Der Mondmann - Rote Spur - Fynn Haskin - E-Book

Der Mondmann - Rote Spur E-Book

Fynn Haskin

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Beschreibung

Eine grausame Mordserie gibt der Kopenhagener Polizei Rätsel auf: In welchem Zusammenhang standen die Mordopfer? Und wer ist der Mörder, der am Tatort geheimnisvolle Symbole hinterlässt? Als klar wird, dass eine Verbindung zur Kultur der Inuit besteht, schaltet sich Jens Lerby in die Ermittlungen ein, zum Verdruss seines Vorgesetzten, der offenbar etwas zu vertuschen sucht. Lerby geht der Spur jedoch unbeirrt nach, die ihn schließlich nach Grönland führt, zurück zu Pallaya Shaa und ihren Leuten - und kommt so einem alten Geheimnis auf die Spur, in dem es um ein Verbrechen geht, das im Namen des Fortschritts von der dänischen Regierung an den Inuit begangen wurde: dem Projekt »Nystart« ...

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INHALT

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumMottoErinnerungen12345678Erinnerungen91011Erinnerungen12131415161718192021Erinnerungen2223242526272829303132Erinnerungen33343536373839Erinnerungen4041424344454647484950Erinnerungen5152535455565758596061626364Nachwort

ÜBER DAS BUCH

Eine grausame Mordserie gibt der Kopenhagener Polizei Rätsel auf: In welchem Zusammenhang standen die Mordopfer? Und wer ist der Mörder, der am Tatort geheimnisvolle Symbole hinterlässt? Als klar wird, dass eine Verbindung zur Kultur der Inuit besteht, schaltet sich Jens Lerby in die Ermittlungen ein, zum Verdruss seines Vorgesetzten, der offenbar etwas zu vertuschen sucht. Lerby geht der Spur jedoch unbeirrt nach, die ihn schließlich nach Grönland führt, zurück zu Pallaya Shaa und ihren Leuten – und kommt so einem alten Geheimnis auf die Spur, in dem es um ein Verbrechen geht, das im Namen des Fortschritts von der dänischen Regierung an den Inuit begangen wurde: dem Projekt »Nystart« …

ÜBER DEN AUTOR

Fynn Haskin wurde im rauen Winter 1969 geboren – vielleicht ist das der Grund, warum er schon früh eine Vorliebe für Schnee und Eis entwickelt hat. Seinen Urlaub verbringt der Reisejournalist und Weltenbummler bis zum heutigen Tag auf Bergeshöhen oder in den kühlen Regionen dieser Erde. Kaum eine Gegend hat ihn so begeistert wie Grönland. Besonders die spektakuläre Landschaft und die Kultur der Inuit haben ihn nachhaltig beeindruckt und zu Der Mondmann inspiriert.

FYNN HASKIN

DER

MOND

MANN

ROTE SPUR

GRÖNLAND-THRILLER

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung

der literarischen Agentur Peter Molden, Köln

 

Copyright © 2023 by Fynn Haskin

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

 

Textredaktion: Valérie Thieme

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock: Jane Rix | river34 |

Sergey Uryadnikov | WHITE RABBIT83

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-4776-9

luebbe.de

lesejury.de

 

Irgendwo las ich von einem Eskimojäger, der den Priester der örtlichen Missionsstation fragte:»Wenn ich nichts von Gott und der Sünde wüsste, würde ich dann in die Hölle kommen?«

»Nein«, antwortete der Priester. »Nicht, wenn du nichts davon wusstest.«

»Warum«, fragte der Eskimo in aller Ernsthaftigkeit, »hast du mir dann davon erzählt?«

aus:

Annie Dillard

Pilgrim at Tinker Creek

New York, 1974

ERINNERUNGEN

Sie kommen.

Er kann ihre Schritte hören, die sich über das knirschende Eis nähern, und ihre Stimmen, die sich in einer anderen, fremden Sprache unterhalten.

Angstvoll klammert er sich an die Hand seiner Mutter, wie er es stets tut, wenn er sich fürchtet. Doch dieses Mal vermag sie ihm keinen Trost zu spenden, zieht sie ihn nicht an sich heran, schließt sie ihn nicht in die Arme und singt kein leises Lied wie in den langen dunklen Nächten des Winters. Und obwohl er erst acht solcher Winter gesehen hat, erkennt er den Grund dafür.

Auch seine Mutter hat Angst.

Ihre Hand bebt in seiner, so wie ihre ganze gedrungene Gestalt bebt, während sie mit geweiteten Augen auf die Tür starrt. Das Geräusch der Schritte wird lauter, dann verstummt es. Ein Schatten ist unter der Tür zu sehen, im nächsten Moment fliegt sie auf. Seine Mutter gibt einen Laut von sich, wie er aus ihrer Kehle noch keinen gehört hat. Es ist kein Schrei, eher ein Stöhnen, hilflos und leer.

Der Junge zweifelt keinen Augenblick, dass die Gestalt auf der Schwelle ein Dämon ist, ein Seelenfresser, wie die Ältesten ihn in ihren Geschichten beschreiben.

Riesig groß ist er und rabenschwarz im Gegenlicht der jetzt offenen Tür, die Glieder dürr wie die einer Krabbe. Er sagt nichts, starrt sie nur aus blauen Augen an, die denen eines Haifischs ähneln. An ihrer zitternden Hand zieht die Mutter den Jungen hinter sich, um ihn mit ihrer ganzen bebenden Gestalt zu beschützen – doch der Dämon streckt einen langen Arm aus und greift mit der Klaue nach ihm, die nichts Menschliches hat, besitzt sie doch nur drei Finger. Schon im nächsten Moment spürt er, wie sie sich in seine Schulter bohren, wie sie ihn packen und fortreißen wollen, weg von seiner Mutter.

»Nein!«, ruft sie und wehrt sich, will verhindern, dass man ihr den Sohn entreißt.

Doch der Dämon ist stärker.

Erbarmungslos schlägt er seine Klaue in sein Opfer und zieht es an sich. Der Junge beginnt zu schreien, klammert sich mit allem, was er hat, an seine Mutter, nicht nur mit den Händen, auch mit aller Liebe, aller Furcht und aller Verzweiflung, die sein junges Herz zum Bersten füllt.

Aber weder seine Liebe noch die seiner Mutter reicht aus, um die Macht des Eindringlings zu brechen. Seine kleine Hand entringt sich ihrem Griff, ein inneres Band scheint zu zerreißen. Der Junge schreit und brüllt seine Angst laut hinaus, worauf seine Mutter einen letzten verzweifelten Versuch unternimmt, ihn festzuhalten und vor dem Zugriff des Dämons zu bewahren. Doch die Klaue mit den drei Fingern zieht den Jungen von ihr weg, während die andere Hand sie grob zurückstößt.

»Mama!«, brüllt der Junge, während er seine Mutter zurücktaumeln und gegen den Herd prallen sieht, wo die offene Flamme brennt.

Ihre Kleidung, der wollene Pullover und die Weste aus Robbenfell, fangen sofort Feuer. Sie schreit entsetzlich, während sie die Flammen zu löschen versucht, indem sie wild mit den Armen schlägt. Doch dadurch entfacht sie den Zorn des Feuers nur noch mehr.

Der Junge kreischt vor Entsetzen, gleichzeitig schießen ihm Tränen in die Augen und legen sich wie ein gnädiger Schleier über das grässliche Geschehen, während ihn der Geist nach draußen zerrt, ins helle Tageslicht, wo noch mehr von seiner Sorte warten. Sie rufen aufgeregt durcheinander, einige von ihnen drängen in die von Robbenhaut überspannte Behausung, die einmal das Zuhause des Jungen gewesen ist und über der jetzt eine dunkle Rauchwolke steht.

Gellende Schreie sind das Letzte, was ihm von seiner Mutter in Erinnerung bleibt.

Er sieht sie niemals wieder.

1

»Ich sollte mich bei dir melden?«

Kommissar Jens Lerby hatte die Tür zu Sørensens Büro einen Spalt weit geöffnet, gerade so, dass er den Kopf hineinstecken und einen Blick ins Büro seines Vorgesetzten werfen konnte.

In seinem braunen Maßanzug hinter dem großen Eichenholzschreibtisch sitzend, hob Chefpolitiinspektør Birger Sørensen den Blick von den Akten, die er inspiziert hatte. Über den Rand seiner Lesebrille hinweg sah er Lerby an.

»In der Tat«, bestätigte er dann und winkte ihn mit einer Hand herein, während er mit der anderen die Brille abnahm und sich die Nasenwurzel massierte.

»Gibt’s Probleme?« Lerby trat ein und schloss die Tür hinter sich, dann nahm er unaufgefordert auf dem Besucherstuhl Platz. Sørensen und er waren im gleichen Alter. Sie kannten einander praktisch schon eine Ewigkeit, hatten gemeinsam die Polizeiakademie besucht. Danach allerdings hatten sich ihre Laufbahnen recht unterschiedlich entwickelt. Während Birgers Karrierekurve steil nach oben verlaufen war – nicht von ungefähr besetzte er dieses museal anmutende holzgetäfelte Büro im ehrwürdigen Politigård von Kopenhagen –, hatte sich Lerbys Laufbahn eher verhalten entwickelt. Und das, obwohl er als Fallanalytiker der Mordkommission auf eine durchaus stolze Aufklärungsrate verweisen konnte.

Das Problem bestand darin, dass Jens Lerby schon immer etwas an sich gehabt hatte, was sich mit dem regelbestimmten Dasein eines Staatsdieners nur schwer in Einklang bringen ließ – auch wenn er sich in letzter Zeit redlich bemühte, seine rebellische, zum Widerspruch neigende Seite zu beherrschen.

»Warum fragst du das? Erwartest du Ärger?« Sørensen sah Lerby forschend an, während er den Aktendeckel zuklappte und den Ordner beiseiteschob. »Wie geht es dir, Jens?«

Lerby schürzte die Lippen. Mit manchem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass sich der sonst eher auf seine eigene Person bedachte Birger nach seinem Befinden erkundigen würde. »Kann nicht klagen«, erwiderte er lakonisch. »Und selbst?«

»Nicht zu glauben.« Sørensen lehnte sich in seinem ledergepolsterten Schreibtischstuhl zurück, dabei strich er die grün gestreifte Krawatte über seinem ansehnlichen Bauch glatt. »Gerade mal achtzehn Monate ist es her, dass ich dich in dieses Büro zitiert und dir die Leviten gelesen habe – und nun sieh dich an. Du bist ein wahrer Musterpolizist geworden!«

Lerby lächelte dünn. »Du warst eben sehr überzeugend.«

»Blödsinn. Du warst am Ende, in so ziemlich jeder Hinsicht: Deine Karriere hattest du an die Wand gefahren, mit den meisten Kollegen standest du auf Kriegsfuß, die eigene Familie hielt dich für einen Idioten und du hingst entschieden zu oft an der Wodkaflasche.«

»Danke für die Zusammenfassung.« Lerby nickte. Es war zwar keine besonders schmeichelhafte, dafür aber durchaus zutreffende Beschreibung des Mannes, der er noch vor eineinhalb Jahren gewesen war.

»Ich hätte keine fünf Kronen mehr auf dich gesetzt, als ich dich nach Grönland schickte, schließlich hast du eine Aversion gegen Eis und Schnee, und gegen Autoritäten sowieso. Und dann klärst du nicht nur diese mysteriösen Mordfälle auf, sondern kehrst auch noch als geläuterter Mann zurück.«

»So geläutert nun auch wieder nicht«, versicherte Lerby. »Es sind immer noch genügend Laster übrig.«

»Was ist da oben im Norden passiert? Hat irgendein Schamane dir das Hirn auf Eis gelegt?«

Lerby lächelte matt. Er hatte sich daran gewöhnt, dass Kollegen und Vorgesetzte Scherze über den Wandel machten, den er durchlaufen hatte und der ihnen ziemlich seltsam vorkommen musste. Für ihn dagegen war es die konsequente Folge dessen, was er bei den Inuit gesehen und erlebt hatte.

Und was er von ihnen gelernt hatte …

»Wie oft willst du mir diese Frage noch stellen?«, fragte er achselzuckend. »Es ist gar nichts passiert, Birger. Ich habe nur die Chance erhalten, das Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Solltest du vielleicht auch mal probieren.«

»Ja, vielleicht sollte ich das«, erwiderte Sørensen schnaubend. »Immerhin hast du noch Kontakt zu deinen Kindern und bist auch wieder mit deiner Frau zusammen. Meine dagegen sieht mich nicht mal mehr mit der Kehrseite an.«

»Weil du dich mehr für die Kehrseiten anderer Frauen interessiert hast, wenn ich mich recht erinnere.«

»Richtig.« Sørensen schnaubte abermals und zuckte mit den breiten Schultern. »Jeder tut eben das, was für ihn am besten ist, nicht wahr? Damit habe ich grundsätzlich kein Problem, musst du wissen – aber was ist das hier für eine Scheiße?«, hob er unvermittelt an und wandte sich dem Bildschirm auf seinem Schreibtisch zu. »Du hast einen Versetzungsantrag gestellt? Zum Erkennungsdienst?«

»Bin ich deshalb hier?«, wollte Lerby wissen.

»Darauf kannst du wetten. Warum, verdammt nochmal, wusste ich nichts davon?«

»Weil du nur versucht hättest, es mir auszureden.«

»Verdammt richtig. Ich kann doch nicht tatenlos zusehen, wie einer meiner besten Ermittler einfach kneift und sich in den Innendienst versetzen lässt!«

»Es wird dir nichts anderes übrigbleiben«, konterte Lerby gelassen. »Außerdem hast du diesen Schritt doch schon vor zwanzig Jahren vollzogen.«

»Das stimmt. Allerdings bin ich niemals auch nur halb so gut wie du gewesen.«

»Was dich nicht davon abgehalten hat, Karriere zu machen«, konnte Lerby sich nicht verkneifen zu erwidern, schließlich hatte er nicht alle seine alten Gewohnheiten abgelegt. Außerdem kannte er Birger lange genug, um zu wissen, dass ein Kompliment aus seinem Mund nur dann zu hören war, wenn er etwas damit bezweckte. In diesem Fall vermutlich, einen Mitarbeiter in seiner Abteilung zu halten, dessen hohe Aufklärungsquote auch ihm selbst gut zu Gesicht stand.

»Ist das der Grund für das Versetzungsgesuch?«, fragte Sørensen gereizt. »Bist du neidisch auf meinen Posten?«

Lerby zuckte mit den Schultern. »Noch vor ein paar Jahren hätte ich wahrscheinlich Ja gesagt, aber darauf kommt es mir inzwischen nicht mehr an. Manche Dinge sind nun einmal, wie sie sind, Birger, und es hat keinen Sinn, sich darüber aufzuregen. Auch das habe ich übrigens von den Inuit gelernt. Ich habe keine Lust mehr, zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett geklingelt und an einen Tatort bestellt zu werden. Ich habe meinen Beitrag geleistet und mehr als genug krankes Zeug gesehen. Sollen sich in Zukunft andere an die Front begeben. Ich werde ihnen gerne zuarbeiten und ihnen meine Erfahrung zur Verfügung stellen, aber …«

»Blödsinn«, fiel sein Vorgesetzter ihm barsch ins Wort. »Das allein ist es nicht. Was steckt wirklich dahinter?«

Lerby sah Sørensen an. Eine Weile hielt er seinem prüfenden Blick stand. dann hob er resignierend die Hände. »Also schön, du hast mich erwischt«, gab er sich seufzend geschlagen. »Ich will auch kürzertreten. Eva ist erneut befördert worden und wird künftig die Kopenhagener Kanzlei leiten.«

»Was willst du tun?« Der Spott in Birger Sørensens Stimme war unüberhörbar. »Den Hausmann spielen?«

»Ihr den Rücken freihalten«, fuhr Lerby unbeirrt fort. »Mich ein wenig mehr um die Dinge kümmern, die in meinem Leben bislang zu kurz gekommen sind. Und um die Menschen«, fügte er etwas leiser hinzu.

»Was redest du da? Deine Kinder sind beide erwachsen! Dein Sohn ist schon lange ausgezogen und lebt in Hamburg, und deine Tochter wird zum Wintersemester nach Aarhus ziehen, um dort ihr Studium fortzusetzen. So jedenfalls hast du es mir erzählt.«

»Zugegeben.«

»Also was soll der Blödsinn? Du kannst nicht einfach den Schwanz einziehen und hinschmeißen. Oder hast du deine Eier bei den Eskimos gelassen?«

»Inuit«, verbesserte Lerby, alles andere schlicht überhörend. »Ich gehe also davon aus, dass mein Antrag bewilligt wurde? Andernfalls wärst du wohl nicht so sauer.«

»Haarscharf kombiniert.« Sørensen gab ein Knurren von sich, das auch aus der Kehle eines Wolfs hätte stammen können. »Mit Wirkung vom ersten November arbeitest du nicht mehr in meiner Abteilung. Es sei denn, du widerrufst deinen Antrag.«

»Habe ich nicht vor«, versicherte Lerby.

»Du würdest auch ein eigenes Büro bekommen.«

»Klingt reizvoll. Aber danke, nein.«

»Stures Arschloch.«

»Vorsicht«, warnte Lerby, während er sich aus dem Besucherstuhl erhob und zum Gehen wandte. »Als ich das letzte Mal ein solches Kompliment vom Stapel ließ, hat es mir eine zeitweilige Versetzung nach Grönland eingetragen.«

»Sehr witzig.« Sørensen blies die Wangen auf und atmete geräuschvoll ein und aus. Dann wechselte er abrupt das Thema. »Wollen wir wenigstens nach Dienstschluss noch einen heben gehen? In der Bar um die Ecke, wie in alten Zeiten? Ich würde dir gerne Lana vorstellen.«

Lerby war schon an der Tür. Mit hochgezogenen Brauen wandte er sich noch einmal um. »Hieß sie nicht Lena?«

»Das ist vorbei.« Sørensen grinste. »Lena arbeitet bei Starbucks, Lana ist Fitnesstrainerin. Sie sagt, sie will sich um meinen Körper kümmern.«

»Ach du Scheiße.«

»Und? Bist du dabei?«

»Nein danke.« Lerby schüttelte den Kopf. »Es ist Freitagabend, ich habe eine Verabredung mit Eva. Teures Restaurant in Carlsberg. Romantischer Abend und so.«

»Verstehe.« Sørensen nickte, das anzügliche Grinsen verschwand aus seinem roten Gesicht. »Du hast wirklich Glück, weißt du das?«, fragte er.

»Stimmt«, räumte Lerby ein, während er die lederbeschlagene Tür öffnete und nach draußen ging, »aber Glück zu haben, ist nicht genug, Birger. Du musst auch klug genug sein, es zu erkennen, wenn es dir begegnet.«

2

Der Schrei war so laut, dass er bis in den letzten Winkel drang.

»Großvater!«

Pallaya Shaa, die damit beschäftigt gewesen war, in der kleinen Küche das Geschirr vom Frühstück zu spülen, erschrak bis ins Mark. Sie ließ die Tasse zurück ins Spülwasser fallen, den Lappen behielt sie in den Händen, aus welchem Grund auch immer. Atemlos rannte sie die Stufen zum ersten Stock hinauf, wo sich die beiden Schlafzimmer befanden, und stürzte durch die offen stehende Tür in das ihres Großvaters.

»Um Himmels Willen, was …?«

Sie verstummte, als sie den alten Mann erblickte, der halb aufgerichtet im Bett saß und sie mit fiebrigen Augen anstarrte. Der Schlafanzug aus kariertem Flanell, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, klebte förmlich an ihm, sein langes graues Haar hing in schweißnassen Strähnen.

»E-es waren zwei«, stieß er hervor.

Pally war bereits an seinem Bett, mit sanfter Gewalt drückte sie ihn wieder auf sein Lager zurück. »Es ist gut, Großvater«, redete sie dabei beruhigend auf ihn ein. »Der Arzt hat gesagt, dass du dich nicht aufregen darfst. Dein Herz …«

»Aber sie waren zu zweit«, protestierte er und sah sie dabei an, als müsste er ihr dies unbedingt sagen. »Sie waren wie Brüder, das ist wichtig, Pally! Wir dürfen es nicht vergessen!«

»Werden wir nicht«, versprach sie, während sie ihn wieder zudeckte und sich auf die Bettkante niederließ. Daraufhin schien er sich ein wenig zu beruhigen. »Hast du wieder geträumt?«, fragte sie leise.

Der alte Magnus sah sich in dem kleinen Schlafzimmer um, ließ seinen Blick von der Tür zum Kleiderschrank schweifen, von dort zum Fenster und schließlich zu dem Nachtkästchen, das neben dem Bett stand. Verschiedene Talismane lagen darauf: kleine Gegenstände, die aus Federn, Fischknochen und Robbenflossen gefertigt waren und von denen jeder eine andere Bedeutung besaß. Pally hatte versucht, sie alle zu erlernen und zu verstehen – ein beinahe aussichtsloses Unterfangen.

Erst jetzt schien ihr Großvater zu realisieren, wo er sich befand, in seinem Schlafzimmer, in dem kleinen Haus, das sie gemeinsam in Illokarfiq bewohnten. Doch in der Sache blieb er unnachgiebig.

»Das war kein Traum«, stieß er hervor, wobei er sie durchdringend aus seinen dunklen Augen ansah. »Es sind die Ahnen, die mir diese Bilder schicken, Pally.«

»Ich verstehe«, sagte sie nur und biss sich auf die Lippen. Sie wollte nicht respektlos erscheinen und widersprechen, wollte ihm keinen Grund geben, sich wieder aufzuregen. Aber sie bezweifelte, dass das, was der alte Magnus neuerdings in seinen Träumen sah, Visionen aus der anderen Welt waren. Vermutlich eher das Ergebnis eines schwachen Herzens, das Gehirn und Körper nur noch unzureichend mit Blut versorgte. Wäre es nach den Ärzten im Krankenhaus gegangen, hätten sie ihm schon im Frühjahr einen Schrittmacher eingesetzt, aber der alte Magnus hatte dies rundheraus abgelehnt mit der Begründung, dass sein Herz ihm stets zuverlässig gedient habe und auch weiterhin in bestem Zustand sei. Doch in letzter Zeit war sein Schlaf unruhig und von Albdrücken geplagt, tagsüber wirkte er müde und abgeschlagen. Er schien sich um etwas zu sorgen, das ihm keine Ruhe ließ, im wahrsten Sinn des Wortes.

»Du glaubst mir nicht«, deutete er ihre verkniffene Miene richtig. An seiner tiefen Kenntnis der menschlichen Natur änderte auch sein angeschlagener Zustand nichts. »Dabei solltest gerade du mir glauben, Enkelin. Schließlich bist du die beste Schülerin, die ich jemals …«

Er unterbrach sich, als eine Welle von Schmerz seinen alten Körper zu durchlaufen schien. Pallys Großvater schloss für einen Moment die Augen und biss die spärlich gewordenen Zähne zusammen.

»Du darfst dich nicht aufregen, Großvater«, schärfte sie ihm ein. »Dr. Abelsen hat gesagt …«

»Interessiert mich nicht«, fiel der alte Magnus ihr mit der alten Starrköpfigkeit ins Wort. »Nur zwei sind noch übrig, nach all den Jahren, verstehst du? Verletzte Seelen, die in der Kälte nie mehr nach Hause gefunden haben … einsam …«

Die Erschöpfung war bereits wieder dabei, ihn zu übermannen. Noch während er sprach, fielen ihm die Augen zu, seine Worte wurden leise und undeutlich.

»Es ist gut, Großvater«, sagte Pally sanft. »Alles wird gut, du wirst sehen.«

»Nein, Kind!« Jäh schlug er die Augen wieder auf, und seine knochige Hand fasste die ihre. »Du verstehst mich nicht. Es wird über uns kommen! Nach allen den Jahren wird das Grauen zurückkehren, wir müssen davor auf der Hut sein! Du musst auf der Hut sein, Kind. Dunkelheit steht uns allen bevor, Kälte und Eis werden kommen, und mit ihnen …«

Was auch immer er noch hatte sagen wollen, es blieb sein Geheimnis. Der Schlaf hatte den alten Magnus erneut übermannt, eine Folge des Medikaments, das er zweimal täglich bekam und das dem Arzt zufolge müde machte.

Noch eine Weile blieb Pally an seiner Seite, hielt seine Hand und sah dabei zu, wie sich die Bettdecke unter seinen Atemzügen jetzt wieder gleichmäßig hob und senkte. Schließlich beugte sie sich vor, so dass ihre Stirn die seine berührte und sie seinen Atem spüren konnte, dabei flüsterte sie einen Segen. Dann erhob sie sich und verließ das Schlafzimmer auf Zehenspitzen.

An der Tür wandte sie sich noch einmal um und betrachtete den Mann, der ihr leiblicher Großvater war und sie an Eltern statt aufgezogen hatte – und doch noch so viel mehr war als das. Als angakkoq von Illokarfiq war der alte Magnus eine von allen respektierte Persönlichkeit. Er fungierte als spirituelles Oberhaupt, als verständnisvoller Berater und als kollektives Gedächtnis, symbolisierte die Verbindung zur Vergangenheit und zu den Ahnen und verkörperte den Weg in die Zukunft. Doch seit einigen Tagen fragte sich Pally bang, wie lange dieser Weg noch sein würde.

Es war nicht die Art der Inuit, über Dinge wie diese nachzusinnen. Der Tod war ein Teil des Lebens, ein unabdingbarer Teil im Kreislauf der Natur, dem alle Lebewesen unterworfen waren, von timiaq, dem kleinsten Vogel, zu arfeq, dem großen Wal. Das Leben mit allen Freuden und Entbehrungen so zu nehmen, wie es nun einmal war, war die alte Art der livi, wie sich die Menschen an der Ostküste Grönlands nannten. Doch Pally war ein Kind beider Welten. Sie war gebürtige Grönländerin und in Illokarfiq aufgewachsen, hatte jedoch in Kanada Ethnologie studiert und sprach nicht nur Grönländisch, sondern auch fließend Englisch und Dänisch, wodurch sich ihr auch die moderne westliche Kultur erschlossen hatte, mit all ihren Vorzügen, aber auch ihren Ängsten und Befürchtungen.

Flüchtig wischte sie die Tränen weg, die ihr in die Augen gestiegen waren, dann ging sie wieder hinab. Die Tür zum Schlafzimmer ihres Großvaters ließ sie zur Sicherheit angelehnt.

Erst in der Küche stellte sie fest, dass sie noch immer den Spüllappen hielt. Mit der einen Hand hatte sie sich daran geklammert, während sie mit der anderen die Rechte ihres Großvaters gehalten hatte. Es entbehrte nicht einer gewissen Symbolik, über die sie schmunzeln musste. Kein anderer als der alte Magnus hatte sie gelehrt, das Leben in Bildern zu sehen und diese zu deuten, der universellen Wahrheit auf diese Weise vielleicht ein wenig näher zu kommen. Was ihren Großvater betraf, so glaubte er felsenfest an diese Dinge, an die Traditionen und den alten Weg. Auch Pally wollte gerne daran glauben, aber der moderne Mensch in ihr stellte Fragen und hatte mitunter auch Zweifel … nur in einer Hinsicht sah sie wirklich klar.

Der Zustand ihres Großvaters verschlechterte sich.

Den Sommer über war es ihm gut gegangen, hatte er noch zur Trommel getanzt und die alten Lieder gesungen, doch seit etwa zwei Wochen war er nicht mehr derselbe. Sein Zustand verschlimmerte sich zusehends, doch eine Operation kam für ihn nach wie vor nicht in Frage …

Gedankenverloren beendete Pallaya den Abwasch, dann legte sie den Lappen weg. Während sie nach dem Geschirrtuch griff und mit dem Abtrocknen begann, sah sie zum Küchenfenster hinaus. Dunkle Wolken ballten sich am Himmel über Illokarfiq und verhießen baldigen Schnee. Schon in Kürze würde das letzte Frachtschiff den Hafen verlassen, danach würde Eis den Fjord unpassierbar machen, und Illokarfiq würde bis zum frühen Sommer weitgehend von der Außenwelt getrennt sein.

So viele Male hatte der alte Magnus in seinem Leben den Wechsel der Jahreszeiten erlebt, und Pally glaubte zu wissen, wovor er sich in Wahrheit fürchtete; wofür die Dunkelheit und die Kälte standen, die ihn bis in den Schlaf hinein verfolgten, und die Träume von verlorenen Seelen.

Es war die Angst vor der langen Nacht.

Dem letzten, kalten Winter.

3

Der Name des Restaurants war schlicht Studio.

Nachdem es sich einige Jahre lang in einem umgebauten Art-déco-Gebäude in Havnegade befunden hatte, war es unlängst nach Carlsberg Byen umgezogen, so benannt nach der Brauerei, die ihre Gebäude dort aufgegeben und auf diese Weise Platz für die Schaffung eines neuen Stadtteils geschaffen hatte.

Eva hatte das alte Studio sehr gemocht, und so war Lerby die Idee gekommen, dass sie sich über einen Besuch des neuen freuen würde. Also hatte er ihr nur die Adresse am Ottilia Jacobsens Plads genannt und ihr gesagt, dass sie sich nach der Arbeit von einem Taxi dorthin chauffieren lassen solle. Er würde dort auf sie warten, so als seien sie weder verheiratet noch ein Paar, sondern einfach nur ein Mann und eine Frau, die sich dort träfen.

Lerby nahm an einem kleinen Zweiertisch Platz und ließ seinen Blick durch den nordisch schlicht, aber stilvoll eingerichteten Gastraum schweifen. Das Lokal war gut besucht, Küche und Kellner hatten alle Hände voll zu tun. Die Stimmung war dennoch entspannt, nicht zuletzt dank der relaxten Jazzklänge, die aus verborgenen Lautsprechern säuselten. Da just an dem Ort, an dem sich heute das Restaurant befand, einst die Wasserquelle für die Brauerei gesprudelt hatte, hatten die Betreiber einen Künstler damit beauftragt, die eindrucksvolle Skulptur einer Kaskade anzufertigen, die von innen beleuchtet war und für stimmungsvolles Licht sorgte.

Lange zu warten brauchte Lerby nicht, Pünktlichkeit hatte schon immer zu Evas Eigenschaften gehört. Ein Restaurantbediensteter nahm ihr den Trenchcoat ab, darunter trug sie noch ihre Bürokleidung, die aus einem knielangen grauen Rock, einem schwarzen Rollkragenshirt und einem dazu passenden Blazer bestand. Ihr blondes Haar hatte sie hochgesteckt, und Lerby fand, dass sie einfach umwerfend aussah. Hübsch war sie auch schon damals gewesen, als sie sich kennengelernt hatten, er ein aufstrebender junger Polizeianwärter und sie eine angehende Jurastudentin. Aber in den letzten Jahren war noch etwas dazugekommen, dass man nur als Klasse bezeichnen konnte. Dass Lerby eine Zeitlang nicht mehr gewusst hatte, was er für Eva empfinden sollte, hatte nie damit zu tun gehabt, dass er sie nicht mehr als attraktiv empfunden hätte. Eher damit, dass er irgendwann das Gefühl gehabt hatte, sie nicht mehr zu verdienen.

Sie lächelte, während ein Kellner sie an ihren Tisch geleitete. Lerby erhob sich höflich.

»Ist der Platz noch frei?«, erkundigte sie sich.

»An sich wollte ich mich mit meiner Frau treffen«, entgegnete er schlagfertig und zur sichtlichen Verwirrung des Bediensteten. »Aber da Sie schon mal hier sind …«

Sie setzten sich, und der Kellner schenkte ihnen von dem Champagner ein, den Lerby bestellt hatte, eine 2005er Vertus Cuvée von Pascal Doquet.

»Gibt es denn etwas zu feiern?«, fragte sie verwundert.

»Ich denke schon.« Lerby hob feixend sein Glas. »Glückwunsch zur Beförderung!«

»Das ist der Grund?« Sie ließ ihren Blick über das stilvolle Ambiente schweifen, einschließlich der leuchtenden Kaskade. »Deshalb veranstaltest du das alles hier?«

»Warum nicht?«, fragte er und errötete ein wenig dabei. »Bei deiner letzten Beförderung bin ich schließlich nicht gerade in Hochform gewesen …«

»Nein, warst du nicht«, gab sie in Anspielung auf jenen Abend zu, den er lieber aus seinem – und vor allem auch aus ihrem – Gedächtnis gestrichen hätte. Andererseits hatte an jenem Abend die Reise begonnen, die sie beide letzten Endes hierhergeführt hatte.

»Auf das Leben«, sagte er und hob sein Glas.

»Auf das Leben«, bestätigte sie. Sanft stießen ihre Gläser aneinander, und sie tranken. Dann stürzten sie sich gemeinsam in das kulinarische Abenteuer, als das Lerby die Mischung aus nordischer und französischer Küche empfand, die traditionell im Studio serviert wurde. Es gab gebratene Garnelen, danach Jakobsmuscheln mit grünen Erdbeeren, später dann mit Bärlauch gewürzten Kabeljau, dazu einen deutschen Riesling von 2014.

Es war nicht so, dass Lerby keinen feinen Gaumen gehabt oder ein delikates Menü nicht zu schätzen gewusst hätte. Aber noch ungleich mehr genoss er, dass Eva und er ihre Sprache wiedergefunden hatten. Einst hatten sie stundenlang miteinander reden, sich von ihrer Arbeit erzählen, über Gott und die Welt plaudern und sich gegenseitig ihr Innerstes offenbaren können, und sie hatten sich über jene Paare lustig gemacht, die einander im Restaurant gegenübersaßen und ihrer Serviette oder ihrem Smartphone mehr Aufmerksamkeit zukommen ließen als ihrem Gegenüber. Doch irgendwann waren sie selbst zu einem dieser Paare geworden – die Arbeit, die Kinder, der Alltag. Während Eva noch eine ganze Weile versucht hatte, ihre Beziehung am Leben zu halten, war Lerby zu einem zynischen, sich im Selbstmitleid suhlenden Armleuchter verkommen. Vermutlich hätte ihre Ehe wie so viele andere im Kreis ihrer Freunde und Bekannten geendet, nämlich beim Scheidungsanwalt, doch dann war geschehen, was man, wenn Lerby an dergleichen Dinge geglaubt hätte, wohl als kleines Wunder hätte bezeichnen können.

Zur Klärung einer Reihe ungeklärter Mordfälle hatte man ihn nach Grönland geschickt, in ein verlassenes Nest namens Illokarfiq, was übersetzt schlicht »Siedlung« bedeutete. Und ausgerechnet dort, am eisigen Rand der Welt, hatte Jens Lerby wieder zu sich selbst gefunden. Wie es dazu gekommen war, wusste er selbst nicht recht zu sagen. Er war wohl einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, um zu begreifen, dass sie alle nur Schneeflocken im Wind des Schicksals waren, dass deshalb jeder Tag zählte und das Leben wertvoll war.

Dank dieser neuen Philosophie hatte Lerby nicht nur zurück nach Hause, sondern auch zurück zu Eva gefunden, in jeder denkbaren Hinsicht.

»Danke«, sagte sie. Über den Rand ihres Glases hinweg sah sie ihn aus ihren wasserblauen Augen an. »Das bedeutet mir wirklich viel.«

»Ich denke, das war ich dir schuldig, schließlich wird man nicht alle Tage Seniorchefin seiner Kanzlei. Das hast du dir wirklich redlich verdient.«

Nun war sie es, die ein wenig errötete, während sie ihr Glas abermals an seines stieß. »Nicht nur mir«, schränkte sie bescheiden ein. »Ich profitiere auch ein wenig von Kevins … Ungeschick.«

Lerby blies durch die Nase.

Kevin Wilberg war Evas direkter Vorgesetzter in der Kanzlei gewesen: alleinstehend, sportlich, gutaussehend und ungemein smart. So hatte es jedenfalls ausgesehen. Bis sich herausgestellt hatte, dass Kevins private Bankkonten Unregelmäßigkeiten aufwiesen und er sich offenbar großzügig aus dem Spesenkonto der Firma bedient hatte. Die anderen Partner hatten nicht lange gefackelt und ihn hochkant hinausgeworfen, und Eva, die schon zuvor Seniorpartnerin gewesen war, rückte nun an seine Stelle nach.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Lerby Eva verdächtigt, eine Affäre mit dem schönen Kevin zu haben. Angesichts der Tatsache, was er selbst für ein Trottel gewesen war, hätte er es ihr nicht einmal zum Vorwurf gemacht.

»Ich will nicht behaupten, ich hätte immer gewusst, dass der Typ ein Schleicher ist.«

»Aber du hast es immer gewusst«, ergänzte sie lachend, und sie tranken beide.

»Übrigens ist mein Versetzungsgesuch bewilligt worden«, meinte Lerby beiläufig.

»Wirklich?« Sie hob die Brauen.

»Ja, Sørensen hat es vorhin bestätigt.«

»Und? Was hat Birger gesagt?«

Lerby grinste. »Er war stinksauer.«

»Kann ich mir vorstellen. Man verliert nicht gerne seinen besten Mann.«

»Vielen Dank.«

»Und das ist wirklich in Ordnung für dich? Ich meine, wenn du es dir noch einmal anders überlegen möchtest, dann …«

»Nein.« Er drehte das Glas in seiner Hand, stellte es dann entschlossen auf den Tisch zurück. »Früher dachte ich, ich könnte als Polizist die Welt retten.« Er blickte auf und lächelte matt. »Heute weiß ich, dass ich nur ein Mensch bin. Und darüber bin ich eigentlich ganz froh.«

»Trotzdem würde ich nicht wollen, dass du alles für mich aufgibst«, wandte Eva ein.

»Ich weiß.« Er nickte. »Aber ich habe auch das Gefühl, dass es Zeit ist zu gehen. Jemand hat mal gesagt, wenn man zu lange in den Abgrund blickt, dann sieht der Abgrund auch irgendwann in dich hinein. Ich möchte aufhören, bevor es so weit ist.«

»Donnerwetter.« Sie schob die Unterlippe vor. »Wer hat das gesagt?«, wollte sie wissen. »Ein Schamane der Inuit?«

»Nein, Nietzsche.« Er grinste, und sie musste herzlich lachen. Lerby wollte noch etwas zur Erklärung hinzufügen, als sich sein Handy mit heftigem Vibrieren meldete.

»Verdammt«, knurrte er.

»Du solltest rangehen«, meinte Eva. »Noch bist du nicht versetzt worden.«

Er nickte und entschuldigte sich mit einem verlegenen Lächeln, dann erhob er sich rasch und verließ den Gastraum, wobei er das Handy zückte und das Gespräch entgegennahm.

»Ja?«

Er hatte in der Eile nicht aufs Display gesehen, aber natürlich erwartete er, dass sich der Anrufer meldete. Doch das war nicht der Fall. Beim Durchgang zur Garderobe und den Toiletten blieb Lerby stehen, hier konnte er telefonieren, ohne die anderen Gäste zu stören.

»Birger?«, fragte er. »Bist du das?«

Erneut erhielt er keine Antwort. Gleichwohl hörte er am anderen Ende der Verbindung jemanden mit leisem Keuchen atmen. »Hallo? Wer ist da?«

Wieder ein rasselnder Atemzug.

Aber keine Antwort.

»Hören Sie«, meinte Lerby ein wenig genervt, »wenn Sie etwas zu sagen haben, dann sollten Sie es jetzt loswerden. Andernfalls …«

Ein Klicken war zu hören.

Wer immer seine Nummer gewählt hatte, hatte aufgelegt. Lerby schnaubte, warf einen Blick auf das Display.

Unbekannter Anrufer stand dort zu lesen.

Darunter die Dauer des höchst einseitigen Gesprächs.

Sechsundzwanzig Sekunden.

Lerby ließ das kleine Gerät wieder in der Innentasche seines Sakkos verschwinden, dann kehrte er zu Eva zurück.

»Seltsam«, meinte er.

»Was ist?«

»Wer immer mich angerufen hat, hat es vorgezogen, nichts zu sagen. Und es war auch keine Nummer in der Anzeige.«

»Vielleicht verwählt?«, mutmaßte Eva.

»Vermutlich«, stimmte Lerby zu. »Wie wär’s mit Dessert?«, wechselte er dann abrupt das Thema und winkte einen Kellner heran. »Du hast sicher Lust auf Süßes?«

»Habe ich«, versicherte Eva. Dabei bedachte sie ihn mit einem vielsagenden Blick, während sie ihn unter dem Tisch sanft, aber bestimmt mit der Fußspitze stupste. »Muss aber nicht unbedingt hier sein …«

»Noch einen Wunsch?«, erkundigte sich der Kellner und sah Lerby erwartungsvoll an.

»Die Rechnung«, verlangte dieser. »Und bitte schnell.«

4

»Verdammtes Eis.«

Khalid Lazrad stieß eine Verwünschung aus. Der warme Rauch der Zigarette war noch in seinen Lungen, aber die Kälte kroch bereits unter seine Kleider. Selbst nach all den Jahren hatte er sich nicht daran gewöhnt und würde es wohl auch nicht mehr tun.

Er fröstelte, während er die unter dicken Eisschichten liegenden Reihen abschritt, um die Bestände zu prüfen. Seine Schritte knirschten auf dem mit Reif überzogenen Boden, bei jedem Atemzug formte sich weißer Dampf vor seinen Lippen.

»Verdammtes Eis«, knurrte er noch einmal.

Er passierte die schmutzigen Kunststofflamellen und drang in den nächsten Raum vor, wo sich Kisten aus weißem Hartschaum stapelten. Kabeljau, wohin das Auge blickte.

Mit dem kleinen Lesegerät scannte er die aufgeklebten Balkencodes. Das Display war kaum zu lesen, das Gerät schien die Kälte ebenso wenig zu vertragen wie er selbst. Manchmal funktionierte der Lesevorgang nicht auf Anhieb, und er musste es ein zweites und ein drittes Mal versuchen, und er wünschte sich Handschuhe, deren Finger nicht abgeschnitten wären – aber wie sollte er dann das verdammte Gerät bedienen?

Mit einer Laune, die noch weit unter der Temperatur seiner Umgebung lag, ging er weiter. Gerade wollte er sich dem nächsten Gang zuwenden, verharrte dann jedoch abrupt.

Dort, inmitten des Eises und jenseits der dampfenden Schwaden, die er selbst beim Atmen ausstieß, lag etwas am Boden. Etwas, das sich in Größe, Form und Farbe deutlich von den kantigen weißen Behältern unterschied.

Es war …

Mit der freien Hand fuhr Khalid sich über die vor Kälte tränenden Augen – nur um seine Entdeckung bestätigt zu finden. Es war ein Körper, der dort auf dem Boden lag, von weißem Frost überzogen.

Ein menschlicher Körper.

Reglos und steif gefroren.

»Hallo?«, fragte Khalid, während sein Verstand noch Mühe hatte, mit dem Schritt zu halten, was seine Augen sahen. Es passte nicht, wirkte auf groteske Weise komisch, zumal es so aussah, als würde der Fremde – es war ein Mann – dort liegen und lediglich schlafen. »Können Sie mich hören?«

Khalid Lazrad spürte die Kälte nicht mehr. Sein Gesicht war heiß, und er hörte seinen eigenen hämmernden Herzschlag. Mit der Zunge fuhr er sich über die spröden Lippen, schmeckte das bittere Nikotin. Ein Teil von ihm hoffte noch immer, dass alles nur ein Irrtum wäre, dass die reglose Gestalt sich jäh wieder erheben und sich alles als ein Scherz herausstellen würde, den sich seine Kollegen mit ihm erlaubten.

Aber das war es nicht.

Der Mann, der dort lag, war so wirklich wie Khalid selbst. So wirklich wie das Eis und die Kälte. Und jetzt sah Khalid auch die dunkle Spur, die sich über den Boden zog, und ihm dämmerte, dass es Blut war.

Seine Knie begannen zu zittern. Der Scanner entrang sich seinem Griff und fiel zu Boden, das Display ging zu Bruch. Khalid bekam davon nichts mit. Wie in Trance bewegte er sich auf den leblosen Körper zu. Grauen schüttelte ihn, und doch konnte er nicht anders, als nachzusehen.

Der Fremde war alt.

Das spärliche Haar war schlohweiß, der hagere Körper steckte in einem dunklen Anzug, der an diesem Ort völlig fehl am Platz wirkte. In seiner Kehle, unmittelbar unterhalb des Kinns, klaffte eine breite Wunde wie ein bizarrer Mund. Das Blut war infolge der Kälte gefroren, wie überhaupt die faltige Haut des Fremden weißlich grau und von einer Eisschicht überzogen war.

Dann – er hatte sich bis auf zwei Schritte genähert – erheischte Khalid einen Blick auf das Antlitz des Fremden.

Da waren Augen, deren Lichter man gelöscht hatte.

Und ein Mund, der niemals wieder sprechen sollte.

Einen endlos scheinenden Moment lang stand Khalid Lazrad wie vom Donner gerührt. Dann packte ihn das nackte Grauen, und er fuhr auf dem Absatz herum und begann zu laufen.

Dabei schrie er wie von Sinnen.

5

Aus dem romantischen Abend war eine romantische Nacht geworden. Dass früh am Morgen das Handy trillerte und ein aufgeregter Birger Sørensen Lerbys sofortige Anwesenheit im Büro verlangte, passte so ganz und gar nicht.

»Verdammt, Birger«, knurrte Lerby, während er auf der Bettkante saß und sich den Schlaf aus den Augen zu reiben suchte. Dass Eva neben ihm lag und unter der Bettdecke nichts trug als das Parfum, dessen betörenden Geruch er noch immer in der Nase hatte, machte es nicht besser. »Schon mal was von Wochenende gehört?«

»Nicht für dich«, gab Sørensen bekannt.

»Kann nicht Vigga oder einer von den Jungs, die Dienst haben …?«

»Du bewegst deinen Hintern in die Dienststelle, und zwar sofort! Bis zum Ende des Monats arbeitest du noch für mich, Lerby, also schwing dich gefälligst aus den Federn! Besprechung um Null-Achthundert«, fügte er wie der Platoon-Kommandant in einem amerikanischen Kriegsfilm hinzu. Dann war das Gespräch auch schon zu Ende.

»Ärger?« Eva blinzelte aus ihrem Kopfkissen.

Lerby zuckte nur mit den Schultern, doch etwas an Birgers Stimme hatte ihm nicht gefallen. Entweder ärgerte ihn die Sache mit dem Versetzungsgesuch noch ungleich mehr, als es zunächst den Anschein gehabt hatte.

Oder es gab ein echtes Problem.

Lerby duschte sich rasch und zog sich an. Gewöhnlich fuhr er umweltfreundlich mit dem S-tog zur Arbeit. Doch da es schnell gehen musste und am frühen Samstagmorgen mit keinem großen Verkehrsaufkommen zu rechnen war, nahm er den Renault Zoe, den sonst meist ihre Tochter Emma benutzte (sofern sie sich nicht von einem ihrer Verehrer chauffieren ließ). Vom Kopenhagener Vorort Lingby aus, wo Lerby wohnte, betrug die Fahrzeit über die Route 19 keine halbe Stunde, so dass er nicht erst zur verlangten Zeit, sondern sogar schon etwas früher am Banegårdspladsen eintraf. Birger Sørensen machte dennoch ein Gesicht, als hätte er sich hoffnungslos verspätet, und verstärkte damit den Eindruck, den Lerby schon vorhin am Telefon gehabt hatte.

Etwas stimmte nicht.

Und nicht etwa, weil sein Vorgesetzter ganz offenbar noch dieselben Klamotten wie am Vortag trug. Weil dessen Hemd und Krawatte zerknittert waren und sein schütteres Haar vom Kopf abstand wie die Federn des Gemeinen Wiedehopfs – vermutlich hatte er mal wieder hier in seinem Büro geschlafen, was häufiger vorkam, seit seine Frau ihn endgültig hinausgeworfen hatte. Da war noch etwas anderes, eine seltsame Nervosität, die von Sørensen Besitz ergriffen hatte. Seine Gesichtszüge waren feuerrot, und der gehetzte Ausdruck in seinen Augen legte nahe, dass dies nicht nur die Folge einer anstrengenden Nacht mit einer lebenslustigen Fitnesstrainerin war.

»Heute Morgen gegen vier Uhr dreißig«, begann er ohne jeden Gruß, nachdem Lerby sich gesetzt hatte, »wurde der Leichnam eines sechsundsiebzigjährigen Mannes aufgefunden. Es deutet alles darauf hin, dass er ermordet wurde.«

»Wo?«, wollte Lerby wissen.

»In Helsingør, in einem Kühlhaus der örtlichen Fischfabrik.«

Lerby hob fragend die Brauen. Helsingør befand sich etwa eine Autostunde nördlich von Kopenhagen, an der schmalsten Stelle des Øresund, und es gab dort eine eigene Polizeidienststelle, die für den Distrikt Nord zuständig war. Wenn der Fall also bei der Kopenhagener Mordkommission gelandet war, und das noch dazu so schnell, musste es eine besondere Bewandtnis damit haben, die vermutlich auch der Grund für Birger Sørensens Nervosität war.

»Bevor du etwas sagst, sieh dir das hier an«, sagte dieser und drehte den Bildschirm auf seinem Schreibtisch so, dass auch Lerby hineinschauen konnte.

Was er sah, schlug ihm auf den Magen. Und das nicht nur, weil es acht Uhr morgens war und er noch nichts gefrühstückt hatte. Der Anblick war grauenvoll.

Es war der Leichnam eines alten Mannes.

In einen dunklen Anzug gehüllt lag er auf dem Rücken, vermutlich so, wie man ihn aufgefunden hatte. Der Körper schien gefroren zu sein, die Haut hatte sich bläulich verfärbt und war von Reif überzogen. In der Kehle, die offenbar durchschnitten worden war, klaffte eine scheußliche Wunde, aber sie war nicht der wirkliche Grund, weshalb Lerbys Magen rebellierte. Sondern das Gesicht.

Wie eine ganze Reihe von Nahaufnahmen belegte, war es grausam entstellt worden. Statt der Augen waren da nur dunkle, schwarze Höhlen, die dem verstörten Betrachter entgegenblickten. Der Mund hingegen war mit wenigen Stichen und einem schwarzen Faden zugenäht worden, so als hätte der Täter sein Opfer selbst noch im Tod am Sprechen hindern wollen.

Lerby fluchte lautlos in sich hinein. Genau wegen dieser Art von Mist hatte er seine Versetzung beantragt.

»Da hat jemand offenbar eine Menge Wut im Bauch«, kommentierte er tonlos. »Der Tod allein genügte ihm offenbar nicht, der Täter wollte das Opfer auch noch zusätzlich bestrafen. Vielleicht war auch irgendein Ritus oder ein Fetisch im Spiel …« Er unterbrach sich, als er sah, dass Sørensen ihn prüfend ansah. »Was ist?«

»Ich will, dass du nach Helsingør fährst und dir die Sache ansiehst.«

»Warum ich? Ich werde die Mordkommission verlassen, wie du weißt. In zwei Wochen bin ich weg.«

»Aber noch bist du hier. Und ich will jemanden mit Erfahrung an der Sache dran haben.«

»Dann nimm doch Vigga, sie ist mindestens ebenso qualifiziert wie ich.«

»Ich will dich«, sagte Sørensen mit einer Endgültigkeit, die keinen weiteren Widerspruch zuließ. »Du wirst nach Helsingør fahren und den Kollegen vor Ort jede Unterstützung geben, die sie brauchen.«

Lerby sah seinen Vorgesetzten prüfend an. So lange, wie er ihn schon kannte, hatte er geglaubt, alle Nuancen in Birger Sørensens Mienenspiel genau zu kennen. Doch in diesem Moment war er sich nicht sicher, was sich hinter den rundlichen und noch immer ein wenig geröteten Gesichtszügen abspielte. Ging es wirklich nur darum, den Kollegen vor Ort Amtshilfe zu leisten? Oder wollte der gute Birger ihm zum Abschied noch einmal eine wirklich harte Nuss zu knacken geben?

»Verstanden«, sagte er nur. »Welche Informationen liegen bislang über das Opfer vor?«

Sørensen drehte den Bildschirm wieder zu sich herum, setzte seine Lesebrille auf und klapperte mit dicken roten Fingern über die Tastatur. »Alfred Vestergaard, wohnhaft in Helsingør«, las er dann vor. »Geboren am 28. April 1947, verwitwet. Keine Kinder und offenbar auch sonst keine Verwandten. Bei der Polizei ist er ein unbeschriebenes Blatt, nicht mal ein Strafzettel wegen Falschparkens.« Er schob sich die Brille auf die breite Stirn und wandte sich wieder Lerby zu. »Der Fall gehört dir.«

»Danke«, entgegnete Lerby und schnitt eine Grimasse.

»Nichts zu danken. Die Kollegen in Helsingør erwarten dich bereits, dein Kontaktmann bei der Kriminalpolizei ist ein gewisser Hauptkommissar Moller.«

»Verstanden.«

Sørensen grinste breit. »Am besten, du rufst gleich Eva an und sagst ihr, dass es ein arbeitsreiches Wochenende wird …«

6

»Und jetzt wollen Sie Ihr Geld zurück?«

Von ihrem Platz hinter dem Empfangstisch aus, auf dem sie ein halbes Dutzend Prospekte und Flyer ausgebreitet hatte, schickte Pally Donald Greene einen fragenden Blick.

»Verdammt richtig.« Der US-Amerikaner und seine Frau Trish, die Pally am Tisch gegenübersaßen, nickten grimmig. Mit einem dicken kurzen Finger deutete er auf einen der Prospekte. »Hier steht ausdrücklich, dass man auf der Tour von einem ortskundigen Jäger begleitet wird.«

»Das ist richtig«, räumte Pally ein. »Nuka Lynge ist einer von Illokarfiqs besten und erfahrensten Jägern, er …«

»Miss«, fiel Greene ihr ins Wort, wobei er seinen breiten, bereits haarlosen Schädel drohend vorschob, »glauben Sie, ich weiß nicht, was hier gespielt wird? Der alte Donald merkt verdammt genau, wann er übers Ohr gehauen wird, und im Augenblick ist es gerade so weit.«

»Inwiefern?«, fragte Pally verständnislos. »Ich fürchte, ich verstehe nicht …«

»Dann will ich Ihnen ein Geheimnis verraten.« Das bärtige Gesicht dehnte sich zu einem Grinsen. »Ihr ach so erfahrener Jäger arbeitet auf dem örtlichen Postamt!«

»Leugnen Sie es erst gar nicht«, fügte Donalds Ehefrau in scharfem Tonfall hinzu. In ihrem schneeweißen Overall und mit dem auffälligen Goldschmuck hätte sie eher in ein Fünf-Sterne-Ressort in Aspen gepasst als in das schlicht möblierte Tourist Office von Illokarfiq. »Ich habe Nuka Lynge dort heute Morgen hinter dem Schalter gesehen!«

»Nun … natürlich«, räumte Pally bereitwillig ein. »Seit die kommerzielle Robbenjagd verboten wurde, gibt es in Grönland kaum noch professionelle Jäger. Ich habe auch nie behauptet, dass Nuka beruflich auf Robbenjagd geht.«

»Also haben wir zweihundert Dollar bezahlt, um mit einem Amateur auf die Pirsch zu gehen«, fiel Greene ihr ins Wort. »Kein Wunder, dass wir nichts gefangen haben. Ich verlange mein Geld zurück.«

»Das ist unser gutes Recht«, fügte Trish hinzu, auf die AGBs deutend, die auf dem Flyer zusammengefasst waren. »Hier steht’s ausdrücklich.«

Pally merkte, wie sie von Unmut ergriffen wurde. Dennoch griff sie geduldig nach dem Flyer und las sich die entsprechende Passage noch einmal durch.

»Tut mir leid, aber hier steht nichts darüber, dass sie von einem Berufsjäger begleitet werden. Lediglich von einem erfahrenen und ortskundigen Jäger ist die Rede. Und beides trifft auf Nuka zu.«

»Ist das so?« Greene blies die bärtigen Backen auf. »Dann sagen Sie mir doch mal, Schätzchen, wieso wir den ganzen Tag über nicht ein einziges Tier zu sehen bekommen haben. Wenn Sie mich fragen, weiß der Kerl nicht, ob er sich die Uhr kratzen oder sich den Hintern aufziehen soll. Wie soll er da eine Robbe von einem Stück Treibeis unterscheiden?«

Trish lachte albern, zur sichtlichen Freude ihres Gatten.

»Aber Sir«, wandte Pally ein, nun schon etwas bestimmter, »soweit ich weiß, ist es am späteren Nachmittag doch zu einer Sichtung gekommen.«

»Allerdings.« Greene schnaubte. »Kurz vor Ende der Tour. Und als es endlich so weit war, verbot mir dieser alberne Kerl doch tatsächlich zu schießen. Er hat mir das Gewehr förmlich aus der Hand gerissen!«

»Das war ein tätlicher Angriff«, fügte Trish hinzu.

»Und es war sein Gewehr«, merkte Pally an.

»Was macht denn das für einen Unterschied?«, blaffte Greene. »Zu Hause in den Staaten habe ich einen ganzen Schrank voller Schusswaffen, und ich trainiere zweimal die Woche mit ihnen, also werde ich doch wohl in der Lage sein …«

»Darum geht es nicht«, unterbrach ihn Pally. Sie atmete tief ein und aus und zwang sich zur Ruhe. »Hören Sie«, startete sie dann einen Versuch zur Erklärung, »ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können, aber für Leute wie Nuka Lynge ist die Jagd kein Freizeitspaß, sondern etwas, das sie von ihren Vätern erlernt haben, die es wiederum von ihren Vätern lernten. Es ist ein Lebensgefühl, eine uralte Tradition, weitergegeben von einer Generation zur anderen. Und sie töten auch nicht, weil sie Spaß daran haben oder ihnen mal eben danach ist, sondern weil sie das Fleisch der Robbe essen wollen, und ihr Fell und ihre Knochen verwerten, um Kleidung und Werkzeuge daraus zu fertigen, so wie es schon ihre Ahnen …«

Sie verstummte, als sie das Unverständnis in den Mienen der beiden Amerikaner sah.

»Was soll das?«, fragte Greene sichtlich unbeeindruckt. »Versuchen Sie jetzt, uns irgendwelches Schamanen-Zeug zu erzählen? Von Ahnen, die vom Himmel zusehen? Wissen Sie was, Miss? Behalten Sie den ganzen woken Folkloremist für sich und geben Sie uns einfach unsere zweihundert Dollar wieder.«

Aus seiner feisten, bärtigen Miene blickte er sie verkniffen an. Neben ihm seine Frau, weniger bärtig, aber ebenso feist und verkniffen.

Pallys Pulsschlag hatte sich beschleunigt. Ihre Hände bebten leicht, Schweiß war ihr auf die Stirn getreten, obwohl die Heizung in der Baracke ausgefallen war.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie geschwiegen. Sich in offenem Streit auseinanderzusetzen war nichts, das den Inuit in die Wiege gelegt war. Das Land, in dem sie Jahrtausende lang gelebt hatten, war stets groß genug gewesen, um einander aus dem Weg zu gehen. Doch dann waren Fremde gekommen, Menschen wie Donald und Trish Greene. Und mit ihnen auch die Notwendigkeit, sich zu behaupten.

In einem jähen Entschluss hieb sie mit den Händen auf die Tischplatte, erhob sich dann und trat an den kleinen Tresor an der Rückwand des Büros, öffnete ihn und nahm zwei Hundertdollarscheine heraus. Die offizielle Währung Grönlands war die Dänische Krone, aber es kam immer wieder vor, dass Touristen lieber in Dollar oder Euro bezahlten, daher hatte sie immer ein paar Scheine im Safe. Mit den beiden Banknoten in der Hand wandte sie sich wieder zu den Greenes um, dabei ein dünnes Lächeln im Gesicht.

»Na also«, meinte Donald sichtlich zufrieden. »Das ist genau das, wovon ich rede. Siehst du?«, wandte er sich an seine Frau. »Ich hab’s dir doch gesagt, man muss diesen Einheimischen nur zeigen, wo es langgeht.«

»Kein Problem, Sir«, meinte Pally freundlich und setzte sich wieder. »Nur noch eine Kleinigkeit, wenn Sie gestatten. In Wahrheit sind Sie nicht hier, weil Nuka kein Berufsjäger ist oder weil sie eine Weile warten mussten, bis sie da draußen auf dem Fjord eine Robbe zu sehen bekommen haben, nicht wahr? Sie wollen Ihr Geld nur aus einem einzigen Grund zurück: weil Nuka Sie nicht hat schießen lassen. Weder wollten Sie das Fleisch dieser Robbe noch wollten Sie ihr Fell, sondern es ging Ihnen lediglich darum zu töten. Und ich frage mich, was für ein erbärmlicher kleiner Kerl sich hinter diesem Ungetüm von Bart verstecken muss, dass er so etwas nötig hat, um sich wie ein Mann zu fühlen.«

Donald Greenes rundes Gesicht war rot geworden, sein Mund war weit offen. Aber er war zu perplex, um etwas zu erwidern, ganz zu schweigen von seiner Gattin, unter deren blonder Mähne Funkstille zu herrschen schien.

»Im Prospekt stand nichts davon, dass sie auf ein Tier schießen oder es gar töten dürfen«, fuhr Pally fort, während sie ihm die beiden Scheine hinlegte, »dennoch bekommen Sie jetzt Ihr Geld zurück, weil ich inständig hoffe, dass Sie es nehmen, dieses Büro, diesen Ort und am besten dieses Land verlassen und niemals wiederkehren werden. Und Ihre Frau«, fügte sie mit einem bedeutsamen Blick in Trishs Richtung hinzu, »tut mir offengestanden leid. Denn ich denke, wir wissen alle, was Sie mit all Ihren Waffen und den Schießeisen zu kompensieren versuchen.«

Noch eine endlos scheinende Sekunde lang saßen die Greenes wie angewurzelt. Dann schossen sie von ihren Sitzen hoch und verließen unter einer wüsten Tirade das Büro – natürlich nicht, ohne sich vorher noch die zweihundert Dollar unter den Nagel gerissen zu haben. Pally atmete auf, als die gläserne Tür hinter ihnen ins Schloss fiel.

Sie stellte fest, dass sie vor Aufregung am ganzen Körper zitterte und ging nach hinten in die kleine Küche, um sich eine Tasse Tee zu machen – als das über dem Eingang angebrachte Glöckchen schon wieder bimmelte. Pally seufzte tief und verdrehte die Augen. »Hören Sie«, sagte sie auf dem Weg zurück in den Empfangsraum, »wenn Sie sich offiziell beschweren möchten, dann steht Ihnen das …«

Sie brach ab, denn anders als befürchtet waren es nicht die Greenes, sondern ein gutaussehender junger Mann in der dunkelblauen Uniform der örtlichen Polizei.

»Polizeimeister Keldsen!«, rief Pally aus. »Was für eine Überraschung!«

»Polizeiobermeister Keldsen«, verbesserte er mit einem Grinsen und nahm einen Schluck aus dem dampfenden Pappbecher, den er in der Hand hielt. »Ich bin schließlich letzten Monat befördert worden.«

»Dass ich das doch immer wieder vergesse.« Sie kam um den Empfangstisch herum und trat auf ihn zu. »Habe ich dir überhaupt schon gratuliert?«

»Wenn du so fragst – ich denke nicht.«

Daraufhin trat sie zu ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund. Daavi Keldsen erwiderte die spontane Zärtlichkeit, doch nach dem guten Jahr, das sie nun zusammen waren, kannte er sie auch gut genug, um zu merken, wenn etwas nicht stimmte.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ja, alles okay.« Sie grinste freudlos. »Ich bin nur froh, dass ich nicht wie du im Dienst eine Waffe trage. Sonst gäbe es jetzt wahrscheinlich zwei Tote zu beklagen.«

»Wirklich?« Ein wenig betroffen blickte Keldsen auf die Heckler & Koch USP, die im Holster an seinem Gürtel steckte.

»Nur ein Scherz«, beteuerte Pally.

»Ich weiß, aber darüber macht man eigentlich keine Scherze«, meinte er und nahm einen weiteren Schluck Kaffee aus dem Becher. »Sprichst du von dem amerikanischen Pärchen, das ich gerade noch habe davongehen sehen? Waren die beiden so schlimm?«

»Schlimmer«, beteuerte Pally und machte eine resignierende Geste, die das ganze Büro einschloss. »Ich fürchte, ich bin für diesen Job einfach nicht geeignet.«

»Das bezweifle ich.«

»Dann solltest du die Greenes fragen. Ich habe ihnen geraten, sich gefälligst vom Acker zu machen und möglichst niemals wiederzukommen.«

»Hm«, machte er und sah sie aus seinen dunklen Augen an. »Wenn sie dich geärgert haben, ist das auch besser so. Außerdem, jemand muss den Job hier ja machen, nachdem dein Vorgänger im Amt des Tourismusbüroleiters ins Gefängnis gewandert ist.«

»Und das muss ausgerechnet ich sein?« Pally kehrte auf ihre Seite des Tisches zurück und ließ sich müde in den Stuhl fallen. »Ich habe doch nun wirklich schon genug um die Ohren.«

Keldsen sah Pally an und begriff, dass die beiden bornierten Touristen nicht der eigentliche Grund für ihre Niedergeschlagenheit waren.

»Wie geht ihm?«, fragte er sanft.

»Wenn ich das wüsste.« Sie zuckte mit den Schultern. »Er schläft viel, und er scheint unentwegt zu träumen, wirres Zeug. Manchmal ist er ganz klar, und alles ist wie früher, und dann wieder ist er kaum ansprechbar.«

»Dein Großvater macht eine Krise durch«, war Keldsen überzeugt. »Vielen von uns geht das so in den Wochen vor dem Winter. Das letzte Schiff hat den Hafen verlassen. Das Wissen, auf sich gestellt zu sein, setzt den Leuten zu.«

»Manchen Leuten vielleicht, aber doch nicht dem alten Magnus«, wandte Pally ein. »Als Junge hat er noch miterlebt, wie sich die ganze Sippe in einem winzigen Erdhaus zusammendrängte und den Gesängen der Alten lauschte, während draußen der Schnee fiel und der Wind heulte.«

»Zugegeben.« Keldsen nickte.

»Ich habe Angst, Daavi. Zum allerersten Mal mache ich mir wirkliche Sorgen um ihn. Wenn er aufwacht, erzählt er immer dieselben Dinge … irgendwas von zwei Jungen und von Seelen, die im Eis verloren gegangen sind. Und er sagt immerzu, dass etwas geschehen werde.«

»Du meinst … er sieht diese Dinge?«

Pally konnte die Furcht hören, die in Daavis Frage mitschwang. Anders als sie war er Grönländer durch und durch. Die alten Gebräuche und Traditionen, vor allem aber die Geschichten, die man ihm als kleinem Jungen erzählt hatte, wirkten bei ihm noch ungleich stärker fort.

»Ich weiß, was du denkst«, versicherte sie, »aber das sind keine Visionen, okay? Sein Herz ist schwach, Daavi, und sein Gehirn bekommt mitunter zu wenig Blut, das hat Dr. Abelsen deutlich gesagt. Wenn Großvater nicht bald operiert wird, dann wird er wohl daran sterben.«

Daavi Keldsen senkte den Blick. »Vielleicht«, sagte er leise, »ist das ja sein Weg.«

»Ja, vielleicht«, räumte Pally ein. »Wenn er diesen Weg gehen will, muss ich das wohl akzeptieren. Ich weiß nur nicht, welchen Pfad ich dann einschlagen soll. Ich meine, es gab eine Zeit, da wollte ich seine Nachfolgerin als angakkoq werden, aber es gibt noch so viel, das ich nicht weiß. Und ich habe Zweifel, Daavi«, fügte sie leise hinzu und sah ihn mit ihren geröteten Augen an. »Große Zweifel sogar.«

»Das tut mir leid«, versicherte er, und man konnte ihm ansehen, wie ernst es ihm in diesem Moment war. »Die Sache ist nur … ich muss zurück auf die Wache und Marie Lynge ablösen. Sie will nach Hause zu ihrem Jungen, und ich muss unbedingt pünktlich sein.«

»Natürlich.« Pally lächelte tapfer. »Sag ihr liebe Grüße von mir – und dass ihr Mann für mich ein echter Held ist.«

»Äh – was?«

»Sag es ihr einfach. Er wird es verstehen.«

»Okay.« Die Zeit drängte, dennoch konnte Keldsen sich nicht überwinden zu gehen. »Pally, ich …«

»Ich bin okay, keine Sorge«, versicherte sie. »Wir sehen uns heute Abend.«

Er nickte und lächelte ihr zu, dann beförderte er mit einem gekonnten Wurf den leeren Becher in den Papierkorb neben dem Eingang und verließ das Büro, von Glöckchenklang begleitet.

Durch die gläserne Tür sah Pally ihm nach und fühlte sich seltsam dabei.

Manchmal wünschte sie sich beinahe, es wäre noch wie früher gewesen, dass sie mit ihren Liebsten eng aneinandergedrängt in einer schützenden Behausung saß, während draußen der Sturm heulte. Zumindest, sagte sie sich, war man damals nicht allein gewesen, wenn man Angst hatte.

7

Gegen 10 Uhr morgens kam Lerby bei der Kühlhalle an, die sich unweit des Nordhafens von Helsingør befand – nur um festzustellen, dass die Kollegen ihre Arbeit vor Ort bereits weitgehend beendet hatten. Die Beweisaufnahme war so gut wie abgeschlossen, der Leichnam von Alfred Vestergaard bereits abtransportiert und der gerichtsmedizinischen Untersuchung überstellt worden.

Lerby unterhielt sich mit der Beamtin vor Ort, einer jungen Polizeiobermeisterin, die zusammen mit einem Kollegen mit den Aufräumarbeiten beschäftigt war. Von ihr erfuhr er, dass ein gewisser Khalid Lazrad die Polizei alarmiert hatte, ein marokkanischer Gastarbeiter, der im Kühlhaus jobbte und im Zuge seines frühmorgendlichen Rundgangs auf den grausigen Fund gestoßen war. Da er sichtlich unter Schock gestanden hatte, sei Lazrad nach einer ersten kurzen Vernehmung ins örtliche Krankenhaus gebracht worden. Der in der Sache ermittelnde Beamte sei Politikommissær Pitter Moller, der Lerby auch als Kontakt bei den örtlichen Behörden genannt worden sei.

Lerby machte für seine eigenen Zwecke ein paar Aufnahmen des Tatorts mit dem Handy, dann fuhr er zum Prøvestensvej, wo die Polizeiwache von Helsingør in einem dreistöckigen Flachbau mit gläsernem Portal untergebracht war. Lerby stellte den Dienstwagen, einen zivilen Volvo V90 auf dem Parkplatz ab, ließ an der Pforte seinen Ausweis sehen und verlangte Kommissar Moller zu sprechen.

Er brauchte nicht lange zu warten.

Moller war ein jovial wirkender, sportlicher Typ Ende dreißig, der ziemlich erleichtert darüber zu sein schien, dass ihm ein erfahrener Beamter bei den Ermittlungen zur Seite gestellt wurde. Da Lerbys Karriere nach der Beförderung zum Politikommissær aufgrund wiederholter Insubordinationen eine längere Flaute durchlitten hatte, bekleideten beide trotz der Altersdifferenz denselben Rang; in ihrem Auftreten unterschieden sie sich allerdings beträchtlich, denn während Moller einen blauen Anzug trug, wenn auch ohne Krawatte, bot Lerby in Jeans und schwarzlederner Fliegerjacke ein eher saloppes Erscheinungsbild.