Der Mond leuchtet heller als die Sterne - Luisa Trefzger - E-Book

Der Mond leuchtet heller als die Sterne E-Book

Luisa Trefzger

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Beschreibung

Leonie fährt mit ihrer Tanzgruppe nach Frankreich, um sich dort voll und ganz auf das Tanzen zu konzentrieren. Als sie jedoch Ben kennenlernt, gerät ihre Welt völlig durcheinander. Und nicht nur Ben scheint Geheimnisse zu haben...

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Seitenzahl: 299

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Luisa Trefzger

Der Mond leuchtet heller als die Sterne

© 2019 Luisa Trefzger

Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreihe 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-7497-0534-4

Hardcover:

978-3-7497-0535-1

e-Book:

978-3-7497-0536-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Prolog

Der große Saal war dunkel. Nur auf der Bühne schien das gelbliche Licht eines mickrigen Scheinwerfers und erleuchtete die große mit Holz ausgekleidete Fläche. Langsam wurde der cremefarbene Vorhang zur Seite geschoben und eine bildhübsche Frau mit hochgesteckten Haaren und einem weißen Rüschenkleid erschien. Es war mucksmäuschenstill, man hörte nur ein leises Raunen das durch die Menge ging. Alle Augen waren auf die Bühne gerichtet. Aus dem Hintergrund ertönte eine leise beginnende, wunderschöne Klaviermusik. Langsam setzte die Frau sich in Bewegung und ihre schneeweißen Schuhe glitten über den Boden. Ihr Kleid drehte sich mit ihr und ihre Arme bewegten sich anmutig neben ihrem zierlichen Körper. Viele Leute die in dem riesigen Saal saßen, waren bereits zu Tränen gerührt. Als nach einiger Zeit die liebliche Klaviermusik verstummte, verneigte die Frau sich, machte einen Knicks und lächelte. Ein tosender Applaus ertönte und hallte aus den Ecken des berühmten Jilete Tanzsaales wider.

Als der Applaus verklungen war, setzte erneut die Klaviermusik ein. Doch diesmal war es kein liebliches Geklimper, sondern es war eine schnelle, dramatische Melodie.

Die Frau wirbelte und fegte nur so über die Bühne. Plötzlich brach die Musik ab, und die Ballerina schien zu einem Sprung anzusetzen. Die Zuschauer schienen gebannt die Luft anzuhalten, so still war es nun. Die weißen Schuhe trippelten über das Parkett und die junge Frau setzte nun zum Sprung an. Sie sprang mit perfekt gespitzten Füßen und machte in der Luft einen Spagat. Dann drehte sie sich, den Kopf voraus, um hundertachtzig Grad und landete lautlos und elegant mit der Fußspitze auf dem hölzernen Untergrund. Erst als sie wieder aufrecht stand fiel die Anspannung der Zuschauer ab und mehr als dreitausend Leute klatschten Beifall für den gelungenen, berühmten Kolai-Sprung. Die Frau verneigte sich erneut, und der Vorhang wurde wieder vor die Bühne geschoben. Doch der Applaus verstummte nicht, bis das Licht anging und die großen Türen oben auf dem Treppenabsatz geöffnet wurden. Die Zuschauermenge erhob sich langsam und verließ den Saal. Als die Türen wieder geschlossen waren, es dunkel und einsam in dem großen Saal war, war nur noch eine einzige Person da. Auf der Bühne hockte einsam und zusammengekauert eine weiße Gestalt. Langsam erhob sie sich und tapste auf Socken über die Bühne, stieg über die Absperrung und lief durch die Zuschauerreihen über die Treppen nach oben. In ihrer linken Hand hielt sie schneeweiße Ballettschuhe und ihre hochgesteckten Haare waren ein wenig zerzaust. Auf ihrem Gesicht glitzerten Tränen, die vereinzelt auf ihr wunderschönes, weißes Rüschenkleid tropften. Oben angelangt, blieb sie vor einem großen Plakat stehen und betrachtete es eine Weile. Darauf abgebildet waren genau die weißen Schuhe, die sie in der Hand hielt. Darüber stand in großer, roter Schrift geschrieben: JOLINA KOLAI – DER WEG ZUR MAGIE. Mit einer Hand riss die zierliche Gestalt das Plakat von der Wand, zerriss es und warf es auf den Boden. Sie blieb noch eine Weile reglos stehen, dann huschte sie in eine Abseite und verschwand dort im dunklen Schatten.

Kapitel 1

Einzelne Sonnenstrahlen zwängten sich durch die Vorhänge in mein kleines Zimmer und vor dem Fenster zwitscherten Vögel fröhlich vor sich hin. Im ganzen Haus duftete es nach frischen Brötchen, Kakao, saftigem Obst und Orangensaft. Ich streckte mich und räkelte mich genüsslich in meinem großen, kuscheligen Bett. Schnell warf ich einen Blick auf die Uhr. 11: 00 Uhr morgens und keine Schule! Herrlich! Ich setzte mich auf und schlüpfte in meine weichen Tiger-Hausschuhe, die Oma mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Gemütlich tapste ich zum Fenster und schob die weiß-geblümten Vorhänge beiseite. Vor meinem Fenster hatten wir vor einigen Jahren eine große Kastanie gepflanzt, deren Äste nun immer weiter wild in alle Richtungen wuchs. Als kleines Kind war ich im Sommer immer darauf geklettert, und ich liebte diesen Baum immer noch. Langsam schlurfte ich ins Badezimmer, putzte mir die Zähne und kämmte meine blonden Haare die schlaff über meine Schultern fielen, einigermaßen zurecht. Dann schlüpfte ich in meinen kuscheligen Bademantel und lief die hölzerne Treppe nach unten, ins Wohnzimmer. Dort war der Frühstückstisch bereites gedeckt und mein Vater saß in seinem roten Lieblings Sessel und las die Zeitung. Meine Mutter war in der Küche und kochte Kaffee. „Guten Morgen!“, rief ich und stibitzte mir einen Apfel aus dem Obstkorb. Dann nahm ich die dampfende Tasse Kakao und ein warmes Brötchen und verschwand wieder in meinem Zimmer. Auf dem Weg dorthin begegnete ich meinem großen Bruder Tim, mal wieder mit tiefdunklen Schatten unter den Augen. Er war 18, zwei Jahre älter als ich, und sah zugegebenermaßen nicht gerade schlecht aus. Das Problem war nur, er wusste es auch. „Hey.“, sagte ich schnell und wollte gerade die Tür zu meinem Zimmer schließen, doch er stellte seinen Fuß dazwischen. „Kannst du mir Geld leihen?“ Typisch. „Ganz sicher nicht.“ Für wie blöd hielt er mich, zu glauben, dass ich darauf noch hereinfallen würde!? Ich hatte leider schon oft genug die Erfahrung gemacht, dass ich das geliehene Geld nie mehr zu Gesicht bekam. Denn mein Bruderherz war, was eigentlich keine große Überraschung war, pleite. Das ganze Taschengeld was er bekam ging für teure Schuhe, Handtaschen oder Blumen für seine Freundin Lara drauf. Ich konnte echt nicht verstehen was er an ihr fand. Sie war eine Blondine, zugegebenermaßen sehr hübsch, hatte allerdings nur Stroh im Kopf. Mein Bruder stritt sich mindestens einmal die Woche mit ihr, und kaufte ihr dann am nächsten Tag Blumen oder teure Klamotten zur Versöhnung. Ich konnte wirklich nicht nachvollziehen, wie diese Beziehung nun schon länger als ein halbes Jahr hatte halten können. „Komm schon. Ich hab Lara versprochen…“, fing er an doch ich unterbrach ihn. „Dein Problem.“ Er sah mich flehend an. „Bitte Leonie!“ „Vergiss es!“ Ich machte die Tür zu meinem Zimmer zu und drehte vorsichtshalber den Schlüssel um. Schwungvoll setzte ich mich an meinen Schreibtisch und biss genüsslich in den Apfel.

Während ich mir Kopfhörer in meine Ohren stöpselte betrachtete ich die mit Postern und Bildern beklebte Wand. Sie hatte sich über die Jahre immer weiter ausgeweitet und ab und zu hängte ich immer noch das ein oder andere Foto dazu. Ich musste schon ehrlich sagen, dass ich ganz schön stolz darauf war. Die meisten Bilder waren von mir und meiner besten Freundin Toni, wie wir zum Beispiel letztes Jahr gemeinsam Schlitten gefahren waren, wie wir die neuen Snapchat Filter ausprobierten, oder wie wir zusammen am Meer waren. Eins zeigte uns beide bei der Einschulung mit riesigen, knallbunten Schultüten in den Händen, und auf einem anderen waren wir im Kindergarten bei einer Aufführung zu sehen. Ich kannte Toni schon seit ich denken konnte und ein Leben ohne sie war einfach unvorstellbar für mich. Aber es hingen auch einige Bilder von mir und meinem Bruder an der Wand, oder Bilder von meiner Familie. Viele zeigten auch meine alte Klasse, die sich nach der neunten leider aufgelöst hatte, viele Bilder waren Selfies von mir und meinen Freundinnen aus meiner Stufe und manche waren von meinem Ballettkurs.

Es gibt nicht sehr viele Menschen, die so etwas mit Sicherheit sagen können, aber ich war mir ganz sicher, ich konnte es sagen: Ballett war meine Leidenschaft. Ich liebte es in den weißen Kleidern in weißen Schuhen über die Tanzfläche zu wirbeln und ich genoss jeden Augenblick in dem ich zu Musik Spitze tanzen konnte. Ich tanzte schon seit ich neun Jahre alt war, und ging fünfmal die Woche zum Ballettunterricht. Aber ich liebte nicht nur das tanzen selbst, das natürlich am meisten, aber ich mochte es auch, mir Ballettaufführungen anzusehen, beispielsweise Samstagabends im Fernseher, oder aber in einem großen Tanzhaus. Mein größter Traum war es, später einmal im Jilete Tanzhaus aufzutreten. Es war eines der bekanntesten und größten Tanzhäuser überhaupt und vor ein paar Jahren war es gar nicht so lange her, da war Jolina Kolai noch dort aufgetreten.

Von ihr hingen mindestens sieben Poster an meiner Wand, und damals hatte ich mir jeden ihrer Auftritte dick und fett mit rotem Marker in meinem Kalender angestrichen. Doch eines Tages, niemand wusste warum, hatte sie einfach aufgehört zu tanzen. Sie war auch nicht alt oder krank oder dergleichen, sie war jung und ganz frisch erst dabei. Aber sie war sofort beliebt gewesen und hatte ganz schnell viele Fans. Auch ich hatte zu ihren Fans gehört, und ich tat es immer noch. Ihr Tanzstil war einfach nicht zu übertreffen. Ich wünschte mir, ich könnte sie noch einmal sehen, ihr beim Tanzen zuschauen. Irgendetwas musste damals passiert sein, da war ich mir sicher. Aber es war total merkwürdig. Nicht einmal die Presse hatte herausfinden können, was passiert war. Natürlich gab es viele Spekulationen, aber ich glaube, die Wahrheit war noch nie dabei. Und ich würde sie auch nie erfahren.

Seufzend biss ich in den saftigen Apfel und schaute nachdenklich nach draußen über die Kastanie, hinüber in den Garten unserer Nachbarn. Plötzlich wurde ich von einem lauten Klopfen an meiner Zimmertür aus den Gedanken gerissen und fuhr erschrocken zusammen. Schnell stöpselte ich mir die Kopfhörer wieder aus, stand ruckartig vom Tisch auf und lief hastig zur Tür. Dort drehte ich den Schlüssel um und öffnete sie. Davor stand meine Mum in ihrer hellblauen Lieblings Schürze und sah mal wieder einfach umwerfend aus. Auch sie war gerade eben erst aufgestanden, aber im Gegensatz zu mir sah sie aus wie das blühende Leben. Viele Leute sagen, ich sei meiner Mum wie aus dem Gesicht geschnitten.

Aber als sie so vor mir stand, ihre Haare, die die gleiche Farbe wie meine hatten, flossen wie in Wellen über ihre Schultern, ihre funkelnd grünen Augen schauten mich vertraut an und ihre graue Jeans passte perfekt zu der leicht durchsichtigen, weißen Bluse mit Stickereien am Ausschnitt, war ich allerdings ganz anderer Meinung. Ich war eine graue Maus, ganz unscheinbar, passte mich der Umgebung an. Meine Mum hingegen war auffallend hübsch und jeder vorbeigehende Spaziergänger musste sie einfach ansehen. Meine Mum tat dann zwar immer ganz bescheiden so, als wenn sie es nicht bemerken würde, aber ich war mir ganz sicher, dass sie das mitbekam.

Als sie jetzt an mir hinuntersah und bemerkte, dass ich die riesigen Tiger-Hausschuhe von Oma anhatte, lächelte sie und direkt wurde mir warm ums Herz. Ich hatte sie so dolle lieb, dass es fast wehtat. „Guten Morgen, mein Schatz.“ Sie strich mir über den Kopf und gab mir einen Kuss auf die Stirn. „Ich wollte dich nur erinnern, dass du in einer Stunde los zum Training musst.“ „Mist!“ Das hatte ich total vergessen! „Ich bin jetzt bei der Arbeit und dein Vater ist gleich auch weg. Du nimmst dann einfach den Bus, okay?“ Als ich nickte und sie zaghaft anlächelte, lächelte sie zurück, drehte sich um und ging die Treppe hinunter. Natürlich fand ich es nicht wirklich toll, dass sie Samstag arbeiten musste, aber sie war nun einmal Kinderärztin und sehr erfolgreiche noch dazu. Da ich nicht mehr viel Zeit hatte, huschte ich ins Badezimmer und stellte mich unter die Dusche. Ich duschte zügig, föhnte dann meine Haare und zog mich an. Ich nahm meine große Sporttasche von dem Haken hinter meiner Zimmertür und füllte sie mit meinem weißen Trikot, weißen Schuhen und etwas zu trinken. Dann steckte ich meine Haare mit ein paar Haarnadeln ordentlich zu einem Dutt zusammen und ging aus der Haustür.

Schließlich musste ich rennen, um den Bus zu bekommen, doch ich kam rechtzeitig an der Bushaltestelle an und stieg in den leeren Bus.

Als ich nach einigen Stationen endlich angekommen war, stieg ich aus und lief hastig die Treppen zum Tanzhaus nach oben, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Etwas außer Atem kam ich schließlich an und schlüpfte in eine der Umkleidekabinen. Dort zog ich mich rasch um und während ich meine wunderschönen schneeweißen Schuhe mit einem breiten Band festschnürte, warf ich einen Blick auf die große etwas verschmierte Uhr über dem Eingang. Ich war schon eine gute Viertelstunde zu spät. Schnell fixierte ich meinen Dutt mit ein paar zusätzlichen Haarnadeln, da meine Haare durch die Fahrt etwas durcheinandergeraten waren, schnappte mir meine große Sporttasche und lief zum Eingang. Als ich zaghaft an der Tür anklopfte, jedoch keine Antwort bekam klopfte ich etwas fester. Immer noch keine Antwort. Mein Herz klopfte laut als ich die Klinke herunterdrückte und die Tür einen Spalt weit öffnete. Doch in dem großen Saal mit einer Wand bestehend nur aus Spiegeln und einer Holzstange an jeweils jeder Wand war niemand zu sehen. Nicht mal aus der Stereoanlage auf dem kleinen Regal ertönte Musik, es war gespenstisch still. „Selin?“, fragte ich vorsichtig in die Stille hinein, doch meine Trainerin antwortete nicht. Langsam betrat ich den Raum und die große Metalltür fiel mit einem leisen Klicken ins Schloss. Ich ließ meine Sporttasche auf den Boden fallen und ging zu dem großen Fenster. Als ich durch die große Scheibe nach unten auf die Straße sah, fielen vereinzelte Regentropfen vom dunkel gewordenen Himmel und platschten gegen die Fensterscheibe. Ich beobachtete die Spatzen, die schnell vor dem Regen in einen Baum flüchteten und seufzte kaum hörbar auf. Hatte ich irgendetwas nicht mitbekommen und das Training fiel heute aus? Aber dann wären die Türen doch abgeschlossen gewesen. Gerade überlegte ich, wieder nach Hause zu gehen, als plötzlich die Hintertür am anderen Ende des Raumes aufgestoßen wurde und Marie, ein Mädchen aus meiner Trainingsgruppe stürmte in den Raum. „Leonie! Da bist du ja endlich! Training findet heute in Trainingshalle drei statt.“, schnaufte sie völlig außer Atem und stützte sich mit ihren Händen auf ihre Oberschenkel.

„Beeil dich, Selin will irgendwas Wichtiges sagen. Scheint dramatisch zu sein.“

Erleichtert nahm ich meine Sporttasche und folgte Marie durch die Hintertür. Sie hetzte so schnell durch die Gänge und Umkleidekabinen, dass ich ihr kaum folgen konnte und ich musste rennen um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Als sie schließlich ganz hinten an einer schäbigen Holztür anklopfte, von der der grüne Lack bereits abbröckelte wie alter Putz, war ich völlig außer Atem. Marie öffnete die Tür und wir setzten uns schnell zu den anderen in den Kreis. Normalerweise fingen wir sofort mit dem Training an und setzten uns nicht erst in den Kreis wie im Kindergarten. Aber normalerweise trainierten wir auch nicht in dieser winzigen Trainingshalle, sondern in dem großen Spiegelsaal.

„Schön, dass wir jetzt vollzählig sind.“ Selins russischer Akzent war mir irgendwie sympathisch. Überhaupt war sie sehr hübsch und total begabt was Ballett anging. „Hi.“, raunte Emilia mir zu und ich setzte mich neben sie. Sie war schon von Anfang an in meinem Kurs gewesen und sie war eine gute Freundin von mir. „Wir trainieren nun schon sehr lange daraufhin, alleine zu tanzen, und das mit Erfolg. Jede von euch ist in der Lage, Gefühle und Emotionen durch das Tanzen auszudrücken. Nun wird es Zeit, ein neues Kapitel zu eröffnen.“ Selins Dramatik in der Stimme machte mir fast Angst, aber ich war trotzdem sehr gespannt, was sie vorhatte. „Was kommt denn jetzt?“, flüsterte Emilia neben mir, doch ich konnte nur mit den Schultern zucken. Ich hatte keinen blassen Schimmer. „Ich sag nur: Jungs!“ Leila grinste uns entzückt an, doch ich verstand immer noch nicht. „Hä?“ „Ruhe bitte!“, fuhr Selin fort. „Wir werden in das Kapitel, den Tanz zu zweit zu gestalten, einsteigen.“ Es war mucksmäuschenstill. Niemand sagte ein Wort. Alle starrten gebannt auf Selin, die unsere verblüfften Gesichter zu genießen schien. „Deshalb werden wir eine außerplanmäßige Exkursion machen. Am Montag geht es los. Ich möchte weder, dass ihr euren halben Kleiderschrank mit auf die Reise nehmt, noch möchte ich, dass ihr zu wenig mitnehmt. Aus diesem Grund habe ich euch eine Liste geschrieben, mit den Dingen, die ihr mitnehmen müsst und mit Dingen, die ihr nicht mitnehmen dürft.

Außerdem…“ Doch sie wurde unterbrochen. „Was? Aber am Montag haben wir Schule! Ich schreibe da eine Geschichtsklausur.“ Marie sprach damit offensichtlich genau das aus, was allen auf der Zunge lag. „Ich sagte doch, es ist eine außerplanmäßige Exkursion. Sonst hätten wir die Fahrt doch im Voraus planen können. Aber eine gute Ballerina muss lernen zu improvisieren. Außerdem muss man auch mal spontan sein! Das gehört zum Leben dazu. Natürlich nehmt ihr eure Schulbücher mit. Für eure Eltern gebe ich euch einen Zettel mit allen wichtigen Informationen mit, am besten ihr gebt mir heute oder spätestens morgen Mittag per Email oder Telefon Bescheid, ob eure Eltern einverstanden sind und ob ihr mitfahren könnt.“

Alle starrten sie perplex an und auch ich konnte nichts darauf erwidern. Diese Nachricht hatte uns alle überrumpelt. Wir hatten noch nie eine Exkursion gemacht, und schon gar nicht mitten in der Woche. Anna fing sich als erstes wieder. „Ja…aber wie lange wird die Fahrt dauern?“ Sehr gute Frage. „Naja also mindestens zwei bis drei Wochen. Vielleicht auch etwas länger, mal sehen.“ Wie bitte? Drei Wochen? Das war doch wohl ein Witz! „Wohin fahren wir überhaupt? Und was machen wir da?“, hakte ich nach. „Na tanzen natürlich. Wir fahren nach Frankreich! In eine Stadt etwas westlich von Paris. Dort wird uns ein guter Freund von mir erwarten, er trainiert eine männliche Tanzgruppe, alle so um die sechzehn, siebzehn Jahre alt. Ich bin mir sicher das wird euch gefallen!“ Nach Frankreich also. Na, das hörte sich ja schon viel besser an. Alle um mich herum fingen an zu tuscheln, es entstand eine Unruhe, doch Selin lächelte nur. Normalerweise war sie sehr streng, aber schlimm fand ich das nicht. Im Gegenteil - ich hatte mich schon daran gewöhnt. „Wisst ihr, früher, als ich genauso alt war wie ihr, da hat mein Tanzlehrer genau das Gleiche auch mit uns gemacht. Auch ich war damals in der Schule und habe wichtige Klausuren geschrieben. Wir konnten uns alle gar nicht vorstellen, wie das denn funktionieren sollte. Aber ich habe jeden Abend mit meiner Freundin telefoniert, und sie hat mich dann darüber informiert was in der Schule passiert ist. Ich konnte alles ohne Probleme nacharbeiten. Ihr solltet euch auch so jemanden suchen, der das übernimmt. Macht euch keine Sorgen Mädchen. Das wird Spaß machen, ich verspreche es euch. Ihr dürft nicht vergessen, was das für ein Fortschritt für euch sein kann.“ Während sie redete teilte sie uns Zettel aus und ich verfrachtete sie in meine Sporttasche. „Das wird sicher ein teurer Spaß“, sagte Marie zu mir, während ihr Blick über den Informationszettel huschte und vergeblich nach einer Preisangabe suchte. „Nein nein, keine Sorge“ Selin lachte. „Es kostet gar nichts. Ich sagte ja schon, ich habe in Frankreich einen guten Freund, der hat Betten für euch, und den Busfahrer bezahle ich, darüber müsst ihr euch also keine Gedanken machen.“ „Wow.“ Das war alles was ich herausbrachte. Mal eben für einen halben Monat nach Frankreich und das ganze umsonst? „Kommt Mädchen. Ich beende das Training jetzt, ihr müsst übermorgen schließlich fit sein.“ Damit beendete sie die kleine Plauderrunde, erhob sich und verließ den Raum. Eine Weile blieben alle reglos sitzen, dann standen wir auf und kramten unsere Sache zusammen. „Das war ja mal ein kurzes Training. Bist du mit dem Bus?“, fragte Emilia mich in der Umkleidekabine während sie ihre Haare gründlich mit einer Haarbürste durchkämmte. „Das stimmt.“ Ich packte meine weißen Schuhe gerade wieder in meine Tasche und zog mir einen Pulli über. „Ja, ich bin mit dem Bus. Wenn wir uns beeilen kriegen wir ihn noch.“ Hastig zog ich den Reißverschluss meiner Jacke zu und Emilia und ich liefen nach draußen. Wir verabschiedeten uns dann von den anderen und eilten die Treppen hinunter.

Als ich am Abend in meinem Bett lag starrte ich nachdenklich an die Decke. Nach dem Tanzunterricht hatte ich meinen Eltern sofort von der bevorstehenden "Exkursion", wie Selin es genannt hatte, erzählt, und meine Mum war sofort Feuer und Flamme, sie sah nämlich wirklich eine große Chance für mich in dieser "Exkursion", bald größere Auftritte als nur in dem Spiegelsaal vor unseren Eltern zu haben. Obwohl sie eigentlich fand, Schule ging vor, hatte sie sofort den großen Reisekoffer aus dem Keller hervorgekramt, den wir eigentlich nur benutzten, wenn mein Dad für vier Wochen auf Geschäftsreise fuhr. Und das kam äußerst selten vor. Der Koffer war jetzt schon gepackt und stand am Fuße meines Bettes. Als mein Dad nach Hause gekommen war und ich ihm davon berichtet hatte, war er erst ein bisschen skeptisch, aber als er erfuhr, dass die ganze Angelegenheit kostenlos war, hatte er sich auch für mich gefreut und mir sogar ein ordentliches Taschengeld zugesteckt. Morgen musste ich nur noch Toni anrufen und ihr davon erzählen, damit sie mich in der Schule entschuldigen, und mir den versäumten Stoff per Telefon überbringen konnte. Inzwischen war ich schon total aufgeregt, ich war nämlich noch nie in Frankreich gewesen. Und während ich über die Croissants, das Baguette und den Eifelturm nachdachte, spürte ich, wie Müdigkeit sich in mir breit machte und ich schließlich langsam, aber sicher einschlief.

Kapitel 2

Montagmorgen erwartete uns ein kleiner, rot lackierter Bus, der ziemlich gemütlich aussah. Es nieselte ein wenig, und es war echt kalt für einen Septembermorgen. Ich stand neben meiner Mum und neben mir stand der große Koffer. Ich hatte eine Tasche als Handgepäck, und einen kleinen Rucksack, gefüllt mit meinen Schulbüchern und einigen Heften. Am Tag zuvor hatte ich mit Toni telefoniert, sie hatte sich total für mich gefreut, was ich echt süß von ihr fand. Zwar hatte sie mich mindestens dreimal darauf aufmerksam gemacht, dass sie es höchstwahrscheinlich nicht mal eine Woche ohne mich aushalten würde, aber sie war weder neidisch noch sonst irgendwie sauer. Sie war eben die beste Freundin der Welt! Eigentlich hatte sie mich heute begleiten wollen, aber da der Bus erst um zehn Uhr abfuhr, musste sie ja leider in die Schule. Ich seufzte. Was ich nicht alles dafür geben würde, dass sie mitkommen könnte. Aber das ging nun mal nicht. Damit musste ich mich abfinden. „Schön, dass ihr alle mitfahren könnt!“ rief Selin in diesem Moment und riss mich aus meinen Gedanken. „Ich bitte euch nun, euer Gepäck in dem kleinen Gepäckraum hier hinter der Klappe zu verstauen und euch dann einen Platz im Bus zu suchen. Der Busfahrer ist jeden Moment wieder da und wir können los!“ So, als wolle sie es uns veranschaulichen, öffnete Selin die Gepäck klappe, verstaute ihren winzigen mintgrünen Koffer darin, und stieg dann in den Bus, wo sie sich ganz vorne einen Platz suchte. Wehmütig drehte ich mich zu Mum um und versuchte den großen Kloß der sich in meinem Hals gebildet hatte zu ignorieren. Ich war zuvor noch nie länger als fünf Tage von zu Hause weggefahren, außer in den Urlaub natürlich, aber da war meine Familie immer dabei gewesen. Mum unterhielt sich gerade angeregt mit Leilas Mum, als ich sie vorsichtig am Ärmel zupfte. Verwundert drehte sie sich um. Einige Mädchen waren schon in den Bus eingestiegen und Emilia bedeutete mir, dass sie mir einen Platz freihielt. „Ich glaub so langsam muss ich mal…“ Ich lächelte Mum etwas gequält an und zeigte mit dem Daumen auf den Bus. Der Busfahrer war nun auch angekommen und stieg in den kleinen, roten Bus, der schwankte und wackelte als der Fahrer sich in seinen Sitz fallen ließ. „Mach dir keine Sorgen, Maus. Das wird schön. Wir können auch jeden Abend telefonieren, wenn du magst.“ Ich nickte und schluckte schwer. Mum nahm mich zärtlich in den Arm, und ich drückte sie ganz fest. Ich wollte sie am liebsten nie mehr loslassen, als der Busfahrer ungeduldig zu hupen begann. Zögerlich löste ich mich von Mum und sie gab mir einen schnellen Kuss auf die Stirn. Inzwischen waren fast alle Plätze in dem kleinen Bus besetzt und ich beeilte mich den riesigen Koffer hinter der Gepäckklappe zu verstauen. Meinen Rucksack und meine Handtasche nahm ich als Handgepäck mit in den Bus. Emilia winkte mir aufgebracht zu, sie hatte es tatsächlich geschafft und mir einen Platz am Fenster freigehalten. Ich setzte mich neben sie und sah aus dem Fenster. Meine Mum stand am Straßenrand und wirkte ein wenig verloren, ich spürte genau, dass auch sie mich nicht so wirklich gehen lassen wollte. Als sie sah, dass ich sie durch das kleine, verschmierte Fenster ansah, lächelte sie. Gerade schlossen sich die Türen und ein ohrenbetäubendes Motorengeräusch erfüllte den kleinen Bus. Als der Bus losfuhr, winkte meine Mum mir zu, und auch wenn ich sie schon nach ein paar Metern nicht mehr sehen konnte, wusste ich, dass sie nicht aufgehört hatte zu winken. Seufzend löste ich meinen Blick vom Fenster. „Hey, wusstest du eigentlich, dass Versailles nur eineinhalb Stunden von Paris entfernt ist? Leila hat mir eben gesteckt, dass Selin mit uns einen Ausflug ins Jilete Tanzhaus machen will. Wahnsinn, oder?“ Emilia hielt einen zerfledderten Reiseführer in der Hand und studierte die Landkarte, die vorne abgedruckt war. „Echt? Toll!“ Endlich würde ich das Jilete Tanzhaus besuchen können! „Hier steht zwar, dass keine Besuche außerhalb der Vorstellungszeiten gemacht werden dürfen, aber bestimmt hat Selin wieder ihre Kontakte. Oh und guck mal, hier. Es sollen echt gute Möglichkeiten zum Shoppen geben.” Ich beugte mich zu ihr rüber und betrachtete die aneinandergereihten Namen vieler Geschäfte. „Wie lange müssen wir eigentlich fahren?”, fragte ich und gähnte. „Naja, ich denk schon so 8-9 Stunden.”, antwortete Emilia ohne ihren Blick von dem Reiseführer zu wenden. „Och nö. Hoffentlich überlebt diese alte Blechkiste die Fahrt, wenn nicht müssen wir wohl zu Fuß gehen. Und warum sind wir eigentlich nicht geflogen? Das wäre viel schlauer gewesen.” Schmollend sah ich aus dem Fenster. Emilia zuckte nur mit den Schultern und las weiter in ihrem Reiseführer.

Nach einer schier unendlich langen halben Stunde, in der ich nichts getan hatte, als aus dem Fenster zu sehen, die vorbeifahrenden Autos zu begutachten und meine Gedanken kreisen zu lassen, klappte Emilia ihren Reiseführer zu und verstaute ihn in ihrem Rucksack. „Sag mal, glaubst du eigentlich, die Jungs tanzen besser als wir?” Nachdenklich sah sie an mir vorbei aus dem Fenster. „Welche Jungs?” Doch noch während ich die Frage aussprach, wusste ich die Antwort schon. „Ach, die Jungs. Die mit denen wir trainieren werden? Ich hab keine Ahnung. Aber ich denke, sie werden ungefähr so gut sein wie wir. Sonst hätte Selin sie ja wohl nicht als Trainingsgruppe für uns ausgesucht, oder?” Emilia nickte und sah weiter nachdenklich aus dem Fenster. „Denkst du, dein Partner sieht gut aus?”, fragte sie schließlich. Ich zuckte etwas unbeholfen mit den Schultern. Um ehrlich zu sein, ich hatte mir noch nie so wirklich etwas aus Jungs gemacht. Es gab welche, die waren ganz nett, es gab aber auch wiederrum welche, die waren nicht so nett. Ganz einfach. Toni hatte mal zu mir gesagt, ich sei immun gegen die Liebe, weil ich noch nie einen Freund hatte, und verliebt war ich auch noch nie. Sie hingegen stand total auf Jasper, einen Typen eine Stufe über uns.

„Du musst dir doch schon Gedanken darüber gemacht haben! Also ich habe gestern den ganzen Tag darüber nachgedacht. Ich meine, stell dir mal vor du musst mit jemandem tanzen, den du überhaupt nicht magst! Das wäre ja schrecklich!” „Das hat aber doch nichts mit dem Aussehen zu tun, oder?”, fragte ich und malte mit dem Finger Kringel auf die inzwischen beschlagene Scheibe. Emilia verdrehte genervt die Augen. „Naja, du weißt schon, was ich meine.” Ich nickte verständnisvoll, dabei hatte ich keine Ahnung was sie meinte. „Wir werden schon sehen. Hast du was dagegen, wenn ich kurz ‘ne Runde schlafe? Ich hab fast die ganze Nacht kein Auge zugetan und wer weiß was uns nachher erwartet.” Emilia gähnte. „Ne, kein Problem. Ich glaub ich schlaf auch ein bisschen.” Daraufhin schloss Emilia die Augen und ich holte meine Kopfhörer aus meinem Rucksack. Als ich sie mir in die Ohren stöpselte und mich zurücklehnte, dachte ich an das, was uns erwarten würde. So genau wie Emilia hatte ich das noch gar nicht bedacht. Natürlich war mir klar, dass wir einen Partner zum Tanzen bekamen, aber wer wusste schon, ob dieser nett war? Seufzend schloss ich die Augen und lauschte der Musik in meinen Ohren.

You can dream whatever you want,

if you dream something impossible,make it possible.

Und damit nickte ich ein und schlief geschlagene 6 Stunden lang.

Emilia stieß mich aufgebracht mit ihrem Ellenbogen an und ich blinzelte müde in das Dämmerlicht das durch die Scheiben fiel. „Du siehst aber müde aus!” Sie lachte. „Komm steig aus, wir machen eine Pause. Die Anderen sind schon draußen.“ Verschlafen räkelte ich mich und nahm meine Kopfhörer aus den Ohren. Ich schnallte mich ab und folgte Emilia nach draußen. Als ich aus der Tür des Busses trat, blies mir ein eiskalter Wind entgegen und ich begann zu zittern. Schnell zog ich mir meine kuschelige Jacke über und begann, genau wie die Anderen es bereits taten, ein bisschen auf und ab zu gehen, um mir die Beine zu vertreten. Wir hatten auf einem großen Parkplatz gehalten, und viele Mädchen waren in einen kleinen Imbiss gegangen, um sich etwas zu Essen holen. Auch mir knurrte der Magen, ich hatte seit heute morgen nichts gegessen. Aber ich wollte mir nichts extra etwas kaufen, schließlich hatte Mum mir einige Brotdosen für die Fahrt bereitet. In einer stapelten sich geschmierte Brote, in einer anderen war frisches Obst, und in einer weiteren waren Bonbons und Schokoriegel. Ich aß einige geschmierte Brote und einen Schokoriegel, dann packte ich die anderen wieder in meine Tasche. Ich beschloss, mir den Rest aufzubewahren. Schließlich waren wir laut Emilia erst vor einer Viertelstunde über die französische Grenze gefahren, und der Landkarte auf Emilias Reiseführer zufolge lag Versailles eher mittig, Richtung Norden Frankreichs, also mussten wir noch eine gute Strecke zurücklegen. Nach einiger Zeit forderte der Busfahrer uns schließlich auf, uns wieder hinzusetzen, damit wir sobald wie möglich ankommen würden. Also setzten wir uns wieder auf unsere Plätze und nach kurzer Zeit brummte der Motor wieder und wir fuhren wieder auf die Autobahn. Seufzend stützte ich mich mit meinen Ellenbogen auf meine Knie und starrte den Sitz vor mir an. Am liebsten wollte ich mich in mein gemütliches Bett zu Hause kuscheln und bis morgen schlafen.

Die restliche Zeit verbrachten Emilia und ich damit, uns zu unterhalten und uns gemeinsam den Kopf darüber zu zerbrechen, mit wem wir wohl tanzen würden, und ob es überhaupt nur ein einziger Partner wäre, oder ob die Partner über die Wochen wechseln würden. Wir beschwerten uns über die Fahrweise des Busfahrers, natürlich nur insgeheim, nicht lautstark, und lachten über Leila und Sophie, die schräg neben uns saßen und sich wie Kleinkinder stritten und zankten. Ich aß Obst und teilte mir mit Emilia die Bonbons.

„Ich kann nicht mehr sitzen.“, jammerte ich. „Wir müssten in einer Dreiviertelstunde da sein.“, sagte Emilia und klappte wieder ihren Reiseführer auf. „Hach ich freu mich schon total auf Versailles!“ Sie fuhr mit ihrem Finger die Buchstaben nach die vorne auf ihrem Reiseführer prangten und das Wort: VERSAILLES bildeten. Draußen ging gerade die Sonne unter. „Ich hab Hunger!“ „Jetzt jammer doch nicht! Wir sind ja gleich da!“ Genervt blätterte Emilia eine Seite um. Ich öffnete meine Brotdose und biss in ein saftiges Apfelstückchen. Ich stützte mich mit meinem Ellenbogen auf dem schmalen Streifen vor dem verschmierten Fenster und sah hinaus. Während ich die vorbeiziehenden Bäume anstarrte seufzte ich leise und zog den Reisverschluss meiner Jacke noch höher, so hoch wie möglich, denn ich fröstelte ein wenig und wünschte mir nichts sehnlicher, als in meinem kuscheligen Bett zu liegen und zu schlafen. Ich döste vor mich hin, bis der Bus auf einen großen Parkplatz abbog und mit einem lauten Quietschen stehen blieb. „Alle bitte aussteigen!“, sprach der Busfahrer durch sein Mikrofon in die Stille hinein und plötzlich herrschte reger Tumult. Auch Emilia rief irgendetwas aufgebrachtes zu mir herüber, doch ich hörte ihr nicht zu. Ich war damit beschäftigt, das riesige, wunderschöne Gebäude, das sich wie aus dem Nichts vor uns auftürmte, zu betrachten. Es hatte schneeweiße Wände mit vielen kleinen, goldenen Türmchen, die ungeordnet mal hier, mal da in den Himmel ragten. Die Turmspitzen waren mit goldenem Stuck verziert und insgesamt sah das Gebäude wie ein Märchenschloss aus. Von dem Parkplatz führte eine lange Allee mit Bäumen ordentlich links und rechts angeordnet zu der prunkvollen, goldenen Eingangstür. Ich stieg die klapprigen Stufen des Busses hinab und nahm meinen großen Koffer entgegen. „Woah!“ Auch Emilia schien den Anblick dieses Schlosses zu genießen. Der Busfahrer hupte einige Male und kutschierte den kleinen roten Bus langsam über den Parkplatz zur Straße hin. Unser Reisebus passte rein optisch überhaupt nicht in das Bild dieses Grundstückes. Selin winkte ihm hinterher. „Kommt Mädels. Abendessen wartet auf uns.“ Sie ging voran und wir folgten ihr. Vor der breiten Allee war ein Schild aus Holz in den Boden gerammt, auf dem in geschwungenen Buchstaben Tanzakademie Juliet, für Jungen geschrieben stand. Als wir durch die Allee auf die Eingangstür zugingen, fühlte ich mich fast wie eine Prinzessin, es fehlte nur der Diener, der meine Taschen trug. An der Eingangstür angekommen, mussten wir drei breite Stufen zu der Tür hinaufsteigen. Die Eingangstür war eigentlich vielmehr eine Eingangspforte, oder ein Eingangstor, denn sie war riesig. So breit, dass drei Autos nebeneinander durchfahren konnten, und so hoch, dass man mindestens zwei ausgewachsene Giraffen darunter übereinander hätte stapeln können. Selin drückte auf eine goldene Klingel die so groß wie eine Untertasse war. Daraufhin dröhnte und vibrierte es so laut, dass wir uns alle die Ohren zuhalten mussten. Die beiden Flügeltüren öffneten sich automatisch und wir standen perplex auf den Eingangsstufen und glotzten auf den Mann, etwa in Selins Alter, und die kleine Gruppe von Jungs, die hinter der Tür standen und uns anscheinend schon erwartet hatten. Sie waren alle so um die fünfzehn, sechzehn Jahre alt und trugen, anders als ich erwartet hatte, normale Alltagskleidung. Selin ließ ihren Koffer vor uns stehen und ging auf den Mann zu. „Jaques! Das gibt es ja gar nicht! Am Telefon hast du noch genau so frech geklungen wie früher, kaum zu glauben, dass du jetzt tatsächlich eine eigene Tanzakademie leitest! Toll!“ Aufgekratzt breitete Selin ihre Arme aus und umarmte den lächelnden Jaques. Wir standen immer noch ratlos auf den Eingangsstufen und beobachteten das Geschehen. „Meine Liebe! Selin! Du ´ast disch kaum verändert! Pardon, meine lieben Mädschen! Wie konnte isch eusch nur vergessen! Kommt doch ‘erein. Isch ‘abe oben Zimmer für eusch parat machen lassen!“ Leila kicherte, und auch ich musste leicht über seinen französischen Akzent schmunzeln. Wir nahmen also unsere Koffer und Taschen und folgten Selin nach drinnen. Wie eigentlich nicht anders zu erwarten war, war die Eingangshalle riesig und man konnte an einer langen Treppe vorbei die Decke sehen, sie war sehr hoch und aus Glas, sodass man dadurch die untergehende Sonne sehen konnte. „Hübsch.“, sagte Leila ganz lässig und sah sich gelassen im Raum um. Ich kannte sie inzwischen so gut, dass ich wusste, dass sie normalerweise völlig ausgerastet wäre und sich über das kleinste goldene Detail lautstark gefreut hätte. Doch natürlich musste sie vor den Jungs cool tun, dennoch konnte ich ihr ansehen, dass sie ihre Freude kaum zurückhalten konnte.

Die Jungen hatten sich bisher kaum von ihrem Fleck gerührt, für mich sah es so aus als könnten sie sich etwas Besseres vorstellen als in der Eingangshalle rumzustehen und zuzugucken wie wir durch die Eingangshalle marschierten. Sie standen da und sahen still zu, wie Jaques uns zur Treppe nach oben führte. Es wunderte mich sehr, warum es in diesem Gebäude keine Aufzüge gab. Fast alle hatten ihre Hände entweder in ihren Hosentaschen oder in den Taschen ihrer Pullis. Einer der Jungen hatte blonde Haare die er