Der Mondmann - Blutiges Eis - Fynn Haskin - E-Book
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Der Mondmann - Blutiges Eis E-Book

Fynn Haskin

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Beschreibung

Jens Lerby ist Profiler in Kopenhagen und hasst die Kälte. Ausgerechnet er wird nach Grönland geschickt, in eine Gemeinde der Inuit, um bei einem grausamen Fall zu helfen: Ein Mann wurde offenbar von etwas wie Walrosszähnen durchbohrt. Schnell kommt unter den Inuit das Gerücht auf, ein Amarok, ein Mischwesen aus Walross und Wolf, sei für den Tod verantwortlich. Jens glaubt kein Wort davon. Bei seinen Ermittlungen hilft ihm die junge Inuit Pally. Als ein weiterer Mord geschieht und dunkle Nacht über der Eiswüste heraufzieht, beginnen Jens und Pally zu ahnen, dass der blutrünstige Amarok in Wahrheit ein Mensch aus Fleisch und Blut ist - und den Inuit eine noch viel größere Gefahr droht ...

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INHALT

CoverInhaltÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungMottoProlog12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243Epilog

ÜBER DAS BUCH

Jens Lerby ist Profiler in Kopenhagen und hasst die Kälte. Ausgerechnet er wird nach Grönland geschickt, in eine Gemeinde der Inuit, um bei einem grausamen Fall zu helfen: Ein Mann wurde offenbar von etwas wie Walrosszähnen durchbohrt. Schnell kommt unter den Inuit das Gerücht auf, ein Amarok, ein Mischwesen aus Walross und Wolf, sei für den Tod verantwortlich. Jens glaubt kein Wort davon. Bei seinen Ermittlungen hilft ihm die junge Inuit Pally. Als ein weiterer Mord geschieht und dunkle Nacht über der Eiswüste heraufzieht, beginnen Jens und Pally zu ahnen, dass der blutrünstige Amarok in Wahrheit ein Mensch aus Fleisch und Blut ist – und den Inuit eine noch viel größere Gefahr droht …

ÜBER DEN AUTOR

Fynn Haskin wurde im rauen Winter 1969 geboren – vielleicht ist das der Grund, warum er schon früh eine Vorliebe für Schnee und Eis entwickelt hat. Seinen Urlaub verbringt der Reisejournalist und Weltenbummler bis zum heutigen Tag auf Bergeshöhen oder in den kühlen Regionen dieser Erde. Kaum eine Gegend hat ihn so begeistert wie Grönland. Besonders die spektakuläre Landschaft und die Kultur der Inuit haben ihn nachhaltig beeindruckt und zu Der Mondmann inspiriert.

FYNN HASKIN

DER

MOND

MANN

BLUTIGES EIS

GRÖNLAND-THRILLER

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Frank Weinreich, Bochum

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock: railway fx | Alex Stemmers | ESB Professional | Melinda Nagy | mexrix |

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-2831-7

luebbe.de

lesejury.de

 

To my father-in-law,

the inuk at heart.

F. H.

 

»Wir glauben nicht. Wir fürchten uns.«

Antwort eines Inuk-Führers auf die Frage

des Polarforschers Knud Rasmussen (1879–1933),

woran sein Volk glaube.

PROLOG

Ein Irrgarten aus Eisschollen säumte die Küste, weiße Inseln im tiefblauen Meer. Es plätscherte leise, als Natuk das Doppelpaddel ein ums andere Mal in das eiskalte Wasser senkte und das qajaq mit kurzen, kräftigen Stößen vorantrieb.

Es war noch das Boot, das seine Mutter einst für ihn gebaut hatte – auf die alte Weise, mit einem Rahmen aus Treibholz und einem Gerüst aus Knochen und Sehnen, das von Robbenhaut überzogen war. Nicht, wie sie sie heute herstellten, aus imprägnierter Leinwand oder gar aus Fiberglas …

Der alte Weg.

Von Kindesbeinen an hatte Natuk gelernt, darin zu sitzen und das Gleichgewicht zu halten. Zunächst in einem Grundriss aus Steinen, den man für ihn auf dem Boden ausgelegt hatte, später dann in einem kleinen Übungsboot. Die Balance zu halten, selbst dann, wenn etwas Unvorhergesehenes geschah oder das Wasser rau wurde, war einst lebenswichtig gewesen, hatte den Unterschied zwischen einem lebenden Jäger und einem toten bedeutet. Und das nicht nur, weil ein Mann, der den Umgang mit dem Kajak nicht beherrschte, darin allzu leicht ertrinken konnte. Sondern auch weil derjenige, der bei der Robbenjagd nicht erfolgreich gewesen war, ohne Beute nach Hause zurückgekehrt und langsam und elend verhungert war.

Natuk musste an seinen Cousin Iggiaq denken, der nach Süden gegangen war, nach Nanortalik, und dort Fahrten für Touristen organisierte. Natuk verstand nicht, was all diese Menschen aus fernen Ländern hier oben im Norden wollten. Sie waren keine Inuit, wussten nicht, wie man ein Kajak lenkte oder eine Harpune warf, und doch wollten sie es unbedingt versuchen. Iggiaq hatte erzählt, dass sie dann laut lachten und Spaß dabei hatten … Offenbar, dachte Natuk, gab es dort, wo diese Menschen herkamen, wenig Freude. Deshalb reisten sie an ferne Orte, um dort zu finden, was sie zu Hause nicht hatten … und doch hatten sie nichts verstanden.

Natuk war achtunddreißig Jahre alt.

Er war seinen Eltern dankbar dafür, dass sie ihn noch auf die alte Weise erzogen hatten, auch wenn die Zeichen der Veränderung damals bereits deutlich zu erkennen gewesen waren. Sie hatten ihm beigebracht, in Wolken und Wellen zu lesen und den Schnee und das Eis zu riechen. Sein Vater war Jäger gewesen, so wie Natuks Großvater und dessen Vater vor ihm; viele Generationen lang, soweit die Erinnerung reichte. Auch Natuk wäre gerne Jäger geworden wie seine Ahnen, hätte seinen Lebensunterhalt lieber mit der Jagd nach Robben bestritten als damit, im Hafen von Illokarfiq Motorboote zu warten. Doch die Zeiten waren andere, die Welt veränderte sich.

Alles veränderte sich.

Selbst das Eis.

Noch in den Tagen von Natuks Kindheit waren die Fjorde nördlich von Illokarfiq während des Winters von einer dicken Eisschicht bedeckt gewesen, in die man tiefe Löcher hatte schlagen müssen, wenn man jagen wollte. Jetzt war das Eis viel dünner, bisweilen sogar so dünn, dass man es nicht mehr begehen konnte. Es zwang die Jäger dazu, aufs Wasser auszuweichen – oder im Supermarkt von Illokarfiq einzukaufen. Tiefgefrorenes Fleisch aus anderen Ländern, während hier das Eis zurückging, mit jedem Jahr ein wenig mehr.

Flach wie ein Blatt lag das Kajak auf dem Wasser, dessen dunkelblaue Farbe zwischen den Schollen von eisiger Tiefe kündete, während es heller und türkisfarben wurde, je näher man dem Eis kam. In Natuks Kindheit wäre es nicht möglich gewesen, um diese frühe Zeit des Jahres die Küste so dicht zu passieren. Inzwischen ging das, und wenn das schmelzende und dadurch unberechenbare Packeis auch eine Gefahr darstellte, so ließ er es sich doch nicht nehmen, an freien Tagen in den Anorak aus Robbenhaut und die Überhosen aus Eisbärenfell zu schlüpfen, die sein Vater ihm hinterlassen hatte, und sich aufs Wasser zu begeben, um dem Leben seiner Vorfahren nachzuspüren. Und gelegentlich auch seine Harpune zu werfen, um nicht ganz aus der Übung zu kommen. Das Zeug aus dem Supermarkt mochte vor dem Verhungern schützen, aber nur Robbenfleisch konnte einen Mann wirklich ernähren.

Auch die Tiere hatten ihr Verhalten geändert, zeigten sich nicht mehr, wie sie es einst getan hatten. Und doch hatte Natuk vorhin erst einen silbern schimmernden Rücken erblickt, der für einen kurzen Moment aus dem Wasser aufgetaucht war, um dann sofort wieder darin zu verschwinden – natseq, die verbreitetste Art der Gegend. Die Ausländer bezeichneten diese Robbenart als »Ringrobben« wegen der Rückenzeichnung in ihrem Fell. Natuk gab sich keinen großen Hoffnungen hin, das Tier tatsächlich zu erlegen, aber ihm nachzustellen, war eine willkommene Abwechslung und würde seine Jagdinstinkte wieder ein wenig schärfen. Sein Vater hatte die Fähigkeit besessen, eine Robbe im Wasser zu riechen, ihren feinen Atem vom Geruch des Meeres, des Eises und dem anderer Tiere zu unterscheiden. Natuks Nase bekam die meiste Zeit über nur den Gestank von Abgasen, Rost und altem Motoröl vorgesetzt, entsprechend groß war seine Sehnsucht danach, hinauszufahren in den Fjord und dem Odem der Natur nachzuspüren, der Kälte und der Freiheit.

Doch als er für einen Moment das Paddeln einstellte, die Augen schloss und in der Luft nach Spuren von natseq suchte, stieg ihm ein anderer Geruch in die Nase: streng, beißend und alles andere überlagernd. Alarmiert riss Natuk die Augen auf und sah sich um. Doch die mehrere Meter hohen eisblauen Wände, die ihn zu zwei Seiten umgaben, nahmen ihm die Sicht. Mit kräftigen Paddelschlägen manövrierte er das Kajak aus der Engstelle – und sah die schmale Rauchsäule, die jenseits des Ufers in den Himmel stieg und sich grau und dunkel vor einer verschneiten Felswand abzeichnete.

Natuks erste Reaktion war freudige Überraschung: Er kannte diese Bucht und die Familie, die einst in der Jagdhütte dort gelebt hatte. Soweit er wusste, waren sie vor einigen Jahren in eines der umliegenden Dörfer gezogen – hatten sie es sich womöglich anders überlegt und waren zurückgekehrt?

Sein erster Impuls war, sie sofort zu besuchen. Doch dann überkam ihn eine plötzliche Sorge: Wieso sollten sie zurückgekehrt sein? Um die Jagdsaison zu beginnen, war es noch zu früh, die Zeit der Winterstürme noch nicht ganz vorüber. Außerdem zeugte eine Rauchsäule wie diese von einem Ofen, der nicht richtig arbeitete. Was also hatte das zu bedeuten?

Natuks erster natürlicher Reflex war es, das Paddel wieder ins Wasser zu senken und die Flucht zu ergreifen. Aber sein Pflichtbewusstsein ließ das nicht zu.

Die Familie, die die Hütte einst bewohnt hatte, das waren Freunde von ihm gewesen, Stene und seine Frau Pipaluk. Auch wenn er sie seit drei Wintern nicht gesehen hatte, hatten sie doch Speise und Feuer geteilt, und der Anblick der graublauen Rauchsäule, die von ihrem ehemaligen Zuhause aufstieg, erfüllte Natuk mit genug Besorgnis, um nach dem Rechten sehen zu wollen. Vorsichtig brachte er das Kajak näher an das Ufer heran, eine bogenförmige Ausschmelzung bot die Möglichkeit, an Land zu gehen.

Er konnte das leise Knacken des Eises hören, als er sich ihm näherte, dazu die Paddel, die jetzt nur noch flüsterten. Ansonsten lag das Wasser still, selbst der Wind schien den Atem anzuhalten. Ein leises Schaudern überkam Natuk, zusammen mit einem Gedanken, den er rasch wieder zu verdrängen suchte. Doch wie alle schlechten Gedanken war er hartnäckig.

Zu den Dingen, die Natuks Vater ihn gelehrt hatte, gehörte auch die Überzeugung, dass die Natur nicht den Menschen und Tieren allein gehörte, und dass es zwischen Eis und Himmel mehr Dinge gab, als der Verstand zu begreifen vermochte – uralte Wesen, die seit Anbeginn der Zeit dies Land bewohnten, die sich von Furcht ernährten und deren Element die Kälte und die Dunkelheit des arktischen Winters war, Dämonen und böse Geister.

Die qallunaat mochten nicht an sie glauben, doch sie waren so wirklich wie der Wind, der die Wolken umher trieb, oder der Schnee, der zu Boden fiel.

Natuk konnte nicht verhindern, dass sich sein Herzschlag beschleunigte. Er erreichte das Ufer und ging längsseits. Mit dem Eisanker machte er das Kajak fest, dann löste er die Splinte aus Robbenknochen, mit denen sein Anorak am Süllrand des Bootes befestigt war und so eine Spritzdecke bildete. Beim Aussteigen erwog Natuk, die Harpune mitzunehmen, die auf dem Vordeck in ihren Lederschlaufen steckte, und sich auf diese Weise behelfsmäßig zu bewaffnen. Doch zum einen wäre eine solche Waffe gegen einen Dämon sicherlich nutzlos, und zum anderen wollte Natuk ihn auch nicht gegen sich aufbringen. Er ging ohne die Harpune an Land.

Die Stelle war gut gewählt, dank der Ausschmelzung stellte das Erklimmen des Eises keine Schwierigkeit dar. Kaum hatte Natuk die Abbruchkante erreicht, konnte er die Quelle der Rauchsäule erkennen. Es war tatsächlich die Hütte, die Stene und Pipaluk einst bewohnt hatten – eigentlich ein alter Transportcontainer aus Metall, in den der geschickte Stene eine Öffnung für eine Tür geschnitten hatte und eine weitere für den Kamin, aus dem jetzt der dunkle Rauch quoll.

Die Hütte stand im Schutz einer steilen Felswand, die sie vor Wind und Wetter schützte, dennoch war sie mit Drahtseilen am Boden verzurrt wie Gepäck auf dem unsteten Deck eines Schiffes. Einsame Pflöcke steckten dort im Eis, wo sich einst Stenes Schlittenhunde getummelt hatten; die blaue Farbe, mit der Pipaluk den Container vor ein paar Jahren gestrichen hatte, war in der Kälte fast ganz abgeblättert, und der Rost kam darunter zum Vorschein. Die Behausung wirkte verlassen – wäre da nicht der graublaue Rauch gewesen, der unverändert aus dem metallenen Kamin stieg, der wie sich wie ein dürrer Knochenfinger in den grauen Himmel reckte.

Dies war kein guter Ort mehr.

Natuk vermochte nicht zu sagen, ob es die Lehren seines Vaters waren oder seine natürlichen Instinkte, die ihn warnten, doch am liebsten wäre er umgekehrt. Dennoch gab er sich einen Ruck und ging weiter über die blendend weiße Fläche, der Hütte entgegen. Seine Blicke glitten über den Boden, aber da waren keine Fährten, die er hätte lesen können, weder von Menschen noch von Tieren. Und doch musste jemand den Ofen angezündet haben.

Natuks Herzschlag beschleunigte sich mit jedem Schritt, so als würde er sich einer Beute nähern – dabei hatte er plötzlich das Gefühl, selbst beobachtet zu werden.

Gehetzt schaute er sich um. Die Kapuze des Anoraks schränkte sein Sichtfeld ein, also schlug er sie zurück. Doch wohin er auch blickte, ob in Richtung der felsigen Klippen oder des Fjordes – da war niemand außer ihm.

Inzwischen hatte er sich dem Container bis auf zwanzig Schritte genähert.

»Stene?«, rief er laut, schon um die bleierne Stille zu durchbrechen. »Stene, bist du das? Bist du wieder zu Hause?«

Er bekam keine Antwort, und er wunderte sich noch nicht einmal darüber. Dies war nicht länger der Ort einer freundlichen Begegnung. Eine Düsternis hatte sich darüber gelegt, die sich nicht in Worte kleiden ließ. Aber Natuk konnte sie fühlen. Wie eine dunkle Wolke hatte sie sich über ihn gebreitet, und verfinsterte sein Herz, und mit jedem Schritt wurde es schlimmer.

»Stene? Pipaluk? Ich bin es …« Er brach ab, ehe er dazu kam, seinen Namen laut auszusprechen. Falls wirklich ein Dämon im Spiel war, wollte er sich ihm nicht leichtfertig zu erkennen geben.

Endlich erreichte er den Container. Fetzen einstmals bunter Wimpel hingen an einem der rostigen Seile. Die unbestimmte Furcht, die Natuk schon zuvor verspürt hatte, verstärkte sich. »Stene?«, fragte er noch einmal.

Abermals kam keine Antwort.

Natuk wünschte sich nun doch, die Harpune mitgenommen zu haben, um wenigstens etwas zu haben, woran er sich festhalten konnte; nicht nur mit den Händen, sondern auch mit dem Verstand. Da sah er einen Spalt, der zwischen Tür und Angel klaffte. Das Haus war unverschlossen!

Mit hämmerndem Herzschlag trat Natuk vor, gab der Tür mit der behandschuhten Rechten einen Stoß. Knarrend schwang sie ins Innere, und Natuk bückte sich und beugte sich vor, um einen Blick hinein zu werfen.

Das Erste, was er spürte, war die Wärme, die von dem Benzinofen ausging. Womöglich blockierte etwas die Zuluft, sodass keine ordentliche Verbrennung zustande kam. Das mochte der Grund für die Rauchentwicklung sein. Natuk wollte hineingehen, um sich darum zu kümmern – als er den scheußlichen Gestank wahrnahm.

Der beißende Odem von Blut … und von Tod!

Ein halberstickter Schrei drang aus Natuks Kehle, Ausdruck blanken Grauens, als er erkannte, dass das, was dort vor dem Ofen lag, ein menschlicher Körper war! Er prallte entsetzt zurück, glitt dabei auf dem Boden aus und stürzte. Und in dem Augenblick, da seine Gestalt nicht länger den Eingang versperrte, fiel Tageslicht in die Hütte und riss das nackte Grauen aus dem Halbdunkel.

Blut …

Überall war Blut!

Am Boden, auf den wenigen Möbeln, sogar an den Wänden – und mit Entsetzen erkannte Natuk, dass Blut auch der Grund war, warum er ausgeglitten war: Er lag darin, in einem See aus dunkelrotem Lebenssaft! Das weiße Fell seiner Hosen war damit besudelt, seine Handschuhe, mit denen er sich abgestützt hatte. Er begann zu schreien, während er strampelnd versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Es gelang ihm nicht sofort, seine Stiefel fanden auf dem glitschigen Metall keinen Halt. In seiner Not wälzte er sich herum und raffte sich auf die Knie – nur um sich einem zweiten leblosen Körper gegenüber zu sehen. Und dieses Mal Auge in Auge.

Der junge Mann – oder vielmehr das, was von ihm übrig war – lag auf einem alten Feldbett, die Glieder auf groteske Weise abstehend, so als wolle er ihm zuwinken. Der Brustkorb war eine einzige klaffende Wunde, die Kleider blutdurchtränkt. Doch am entsetzlichsten war sein Gesicht anzusehen, das Natuk totenbleich anstarrte, den Mund zu einem lautlosen Schrei aufgerissen. Das eine Auge war in namenlosem Terror geweitet, anstelle des anderen klaffte ein dunkles blutiges Loch im Schädel des Toten.

In diesem Moment konnte Natuk das Böse in der Hütte nicht nur unterschwellig spüren – es schien jeden Winkel des Containers zu durchdringen und drohte auch ihn zu erfassen!

Dass er die ganze Zeit über geschrien, sein Entsetzen und seine Furcht laut hinausgebrüllt hatte, merkte er erst, als ihm die Stimme plötzlich versagte. Von Panik getrieben, gelang es ihm endlich, sich auf die Beine zu raffen, und er stürzte zum Ausgang, wollte nur noch fort von diesem grässlichen Ort, an dem ein grausamer Dämon gewütet hatte.

Doch Natuk kam nicht weit.

Einen Sekundenbruchteil, ehe er durch die schmale Tür flüchten konnte, wurde diese plötzlich wieder verfinstert – von einer Gestalt, die von draußen ins Licht trat. Einer hünenhaften, grässlichen Gestalt, die Natuk wie ein zum Leben erwachter Schatten erschien. Ein Schatten, der nicht von dieser Welt stammen konnte.

Natuk erstarrte und riss die blutigen Hände empor, so als wollte er sich hinter ihnen verstecken. »Bitte«, stieß er hervor, am ganzen Körper vor Entsetzen zitternd, »nicht mi-«

Er kam nie dazu, den Satz zu vollenden.

Ein Paar gewaltiger Zähne biss zu und erwischte ihn mit mörderischer Wucht. Der eine durchbohrte seine Schulter, der andere zerfetzte Kehle und Halsschlagader.

Der heulende Laut, mit dem Natuk Olsen um sein Leben gefleht hatte, erstarb in einem Gurgeln. Als das grässliche Gebiss ihn wieder freigab, kippte er nach vorn und schlug auf den Boden. Das letzte, was er sah, war sein eigenes Blut, das aus ihm hervorquoll, über die Türschwelle nach draußen kroch und das weiße Eis rot färbte.

1

Jens Lerby wartete nicht gerne.

Er mochte es vor allem nicht, einer Uhr dabei zuzusehen, wie sie sich mit quälender Langsamkeit um sich selbst drehte, und dabei noch mit einem spöttischen, selbstgefälligen Ticken das Verstreichen jeder einzelnen Sekunde kommentierte. Und doch tat er nichts anderes, während er auf einem nüchternen Stuhl aus Stahlrohr in einem nicht minder nüchternen Gang saß und darauf wartete, endlich eingelassen zu werden.

Zur Abwechslung – oder vielleicht auch nur als Leerlaufhandlung – warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass eine Differenz von einer guten Minute bestand. Die Frage, welche von beiden Uhren wohl recht haben mochte, die große offizielle, die gegenüber der Treppe mit dem neoklassizistischen Geländer an der Wand hing, oder die mickrige kleine, die er an einem ledernen Band am Handgelenk trug, erübrigte sich vermutlich. Für einen Augenblick erwog er, sein Smartphone zu zücken und es zum Schiedsrichter zu berufen, aber er ließ es bleiben. Es war lächerlich, sein Handy als Uhr zu benutzen. Ein Telefon war nun mal ein Telefon. Kein Fotoapparat, kein Kino. Und auch ganz gewiss kein Plattenspieler …

»Kommissar Lerby?«

Ein nervös wirkender junger Politikadet in tadellos sitzender blauer Uniform tauchte wie aus dem Nichts vor ihm auf. War das eine Verbeugung, die der Junge mit dem geleckten Blondhaar da andeutete?

»Direktor Sørensen erwartet Sie jetzt.«

Lerby nickte und erhob sich. Es fiel ihm schwerer, als er gehofft hatte. Die vergangene Nacht steckte ihm noch in den Knochen. Und auch in seinem Nacken, der sich anfühlte, als wollte er jeden Moment abbrechen und seinen Kopf durch den Gang rollen lassen, was Sørensen vermutlich sehr entgegengekommen wäre. Doch allem Schmerz zum Trotz hielt Lerbys Nacken der Beanspruchung stand und trug seinen Kopf dem Uniformierten hinterher durch ein Vorzimmer, in dem eine Bürokraft in geblümtem Kleid Berichte tippte. Eine lederbeschlagene Tür wurde geöffnet, dann fand sich Lerby im Amtszimmer seines Vorgesetzten wieder.

Wie viele der Büros im Kopenhagener Politigården strahlte auch dieses denkmalgeschützte Würde aus. Grüner Teppich, mit dunklem Holz getäfelte Wände, in der Luft ein Hauch von Bohnerwachs. Lerby konnte sich dunkel erinnern, wie er als junger Anwärter das erste Mal in einem solchen Amtszimmer gestanden hatte, ergriffen von Respekt und geschüttelt vor Ehrfurcht. Beides hatte sich im Lauf der Jahre verflüchtigt – so wie das Haar auf dem Kopf des Mannes, der hinter dem wuchtigen, wie ein Bollwerk mitten im Raum stehenden Schreibtisch aus Eichenholz thronte.

Birger Sørensen, 50, Chefpolitiinspektør und Lerbys direkter Vorgesetzter.

Eine nicht unbeträchtliche Leibesfülle zeichnete sich unter dem rosafarbenen Hemd mit der Ascot-Krawatte ab; der Aufstieg auf der Karriereleiter schien körperlich nur mäßig anstrengend zu sein – auf Sørensens Haupt hatte er dafür umso heftigeren Tribut gefordert. Durch die Gläser einer schmalen Hornbrille sah der Direktor Lerby an.

»Jens.« Es klang wie ein Seufzen. Vielleicht war es auch eine Verwünschung.

»Birger.«

»Nimm Platz«, forderte sein Vorgesetzter ihn auf und wies ihm den samtbezogenen Besucherstuhl an. Sørensen selbst war damit beschäftigt, einen Bericht durchzugehen – vermutlich den vom Vorabend, so als müsste er sich den Sachverhalt erst noch einmal genau vor Augen führen. Endlich legte er das Schriftstück beiseite, nahm die Lesebrille ab und massierte die Nasenwurzel. »Jens, Jens, Jens«, murmelte er dabei, »was soll ich nur mit dir anfangen?« Er hob den Blick und sah ihn direkt an. »Es gab eine Zeit, da waren wir uns ähnlich, weißt du noch? Derselbe Geburtsjahrgang …«

»Zweiundsiebzig«, erwiderte Lerby, um die Sache abzukürzen.

»Zweiundsiebzig«, bestätigte der andere nickend. »Wir waren zur selben Zeit auf der Akademie, machten im selben Jahr unseren Abschluss. Dies hier«, fügte er hinzu und vollführte eine Geste, die nicht nur sein Amtszimmer, sondern das gesamte ehrwürdige Gebäude der Politigård einzuschließen schien, »könnte längst dir gehören.«

»Danke«, erwiderte Lerby säuerlich. »Weißt du, ich hab schon ein Büro. Es ist nicht ganz so geräumig und repräsentativ wie deins, aber …«

»Musste das wirklich sein?«, fragte Sørensen. Der Blick seiner blassblauen Augen wurde bohrend. »Unflätige Widerworte gegen den Polizeipräsidenten? Ausgerechnet auf seiner Verabschiedung in den wohlverdienten Ruhestand?«

»Ich bin eben ein wahrheitsliebender Mensch«, brummte Lerby zu seiner Verteidigung.

»Du wirst dir noch alles ruinieren«, sagte Sørensen voraus. »Was, verdammt, ist nur los mit dir?«

»Fragst du mich das als Polizeidirektor?«

»Nein, als dein Kollege … dein Freund. Wir kennen uns schon so viele Jahre.«

»Viele Jahre.« Lerby nickte.

»Was soll das nun wieder bedeuten?«

Lerbys Blick und Miene blieben unbewegt. »Hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel gesehen?«, fragte er nur. »Dich gefragt, was du zustande gebracht hast in dem halben Jahrhundert, das seit ’72 vergangen ist?«

»Ist es das?«, fragte der andere dagegen. »Versuchst du mir zu sagen, dass du eine Krise durchmachst, weil du über fünfzig bist? Legst du deshalb dieses seltsame Verhalten an den Tag?«

»Definiere ›seltsam‹.«

»Störrisch wie ein verdammter Teenager!«, wurde Sørensen deutlicher. »Ich meine, du hattest schon immer deinen eigenen Kopf, aber diese Gleichgültigkeit neuerdings, dieser Hang zur Insubordination …«

»Wenn du es so sagst, klingt es bedrohlich«, kommentierte Lerby trocken. »Jetzt bin ich auch besorgt.«

Sørensen seufzte wieder, resignierend, wie es schien. »Warum kannst du nicht einfach durch die Gegend vögeln wie andere in deinem Alter? Wenn dir der Sinn nach Veränderung steht, dann fahr deine Ehe an die Wand, aber nicht deine Karriere!«

»Du meinst, so wie du?«

Sørensen verzog das Gesicht. Sein Blick fiel unwillkürlich auf jene Stelle seines Schreibtischs, wo zwischen dem Monitor des Computers und einem Ständer mit gespitzten Bleistiften gut zwanzig Jahre lang ein schlichter Rahmen aus Pinienholz gestanden hatte, mit einem Bild seiner Frau darin und der beiden Töchter, als sie noch klein gewesen waren. Jetzt war dieser Platz leer.

»Du warst einmal der beste Analyst, den diese Abteilung hatte«, wechselte er das Thema.

»War?« Lerby hob die Brauen.

»Ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Deine Renitenz in letzter Zeit und deine Bockigkeit … Die jungen Kollegen meiden dich, halten dich für unberechenbar und launisch. Manche haben regelrecht Angst vor dir. Und nach der Nummer von gestern Abend …«

»Worauf willst du hinaus, Birger?«, fragte Lerby mit einer Gelassenheit, die ihn selbst überraschte. Wie so manches, das er in letzter Zeit an sich entdeckte. »Komm schon, sag es frei heraus. Ich bin ein großer Junge.«

»Im Justizministerium gab es Stimmen, die eine Suspendierung verlangt haben, aber mit Blick auf deine Verdienste konnte ich das verhindern – stattdessen ist man übereingekommen, dir einen neuen Fall zu übertragen.«

»Als Strafe?«

»Als eine Chance, dich zu bewähren«, verbesserte Sørensen. »Und auch als Gelegenheit, um ein wenig Abstand zu gewinnen.«

»Abstand?«, hakte Lerby nach. »Wo wollt ihr mich hinschicken? Aalborg? Læsø?«

»Der Fall, von dem ich spreche«, fuhr Sørensen fort, »betrifft eine ganze Reihe von ungeklärten Todesfällen.« Er zog eine der Schubladen seines Schreibtischs auf und beförderte ein Kuvert aus braunem Papier zutage, das er quer über den blank polierten Tisch schlittern ließ. Lerby fing es auf, öffnete es und hielt die großformatigen Abzüge dreier Fotografien in den Händen.

Auf jeder von ihnen war die vorherrschende Farbe ein hässlich braunes Dunkelrot.

Die Farbe von getrocknetem Blut.

Viel Blut …

»Ungeklärt?« Lerby rümpfte die Nase. »Ich würde sagen, die haben ein Problem mit einem Amok laufenden Metzger.«

Sørensens Blick vermittelte deutlich, wie unpassend er die Bemerkung fand. »Was genau geschehen ist, sollst du herausfinden«, sagte er nur. »Die lokale Polizeibehörde ist überfordert und soll Unterstützung durch einen erfahrenen Fallanalytiker erhalten.«

»Wo?«, fragte Lerby noch einmal, schon weil er ahnte, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde.

Die Blicke der beiden Männer begegneten sich über dem Schreibtisch, und für einen Moment herrschte eisiges Schweigen in dem ehrwürdigen Amtsraum.

»Illokarfiq«, eröffnete Sørensen schließlich.

»Illo-was?«

»Grönland«, lautete die Erklärung. »Illokarfiq ist eine an der südlichen Ostküste gelegene Siedlung.«

»Scheiße!«, sagte Lerby ungeniert. »Und das soll keine Strafe sein?«

»Du bist schon mal dort gewesen …«

»Ich bin für drei Wochen in der Hauptstadt Grönlands gewesen. Hab ein Seminar in Nuuk gehalten«, brachte Lerby in Erinnerung.

»Dennoch bist du seit Tjerborgs Ausscheiden derjenige aus meiner Abteilung, der noch über die meiste Grönland-Erfahrung verfügt …«

»… und auch derjenige, der unflätige Widerworte gegen den Polizeipräsidenten erhoben hat.«

»Du hast ihn auf seiner Abschiedsfeier vor allen Gästen ein dämliches Arschloch genannt.«

»Ein selbstgefälliges Arschloch«, verbesserte Lerby. »Und dafür setzt es die Höchststrafe?«

»Glaub es mir oder glaub es nicht – du hättest diesen Fall auch dann übertragen bekommen, wenn du den scheidenden Präsidenten kein … du weißt schon was … genannt hättest.«

»Glaub ich nicht«, versicherte Lerby.

»Es steht dir frei, das so zu sehen. Ist deine Entscheidung. So wie es meine Entscheidung ist, dich nach Illokarfiq zu schicken. Und die steht fest.«

Lerby atmete tief ein und aus. Allerhand Gedanken gingen ihm durch den Kopf, aber keiner davon war wirklich brauch-, geschweige denn artikulierbar.

»Wann?«, fragte er schließlich nur.

»An deiner Stelle würde ich nach Hause fahren und packen – du bist für den ersten Flug morgen früh gebucht.«

2

Lerby saß auf seinem gewohnten Platz in der S-tog und sah aus dem Fenster, doch wegen der Dunkelheit, die draußen herrschte, konnte er nichts als sein eigenes Gesicht erkennen. Die graublauen Augen müde, die Wangen ein wenig beutelhaft, die Nase leicht gekrümmt seit einer Keilerei in der achten Klasse, das dunkelblonde Haar an den Schläfen merklich verblassend. Lerby kannte dies Gesicht, aber an diesem Abend kam es ihm dennoch seltsam fremd vor.

Grönland …

Warum nicht gleich der Nordpol?

Oder der Mond?

Er mochte weder Kälte noch Schnee, und mit Eis konnte er schon in einem Wodkaglas nicht viel anfangen. Selbst wenn es wirklich nur für diese eine Untersuchung sein sollte – ihn dorthin zu schicken, kam einer Strafversetzung gleich. Und natürlich war dieser Effekt beabsichtigt, da konnte Sørensen erzählen, was er wollte. Lerbys erster Impuls war daher gewesen, Ausweis und Marke auf den Tisch zu pfeffern und den Dienst zu quittieren, diese ganze Heuchelei mit einem einzigen heroischen Akt zu beenden … Doch dazu hätte es eines Willens bedurft, einer Kraft, die er nicht hatte, oder jedenfalls nicht mehr …

Gewiss, er hatte sich einen bestimmten Ruf erworben, war berüchtigt dafür – wie hatte Sørensen es ausgedrückt? – Vorgesetzten Widerworte zu geben. Doch für eine Auseinandersetzung oder einen Neubeginn genügte das nicht. Sticheleien, ein wenig Zynismus und ab und an eine echte, offene Beleidigung – das war alles, was ihm geblieben war, die Rache des kleinen Mannes.

Es war erbärmlich.

Er war erbärmlich.

Wie an jedem Abend stieg er an der Haltestelle Lingby aus, und wie an jedem Abend legte er das letzte Stück Weg zu Fuß zurück. Nach etwa zehn Minuten erreichte er das hübsche kleine Einfamilienhaus, das er dort bewohnte, komplett mit Ehefrau, Schäferhund und einem Zweitwagen vor der Garage. Natürlich elektrisch betrieben, so viel war man der Umwelt schuldig.

Eva war bereits zu Hause, sie hatte die Kanzlei früher verlassen und italienisch gekocht. Der Duft von frischer Pasta erfüllte das Haus, auf dem Esstisch standen brennende Kerzen.

»Bekommen wir Besuch?«, fragte Lerby besorgt.

»Nein«, drang es zu seiner Beruhigung aus der Küche. »Das ist nur für uns beide. Stellst du schon mal die Teller raus?«

»Geht klar.«

»Und mach eine Flasche Wein auf – den guten, wir haben etwas zu feiern!«

»Ach ja?« Lerby holte die Pasta-Teller aus dem Schrank und stellte sie auf den Tisch, legte gedankenverloren das Besteck dazu. Dann ging er in den Keller, holte eine Flasche des 2016er Barolo, entkorkte sie und schenkte zwei Gläser ein.

»Willst du denn nicht fragen?«, kam es aus der Küche.

»Was fragen?«

»Vielleicht, was es zu feiern gibt?« Eva war im Durchgang zur Küche erschienen, eine Schüssel mit frisch zubereiteten Spaghetti alla Napoletana in den Händen. Sie trug noch ihr Kostüm aus dem Büro, hatte nur den Blazer abgelegt – und die weiße Bluse mit dem Jabotkragen hatte prompt schon Tomatensauce abbekommen. Ihr blondes Haar trug sie noch immer hochgesteckt, und von einer kecken Strähne abgesehen, die sich widerspenstig gelöst hatte und ihr ins Gesicht fiel, saß es jetzt am Abend weiterhin perfekt. Auch Lerby trug noch Hemd und Sakko, doch von einer auch nur halbwegs manierlichen Erscheinung konnte keine Rede sein. Jedenfalls kam er sich nicht so vor, eher wie durchgekaut und ausgespuckt …

Evas wasserblaue Augen sahen ihn erwartungsvoll an, sie schien noch immer auf eine Antwort zu warten. Im Kopf ging Lerby rasch alles durch. Er war sich ziemlich sicher, dass keiner von ihnen Geburtstag hatte, und geheiratet hatten sie im Spätsommer; um eine Fangfrage konnte es sich also nicht handeln. »Also gut: Was gibt es zu feiern?«, tat er ihr den Gefallen und nahm mit einer übertrieben feierlichen Geste am Esstisch Platz.

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, doch sie schien fest entschlossen, sich ihre gute Laune nicht verderben zu lassen. Sie trat an den Tisch und stellte die Schüssel ab, dann setzte sie sich ebenfalls und griff nach ihrem Rotweinglas. Der Barolo funkelte rubinrot im Licht der brennenden Kerzen.

»Rate«, forderte sie ihn auf und strich sich die lose Haarsträhne hinters Ohr. Sie schien entschlossen, den Moment auszukosten.

»Ein Lotteriegewinn?«, fragte er und hob auch sein Glas.

»Fast.« Sie lächelte unbeirrt. »Kevin hat mir die Partnerschaft angeboten.«

Schweigen trat ein.

Kevin hieß mit vollem Namen Kevin Wilberg und war Evas Arbeitgeber. Die Anwaltskanzlei, in der sie arbeitete, unterhielt Niederlassungen in Oslo, Stockholm und Kopenhagen, und Kevin war einer der Seniorpartner – Mitte vierzig und unverheiratet, dafür sportlich, charmant und stets gut gekleidet. Und bei der Begeisterung, mit der Eva immer von ihm sprach, war Lerby schon der Gedanke gekommen, dass er womöglich mehr für sie war als nur ihr Vorgesetzter …

»Gratuliere«, sagte er nur. Sein Weinglas hielt er immer noch, eisern wie die Freiheitsstatue im Hafen von New York ihre Fackel.

Eva stieß ihr Glas sanft an seines und nahm einen Schluck Wein, während er reglos verharrte. Ihm war nicht nach Wein zumute. Eher nach Wodka, aber es war besser, das nicht zu sagen.

»Was hast du?«, fragte sie.

»Nichts.«

Sie stellte ihr Glas ab und sandte ihm einen Blick zu, der ihn unmissverständlich aufforderte, sie nicht zum Narren zu halten.

»Ich gratuliere dir«, bekräftigte er deshalb. »Ich freue mich für dich, wirklich …«

»… und siehst dabei aus, als wäre jemand gestorben«, fügte sie mit freudlosem Lächeln hinzu.

Er nickte. Sie kannte ihn gut. Zu gut, vermutlich … »Wirst du das Angebot annehmen?«, fragte er.

»Natürlich, warum nicht?« Die widerspenstige Strähne war ihr wieder ins Gesicht gefallen, und sie strich sie abermals zurück. »Es ist ja nicht so, dass diese Beförderung aus dem Nichts gekommen wäre. Ich habe hart dafür gearbeitet.«

»Und – unsere Familie?«, fragte er und hätte sich gleich darauf am liebsten die Zunge abgebissen.

»Welche Familie?«, fragte sie dagegen. »Oliver ist ausgezogen, wenn du dich erinnerst. Er lebt in Hamburg und wird allem Anschein nach auch dort bleiben. Und was Emma betrifft … Ich meine, sie besucht uns noch an den Wochenenden, aber wenn sie ihr Studium erst beendet hat, dann …«

»Schon gut.« Lerby winkte ab.

»Ich brauche das, Jens«, sagte sie und sah ihm dabei auf eine Weise in die Augen, wie sie es selten tat. Eine ungewohnte Verletztheit schwang darin mit. »Eine neue Perspektive, verstehst du?«

Er sah sie nur an, schweigend und unbewegt.

»Sehnst du dich nicht auch manchmal danach?«, fragte sie. »Ich weiß, du bist kein Freund von Veränderungen und hast es gern, wenn die Dinge so bleiben, wie sie sind. Aber ich empfinde das nicht so. Es genügt mir nicht, jeden Tag meinen Job zu machen und am Abend ein Glas Rotwein zu trinken. Ich will …«

»… mehr«, ergänzte er nur.

»Ist das falsch?«, fragte sie.

Lerby lächelte matt. »Was willst du von mir hören? Dass ich mich für dich freue? Dass ich dir gratuliere? Das habe ich gerade gesagt, oder nicht?«

Sie sah ihn schweigend an. Es war schwer zu sagen, was in ihrer Miene vor sich ging. Da war Bitterkeit, glaubte Lerby zu erkennen. Natürlich war da Bitterkeit …

»Ja«, räumte sie ein, »das hast du.«

»Sie schicken mich weg, Eva«, erwiderte er übergangslos, so als wäre es die logische Folge.

Ihre Brauen hoben sich. »Wovon sprichst du?«

»Grönland«, sagte er nur.

Eva sah ihn verunsichert an. »Das ist ein Witz, oder?«

»Es klingt so, ich weiß. Aber ich fürchte, Sørensen hat es ernst gemeint.«

»Birger? Was hat er damit zu tun?«

»Ihm verdanke ich diese … Chance.«

»Was hast du getan?«, wollte Eva jetzt wissen.

»Darum geht es nicht, sagt er jedenfalls. Sondern um eine Untersuchung, einen Mordfall, eigentlich mehrere.« Die Fotografien die Sørensen ihm hingeschoben hatte, tauchten erneut vor seinem inneren Auge auf. Er wischte die Erinnerung rasch beiseite, darin war er gut …

»Und warum du?«

»Weil ich der mit der meisten Erfahrung bin«, lautete die lächerliche Antwort. Dass sie nicht einmal gelogen war, war beinahe noch lächerlicher.

Eva legte den Kopf schief, ihr Blick wurde durchdringend. »Für wie lange?«

»Weiß ich nicht.« Er schüttelte den Kopf.

»Und … das hast du einfach so hingenommen? Du hast nicht widersprochen? Ausgerechnet du?«

»Was hätte ich sagen sollen?«, stellte diesmal Lerby die Gegenfrage. »Mein Vorgesetzter ist nicht wie deiner, Eva. Er lädt mich nicht in teure Restaurants ein und trägt mir eine Partnerschaft in seiner Firma an. Er ist ein karrieregeiles Arschloch, der Frau und Kinder verkaufen würde, wenn er sich dadurch einen Vorteil verspräche! Und wenn ich recht darüber nachdenke, hat er sie bereits verkauft …«

»Das klingt gerade so, als ob mir alles in den Schoß fallen würde, während du um alles kämpfen musst.«

»Und das ist nicht so?«

Ihr Blick blieb forschend, so als wollte sie herausfinden, ob er es ernst meinte – tatsächlich wusste er es selbst nicht. Er hatte es so dahingesagt, vielleicht nur, um irgendetwas zu sagen. Vielleicht auch, um sie zu verletzen.

»Entschuldige«, schob er leise hinterher.

Eva schürzte die Lippen, sah auf die Spaghetti, die auf dem Tisch vor sich hin dampften, so als wollten sie auf sich aufmerksam machen. Lerby beschlich eine dunkle Ahnung, dass sie unverzehrt bleiben würden.

»Willst du darüber reden?«, fragte Eva schließlich.

»Worüber?«

Es war eine dämliche Frage zu viel. Der Tropfen, der das ohnehin üppig gefüllte Fass zum Überlaufen brachte. Eva stürzte den Inhalt ihres Weinglases hinunter, dann stand sie entschlossen auf.

»Ich bin weg«, gab sie bekannt.

»Warum? Wollten wir uns nicht einen schönen Abend machen? Deinen Erfolg feiern?« Es klang so zynisch, dass er sich dazu hätte gratulieren können – hätte er sich nicht gleichzeitig so elend und schuldig gefühlt.

Sie nickte und atmete dabei mehrmals tief ein und aus wie jemand, der um Fassung ringt. »Du nennst Birger ein Arschloch«, stellte sie fest, »aber in Wahrheit bist du selbst zu einem geworden. Dein ständiges Selbstmitleid, deine passive Aggressivität – ich habe allmählich genug davon!«

»Da bist du nicht die einzige«, versicherte Lerby im Gedenken an Sørensen und seine Kollegen. Und auch den eben erst aus dem Dienst geschiedenen Polizeipräsidenten …

»Warum tust du das?«, fragte sie ihn, und er sah Tränen in ihren Augen blitzen.

»Ich weiß es nicht«, gestand er – und das war ehrlich.

»Bin ich dir gleichgültig geworden? Ist es das?«

Er sah sie an, unverwandt. »Bitte nimm es nicht persönlich«, sagte er leise. »Mir ist so ziemlich alles gleichgültig geworden.«

»Wie erbärmlich du bist.« Sie straffte sich, ihre Miene wurde hart. »Wann geht dein Flug?«, wollte sie wissen.

»Morgen früh.«

»Gute Reise«, sagte sie. »Pass auf dich auf.«

Er nickte nur. »Du auch.«

Sie blieb noch einen Moment stehen, schien etwas sagen zu wollen, doch sie überlegte es sich anders, machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Wohnzimmer.

»Wohin gehst du?«, rief Lerby ihr nach. »Zu ihm?«

Ihre sich rasch entfernenden Schritte und das leise Geräusch, mit dem die Haustür ins Schloss fiel, waren die einzige Antwort, die er bekam.

Seinen letzten Abend vor der Abreise nach Grönland verbrachte Polizeikommissar Jens Lerby daraufhin allein – sah man von einem halb gefüllten Glas Barolo und einem verzweifelt dampfenden Haufen Pasta ab, die seine einzige verbliebene Gesellschaft darstellten. Und während er so am Tisch saß, musste er an seine Kindheit denken, an seinen Onkel in Jütland, bei dem er als Junge manchmal zu Besuch gewesen und mit dem zusammen er auf Entenjagd gegangen war.

Lerby hatte nicht allzu viele Erinnerungen daran, aber er konnte sich noch genau an das aufgeregte Schnattern der Enten und den beißenden Pulvergeruch erinnern, der aus den leeren Hülsen der Schrotpatronen drang.

Und genauso fühlte er sich.

Wie eine dieser leer geschossenen, nutzlos gewordenen Hülsen.

3

Neun Stunden nach seinem romantischen Abschiedsessen mit Eva saß Lerby bereits im Flugzeug – einem Airbus 330–200 der Air Greenland, der ihn von Kopenhagen nach Kangerlussuaq bringen würde. Von Kangerlussuaq aus – einer an der Westküste Grönlands gelegenen Siedlung, deren internationaler Flughafen als Drehkreuz für die gesamte Insel diente – würde ihn eine Propellermaschine nach Kulusuk an der Ostküste fliegen, von wo ihn wiederum ein eigens gecharterter Helikopter nach Illokarfiq bringen würde. Eine direktere und damit auch schnellere Verbindung war kurzfristig offenbar nicht zu bekommen gewesen – oder vielleicht hatte Sørensen auch einfach nur Spesen sparen wollen, auch das war möglich.

Bis zu seiner Abreise war Eva nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Wo sie gewesen war, darüber konnte Lerby wenn überhaupt nur spekulieren, und dazu hatte er keine Lust. Nachdem er die Flasche Barolo, die sie eigentlich zusammen hatten trinken wollen, allein geleert hatte, hatte er sich noch zwei Wodka pur genehmigt. In diesem Zustand hatte er gepackt und war irgendwann gegen zwei Uhr morgens eingeschlafen. Dass der Wecker schon knapp drei Stunden später wieder rappelte, hatte nicht zur Besserung seines Zustands beigetragen.

Ein Taxi hatte ihn zum Flughafen gebracht, und er hatte die Maschine bestiegen. Da saß er nun an einem Fensterplatz, blickte auf die Wolkenfetzen, die unter ihm dahintrieben. Dazwischen gab es immer wieder Lücken, die Blicke auf die endlos scheinende, grau schimmernde Fläche des Atlantiks gewährten.

Der Dame auf dem Nebensitz – dem Akzent nach, mit dem sie ihr Menü bestellt hatte, eine Deutsche – schien die Aussicht ebenfalls zu gefallen. Sich bald aufrichtend, dann wieder nach vorn beugend, pendelte sie auf ihrem Sitz umher, um eine möglichst gute Perspektive zu erheischen. Als sie schließlich auch noch begann, mit dem Handy vor Lerbys Gesicht herumzufuchteln, um Bilder durch das kleine Fenster zu schießen, wurde es diesem zu viel.

»Würden Sie lieber am Fenster sitzen?«, fragte er ganz direkt und auf Englisch.

Sie sah ihn so erstaunt an, als hätte er ihr spontan die Ehe versprochen. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Nicht doch.«

Er wartete, bis sie ihren Platz geräumt hatte, zwängte sich dann auf den Gang und ließ sie auf seinem Sitz Platz nehmen. Die Dame mit dem roten Kurzhaarschnitt lächelte ihm dankbar zu, und er hoffte, damit nun seine Ruhe zu haben – doch sie hatte seine freundliche Geste als Aufforderung zur Konversation missverstanden.

»Ist das Ihr erster Flug nach Grönland?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf.

»Bei mir ist es das erste Mal«, versicherte sie mit ihrem harten deutschen Akzent. »Es ist ein Kindheitswunsch – ich wollte immer schon mal richtige Eisberge sehen. Und man weiß ja nicht, wie lange es sie noch gibt, nicht wahr?«

Sie sah ihn erwartungsvoll an, und er rang sich ein höfliches Lächeln ab. Sie mochte Ende dreißig sein und schien allein zu reisen – was sie offenbar ändern wollte. Aus dem kleinen Rucksack, den sie als Handgepäck dabeihatte, holte sie einen Reiseführer hervor, der mit Dutzenden von Einmerkern gespickt war. Ein jeder markierte eine Sehenswürdigkeit, die sie während ihres Aufenthalts zu besichtigen gedachte, und sie begann, sie alle nacheinander zu beschreiben, und das so detailliert, dass Lerby sich schon fragte, warum sie diese Reise überhaupt noch machte, wo sie doch alles schon so genau wusste. Um der Uhr einen kleinen Schubs zu geben – die Flugzeit nach Kangerlussuaq betrug immerhin knapp fünf Stunden – bestellte er sich einen Wodka.

»Eis?«, fragte der Flugbegleiter.

»Bloß nicht.«

»Sie mögen kein Eis?«, erkundigte sich prompt seine Nachbarin.

»Nein.«

»Nur nicht im Wodka oder generell nicht?«

»Beides.«

Sie lachte. »Warum fliegen Sie dann nach Grönland, wenn Sie kein Eis mögen?«

Das Getränk kam, und Lerby nahm einen tiefen Schluck. »Fragen Sie das meinen Vorgesetzten.«

»Sie reisen geschäftlich?«

Er nickte.

»Wie interessant.«

Er nahm noch einen Schluck. Ihren erwartungsvollen Blick ignorierte er.

»Mein Beruf ist ja nicht sehr aufregend, ich arbeite bei einer großen Versicherung. Aber ich reise gerne – möchten Sie wissen, wo ich schon überall gewesen bin?«

»Eigentlich nicht«, erwiderte Lerby wahrheitsgemäß, aber er sagte es wohl zu freundlich, denn sie nahm es als Scherz und legte los. Und so erfuhr er, dass sie in den Jahren vor der Pandemie in Thailand gewesen war, in Australien und in Südafrika. Zur Vorbereitung auf diese Reisen schien sie weitere Reiseführer gelesen zu haben und anders als Lerby, der solche Dinge einfach nicht behalten konnte, war sie in der Lage, zu jedem dieser Themen und Länder aus dem Stegreif einen Vortrag halten. Was sie dann auch tatsächlich tat. Als sie irgendwann auf die kulinarische Seite des Reisens zu sprechen kam und auf die vielen köstlichen Spezialitäten, die es in aller Welt zu futtern gab, sah Lerby seine Chance …

»Falls sich in Grönland die Gelegenheit dazu ergibt«, sagte er mit leicht lauerndem Unterton, »sollten Sie unbedingt kiviaq versuchen.«

»Was ist denn das?« Sie betätigte die Notizbuchfunktion ihres Smartphones, das sie die ganze Zeit über nicht aus der Hand gelegt hatte.

»Nun«, begann Lerby genüsslich zu erklären, »man nehme zwei Dutzend Krabbentaucher – das ist eine in Grönland heimische Vogelart – rupfe ihnen sämtliche Federn aus und packe sie in eine Robbe, die man zuvor ausgehöhlt hat.«

»A-ausgehöhlt?« Anfangs hatte sie noch mitgeschrieben, jetzt stutzte sie.

»Genau«, bestätigte Lerby. »Die Robbe wird erlegt und ausgenommen, nur die Speckschicht auf der Innenseite der Haut wird drangelassen. Da hinein kommen die Krabbentaucher. Dann wird der Robbensack wieder zugenäht, sodass das Innere luftdicht eingeschlossen ist.«

»Und was geschieht dann?«, fragte sie, jetzt schon fast ängstlich.

»Dann wird das Ganze in ein Loch im Boden gelegt und vergraben. Da lässt man es dann ruhen. Die Ungeduldigen buddeln es schon nach ein paar Monaten wieder aus, wahre Feinschmecker dagegen warten damit bis zu einem Jahr.«

»Und dann?« Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.

»Dann wird die Tüte aufgemacht«, entgegnete Lerby gnadenlos. »Der Gestank holt einen fast von den Beinen, kann ich Ihnen sagen – aber das Fleisch ist herrlich zart …«

Ihr Gesicht hatte sich aschfahl verfärbt, und ihre Blicke huschten panisch suchend umher.

»Vordersitz«, sagte Lerby nur, worauf sie hektisch in die Ablage griff und zwischen den Anweisungen für den Notfall und einem Prospekt der Fluglinie eine kleine graue Tüte entdeckte, die sie mit bebenden Händen öffnete. Es kam nicht zum Äußersten, ihr Magen beruhigte sich schnell wieder. Doch für den Rest des Fluges hatte Lerby Ruhe.

Er leerte seinen Wodka, dann stellte er die Rückenlehne seines Sitzes schräg, verschränkte die Arme vor der Brust und schloss die Augen. Da die vergangene Nacht kurz gewesen war, nickte er tatsächlich ein – aber gut schlief er nicht. Denn im Schlaf verfolgten ihn Bilder.

Von Eva, wie sie aus dem Zimmer stürmte.

Von einer endlos grauen See.

Von weißen Eisbergen.

Und rotem Blut.

4

Als helles Sonnenlicht in ihr Gesicht fiel, erwachte Pallaya Shaa. Wie spät mochte es sein?

Sie blinzelte.

Die Sonne stand noch nicht sehr hoch, vermutlich war es erst gegen sechs. Aber wieso, in aller Welt, war die Jalousie hochgezogen?

Sie hörte hinter sich ein leises Räuspern und drehte sich im Bett herum. Ein wenig überrascht stellte sie fest, dass Craig bereits aufgestanden war. Mehr noch, er war schon fertig angezogen, trug Jeans und seinen dicken grauen Troyer. Und er war frisch rasiert, hatte den roten Kinnbart entfernt, den sie so an ihm mochte …

»Hey«, grüßte sie lächelnd.

»Hey«, erwiderte er.

»Ich liebe dich«, hauchte sie als Morgengruß.

Er nickte nur, erwiderte jedoch nichts. Stattdessen sah er nur zu Boden, fuhr sich durch das glatt gekämmte kupferfarbene Haar. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie gesagt, dass er wegen irgendetwas nervös war.

»Alles in Ordnung?« Sie richtete sich halb im Bett auf. Dass die Decke an ihr herabglitt und ihre Brüste enthüllte, kümmerte sie nicht. Erstens war es angenehm warm in seinem Apartment. Und zweitens hatte er schon weit mehr von ihr gesehen, letzte Nacht und in vielen anderen davor.

»Klar«, bestätigte er und versuchte sich jetzt auch an einem Lächeln; aber es wirkte ebenso gehetzt wie seine ganze Erscheinung. »Das heißt … nein«, korrigierte er sich dann. »Ich … muss dir etwas sagen, Pally.«

»Ja?« Sie setzte sich ganz auf, strich sich das blauschwarze Haar aus dem Gesicht und sah ihn aufmerksam an.

Er schluckte sichtbar, sein Mund ging mehrmals auf und zu wie bei einem Fisch auf dem Trockenen. Es sah komisch aus, und sie lachte leise, was ihn noch mehr zu verunsichern schien.

»Bitte lach nicht«, flüsterte er. »Was ich dir sagen muss, ist auch so schon schwer genug.«

»Was ist los?« Sie hob die schmalen Brauen. »Du machst mir Angst, Liebling.«

»Es ist nichts, wirklich«, beteuerte er, und sein blasses Gesicht wurde dabei beinahe so rot wie sein Haar. »Eigentlich … ist es sogar ein Grund zur Freude.«

»Ja?« Sie sah ihn forschend an, jähe Hoffnung schöpfend. Was mochte es wohl sein, das er es vor Nervosität kaum über die Lippen brachte und andererseits keinen Aufschub zu dulden schien, sodass er es ihr am frühen Morgen schon mitteilen musste?

»Ich habe die Stelle bekommen!«, platzte er heraus.

»Die Stelle«, wiederholte sie.

»Du weißt schon – die Assistenzstelle am Lehrstuhl für anthropologische Forschungen in Toronto.«

»Auf die du dich beworben hast?«, hakte Pally nach. »Die du dir so sehr gewünscht hast?«

Er nickte nur.

»Aber das … das ist doch großartig!«

»Ja«, bestätigte er mit einem langen Seufzer, ihrem begeisterten Blick wich er aus.

»Was hast du, Craig?« Sie runzelte die Stirn. »Freust du dich denn nicht?«

»Doch, sogar sehr. Es ist nur … ich soll die Stelle dort bereits morgen antreten.«

»Morgen?« Sie wusste sich keinen Reim darauf zu machen, sah ihn nur verständnislos an. »Aber …«

»Ich weiß«, sagte er nur und nickte wieder.

Pallys Blick glitt von ihm zur Tür und zu dem Koffer und dem großen Rucksack, die dort standen, allem Anschein nach fertig gepackt. Vermutlich hatten sie schon gestern Abend dort gestanden, aber Pally hatte sie wohl nicht gesehen. Zugegeben, sie waren mit anderen Dingen beschäftigt gewesen …

»Du … du gehst?«, fragte sie und kam sich dabei dumm vor und völlig überrumpelt.

»Mein Flug geht heute Abend«, gestand er leise.

»Aber wieso …?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich meine, wenn sie dich so unbedingt haben wollen, warum haben sie es dir dann so spät …« Sie unterbrach sich, als sie seinen Blick bemerkte – und kam sich gleich noch ein wenig dümmer vor. »Sie haben es dir nicht kurzfristig gesagt, richtig? Du weißt es schon seit Längerem …«

»Drei Wochen«, gestand er.

»Warum hast du nichts gesagt?«

»Ich … wollte nicht, dass du traurig bist.«

»Traurig?« Sie schüttelte abermals den Kopf. »Ich hätte mich für dich gefreut! So wie ich mich jetzt für dich freue!«

»Ich weiß«, räumte er ein, kleinlaut wie ein Dieb, den man auf frischer Tat ertappt hatte. »Aber …«

In diesem Moment fiel es Pally wie Schuppen von den Augen. »Du machst gerade Schluss mit mir«, stellte sie fest. Sie war selbst überrascht, wie leicht ihr das von den Lippen ging.

»Pally, ich …«

»All das Gerede, dass du mich mitnehmen willst, dass ich dich nach Kanada begleiten soll, wenn du einen Posten bekommen solltest …«

Er seufzte. »Ich weiß.«

»Das ist deine Idee gewesen, Craig. Nicht meine!«

»Ja.« Er nickte wieder und sah zu Boden.

»Und jetzt willst du das nicht mehr?«

Kopfschütteln.

»Warum redest du dann nicht mit mir? Warum überrumpelst du mich mit dieser Neuigkeit, nachdem wir vergangene Nacht noch …« Sie unterbrach sich und sah ihn forschend an. »Was sollte das eigentlich sein? Ein letztes Mal um der alten Zeiten willen? Weißt du überhaupt, wie verletzend das ist?«

Sie kämpfte jetzt mit den Tränen, nicht so sehr der Trauer, als vielmehr des hilflosen Zorns. Sie zog das Laken an sich hoch und presste es an sich. Vorhin war sie nur unbekleidet gewesen. Jetzt kam sie sich nackt vor. »Warum hast du nicht gesagt, dass du alleine gehen willst? Hattest du Angst, dass ich dir eine Szene machen würde?«

Sein ausweichender Blick zum Fenster hinaus verriet mehr als jedes Geständnis.

»Dass ich unsere Beziehung womöglich ausnutzen würde, um von hier wegzukommen?«, mutmaßte Pally weiter.

Er erwiderte noch immer nichts, aber als er sich ihr endlich wieder zuwandte, hatte auch er Tränen in den Augen. »Es tut mir leid, Pally«, sagte er leise. »Damals, als wir uns an der Uni kennenlernten, da schien zwischen uns beiden alles klar zu sein. Ich meine, wir haben beide studiert und hatten eine schöne Zeit zusammen. Aber dann …«

»Verstehe«, fiel sie ihm ins Wort. »Aber dann bist du hierhergekommen und hast meine Heimat kennengelernt.«

Craig nickte wieder, zum ungezählten Mal.

»Willkommen in der wirklichen Welt«, knurrte sie.

»Das ist es nicht«, versicherte er, »ich bin wirklich gerne hier gewesen …«

»Natürlich – die Menschen hier haben dir ja auch dabei geholfen, deine Abschlussarbeit in Inuit-Ethnologie abzuschließen. Vermutlich ist sie ein Grund dafür, dass sie dich in Toronto genommen haben.«

»Vermutlich«, gab er zu.

Ein freudloses Grinsen huschte über Pallys Züge. »Freut mich, wenn wir helfen konnten.«

»Darum ist es mir nicht gegangen, und das weißt du«, fand er jetzt doch die Kraft, sich halbwegs zu verteidigen. »Aber mir ist eben irgendwann klar geworden, dass das mit uns beiden nicht so weitergehen kann.«

»Warum nicht? Weil ich eine Inuk bin? Weil ich deiner Karriere hinderlich sein könnte?« Erneut blieb er eine Antwort schuldig, und das machte Pally nur noch wütender. »Wann ist dir das klar geworden, Craig?«

»Vor einer Weile.«

»Verstehe. Und wie viel genau ist eine Weile? Ein Monat? Zwei? Gestern Nacht jedenfalls habe ich noch nichts davon gemerkt, dass du dich von mir trennen willst.«

In seinem grauen Troyer stand er da, händeringend, und schien noch etwas erwidern zu wollen. Dann wandte er sich jedoch ab und schlüpfte in seine Jacke, die am Haken bereit hing. »Es tut mir leid«, murmelte er, »ich muss gehen.«

»Sieht ganz so aus«, sagte sie nur.

»Die Miete für das Apartment ist noch bis zum Ende des Monats bezahlt, du kannst dir mit deinen Sachen also Zeit lassen«, fügte er hinzu.

»Danke, Craig. Das ist sehr großzügig von dir«, versicherte sie mit einem Tonfall, der jedes Wort Lügen strafte.

»Ich wollte dich nie verletzen, das musst du mir glauben. Pally«, beschwor er sie und brachte es noch fertig, einen Schritt in ihre Richtung zu machen, so als wollte er sich zu ihr herabbeugen und sie zum Abschied küssen.

»Halt!«, rief sie und riss den linken Arm abwehrend empor. »Wage es ja nicht!«

»Verzeih«, bat er, »ich wollte nicht … es ist nur …«

»Was?«, fragte sie unwirsch.

»Kannst du mich vielleicht später zum Heliport fahren?«, fragte er, auf die Schlüssel deutend, die neben ihr auf dem Nachtkästchen lagen. »Ist ein weiter Weg mit all dem Gepäck …«

5

Die Maschine von Kopenhagen war pünktlich in Kangerlussuaq gelandet, und Lerby hatte seinen Anschlussflug zu der der Ostküste vorgelagerten Insel Kulusuk bekommen. Das Equipment hatte gewechselt, statt des geräumigen Airbus’ war es jetzt eine zweimotorige Dash-8, das robuste Arbeitstier von Air Greenland, das ihn auf die andere Seite von Grönland brachte.

Lerby mochte Propellermaschinen nicht besonders, waren sie den Launen von Winden und Thermik doch in viel höherem Maße ausgesetzt als ein großes Linienflugzeug. Immerhin waren von den knapp vierzig Kabinenplätzen nur etwas über die Hälfte besetzt, sodass er sich diesmal nicht mit einem Sitznachbarn zu arrangieren brauchte. Um unmissverständlich klarzustellen, dass er keine Gesellschaft wünschte, hatte er die Tasche mit dem Handgepäck kurzerhand auf den Sitz neben sich gestellt und sie angeschnallt wie einen leibhaftigen Passagier. Es hatte funktioniert, und endlose Kilometer Schnee und Eis waren unter der Maschine hinweggezogen, ehe sie schließlich in Kulusuk gelandet war.

Was Lerbys Reiselust betraf, so war die spätestens hier erschöpft gewesen, und er hätte nichts dagegen gehabt, in das einzige Hotel am Platz zu gehen und erstmal einen Drink an der Bar zu nehmen und danach eine heiße Dusche. Doch Sørensens Plan sah noch eine weitere Etappe vor, und so ging Lerby am späten Nachmittag an Bord eines knallroten Eurocopter AS 350, der ihn das letzte Stück des Weges nach Illokarfiq brachte und seinen mit mehreren Flugzeug-Mahlzeiten und drei Wodkas gefüllten Magen einer harten Belastung unterzog.

Zum Glück war der Flug nur kurz.

Die Aussicht, die sich Lerby bot, als der Hubschrauber in die weite, von Bergen umgebene Bucht einschwenkte, an deren südlichem Ufer Illokarfiq lag, war zugleich majestätisch und erbärmlich: Ehrfurcht gebietend war der Anblick der blendend weißen schneebedeckten Gipfel, die die graue See umlagerten, und des hellblau schimmernden Eises, das einen Teil der Bucht und des sich anschließenden Fjords bedeckte; geradezu Mitleid erregend wirkte für Lerby dagegen der menschliche Versuch, in dieser unwirtlichen, von Kälte und Wind durchpeitschten Gegend eine Siedlung zu errichten, die sich rings um einen kleinen Hafen duckte. Einfache, aus Blech, Holz und Beton errichtete Häuschen krallten sich trotzig in den kargen Boden, und als wollte man dafür sorgen, dass sie im unendlichen Weiß des grönländischen Winters nicht verloren gingen, waren sie alle bunt gestrichen: Es gab rote, blaue und gelbe Häuschen, und ab und zu fand sich sogar ein grünes darunter, so als wollte man den Namen »Grönland« wenigstens auf diese Weise rechtfertigen. Tatsächlich handelte es sich dabei wohl um einen frühen Fall von irreführender Werbung: Als der Wikinger Erik Thorvaldsson, genannt Erik der Rote, im Jahr 982 wegen eines von ihm begangenen Mordes von Island fliehen musste, flüchtete er sich an die Küste eines anderen, wohl auch damals schon recht kargen Eislandes. Und weil er keine Lust hatte, dort allein sein Dasein zu fristen, verbreitete er die Mär vom »grünen Land«, das nur darauf warte, besiedelt und urbar gemacht zu werden … und der Name Grönland war geboren.

Inzwischen sank der AS 350 bereits dem Landeplatz entgegen, der zusammen mit einem Hangar, einem Terminalgebäude und einem sich munter blähenden Windsack auch schon den gesamten Heliport bildete. Lerbys Laune, als er sich endlich losschnallen und aussteigen durfte, entsprach der Temperatur vor Ort und lag weit unter null.

Ein Air-Greenland-Mitarbeiter half ihm dabei, sein Gepäck zu entladen, dann war er mit dem Trolley auch schon zum Terminal unterwegs. Er hatte das Gebäude kaum erreicht, als die verspiegelte Glastür aufflog und ihm ein junger Mann mit kupferrotem Haar entgegenkam. Er schleppte ebenfalls einen Rollkoffer und war zudem mit einem riesigen Rucksack beladen, unter dessen Gewicht er beinahe niederzugehen schien – doch das war bei Weitem nicht sein einziges Problem. Eine junge Frau mit blauschwarzem Haar, dem Aussehen nach eine Inuk, war ihm dicht auf den Fersen und redete lautstark auf ihn ein – und da sie Englisch sprach, kam Lerby nicht umhin, jedes einzelne Wort zu verstehen.

»… hast wirklich Nerven! Mich zuerst abservieren und dann noch fragen, ob ich dich zum Flugplatz fahre! Weißt du, warum ich dir den Gefallen tue? Damit ich auch sicher weiß, dass du in diesen beschissenen Helikopter gestiegen und abgeflogen bist! Und komm ja nie wieder, hörst du …?«

Wären Lerby seine Mitmenschen nicht herzlich egal gewesen, hätte er womöglich Mitleid gehabt – auch wenn er sich vermutlich unschlüssig gewesen wäre, mit welchem der beiden. So war er froh, als die Tür hinter ihm zufiel und das Lamento der jungen Frau draußen blieb.

Wirklich warm war es auch im Terminalgebäude nicht, aber es gab einen Schalter und einen Kaffeeautomaten. Und einen jungen Mann in der dunkelblauen Uniform der grönländischen Polizei. Der Anblick war vertraut, da sie jener der dänischen Gesetzeshüter entsprach – mit dem Unterschied, dass der dazugehörige Parka ein wenig winterfester schien …

»Kommissar Leribi?«, fragte der Mann, der Mitte zwanzig sein mochte – Lerby hatte Probleme damit, das Alter der Einheimischen mit ihren von Sonne und Wind gegerbten Gesichtern einzuschätzen. Die dunklen Augen des jungen Polizisten blickten ihm erwartungsvoll entgegen.

»Lerby«, verbesserte er mit einem Nicken.

»Daavi Keldsen«, stellte der andere sich lächelnd vor. »Ich bin hier, um Sie abzuholen.«

»Haben Sie keinen Dienstgrad?«

»Äh – Polizeimeister Keldsen«, stellte sich der andere noch einmal vor. Sein Dänisch war fließend, aber ein gewisses Befremden war ihm anzuhören.

»Gut, danke.« Lerby nickte.

»Hatten Sie eine gute Reise?«

»Geht so«, knurrte Lerby. Er hätte von nervtötenden Sitznachbarn berichten können, von qualitativ mäßigem Wodka, von schaukelnden Helikoptern und seiner Abneigung gegen Kälte ganz allgemein – aber er ließ es bleiben. Er würde keinen Augenblick länger hier verweilen, als es zur Erledigung seiner Aufgabe unbedingt erforderlich war. Wozu also überflüssigen Smalltalk betreiben?

»Mein Wagen steht vor der Tür«, meinte Keldsen, ein wenig unbeholfen durch die Glastür auf der Vorderseite deutend, und ging Lerby voraus nach draußen. Inzwischen hatte leichter Schneefall eingesetzt. Obwohl Lerby seinen Winteranorak trug und einen Pullover aus Polarfleece darunter, fror er schon jetzt wie ein Schneider, was seine Laune noch weiter sinken ließ.

Der dunkelblaue Toyota Hilux mit der nüchternen Aufschrift Politi parkte direkt vor der Tür. Lerby gab seine Sachen in den Kofferraum und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Politibetjent Keldsen ließ gerade den Motor an, als unmittelbar vor dem Kühler ein Mann auftauchte. Er trug einen blauen Anorak und eine leuchtend rote Wollmütze, die schief auf seinem Kopf saß und ihn ein wenig wie eine Rettungsboje aussehen ließ. Eine Rettungsboje allerdings, die heftig wankte, denn der Kerl war sturzbetrunken.

Er schlug gegen den Kühlergrill und prallte ein paar Schritte zurück. Für einen Moment hatte es noch den Anschein, als könne er sich auf den Beinen halten, dann bekam er Schlagseite und stürzte bäuchlings in den schmutzigen Schnee.

Keldsen sagte etwas auf Grönländisch, das sich in Lerbys Ohren wie eine Verwünschung anhörte. Dann löste er rasch seinen Gurt und stieg aus, um dem Gestürzten zu helfen.

Was die beiden zusammen aufführten, mutete wie ein bizarres, unbeholfenes Ballett an. Der Betrunkene, der sich auf den Rücken gedreht hatte, schien kein großes Interesse daran zu haben, wieder auf die Beine zu kommen. Die helfende Hand, die der Polizist ihm reichte, schlug er mit fahrigen Bewegungen beiseite, ehe Keldsen ihn schließlich beherzt am Anorak packte und auf die Beine zog. Mit einem lauten Ruf machte er zwei Mechaniker auf sich aufmerksam, die drüben am Hangar standen und sich unterhielten. Der Betrunkene schien ihnen nicht unbekannt zu sein, denn sie stießen sich gegenseitig mit den Ellbogen an und lachten, verspotteten ihn offenbar. Keldsen schien ein Machtwort zu sprechen, denn schließlich kamen sie herüber und nahmen sich des Mannes an, während der Polizist wieder zu Lerby in den Wagen stieg.

»Alkohol«, sagte er nur, als er den Toyota anließ. Dabei blickte er stur geradeaus durch die Windschutzscheibe und mied den Blick seines Fahrgasts, so als würde er sich für den Betrunkenen schämen. »Großes Problem hier.«

Dann gab er Gas, und der schwere Wagen fuhr an, rollte über die Auffahrt auf die Straße, die hinunter nach Illokarfiq führte. Dabei passierten sie ein verbeultes Schild aus Metall, dem der Rost kräftig zugesetzt hatte.

»Tikilluarit – Willkommen«, stand darauf geschrieben.

Lerby war sich da nicht so sicher.

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