DER MORD IM SCHLAFWAGEN - Bryan Edgar Wallace - E-Book

DER MORD IM SCHLAFWAGEN E-Book

Bryan Edgar Wallace

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Beschreibung

Jules Rabout ist ein junger Student in Paris. Durch Zufall erfährt er von dem geplanten Attentat auf einen prominenten französischen Politiker. Jules Rabout will mit der Eisenbahnfähre nach London fliehen, um den englischen Geheimdienst zu informieren. Aber er kommt als toter Mann dort an: Ein Schaffner findet ihn im Schlafwagenabteil – erstochen! Kriminalinspektor Guy Stone sucht den Mörder unter 433 Passagieren... Bryan Edgar Wallace (* 28. April 1904 in London; † 1971), der Sohn des legendären Schriftstellers Edgar Wallace, wurde in Deutschland insbesondere durch die Verfilmung seiner Romane in den 1960er Jahren bekannt. Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

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BRYAN EDGAR WALLACE

 

 

DER MORD

IM SCHLAFWAGEN

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

Signum-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Der Autor 

Das Buch 

DER MORD IM SCHLAFWAGEN 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Impressum

 

Copyright © by Bryan Edgar Wallace/Signum-Verlag.

Published by arrangement with the Estate of Bryan Edgar Wallace.

Lektorat: Dr. Birgit Rehberg.

Übersetzung: Alexandra und Gerhard Baumrucker und Christian Dörge.

Originaltitel: Murder On The Night Ferry.

Umschlag: Copyright © by Christian Dörge.

 

Verlag:

Signum-Verlag

Winthirstraße 11

80639 München

www.signum-literatur.com

Der Autor

 

Bryan Edgar Wallace.

(* 28. April 1904 in London; † 1971).

 

Bryan Edgar Wallace - auch Edgar Wallace jr. - war ein englischer Kriminalschriftsteller und Drehbuchautor. Er war zudem der Sohn des erfolgreichen Schriftstellers Edgar Wallace.

Bryan Edgar Wallace wurde im April 1904 als Sohn des britischen Schriftstellers Edgar Wallace und dessen erster Frau Ivy Wallace, geborene Caldecott, geboren. Wallace benannte ihn nach dem amerikanischen Senator William Jennings Bryan, mit dem er befreundet war. Bryan Edgar ging auf die Oundle School und später auf das Emanuelle College in Cambridge, anschließend war er Offizier der britischen Armee. Nach seiner Militärzeit arbeitete er als Drehbuchautor bei British Lion, der Gaumont British Picture Corporation, Twentieth Century Fox und anderen Filmgesellschaften, bevor er für zwölf Jahre als Sekretär in der britischen Botschaft in Madrid arbeitete.

Bryan Edgar heiratete 1934 die Biographin seines Vaters, Margaret Lane, die Ehe wurde jedoch bereits 1939 wieder geschieden. 1940 heiratete er Wylodine van Dyke Jones aus Columbus in Ohio. Gemeinsam mit seiner Frau verbrachte er seinen Lebensabend auf dem Schloss Champigny in Champigny-sur-Veude bei Tours an der Loire in Frankreich.

Die Kriminalromane von Bryan Edgar Wallace wurden stark von denen seines Vaters beeinflusst, handelten jedoch vor allem von Agenten und Weltbeherrschungsplänen. Die Berühmtheit seines Vaters konnte er nicht erreichen.

Neben diesen eigenen Romanen schrieb Wallace Drehbücher nach verschiedenen Romanen seines Vaters, darunter The Flying Squad (1932), The Frightened Lady (1932), Whiteface (1932), Strangers on a Honeymoon (1936), The Squeaker (1937) und The Mind of Mr. Reeder (1939). 

Nach einem Treffen mit den Filmproduzenten Artur Brauner wurden einige der Romane von Bryan Edgar Wallace im Rahmen des durch Constantin Film und Rialto Film ausgelösten Edgar-Wallace-Booms durch Filme in den 1960er- und 1970er-Jahren verfilmt. Dabei wurde teilweise nur sein Name genutzt und nur ein geringer Teil der Verfilmungen wurde nach seinen Romanen verfilmt; daneben wurden völlig neue, Edgar-Wallace-ähnliche Stoffe erdacht.

Zu den bekanntesten Bryan-Edgar-Wallace-Filmen gehören Der Würger von Schloss Blackmoor (1963), Scotland Yard jagt Dr. Mabuse (1963), Der Henker von London (1963) und Das siebente Opfer (1964). 

 

Das Buch

 

 

Jules Rabout ist ein junger Student in Paris. Durch Zufall erfährt er von dem geplanten Attentat auf einen prominenten französischen Politiker.

Jules Rabout will mit der Eisenbahnfähre nach London fliehen, um den englischen Geheimdienst zu informieren. Aber er kommt als toter Mann dort an: Ein Schaffner findet ihn im Schlafwagenabteil – erstochen!

Kriminalinspektor Guy Stone sucht den Mörder unter 433 Passagieren...

 

Bryan Edgar Wallace (* 28. April 1904 in London; † 1971), der Sohn des legendären Schriftstellers Edgar Wallace, wurde in Deutschland insbesondere durch die Verfilmung seiner Romane in den 1960er Jahren bekannt.

Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.

 

  DER MORD IM SCHLAFWAGEN

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Als Jules Rabout in Richtung Châtelet den Boulevard de Sébastopol hinunterging, krampfte sich sein Magen vor Angst zusammen. Jules hatte sich einzureden versucht, es sei eine Verdauungsstörung, aber es war sinnlos, sich etwas vorzugaukeln; er wusste, dass es Angst war.

Er war ein gutaussehender, junger Mann, etwa zwanzig Jahre alt, mit langem, magerem Gesicht und vorspringender Nase; aber er trug einen schmalen Schnurrbart, der verlieh ihm ein Air falscher Blasiertheit. Man sah ihm an, was er war - nämlich ein Student.

Seine Gedanken waren trüb und verwirrt. Alles hatte anfangs so großartig gewirkt, doch allmählich hatte sich die ganze Romantik verflüchtigt, und zurückgeblieben war nur die Angst. Als der Mann ihn in dem Café angesprochen hatte, da hatte alles so leicht ausgesehen, und das, was der Mann von ihm verlangt hatte, einfach; und ohne viel zu überlegen, hatte er sich dazu bereit erklärt. Erst später, beim zweiten Zusammentreffen, hatte er erkannt, dass weit mehr hinter der Angelegenheit steckte, als es zunächst den Anschein gehabt hatte, aber aus irgendeinem Grunde hatte sich ihm nie die Gelegenheit zu einem geschickten Rückzieher geboten. Dann jedoch hatte sich die Indiskretion ereignet, und von da an war er von seiner eigenen Neugier und Erregung gefesselt worden.

Wie der Mann geredet hatte! Und zu vieles Reden hatte zu seiner Indiskretion geführt. Damals hatte Rabout geglaubt, aus den Worten des Mannes kristallklare Folgerungen ziehen zu können, doch nun, nach Ablauf einiger Zeit, war er sich nicht mehr sicher. Er hatte den Mann noch einmal gesehen, aber es war zu keinen weiteren Indiskretionen gekommen, und er hatte nicht gewagt, die Sache von sich aus zur Sprache zu bringen.

Wenn Rabout nicht so unbesonnen gewesen wäre, hätte er sich vielleicht nicht in dieser Lage befunden. Es war ein schwerer Fehler gewesen, Hals über Kopf zu dem Engländer zu eilen. Wenn er nur gewartet hätte, bis sich die erste Aufregung gelegt hatte! Aber das Gefühl, sich als Mitwisser eines Staatsgeheimnisses vorzukommen, war zu überwältigend gewesen. Warum hatte er dem Engländer nicht gleich alles erzählt? Warum hatte er sich darauf kapriziert, nach London zu fahren und erst dort zu sprechen? Er lächelte verlegen vor sich hin. Er kannte die Antwort sehr wohl: Weil er es nicht fertiggebracht hatte, die Initiative weiterzureichen und aus dem Spiel auszusteigen.

Doch seither hatte das erregende Gefühl der Verschwörung nachgelassen, und die bedenklichen Seiten seines Tuns hatten sich in den Vordergrund geschoben. Wenn er falsch geraten hatte, setzte er sich der Lächerlichkeit aus. Wenn er richtig geraten hatte, spielte er mit seinem Leben. Im Weitergehen rief er sich das Gespräch Wort für Wort ins Gedächtnis zurück. Er war sogar imstande, sich an alle dieses Gespräch begleitenden Gefühle und Gesichtsausdrücke zu erinnern. Nein, er hatte bestimmt recht: Es konnte keine andere Auslegung dessen geben, was der Mann geäußert hatte.

Vielleicht hätte er besser daran getan, sich mit seinen Freunden zu beraten oder sich zumindest Olive offener anzuvertrauen, aber er hatte den Reiz des Ränkespiels allein auskosten wollen, und nachdem er die Fahrkarte für den Nachtexpress gekauft hatte, wären Erklärungen zu umständlich gewesen.

Er wurde von einer Verkehrsampel aufgehalten und stand in Gedanken versunken da. Der Nachteil war, dass sein Problem eigentlich aus zwei Problemen bestand, die auf irgendeine mysteriöse Art verquickt worden waren. Da war jener Abend im Café de Dôme gewesen, zwei Monate bevor er diesem Mann begegnet war, als er und seine Freunde auf die Idee kamen, eine kleine Demonstration samt Umzug zu veranstalten. Olive war dabei gewesen und der Rest der Bande. Es war einer jener Abende gewesen, da alles perfekt zu sein schien, da man nur zuzugreifen brauchte, um sich das von der Welt zu nehmen, was man wollte, und da große Ideen und auch sehr dumme geboren werden. Das mit der Demonstration hatte mehr oder minder als Jux angefangen. Sam hatte sein Glas erhoben und gerufen: »jawohl! Wir werden demonstrieren!« Und Olive, die liebe, kleine, praktisch veranlagte Olive hatte gefragt: »Aber wofür eigentlich?« Schließlich hatte Hans, ein Student aus Kiel, mit seiner kehligen Stimme gesagt: »Für Europa! Für ein freies, geeintes Europa!« Rabout entsann sich nicht mehr, wer vorgeschlagen hatte, am 4. Juli zu demonstrieren, aber er wusste noch, dass er gesagt hatte: »Vereinigte Staaten - Vereinigtes Europa!« Es hatte sehr tiefsinnig geklungen.

So einfach war das gewesen, und als Sam ein paar Tage später zu ihm gestürzt kam und meldete, der Plan finde allenthalben begeisterten Anklang, hatte er sich erst mühsam besinnen müssen, wovon die Rede war. Dann stellten sich Komplikationen ein, und plötzlich war die Idee nicht mehr harmlos und lustig, sie war tödlich ernst und ein wenig bedrohlich. Er wusste nicht, wie das geschehen war, aber anscheinend hatte sich eine winzige Minderheit in den Sattel geschwungen und dirigierte die ganze Sache, und er und seine Freunde aus dem Dôme sahen sich bald hinausgedrängt. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt wurde ihm klar, dass jemand das Vorhaben finanzierte; wer es war, oder woher die Mittel kamen, wusste er nicht, aber unter dem Einfluss des Geldes wandelte sich die ursprünglich harmlose Idee der Demonstration und nahm ungeahnte Ausmaße an, und nun sollte auch noch in London demonstriert werden.

Dann, etwa zwei Monate danach, war er bei einem Glas auf der Terrasse des Cafés Magot Renversé gesessen, als sich jener fremde Amerikaner einen Stuhl herangezogen und an seinem Tisch Platz genommen hatte.

Ohne Umschweife hatte er gesagt: »Wie ich höre, organisieren Sie diese Demonstrationen.«

»Einige meiner Freunde befassen sich damit. Warum fragen Sie?«, hatte er kühl entgegnet, aber die Frage blieb unbeantwortet.

Hatte der Mann etwas mit dem Geld zu tun, das hereinströmte? Er hatte ihn gefragt, aber Rabout hatte aus dem Wortschwall nur entnommen, dass der Mann sich für alles interessierte, was mit der Jugend zusammenhing. Trotz Rabouts Zweifel hatte der Mann fortwährend behauptet, die Demonstrationen würden ein immenser Erfolg sein, und als Rabout sich skeptisch geäußert hatte, lediglich gesagt: »Abwarten.«

Dann war ihm die Indiskretion unterlaufen. Eine indirekte Bemerkung, aber die Bedeutung war klar: Bevor die Demonstration stattfand, würde Henri Evraines etwas zustoßen. Das war’s, was er dem Engländer nicht mitgeteilt hatte. Das war’s, was er, Rabout, in London erzählen wollte. Das war der Grund, weshalb er überhaupt hinfuhr.

Das Licht an der Ecke der Rue Rivoli wechselte, und er ging langsam zur Metrostation Châtelet hinüber. Als er die Fahrkarte kaufte, blickte sich Rabout mit betonter Unauffälligkeit um, die indes niemanden getäuscht hätte. Es war die Synthese aller Spionagegeschichten, die er je gelesen hatte, und wenn es nicht tragisch gewesen wäre, dann wäre es komisch gewesen.

Doch Jules Rabout hatte Recht. Sein Pech war, dass er versuchte, etwas abzuwenden, das letzten Endes unabwendbar war.

 

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Zehn Minuten nach neun Uhr abends trafen vor dem Gare du Nord vier Personen ein. Auf jedem einzelnen ihrer Gepäckstücke klebte das ovale, gelb-blaue Etikett des Nachtfährzugs nach London.

Da war zunächst ein hochgewachsenes blondes Mädchen von ungefähr sechsundzwanzig Jahren. Sie trug ein raffiniert einfach geschnittenes, dunkelblaues Kleid, darüber einen leuchtend roten Mantel, und auf ihrem glatten blonden Haar saß keck ein rotes Hütchen. Dieser lustige, auffallende kleine Hut und die zurückhaltende Schlichtheit des blauen Kleides stellten gewissermaßen Symbole für die Doppelpersönlichkeit von Connie McNair dar. Sie lachte, als sie aus dem Taxi stieg, und sie drehte sich um und sagte etwas, das im Wageninneren Lachstürme hervorrief. Das war die Connie, wie sie die meisten Leute kannten, aber erst, als sie sich umdrehte und die anderen ihr Gesicht nicht sehen konnten, wurde die andere Connie sichtbar: ernst, in sich gekehrt und auf undefinierbare Weise beklommen. Sie blickte rasch den Gehsteig hinauf und hinab, als erwarte sie, jemand zu sehen, und war offenbar erleichtert, als sie keinen Bekannten entdeckte.

Sie war nicht ausgesprochen schön; sie war etwas zu groß; sie hatte klare, weit auseinanderstehende blaue Augen über hohen Backenknochen - ein Erbe ihrer schwedischen Großmutter einen humorvollen Mund und ein kleines festes Kinn. Sie war von jener Art Mädchen, die man sofort kennenlernen möchte, und erst bedeutend später erkannte so mancher Mann, dass er sich überraschenderweise in sie verliebt hatte.

Die zweite Person, die aus dem Taxi stieg, war eine junge Französin von etwa zweiundzwanzig Jahren. Sie hatte kohlschwarzes, unfrisiertes Haar und ein spitzes, ausdrucksvolles Gamingesicht. Man merkte ihr das ungezügelte Naturell und den Ehrgeiz an. Sie hieß Dinah Loutaine, und es gab nur eines auf der Welt, das sie interessierte - nämlich Dinah Loutaine.

Der dritte Reisende war Jim Craddock, ein hochgewachsener Amerikaner, etwa zweiunddreißig Jahre alt, und trotz des Lächelns, das sich beim Aussteigen auf seinem Gesicht breitmachte, wirkte er innerlich gespannt und reserviert. Wie Connie McNair einmal gesagt hatte, schien er manchmal das Leben von irgendeiner entfernten und privilegierten Tribüne aus zu beobachten. Er trug einen leichten Überzieher und einen grünen Tiroler-Hut mit silberner Schnalle in Gestalt einer Gämse. Der Hut sah an ihm absonderlich und unpassend aus und vertrug sich schlecht mit seinem ehrpusseligen dunkelroten Querbinder.

Für Zufallsbekanntschaften war Jim Craddock lediglich der legere, freundliche Amerikaner, und erst später kamen sie gelegentlich dahinter, dass er nicht ganz so simpel war. Seine englische Mutter hatte sich von seinem amerikanischen Vater scheiden lassen, als Craddock zehn Jahre alt gewesen war, und die Folgeerscheinungen hatten sein ganzes Leben überschattet. In seinem Gemüt brodelte eine Masse von Gegensätzlichkeiten, die niemandem, am allerwenigsten Jim Craddock selbst, zu entwirren gelungen war.

Das letzte Mitglied der Reisegesellschaft war Nigel Vannart, ein Engländer; er nahm wenig ernst, außer seinen eigenen Interessen, und manchmal sogar auch die nicht.

»Also, da wären wir alle - so bald, dass wir noch den gestrigen Zug erreichen könnten«, spöttelte Vannart.

»Du sollst dich über Jim nicht lustig machen, Nigel«, sagte Connie. »Wir kommen nicht alle gern erst in letzter Minute an wie du.«

»Aber fünfzig Minuten zu früh - also, noch eine halbe Stunde, und ich wäre zu Fuß in London.«

»Ach, sei doch still«, gebot Dinah mit ihrem weichen französischen Akzent.

Nigel Vannart blickte sie liebevoll an.

»Wie du wünschst«, entgegnete er, und Dinah warf ihm einen Blick zu, der alles andere als liebevoll war.

»Hat jeder sein Gepäck?«, erkundigte sich Jim Craddock.

»Mein Hutkoffer!« schrie die Französin.

»Sag bloß nicht, du hast ihn vergessen!«, rief Connie verärgert.

Die Französin presste die Lippen aufeinander. Es war klar, dass zwischen den beiden nicht eitel Wohlwollen herrschte.

»Simsalabim!« Nigel brachte schwungvoll die Hutschachtel hinter einem Reisekoffer zum Vorschein.

»Du hast ihn versteckt!« beschwerte sich Dinah.

Der dicke kleine Engländer grinste selbstgefällig.

»Nigel, musst du dauernd den Clown spielen?«, rügte Jim Craddock.

»Verzeihung, ich will mich bessern«, versprach Nigel grinsend. Er wandte sich nach einem Gepäckträger um, »Garçon!«, rief er laut.

»Das heißt Kellner«, zischte Dinah wütend.

Nigel Vannart ging nicht darauf ein.

»Le Nachtexpress«, sagte er.

Der Gepäckträger lud die Koffer auf seinen Karren, während die vier müßig herumstanden und ihm dabei zusahen.

Connie McNair blickte den Gehsteig entlang.

In einer Entfernung von fünfzig Metern stand der Mann, vor dessen Anblick ihr gebangt hatte.

Er wusste, dass sie ihn gesehen hatte, aber er gab kein Zeichen des Erkennens. Er stand einfach da, ausdruckslos, aber seine Augen wichen nicht eine Sekunde lang von ihren Zügen. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie auf ihn zu treten. Doch dann besann sie sich, als wüsste sie, dass jegliches Tun vergeblich sei. Sie drehte sich wieder zu den anderen um.

Ihr Gesicht war weiß und verzerrt, und Jim Craddock eilte an ihre Seite und ergriff sie am Arm.

»Was ist denn, Liebes, fühlst du dich nicht wohl?«

»Ich - mir war einen Moment lang ein bisschen schwindlig, sonst nichts.«

»Wir bringen dich jetzt gleich ins Abteil, dort kannst du dich hinlegen.«

»Es ist schon wieder vorbei, wirklich.«

Jim Craddock starrte sie eine Sekunde lang an. Dann wandte er sich zu ihrer Erleichterung ab und kümmerte sich um das Gepäck.

Der andere Mann beobachtete sie noch eine Weile und ging dann weg. Er war groß und stark, hatte ein eckiges Gesicht und einen kurzen, kräftigen Nacken. Er trug einen auffallend karierten Mantel. Doch als sich Connie kurz darauf nach ihm umsah, war der karierte Mantel nirgends mehr zu sehen.

 

*

 

Um 21.25 Uhr schaute Jules Rabout auf seine Uhr. Er hatte sich in einem Café in der Nähe des Bahnhofs die Zeit vertrieben, und mit jeder verstreichenden Sekunde war er sich alberner vorgekommen. Schließlich und endlich, was hatte er den Leuten in London wirklich zu berichten? Eine einzige Bemerkung und die Schlussfolgerungen, die er aus ihr zog? Sein anfänglicher Enthusiasmus war in dem kleinen, schäbigen Café schal geworden. Warum hatte er sich so eine lächerliche Spionagestory einfallen lassen? Warum hatte er nicht die ganze Geschichte dem Engländer erzählt? Er grinste schief vor sich hin. Diese lächerliche Spionagestory war ja der Grund, warum er sich darauf versteift hatte, in London vorzusprechen. Er war jetzt eine der Hauptfiguren in diesem Spiel.

Er bestellte sich einen Cognac. Danach fühlte er sich wohler. Die Wahrheit war, dass er - Jules Rabout - den Schlüssel zu einem geplanten Mord in Händen hielt. Mehr noch: Was er wusste, konnte Europa in Flammen aufgehen lassen, und deshalb musste er allerhand Risiken eingehen, sogar das Risiko, sich lächerlich zu machen.

Aber man musste sich vorsehen. Er suchte seine Taschen nach einem Stück Papier ab und fand schließlich die zerknitterte Rechnung für ein Paar Tennisschuhe. Sorgfältig strich er den Zettel auf der Tischplatte glatt und nahm dann seinen Kugelschreiber zur Hand. Lange zögerte er, doch dann, jungenhaft und verschwörerisch lächelnd, schrieb er in Blockschrift das Wort Evreux nieder. Er schien damit zufrieden, denn er nickte beifällig, und dann setzte er rasch die römische Ziffer XVI darunter, und darunter noch das Wort Triptychon. Er lehnte sich zurück und betrachtete die kurze Liste:

 

Evreux

XVI

Triptychon

 

Doch dann fand er es zu unverständlich, knüllte den Zettel wieder zusammen und steckte ihn in die Tasche.

 

*

 

Um 21.32 Uhr stieg ein junger Amerikaner von etwa siebenundzwanzig Jahren vor dem Bahnhof aus einem Taxi. Red Kaloski entsprach fast - aber nicht ganz - dem Prototyp des jungen Amerikaners. Er hatte ein rundes, freundliches, anziehendhässliches Gesicht; sein rötliches Haar war so kurz geschoren, dass er oben auf dem Kopf beinahe kahl war. Er trug ein fischgratgemustertes Sportsakko mit schmalen Aufschlägen, ein durchgeknöpftes Hemd und einen persisch gemusterten Querbinder. Während er die Eingeborenen anstrahlte, erweckte er den Eindruck, als habe ihm die Welt eben einen großen Gefallen erwiesen, für den er sich nun zu revanchieren gedachte, und der Taxichauffeur, der die Gelegenheit für einmalig hielt, berechnete ihm prompt den doppelten Fahrpreis. Er war jedoch schockiert und empört, als er sich in flüssigem Französisch einige Kraftausdrücke gefallen lassen musste, die er nur allzu gut verstand. Mit diesen Amerikanern weiß man nie, woran man ist, sagte er wütend zu sich selbst, als er davonfuhr.

Red Kaloski lächelte wohlwollend dem vor Ehrfurcht ergriffenen Gepäckträger zu, der sich seines Koffers bemächtigte und respektvoll schweigend zum Nachtexpress vorausging.

 

In ihrem Schlafwagenabteil ruhte Miss McNair mit geschlossenen Augen. Der Schreck, den sie draußen vor dem Bahnhof beim Anblick Basil Illinghams bekommen hätte, saß tiefer, als sie geglaubt hatte. Die Begegnung mit ihm auf den Champs-Elysees heute Vormittag war zufällig erfolgt, das wusste sie, denn er war genauso verblüfft gewesen wie sie. Doch was wollte er auf dem Bahnhof? War das auch nur Zufall, oder war er ihr gefolgt? Und falls ja, was hatte das zu bedeuten? Merkte er denn noch immer nicht, dass alles aus und vorbei war, oder bildete er sich etwa gar ein, alles könnte noch einmal von vorn anfangen? Würde er auch im Zug sein? Würde er ihr nach England folgen?

Connie hörte jemanden eintreten, schlug die Augen auf und sah Jim Craddock über sie gebeugt stehen.

»Wie geht es dir, Liebling?«, fragte er besorgt.

Sie lächelte schemenhaft.

»Danke, gut.«

Doch als er gegangen war, erlosch das Lächeln. Jim war reizend, aber war er wirklich das, was sie brauchte? Sie wollte nicht wieder einen Fehler begehen. Sie zog die Brauen zusammen und schloss die Augen.

 

Niemand hätte vermutet, dass Christopher Waltsingham so, wie er den Bahnsteig betrat, wo der Nachtexpress stand, sich in Hochform befand. Er war ein kleingeratener Mann mit faltigem, mürrischem Gesicht, und er bewegte sich den Perron entlang wie ein großer, tollpatschiger Käfer. Wenn er einen Bekannten erblickte, wich er ihm aus; wozu überflüssige Risiken eingehen...

Natürlich musste man manchmal ein Risiko eingehen, wenn einem dafür in der Zukunft Geld winkte. Christopher Waltsinghams Leben wurde von zwei einfachen Grundsätzen beherrscht: Er liebte Geld, und es war ihm egal, auf welche Weise es in seinen Besitz gelangte. Er hatte schon früh im Leben erkannt, dass seine Skrupel Geldeswert besaßen, und sie waren seither äußerst zufriedenstellend durch ein Nummernkonto bei einer Schweizer Bank ersetzt worden.

 

 

Red Kaloski händigte seinen Fahrschein und seinen amerikanischen Pass dem Schlafwagenschaffner aus.

»Wagen vier, Bett siebzehn«, sagte er.

»Sehr wohl, Sir. Wenn Sie so gut wären, die Formulare auszufüllen, die Sie in Ihrem Abteil finden.«

Kaloski nickte und schwang sich in den Waggon.

Der Schlafwagenschaffner machte ein Zeichen auf seiner Liste, die er in der Hand hielt.

 

Jules Rabout kam um Viertel vor zehn am Bahnhof an. Er begab sich zu einem Münzschließfach, nahm dort seinen Koffer heraus und schritt dann, sich sichtlich zusammennehmend, in die Halle hinaus. Er war noch nie im Ausland gewesen, und das große Schild mit der Aufschrift Paris-London 22.00 Uhr neben der Sperre beeindruckte ihn tief.

Er hielt dem Bahnsteigschaffner seine Fahrkarte hin, der sie gleichgültig ansah und sich etwas auf einer Liste notierte. Später, als er gefragt wurde, konnte er sich an den jungen Mann gar nicht erinnern.

Rabout ging dicht im Schatten des Zuges, und er hatte fast seinen Schlafwagen erreicht, als er abrupt stehenblieb. Dreißig Meter vor ihm, draußen vor dem Waggon, stand der Mann aus dem Café. Rabout sprang theatralisch hinter eine Säule und lugte hervor. Was suchte der Mann hier? War es möglich, dass der Mann wusste, dass er, Rabout, mit diesem Zug fahren wollte? Unentschlossenheit überfiel ihn. Vor Tagen hatte er sich vorgenommen, dass er die ganze Sache aufgeben würde, wenn etwas schiefgehen sollte, doch als er weiter beobachtete, gelangte er zu der Überzeugung, dass ihn der Mann nicht gesehen hatte. Sein Abteil befand sich im übernächsten Wagen, und er wartete, bis sich der Mann abgewandt hatte. Endlich war es soweit. Rabout sah sich nochmals vorsichtig um. Dann rannte er los.

 

In seinem Schlafwagenabteil hatte Basil Illingham, der Mann, der Connie McNair so erschreckt hatte, das Jackett ausgezogen und stand, die Krawatte gelockert, in Gedanken versunken da.

Es war 21.59 Uhr.

Draußen auf dem Bahnsteig schwenkte der Fahrdienstleiter seinen Stab.

 

Jules Rabout sperrte vorsorglich die Tür seines kleinen Abteils ab und legte anschließend die Sicherheitskette vor. Der Anblick des Mannes war ihm in die Glieder gefahren.

Es war 22.00 Uhr.

Rabout spürte den Zug anrucken. Sie fuhren, und als er das Rollo zur Seite schob, sah er den Bahnsteig langsam vorbeigleiten. Draußen stand eine winkende junge Frau. Tränen strömten über ihre Wangen.

Der Nachtexpress war unterwegs.

 

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

»In Wirklichkeit hast du dich bloß gefürchtet, stimmt’s?«, fragte Jim.

Connie schüttelte ohne aufzublicken den Kopf. Sie saßen beide auf der Kante des Bettes in ihrem Abteil. Das Rollo war oben, und draußen zogen die Lichter von Chantilly vorbei.

Er legte ihr den Finger unters Kinn und hob ihr Gesicht hoch. Er lächelte ihr liebevoll zu.

»Aber etwas hat dich doch geängstigt, nicht wahr?«

»Nein, Ehrenwort.«

»Etwas, was du erblickt hast?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Jemand, den du erblickt hast?«

Sie seufzte resigniert.

»Ich habe jemanden gesehen, den ich nie wiederzusehen gehofft hatte. Aber das ist unwichtig, Jim.«

»Nicht für mich. Schließlich sind wir verlobt, Liebling, und du solltest mir alles anvertrauen, was dich bedrückt.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Eines Tages werde ich es tun, aber nicht jetzt. Es handelt sich um alte, längst abgetane Geschichten, und - und... Es war eine Überraschung für mich, das ist alles. Ich war nicht erschrocken, ich hatte bloß nicht damit gerechnet.«

Er blickte auf ihren gesenkten Kopf hinab, und seine Augen bekamen einen sonderbaren Ausdruck.

»Wenn du mir allerdings nichts erzählen willst«, sagte er gekränkt.

»Nicht jetzt, Jim, bitte.« Sie wechselte das Thema. »Stell dir vor, ich glaube, Red ist im Zug.«

»Red Kaloski?«, fragte er überrascht. »Eigenartig. Er wusste, dass wir alle nach Paris fahren wollten, aber er hat kein Wort gesagt.«

»Ach, er hat vor ungefähr einer Woche mir gegenüber erwähnt, er werde eventuell herüberkommen müssen. Da war irgendetwas mit einem Onkel. Vielleicht hat er sich entschlossen, als wir schon aus London fort waren.«

»Ja, so wird es wohl gewesen sein. Er ist ein merkwürdiger Mensch«, meinte er säuerlich.

Sie warf ihm einen Blich zu.

»Du magst ihn nicht?«

Craddock zögerte, bevor er sagte: »Ach, er ist nicht so übel, und als freiwilliger Mitarbeiter ist er recht nützlich, aber dennoch...«

»Was hast du gegen ihn, Jim?«

»Ich finde, er ist zu vollkommen, um wahr zu sein.«

 

In seinem Abteil hatte Red Kaloski seinen Koffer ausgepackt und alles fein säuberlich ausgebreitet. Jetzt legte er das Jackett ab und die Achselhalfter, die er Unter dem linken Arm festgeschnallt hatte. Sorgfältig glättete er die Halfter und die Riemen und legte das Ganze aufs Bett. Danach untersuchte er mit äußerster Achtsamkeit die Waffe, eine .32er Smith & Wesson, wickelte sie anschließend in eine lange Hose und verstaute das Bündel genau in der Mitte des Kofferbodens. Er löste die Riemen von der Halfter, rollte sie vorsichtig zusammen, wie wenn er das schon oft getan hätte, und legte sie oben auf das Bündel mit der Waffe. Die Halfter steckte er in die Hosentasche.

Aus einer hinter seinem Hosenbund verborgenen Tasche zog er ein schlankes, schmales Messer. Einen Moment lang stand er mit dem Messer in der Hand da, schaute sinnend den Koffer an, doch dann schob er das Messer wieder in die Tasche. Erst dann begann er den Koffer erneut zu packen.

Er hatte allerhand erlebt, seit er in der Mannschaft der Regane University Baseball gespielt hatte.

 

In seinem Abteil saß Waltsingham, noch immer voll bekleidet, auf der Bettkante und tat das, was ihm am meisten Vergnügen bereitete - nach der Anhäufung von Geld, versteht sieh: Er schaffte etwas mit seinen Händen. Er hatte seinen dunkelblauen Plastikkulturbeutel aus dem Koffer genommen und dessen Inhalt der Größe nach auf dem Klapptischchen unter dem Fenster angeordnet: rechts die Dose mit dem Rasierschaum, links das winzige Röhrchen mit den Kopfwehtabletten, davor die Haarbürste, die Zahnbürste und die lange Nagelfeile. Und nun schnitt er den Kulturbeutel sorgfältig in Stücke.

Die einzige Schere, die ihm zur Verfügung stand, war eine kurze, krumme Nagelschere, und obwohl er mit einem Bleistift und unter Zuhilfenahme der Kante einer Illustrierten vorsorglich Linien gezogen hatte, gelang es ihm nur mit größter Mühe, längs der Linien zu schneiden, und das Schwanken des Zuges erschwerte ihm die Arbeit noch mehr. Als er endlich fertig war, hielt er einen Streifen von etwa fünfundfünfzig Zentimeter Länge und zwölf Zentimeter Breite in die Höhe. Er musterte ihn aufmerksam und entfernte die eine oder andere fast unsichtbare Unregelmäßigkeit.

Waltsingham war beunruhigt; nicht über das, was soeben geschehen war, oder etwa gar über das, was er zu tun haben mochte, sondern darüber, dass die Lebensrente, auf die er so sorgfältig hingearbeitet hatte, in Gefahr geraten könnte. Allerdings hatte der Stifter dieses Einkommens bis jetzt noch keine Ahnung, dass er erwählt worden war, aber die Zeit der Enthüllung würde schon noch kommen.

Den jungen Mann in Paris in den Zug steigen zu sehen, war eine unangenehme Überraschung für ihn gewesen. Warum hatte er den Mund nicht halten können? Er hatte zu viel geredet, und er hatte doch damals gleich gemerkt, dass der Junge erregt war. Er hatte also die Absicht, in London vorzusprechen, so, so. Waltsingham lächelte hämisch und strich den Plastikstreifen auf dem Bett glatt. Selbst die besten Leute sorgen vor, dachte er.

Er öffnete erneut seinen Koffer und begann darin zu kramen. Ganz unten fand er, was er gesucht hatte, nämlich eine Sicherheitsnadel.

---ENDE DER LESEPROBE---