auf den Fahrersitz und rannte zum See hinunter. Ich blieb sitzen wie betäubt.

In der vergangenen Woche hatte ich Tom besucht, als Bastian abends mit Celia im Kino gewesen war. Wir ­saßen auf dem Teppich in Toms Zimmer, mit Blick auf die schwarze Wand, die er im Winter mit Planeten, Monden und den Ringen des Saturn in Dispersionsfarben bemalt hatte, wo­rüber sein Vater stocksauer gewesen war. Das Weltall passte zu Eric Claptons Gitarre. Tom hatte Cream aufgelegt. Das war momentan seine Lieblingsmusik.

»Ich hab dich gerade als steinalte Frau gesehen«, sagte er und zog an seinem Joint. »Das war voll der Flash, dein Gesicht hat ständig gewechselt, jung, älter, steinalt, gespenstisch. Aber immer warst du es, hammerhart, ich hab mich total erschrocken, aber es war auch witzig. Jetzt weiß ich, wie du als alte Frau aussehen wirst.« Er grinste.

»Und wie?« Die Vorstellung war mir unangenehm, als hätte er mir etwas voraus, das nur mich anging.

»Süß«, sagte er und ich versank beinahe in seinen dunkelbraunen Augen. Nie werde ich vergessen, dass sie braun waren, während Bastians die hellblaugraue Klar­heit der Ferne widerspiegelten, die man nie erreicht.

In dem Moment, als Toms mir so intensiv in die Augen sah, fürchtete ich beinahe, er wäre in mich verliebt. Aber ich schob den Gedanken weg, denn was uns drei verband, war größer, war mehr und durfte nicht gefährdet werden.

»Tom! Hör auf damit!« Bastians Stimme riss mich an den See zurück. Sein Anflug von Verzweiflung war unüberhörbar. Ich sprang aus dem Auto und beobachtete, wie er zügig und gekonnt hinausschwamm.

So schnell geht das nicht, dachte ich, das kann überhaupt nicht sein. Ich fror, schnappte meinen Pulli von der Rückbank und streifte ihn über. Im Scheinwerferlicht sah ich Bastian durchs Wasser pflügen, als trainiere er außerhalb der Badezeiten für ein Turnier. Eine ungenaue Angst breitete sich in mir aus, ein Flattern in der Magen­gegend, wie wenn man zu wenig gegessen hat. Ich stellte mich in die offene Fahrertür, hielt mich am Autodach fest und versuchte, etwas auf der Wasseroberfläche zu erkennen, die hinter dem Scheinwerferlicht in der Dunkelheit versank. Doch da war nichts, nur der einsame Schwimmer. Bastian drehte sich auf den Rücken.

»Siehst du ihn?«, rief er mir zu. Ich hörte ihn so deutlich, als wäre er nah am Ufer. Er klang hellwach, kämpferisch, panisch und verloren. Es versetzte mir einen Stich. Sein Kopf ragte aus dem Wasser, um ihn nichts als glitzernde Schwärze.

»Nein!«, gab ich zurück.

»Tom!«, schrie er, »Komm raus, du Idiot!« Er drehte sich um und kraulte weiter.

Meine Knie begannen zu zittern und ein Kälteschauer befiel mich. Ich nahm Bastians T-Shirt vom Sitz und vergrub mein Gesicht darin. Es roch nach ihm, seiner Haut, seinem Schweiß, ich atmete hastig. Lass es nicht wahr sein, dachte ich, bitte, bitte, lieber Gott, mach, dass es nicht wahr ist.

Als ich aufblickte, sah ich Bastian zurückkommen. Er schwamm auf dem Rücken, mit kräftigen Stößen, und zog etwas mit sich. Bastian hatte im vergangenen Sommer seinen Rettungsschwimmer gemacht, mir fiel ein, wie stolz er darauf gewesen war. Ich rannte zum Ufer und watete ihm entgegen. Wir zogen Toms bleichen Körper an Land, er war bleischwer wie ein Sack.

»Was ist mit ihm?«, fragte ich.

»Keine Ahnung.« Bastian rang nach Luft. »Hat Wasser geschluckt.«

Wir legten ihn auf die Uferkieselsteine, ich lief, um seine Kleider zu holen und bettete seinen Kopf darauf.

»Er atmet«, sagte Bastian erleichtert, sein Ohr nah an Toms Lippen. »Komm, wir ziehen ihn an und bringen ihn heim.«

»Der Idiot«, sagte er später in der Nacht, als er mich nach Hause fuhr, »der verdammte Idiot.«

Er hielt vor der Einfahrt und drehte mir sein Gesicht zu.

»Kommst du noch mit rauf?«, fragte ich.

»Besser nicht«, sagte er. Es klang ernst, distanziert.

Ich nickte, obwohl er das im Dunkeln nicht sehen konnte. Auf einmal hatte ich einen Kloß im Hals.

»Er hätte – er hätte –«, stammelte ich.

»Ist ja vorbei«, sagte Bastian. Er beugte sich zu mir her­über und nahm mich in den Arm. »Ist ja gut gegangen.«

Es beruhigte mich, seine vertraute Stimme zu hören, so nah. Ich nickte an seiner Schulter und schniefte. Tränen rannen mir über die Wangen.

»Warum hat er das gemacht? Warum macht er so was?«

»Keine Ahnung. Mutprobe. Ich weiß es nicht.«

Wir schwiegen. Er streichelte meinen Arm.

»Willst du nicht doch mitkommen?«, bat ich.

»Nein.« Er ließ mich vorsichtig los. »Besser, du gehst rein und nimmst ein heißes Bad.«

Ich schwieg.

»Weißt du«, sagte er, »am letzten Sonntag ist Tom ­morgens nach seiner Arbeit hier bei dir vorbeigefahren. Und da hat er mein Auto gesehen.«

Ich schluckte.

»Ich möchte ihm nicht wehtun. Das ist wirklich un­nötig. Du bedeutest ihm viel. Und ich auch. Ich will nicht, dass er unglücklich ist. Oder sich zurückzieht. Das wäre wirklich Blödsinn. Und ich habe ja Celia.«

Ich schluckte wieder, spürte den Kloß im Hals. »Klar«, sagte ich und öffnete langsam die Tür. »Gute Nacht.«

»Ich ruf dich morgen an«, meinte er.

Ich sah ihm nach, bis die Lichter des Kadetts hinter der Kurve verschwunden waren. Die linke Rückleuchte brannte nicht. Muss ich ihm sagen, dachte ich automatisch.

Es war drei Uhr früh, die Straße menschenleer. Auf dem Weg ins Haus fiel das Alleinsein über mich her, als begänne schon der Herbst. Der Himmel hatte sich bewölkt, gerade schob sich ein zerfetztes Wolkenstück vor die Mondsichel. Venus war längst nicht mehr zu sehen.

Morgen hatte er gesagt. Was meinte er damit? Bastian, Tom und ich. Das wird es nie wieder geben, dachte ich. Nicht so. Morgen beginnt eine andere Zeit. Ab morgen sind wir sterblich.

Schneewittchens Flugzeug

für Gabo

Der überfüllte Shuttlebus brachte mich aufs Rollfeld hin­aus. Im dichten Schneegestöber fiel die Orientierung schwer. Die Logos der Fluggesellschaften am Heck der Maschinen waren kaum zu erkennen. Als ich den Bus verließ, peitschte heftiger Wind mir eisige Flocken ins Gesicht. Ich hielt den Mantel mit der Linken zu, in der Rechten die Reisetasche. Keine Hand frei, um mich festzuhalten. Unsicher und halbblind taumelte ich zwischen den anderen Fluggästen die Gangway hinauf. Es war stockdunkel. Kaum zu glauben, dass ich schon seit mehr als zwölf Stunden unterwegs war.

Gegen neun Uhr heute Morgen war ich zu Hause aufgebrochen und hatte bisher gerade mal lächerliche dreihundert Kilometer hinter mich gebracht. Der Flug nach München war mit zweistündiger Verspätung gestartet, weil die Crew aus Amsterdam wegen des Sturms über Europa nicht rechtzeitig in Frankfurt eingetroffen war. Meinen Anschlussflug nach Triest hatte ich demnach verpasst.

Während der mehr als fünfstündigen Wartezeit im Ab­flug­bereich des Münchner Franz-Josef-Strauß-­Flug­hafens war ich stundenlang zwischen den Gates hin und her gewandert, hatte abwechselnd auf herabgesetzte Koffer, Schaufensterdekoration mit Kosmetika, Kaffeebars, Snackvitrinen und Anschlagtafeln gestarrt, zwischendurch an einem Stehimbiss lauwarme, pappige Bandnudeln mit Lachs hinuntergeschlungen, sie schmeckten genau wie meine Stimmung. Mehrfach hatte ich versucht, Marietta in Triest zu erreichen, doch ihr Telefon war seit Stunden ausgeschaltet. Ich musste mich wohl oder übel in Geduld fassen, an die entmündigende Situation des modernen Reisens ausgeliefert. Hier gab es nichts zu beschleunigen. Mir kam die Geschichte von dem Indianer in den Sinn, der irgendwo im mittleren Westen der USA am Straßen­rand steht und den ein Truckfahrer zum Mitfahren einlädt. Nach einer guten Wegstrecke will der Indianer plötzlich aussteigen. Als der Truckfahrer ihn fragt, warum er ausgerechnet mitten in der Wüste abgesetzt werden wolle, antwortet ihm der Indianer, er müsse am Straßenrand warten, bis seine Seele nachkomme.

Möglicherweise ist es das, was ich hier lernen soll, schoss es mir durch den Kopf. Doch würde ich meine Seele überhaupt erkennen, falls sie hier vorbeikäme?

Die Zeitungen hatte ich mittlerweile zur Genüge durchgeblättert und weit mehr Kaffee getrunken, als mir gut tat. Wahrscheinlich würde ich heute Nacht kein Auge zutun. Nun gut, sagte ich mir, du kannst dich beruhigen, das hier ist höhere Gewalt.

Der irrlichternde Flockentanz über dem Flugfeld und rund um die Gangway gab mir kein gutes Gefühl bei der Vorstellung, mich gleich der Maschine anvertrauen zu müssen. Piloten sind geschult, bei jeder Witterung zu fliegen, versuchte ich mir einzureden. Und wenn es tatsächlich zu gefährlich ist, bekommen sie keine Start­erlaubnis. Angeblich soll Fliegen ja die sicherste Art des Reisens sein. Ich hätte eine Dampferfahrt von Venedig nach Triest vorgezogen, die ist jedoch längst als nicht mehr rentabel eingestellt worden. Aber ich bin eben ein Mann aus einem anderen Jahrhundert.

Tapfer stapfte ich weiter, suchte festen Tritt im Schneematsch auf den Alustufen und hoffte, bald an Bord und wenigstens im Trockenen zu sitzen. Vom maskenhaften Begrüßungslächeln einer Flugbegleiterin empfangen, kämpfte ich mich bis zu meinem Platz vor, Reihe 18 A am Fenster. Die staubtrockene, abgestandene Luft in der ­Kabine raubte mir kurz den Atem. Eine italienische Familie quetschte sich laut palavernd hinter mir vorbei, während ich mein Handgepäck in den Stauraum hinauf wuchtete. Der Flug sollte nicht länger als eine Stunde dauern. Daher entschied ich mich gegen Lektüre, knüllte meinen Mantel mit ins Gepäckfach, zog den Bauch ein und schob mich auf den Sitz.

Der Platz neben mir blieb zunächst leer, sodass ich mich vorsichtig zu entspannen begann. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, morgen im Caffè degli Specchi auf der Piazza dell’Unità zu frühstücken, vermutlich im Sonnenschein, mit Blick auf den glitzernden Horizont der Adria. Danach einen ersten Spaziergang über den an seiner Stirnseite zum Meer hin offenen Platz, an dessen Ende eine muschelüberwachsene Treppe direkt ins stahlblaue Wasser hinunter führt.

Die Bewegung neben mir bewog mich aufzublicken: Eine junge Frau in einem schwarzen Kunstfellmantel mit pechfarbenen Locken ließ sich keuchend auf den Nachbarsitz fallen, als sei sie noch eben übers Rollfeld gerannt. Hauchfeiner Duft von Vanille streifte mich. Sie ignorierte mich, grüßte nicht einmal aus Höflichkeit, kramte in der schwarzen Lacktasche auf ihren Knien. Ich blickte durch die schmutzige Scheibe ins Schneegestöber hinaus. Gerade als ich mein Telefon aus der Hosentasche zog, um es in den Flugmodus zu schalten, rief Marietta an.

»Wo bist du?«

»München. Wir starten jetzt.«

»Was? Du bist noch in München?«

»Hast du meine Nachrichten nicht abgehört?«

»Ach so. Nein. Dann kommst du aber spät an. Nimm dir ein Taxi am Flughafen, ich kann dich nicht abholen. Um die Zeit fährt kein Bus mehr in die Stadt.«

»Na großartig.« Die Crew gab letzte Anweisungen für den Start. »Ich muss Schluss machen«, sagte ich und drückte Marietta weg.

Der Start gelang. Ich atmete erleichtert auf. Zügig erhob sich die kleine Maschine in den nachtschwarzen Himmel über München. Eine hagere Flugbegleiterin hatte meiner Nachbarin währenddessen wortlos die Lacktasche vom Schoß genommen, im Gepäckfach verstaut und den ­Deckel lautstark zugeknallt. Meine Mitreisende wickelte sich daraufhin in ihren Mantel, ließ die Hände in den weiten Ärmeln verschwinden und schloss die Augen. Das gab mir Zeit, sie zu betrachten. Alles an ihr war schwarz, die samtenen Leggins, die bis zu den Knien reichenden Schnür­stiefel, der tintenfarbene Kunstpelzmantel, aus dem ihr blasses, ebenmäßiges Gesicht mit den blutrot geschminkten Lippen seltsam unwirklich herausragte. Die dunklen Locken flossen über ihre Schultern.

Auf diesem Flug möge man bitte angeschnallt bleiben, mahnte die Stimme des Flugkapitäns, aufgrund des schweren Sturms über Europa könne es jederzeit Turbulenzen geben. Meine Nachbarin rührte sich nicht. Ihr Vanilleduft kitzelte in meiner Nase. Fehlt nur der vergiftete ­Apfel, dachte ich und konnte mich gerade noch beherrschen, mich nach Zwergen umzuschauen. Prompt erschien ein wuchtiger Getränkewagen hinter Schneewittchens Kopf. Von einem Tetrapack leuchtete eine rotgoldene Frucht.

Ich bestellte Rotwein, nahm ihn aus der Hand der hage­ren Flugbegleiterin entgegen und sagte artig: »Grazie.«

Ihre Kollegin, die wirkte, als sei sie in die Uniform der Fluggesellschaft hineingeschweißt worden, berührte Schnee­wittchen an der Schulter. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte sie auf Deutsch. Meine Nachbarin reagierte nicht. »Anything to drink?«, insistierte sie lauter.

Schneewittchen blickte erschrocken auf. »Oh, no. No!«, rief sie gequält und verkroch sich wieder in ihren Pelz. Demonstrativ von mir abgewandt, legte sie sich auf ihre rechte Schulter und hob die angewinkelten Beine auf den Sitz hinauf. Ihre Schuhsohlen berührten mein Hosenbein. Ich rückte etwas von ihr ab in Richtung Bordwand. Kalte Zugluft fuhr meinen Arm hinauf. Den Rücken gegen die Lehne gepresst, beobachtete ich auf dem Display vor mir, wie unser Flugzeug als winziges Insekt langsam auf die Alpen zu kroch.

Übergangslos begannen die Turbulenzen. Die Maschine sackte ab, schaukelte einige Male heftig, begleitet von den spitzen Schreien einiger Fluggäste. Dann fand sie zurück in die Balance, als finge sie sich selbst in der Luft auf. Mein Magen regte sich kurz, die klebrigen Nudeln mit dem Papplachs. Schneewittchen schreckte hoch. Sie bekam den Unterarm der drallen Flugbegleiterin zu fassen.

»What’s wrong?«, fragte sie. Ihre Stimme klang tiefer, als ich erwartet hatte.

»Don’t worry. It’s only a storm over Europe.« Die Flugbegleiterin wandte sich gelassen dem nächsten Reisenden zu und fragte stoisch: »What do you want to drink?«

»Coffee please«, kam die prompte Antwort.

»A storm?« Schneewittchens Blick irrte umher und blieb an mir hängen, als nähme sie mich tatsächlich jetzt erst wahr. Auch ihre vor Schreck geweiteten Augen waren schwarz, die Wimperntusche an den Rändern verlaufen. Ihre Unterlippe zitterte verdächtig.

Oh nein, dachte ich, kotz mich jetzt bloß nicht voll! Das fehlte mir heute noch.

»Yes«, gab ich reservierter zurück als beabsichtigt. Sie starrte mich an. Ich nippte verlegen an meinem Rotwein. Er war lauwarm und entschieden zu lieblich.

»How long will it last?«

»Don’t know. It’s a big storm over Europe«, wiederholte ich blödsinnig. »Don’t worry.«

Sie starrte mich weiterhin an, schien noch um eine Spur blasser zu werden, falls das überhaupt möglich war.

»Everything is all right!«, fügte ich so überzeugend wie möglich hinzu.

Wie um meine Worte Lügen zu strafen, sackte die Maschine erneut ab. Schneewittchen schrie auf, hob die Hand vor den Mund und heftete ihren Blick auf den Teppich im Gang. Ich stemmte meine Fußsohlen fest auf den Boden, drückte mich gegen die Rückenlehne. Ein bekannter kleiner Schmerz durchzuckte meine rechte Hüfte. Der Getränkewagen klirrte, das Bordpersonal hielt sich rechts und links an den Gepäckfächern fest.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich Schneewittchen behutsam und sah sie an.

»I don’t speak German«, presste sie kühl zwischen schma­len Lippen hervor und würdigte mich keines ­Blickes. Ich nickte, doch das sah sie nicht. In mir erwachte etwas wie ein Helfersyndrom, gepaart mit der selbstüberschätzenden Gewissheit, die wohl älteren Herren wie mir eigen ist, dass es mir gelingen könnte, sie abzulenken.

»Where do you come from?«, begann ich.

»San Francisco. I’m from San Francisco«, wiederholte sie ernst, wie um sich dieser Tatsache ein letztes Mal zu versichern, als gäbe es keine Möglichkeit, jemals dorthin zurückzukehren.

»And where are you going to?«, fragte ich überflüssigerweise. Schließlich saß sie, wie ich, im Flieger nach Triest.

»To San Francisco!«, rief sie, »There was no flight from Frankfurt today. Perhaps because of the weather?«

»But why do you go to Triest?«, beharrte ich.

»Tomorrow morning to Rome. And from Rome to Frisco. If we are still alive.«

»Oh, of course«, sagte ich, um ein Lachen bemüht, das beruhigend wirken sollte. »The storm causes only –«, ich suchte nach der geeigneten Vokabel, »trouble«, ergänzte ich nach kurzem Nachdenken.

Sie blickte mich dankbar an und nickte heftig. Ihre Haut schimmerte weiß im trüben Kabinenlicht. Sie war jung, weniger als halb so alt wie ich.

»Why are you laughing?«, fragte sie misstrauisch.

»Oh, äh. Nothing. I only thought …« Ich hatte den Faden verloren, schwieg und hörte zu lächeln auf.

Das Flugzeug schwankte, der Sturm riss an den Tragflächen. Unvermittelt griff sie nach meinem Arm, umklammerte ihn, ihre schwarz lackierten Nägel gruben sich durch den Hemdstoff in mein Fleisch. An ihrem Handgelenk klirrten Armreifen, eine fast überhörbare Botschaft von Elfen oder Feen. Sie trug keinen Ring.

»Please, would you give me your hand? I never was so afraid in my whole life before.«

Nun ja, ihr ganzes Leben, das schien mir etwas übertrieben. Ich nahm ihre zarten schlanken Finger ­zwischen meine Handflächen, umschloss sie sorgfältig wie eine Muschel und drückte sie leicht. Sie waren kalt und verschwanden vollständig darin, fühlten sich an wie die eines Kindes, und doch wieder nicht. Ich schämte mich der grobschlächtigen Pranken, die unter meinen Hemds­ärmeln hervorquollen. Doch sie sah nicht hin. Sie atmete tief aus, sank erleichtert zurück und schloss die Augen.

Ich blieb aufrecht sitzen, wagte nicht, mich zu rühren. Als hätte ich ein scheues Tier gefangen, das mir bei der kleinsten Bewegung wieder entschlüpfte. Doch wenn ich es vorsichtig mitnehmen könnte, ohne es zu verschrecken, ohne es zu verstören, dann wäre ich vielleicht nicht mehr allein. Innerlich seltsam aufgewühlt, verharrte ich ganz still. Meine Handflächen schwitzten. Langsam wurde ihre Hand warm, sie zuckte leicht, wie im Traum. Ich war nicht sicher, ob Schneewittchen eingeschlafen war oder lediglich versuchte, sich zu entspannen.

Die knochige Flugbegleiterin ertappte uns in dieser Haltung, als sie kam, um mein leeres Weinglas einzu­sammeln. Ich spürte, wie mir eine Röte ins Gesicht schoss, doch sie griff wie selbstverständlich über unsere verbundenen Hände hinweg, es schien ihr nicht ungewöhnlich vorzukommen. Wieso auch? Schließlich konnten wir ja ein Paar sein, konnten zusammengehören.

Ich überlegte, wie lange ich schon zu niemandem mehr gehörte, ja, ob ich mich jemals jemandem zugehörig gefühlt hatte. Gehören hat mit Besitz zu tun. Nein, ich besaß niemanden, und niemand besaß mich. Doch zuweilen fühlt man sich dabei wie ein herrenloser Hund, der in einem Tierheim abgegeben worden ist, und immer, wenn Menschen kommen, um sich ein neues Haustier auszusuchen, erwartungsvoll aus der Trübnis seiner Zwingergefangenschaft aufblickt, den Kopf leicht schief gelegt, mit treuherzigem Hundeblick und zartem Schwanzwedeln, gerade so viel, um wahrgenommen zu werden und dem prüfenden Blick der Herrschaften standzuhalten, ohne aufdringlich zu sein. Solche Tiere werden in der Regel ausgewählt, sie finden ein Zuhause, nicht wahr?

Schneewittchens Hand fühlte sich an wie ein aus dem Nest gefallener Vogel, den es zu beschützen galt. Ich nahm mir in diesem Moment vor, sie zu beschützen, solange sie meine Dienste nicht zurück wies.

Die Turbulenzen hielten an, die Maschine geriet in heftige Böen, sodass es die Passagiere auf dem Weg zur Bordtoilette hin und her warf, wie bei hohem Seegang auf einem Schiff. Doch ich hatte keine Bedenken mehr. Wir würden sicher ankommen, davon war ich überzeugt.

Schneewittchen rührte sich kein bisschen. Sie war wohl tatsächlich eingeschlafen. Mein rechtes Bein kribbelte, ich verlagerte es vorsichtig um einige Zentimeter. Die Durchsage, dass wir uns im Landeanflug auf Triest befänden, erfolgte für mein Gefühl so rasch, als wären wir erst vor kurzem in München gestartet. Schneewittchen stöhnte leise.

»Soon we will be there«, flüsterte ich. Sie schlug die Augen auf.

»Where are we?«, fragte sie.

»Triest.«

Sie entzog mir ihre Hand.

Eine luftige Enttäuschung zerriss mich. Sie setzte sich zurecht, zog den Mantel gerade und schloss den Reißverschluss. Mit ihren weißen Händen warf sie die schwarzen Locken über den Kragen. Wie bei einer Märchenprinzessin fielen sie auf ihre Schultern.

Mitten im Landeanflug sprang sie auf, schnappte die Tasche aus dem Fach über ihrem Kopf und ließ sich zurück auf den Sitz plumpsen. Die hagere Flugbegleiterin kam näher und bedeutete ihr stumm und entschieden, den Sicherheitsgurt wieder zu schließen und festzuzurren. Schneewittchen tat es unbekümmert, öffnete die Tasche, der ein verstärkter Vanilleduft entströmte, entnahm ihr nach längerem Suchen Handspiegel und Lippenstift, zog die Lippen nach, zupfte die Augenbrauen zurecht, betrachtete sich sorgfältig im Spiegel, warf alles achtlos wieder hinein und klickte den Verschluss zu. Die Armreifen klirrten.

Sachte setzte die Maschine auf. Zehn Grad Außentemperatur, vermeldete der Flugkapitän, 22 Uhr 42 Ortszeit. Er verabschiedete sich und wünschte einen angenehmen Aufenthalt. Schneewittchen öffnete den Sicherheitsgurt, warf ihn nach beiden Seiten von sich und stand auf.

»Bye«, rief sie knapp, ohne mich noch einmal anzu­sehen und hastete in Richtung Ausgang. Der Hauch von Vanille schwebte kurz in der Luft und verflüchtigte sich. Unmittelbar danach hatte der geschäftige Strom der Fluggäste, die nach ihren Gepäckstücken, Jacken und Mützen langten, Mitreisenden etwas zuriefen und Mobiltelefone neu starteten, den Gang überschwemmt und Schneewittchen fortgerissen.

Der Flughafen von Triest ist überschaubar. Unser Flieger war einer der letzten an jenem Abend. Das Gepäck am Förderband war schnell in Empfang genommen, die Reisenden zerstreuten sich rasch. Mein suchender Blick fand Schneewittchen nicht. Ich blieb, als gäbe es etwas zu erwarten, in der Halle stehen, bis sie sich nahezu geleert hatte und es um mich her leise und einsam wurde. Dann trat ich hinaus in die sanfte italienische Nacht. Am sterne­nklaren Himmel stand der ockerfarbene, von ­Kratern dunkel gefleckte Mond. Rechts oben fehlte ihm ein Stück, als wäre er angefressen. Der letzte Bus war weg. Der Taxi­stand verlassen.

Dann komme ich auch wieder

»Mein Vater wollte noch vorbeikommen«, sagte Susanne. Sie deckte den Tisch fürs Abendessen. »Als er erfuhr, dass du da bist, war er ganz heiß drauf.«

»Der alte Mann!« Ich lachte. »Er ist eben einsam und froh darüber, wenn er mal eine Abwechslung hat. Wie geht es ihm?«

»Er kommt einigermaßen klar. Versorgt sich noch selbst, fährt mit dem Auto zum Einkaufen, erledigt alles ohne Hilfe.«

»Na, dann hält er sich ja tapfer.«

»Zum Glück hat er den Garten. Da gibt’s immer was zu tun.«

»Wie lange ist deine Mutter jetzt schon tot?«

»Ein knappes Jahr. Mit uns spricht er so gut wie nie darüber, aber von anderen weiß ich, dass er sagt, wie schwer es ihm ohne sie fällt.«

»Wie alt ist er?«

»Er wird dreiundachtzig.« Sie schwieg und schaute auf das geblümte Tischtuch. »Er braucht halt die Ansprache. Deshalb kommt er fast täglich her, und wenn es nur ist, um kurz reinzuschauen. Manchmal isst er mit uns.«

Sie ging in die Küche, um Gläser zu holen, kam zurück. »Vierundfünfzig Jahre zusammen sind halt eine lange Zeit«, sagte sie, stellte Weißweingläser und eine Flasche Mineralwasser auf den Tisch.

»Unvorstellbar lang«, antwortete ich. Mein Platz war traditionell an der Querseite, wie jedes Mal, wenn ich zu Besuch kam, Susanne saß am Kopfende, und Uwe, ihr Mann, ihr gegenüber mit dem Rücken zum Fenster. Der vierte Platz blieb leer.

»Vielleicht will er mit uns essen«, schlug ich vor.

»Wir werden sehen. Bei ihm weiß man nie.«

Ich hätte es einladender gefunden, für ihn mit zu ­decken, doch ich schwieg.

»Die Wochenenden sind kritisch«, fuhr Susanne fort. »Und die Abende. Da merkt er das Alleinsein besonders. Uwe und ich bemühen uns, ihn sonntags zu besuchen oder etwas mit ihm zu unternehmen. In der Woche geht es besser. Da hat er sein Alltagsgeschäft, spricht mit den Nachbarn und so weiter.«

»Ich stelle mir das sehr schwer vor. Immer allein …«

»Wir hatten eine Hilfe für ihn organisiert, die ihm Einkäufe erledigen sollte, mit ihm zum Arzt oder zur Apotheke fahren oder auch mal spazieren gehen, wenn ich auf der Arbeit bin. War gar nicht leicht zu bekommen. Aber er hat sie natürlich abgelehnt.«

Susanne verschwand wieder in der Küche.

Ich stand auf und folgte ihr, lehnte im Türrahmen, sah dabei zu, wie sie Wurst und Käse aus dem Kühlschrank nahm.

»Kann ich was helfen?«

»Lass nur. Nicht nötig. Setz dich hin und fühl dich wie zu Hause.«

Etwas hilflos kehrte ich ins Wohnzimmer zurück.

»Manchmal erwähnt er einen Kuchen«, sagte sie, als sie mit den Tellern zurückkam, »den sie gerne gebacken hat, oder etwas, das sie gekocht hat und das er jetzt nicht mehr bekommt. Ich denke, sie ist ständig in seinen Gedanken. Aber was kann man da machen.«

Ihr Vater klingelte kurz darauf, als wir beim Abendessen saßen. Gebeugt schlurfte er ins Zimmer. Ich stand auf, um ihn zu begrüßen, Susanne und Uwe blieben sitzen. Sein Händedruck war fest, ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht, die hellen Augen blickten wach und aufmerksam, wie die eines Vogels. Eine graue Strickjacke schlotterte um seine mageren Schultern.

»Willst du mit essen, Papa?«, fragte Susanne. Ich kehrte auf meinen Platz zurück. Er warf einen kurzen Blick auf den Tisch, hob abwehrend die Hände, schüttelte den Kopf.

»Hast du denn schon gegessen?«, fragte seine Tochter zweifelnd.

»Ja, vorhin.«

Sie sah mich an, zuckte resigniert die Achseln.

Der alte Mann setzte sich mit dem Rücken zu uns in Uwes Fernsehsessel und blickte ins Wohnzimmer, wo die letzten Sonnenstrahlen an der Decke entlang wanderten. Uwe sprang kurz auf und knipste vorsorglich die Steh­lampe neben dem Sessel für ihn an.

»Der Container steht jetzt unten im Industriegebiet«, sagte er. »Nächste Woche wird er abgeholt und nach Ham­burg gebracht, dann geht er durch die Zollabfertigung, wird verplombt und danach verladen.«

»Wie lange wird er unterwegs sein?«, fragte ich.

»Vier Wochen. Wir müssen eine genaue Liste von allem machen, was drin ist. Jedes Ding, jede Schraube muss aufgeführt sein.« Er wandte sich an seinen Schwiegervater. »Willst du was trinken, Vadder? Ein Glas Wein?«

»Nein«, sagte der alte Mann ins Wohnzimmer hinein, ohne sich umzudrehen, »ich trinke im Moment keinen Wein.«

»Und wenn er ankommt, musst du vor Ort sein?«, fragte ich weiter.

»So ist es. Den Flug habe ich schon gebucht.«

»Das erfordert eine ziemliche Logistik!«

»Allerdings«, stimmte Susanne zu, »wir dürfen jetzt nichts Entscheidendes vergessen. Es muss einfach alles rein, was wir brauchen, um dort auf der Insel ein komplettes Haus einzurichten. Denn da gibt’s ja nichts. ­Außer einem großen Supermarkt. Die haben auch ein paar ­Möbel.«

Sie legte die letzte Salamischeibe auf ein mit Butter bestrichenes halbes Laugenbrötchen. Ich sah zu ihrem Vater hinüber. Er schien uns aufmerksam zuzuhören, hatte die Fernsehzeitung vom Couchtisch genommen und blätterte achtlos darin.

»Aber als wir die Möbel gesehen haben, war sofort klar, dass das nichts für uns ist. Wir hätten vor Ort auch welche anfertigen lassen können. Das dauert lange und man weiß nicht, ob sie wirklich gut aussehen. Wenn wir sie von hier mitnehmen, haben wir alles direkt zusammen.«

Ihr Vater klappte die Illustrierte zu, warf sie auf den Tisch und erhob sich.

»Ich geh dann mal wieder«, sagte er.