Der Mord in der Möwe - Amelia Green - E-Book

Der Mord in der Möwe E-Book

Amelia Green

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Beschreibung

Laurentius Newcombe ist Detektiv mit Prinzipien, Clifford Walker ist Detektiv mit Humor. Gemeinsam lösen sie Kriminalfälle und versuchen, mit ihrer etwas eigensinnigen Freundschaft fertig zu werden. Als ihnen ihre Verbündete, die Schauspielerin Adriana Shilling, einen Klienten zuweist, sind Clifford und Laurentius zuerst wenig begeistert. Doch der Fall ist komplexer als gedacht: es geht nicht nur um den Tod einer jungen Frau in der Herberge "Die Möwe", sondern auch um die Geheimnisse der Gäste, ihres Auftraggebers und der Toten. Die Detektive machen sich daran, den Fall zu lösen, auf die jeweils ihre Art.

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Seitenzahl: 149

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Der Mord in der Möwe

TitelseiteDer Mord in der MöweWidmungDanksagung und Anmerkungen der AutorinImpressum

Der Mord in der “Möwe”

Amelia Green

Copyright 2020 Amelia Green

Cover Copyright 2020 Amelia Green

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Für mehr Informationen: Instagram @amelia.green.author

  Der Mord in der Möwe

„Newcombe & Walker, Privatdetektei” stand auf dem leicht ergrauten Holzschild über der Tür.

Das Empfangszimmer war lediglich von einer antiquarisch anmutenden Petroleumlampe erhellt, sodass der Raum mit den dunkel getäfelten Wänden in eine beunruhigende Schattenwelt verwandelt wurde. Der Rauch unserer Zigaretten stieg langsam in Spiralen zur Decke auf. Clifford saß in seinem üblichen, olivfarben bezogenen Sessel und sah etwas gedankenverloren zur Kassettendecke hoch, als folgte er dem Rauch in seinen Kreisen. Vor mir auf dem Schreibtisch lag ein unangetastetes weißes Blatt Papier, jederzeit bereit, mit Notizen gefüllt zu werden, die Clifford dann sorgfältig für das Archiv abtippen wurde, die Underwood war seine Manier. Ich blickte zum Fenster nach draußen auf die Straße. Der Wind blies Blätter aus dem Rinnstein hoch und ließ sie tanzen. Es war kein guter Tag für ein Verbrechen, sagte mir mein Instinkt.

Ich rauchte und fuhr mit den Fingern der Rechten gedankenverloren die Knopfleiste meines Hemdes herunter. Das Schild draußen über der Tür quietschte im Wind. Clifford und ich schwiegen schon lange, der Zeiger der Standuhr zog Kreise der Ereignislosigkeit.

„Sir“, meinte Clifford, „Ich glaube nicht, dass unser Warten hier noch großen Zweck haben wird.“

„Wir sind Privatdetektive, wie Sie wissen“, entgegnete ich. „Immer zur Stelle. Obgleich ich Ihnen bezüglich des Ereignisreichtums an diesem Nachmittag zustimmen muss.“

„Nun ja“, erwiderte Clifford etwas optimistischer und sah auf die Uhr, „der Roman lehrt uns, dass oft zur langweiligsten Stunde das Entscheidende geschieht.“

„Lesen Sie weniger Kriminalromane, Clifford“, meinte ich. „Es interessieren uns allein die realen Dinge, die Fakten, nicht das Fiktive.“

„Geben Sie zu, dass uns meine Erfahrung auf diesem Gebiet schon so manches Mal weitergebracht hat.“

„Ich bitte Sie!“

„Fangen wir nicht an zu streiten“, antwortete Clifford und rauchte.

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet und das Glöckchen darüber bimmelte. Ich erhob mich, drückte meine Zigarette im Aschenbecher aus und mein Partner tat es mir gleich.

Der Mann, der eintrat, war jung, ich schätzte ihn auf etwa Ende zwanzig. Er war nervös, als wäre er an etwas schuld, das nicht hätte sein dürfen, und sein Blick huschte hin und her. Er war elegant gekleidet, aber sein Anzug war nicht neu gekauft, er trug keinen Bart und die Haare sehr kurz geschnitten. Eine Uhr befand sich in seiner Brusttasche, ich erkannte keinen Ehering an der Hand. Der Mann trug weder Jacke noch Hut, also war er überstürzt aufgebrochen, oder verwirrt oder er wollte unnötiges Aufsehen erregen.

„Bin ich hier richtig in der Detektei Newcombe & Walker?“, fragte er mit überraschend hoher Stimme.

Jede Zelle meines Körpers schrie danach zu antworten: „Nein, wissen Sie, das Schild hängt ja nur zum Spaß!“, aber ich rang mir stattdessen ein Lächeln ab und erwiderte: „Absolut.“

„Angesichts der Tatsache, dass Sie nicht möchten, dass man Ihre Anwesenheit bemerkt, sollten Sie die Tür schließen“, bemerkte Clifford und nahm dem Mann diese Aufgabe ab.

„Woher wissen Sie das?“, fragte der verblüfft.

„Man sieht es Ihnen an“, entgegnete Clifford lächelnd. „Was führt Sie hierher?“

„Ich benötige Hilfe bezüglich der Aufklärung eines Mordes“, antwortete unser Gast und Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit.

Innerlich wurde ich bei diesen Worten sofort aufgeregt, doch ich setzte mich erst einmal hinter den Schreibtisch und nahm meinen Füllfederhalter aus der Tasche, um stenografisch alles zu notieren, was mir jetzt gesagt wurde. Clifford würde mit dem Klienten sprechen, dies war immer seiner Aufgabe, mein eigener Umgang war dafür oft zu steif.

„Setzen Sie sich.“ Clifford wies auf den Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand, und ließ sich in seinem danebenstehenden Sessel nieder. „Worum geht es genau?“

„Meine Verlobte“, der Mann zögerte und blieb stehen, „hat scheinbar Selbstmord begangen, aber ich bin der festen Überzeugung, dass jemand anderes sie getötet hat.”

„Wie kommen Sie zu diesem Schluss?”, fragte Clifford und schlug die Beine übereinander.

„Nun”, erwiderte unser Klient und setzte sich nun doch, „ein Mann, mit dem sie seit Jahren streitet, war zu diesem Zeitpunkt auf ihrem Zimmer. Ich war nebenan und sortierte meine Rechnungen, als ich ihn ihr drohen hörte. Dann fielen die Schüsse. Zwei, um genau zu sein.”

Ich notierte. „Sie sagten auf ihrem Zimmer“, wiederholte ich. „Folglich befinden Sie sich derzeit als Gäste in einem Hotel?“

„Es ist eher eine kleine Herberge.“

„Wann ist alles passiert?“, wollte Clifford wissen.

„Heute, am Morgen, gegen acht.“

„Gibt es noch andere Zeugen?“

„Selbstverständlich die anderen Gäste. Meines Wissens nach sind außer den Unseren derzeit noch drei weitere Zimmer belegt. Soweit ich weiß, haben alle alles mitbekommen, denn sie waren sofort zur Stelle, als der Lärm ertönte. Auch die Dame, der die Herberge gehört, Mrs. Flitch.”

„Um welche Herberge handelt es sich genau und wo liegt sie?“, fragte Clifford weiter.

„Es ist die Möwe, falls Sie sie kennen”, erwiderte der Mann, „in der Marvey Lane Nummer siebzehn.“

„Das reicht uns vorerst. Wenn Sie uns zwei Minuten geben, werden Mr Newcombe und ich uns einen Moment beraten, ob wir Ihren Fall übernehmen oder nicht.“

„Nein“, widersprach ich Clifford, „Eine Sache wäre da noch. Weshalb beauftragen Sie eine Privatdetektei, warum gerade uns und was würden Sie tun, wenn wir herausfinden, dass es doch ein Selbstmord war?“

„Nun“, meinte der Mann, „der mit dem Fall betraute Inspektor ist fest von dem Suizid meiner Verlobten überzeugt, und ich habe von Bekannten diesen Tipp bekommen. Genauer gesagt rieten sie mir, mich an Adriana Shilling zu wenden, und die hat mir eine Menge über Ihre Detektei erzählt, besonders über Sie, Mr Newcombe.”

Ich hätte mich beinahe verschluckt. Clifford grinste hinter dem Rücken des Mannes breit, und ich gab mir Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. Stattdessen lächelte ich so würdevoll, wie es nur möglich war, wenn man gerade erfahren hatte, dass man vor einem Klienten zu Tode blamiert worden war. Ganz gleich, was Adriana ihm erzählt hatte - ich wollte mir nicht ausmalen, als was dieser Mann mich jetzt sah.

Der Mann fuhr fort: “Und wenn Ihre Arbeiten zweifellos beweisen, dass ich mich irre, dann denken wir über die Folgen nach, wenn es soweit ist.”

Ich beendete meine Notizen, betrachtete den Mann vor mir eingehend mit seinem dunkelblauen Anzug und dem kurz geschorenen Haar und erhob mich. “Wir werden uns einen Moment beraten und Ihnen dann die Entscheidung mitteilen.”

Im Flur hinter dem Empfangszimmer, das die ganze Breite des Hauses einnahm, presste Clifford sich sofort die Hand vor den Mund, kaum dass ich die Tür geschlossen hatte.

“Was haben Sie?”, fragte ich mit Verwunderung.

Clifford sah mich an. „Die… Vorstellung, wie Adriana jemandem von Ihnen berichtet, ist… amüsierend.“

„Für Sie“, erwiderte ich knapp.

„Nun ja“, antwortete Clifford und fuhr sich durch sein rotes Haar, „Ich würde schallend lachen, wenn unser Klient es nicht hören könnte.”

„Apropos“, wechselte ich das Thema, um mir jede weitere Demütigung zu ersparen, „Was halten Sie von diesem Auftrag?“

Clifford antwortete: „Sein Antragsteller ist selbst mehr als verdächtig. Nach dem Tod seiner Verlobten misstraut er angeblich der Polizei. Er sortiert morgens um acht seine Rechnungen. Er trägt keinen Hut und keinen Mantel, und das im November. Er ist in der Möwe abgestiegen, deren Besitzerin meines Wissens nach aber Mrs. Fletcher heißt. Ich würde den Fall übernehmen - aber vor allem, um die Mysterien um unseren Klienten aufzudecken.”

„Ich stimme Ihnen absolut zu”, meinte ich. “In einem Zeugenverhör hätte ich ihm kein Wort geglaubt. Also, ist diese Übernahme besiegelt?”

Clifford packte meine Hand und ließ sie wieder los. „Besiegelt.” Er öffnete die Tür und wir betraten das Empfangszimmer. Der Mann saß im Sessel und hatte gedankenverloren die Bücher in den Regalen an der Wand zum Flur betrachtet. Jetzt sah er uns erwartungsvoll an, machte aber gleichzeitig den Eindruck, als stünde er unter Zeitdruck.

„Wir haben uns entschieden, uns Ihres Auftrags anzunehmen“, erklärte Clifford, während ich ein getipptes Blatt Papier aus einer der Schreibtischschubladen nahm und mit dem Datum und anderen nötigen Angaben versah. Derweil verhandelte Clifford über das Honorar. Ich signierte auf dem Bogen und reichte ihn dann mit meinem Füllfederhalter über den Tisch. Auch mein Partner setzte seinen Namen unter den Text und wandte sich dann an den Mann.

„Das ist der Vertrag mit sämtlichen Bedingungen. Unterschreiben Sie bitte mit dem vollen Namen, Geburtsdatum und Anschrift.“

Über Kopf las ich: Alan Marjors, * den 8. Januar 1907, 65 Mercantile Square, St Nicholls.

„Warum unterschreiben Sie nicht mit dem vollen Namen?“, wollte er verunsichert wissen.

„Weil unsere Vornamen nichts zur Sache tun”, erwiderte ich und nahm das Blatt wieder entgegen. Wir suchten diese Namen zu vermeiden, einmal aufgrund der Schwierigkeit, Privatdetektive mit Namen wie Clifford Walker ernst zu nehmen, und andererseits, da man als Ermittler zahlreiche Feinde hat und daher immer so wenig wie möglich von sich preisgeben sollte.

„Sie sollten jetzt gleich mitkommen”, meinte Mr. Marjors und sah durch die beiden Eckfenster hinter dem Schreibtisch auf die T-förmig zusammenlaufenden Straßen hinaus.

„Ist die Polizei vor Ort?”, wollte Clifford wissen.

„Der Inspektor hat das Haus verlassen, bevor ich zu Ihnen ging”, erklärte er. In meinem Kopf fügte ich der Verdächtigkeitsliste von Mr. Marjors selbst einen weiteren Punkt hinzu.

„Wie werden unsere Sachen holen und dann mit Ihnen kommen” erklärte ich, trat hinter dem Schreibtisch vor und ging mit Clifford hinter mir zurück in den Flur.

Im Untergeschoss gab es auf der anderen Seite des Flurs nur noch zwei Zimmer: das Archiv und die Küche. Wir betraten das fensterlose Archivzimmer, dessen Metallregale sich unter den Akten bogen. Ich nahm die Kamera vom Tisch und meinen sandfarbenen Mantel von dem Garderobenständer in der Ecke. Während ich ihn überstreifte, zuband und den Hut aufsetzte, nahm Clifford den Aktenkoffer vom Boden hoch, in dem immer sämtliche Utensilien parat eingepackt waren, nur für den Fall.

Ich holte den Sechsschüsser aus einer Schachtel im Regal. „Nehmen Sie ihn oder soll ich?“

Clifford machte eine Kopfbewegung zu mir hin. „Sie.”

Ich ließ den Revolver unter meiner Jacke verschwinden. Auf jemanden schießen würde ich niemals - ich bin der Meinung, dass ein Gesetzeshüter keine Gewalt anwenden sollte - aber man wusste nie, wie die Menschen auf das eigene Auftauchen beziehungsweise auf die Offenbarung ihrer Schuld reagierten, und so war es schon mehrfach unser Glück gewesen, dass wir gewappnet waren.

Auf der Straße lief Mr. Marjors sehr schnell, und wir ließen uns einige Yards zurückfallen. Der Wind wehte uns entgegen, als der junge Mann zielstrebig den Weg bis zur Möwe zurücklegte.

„Dafür, dass er angeblich aus St Nicholls ist, kennt er sich aber gut aus”, meinte Clifford mit ironischem Tonfall.

Die Herberge war ein kleines, zwischen den Nachbarhäusern eingequetschtes Fachwerkhaus mit einem etwas schiefen Dach. Wir betraten das Haus und fanden uns in einer Art Frühstücksraum wieder. Mrs. Flitch oder Fletcher - ich nahm an, dass sie es war - stand hinter dem Tresen und lächelte nicht.

Mr. Majors stellte uns vor. Die Besitzerin der Herberge machte keinen sehr überraschten Eindruck, Privatdetektive auf ihrer Fußmatte zu sehen, also schien unser Klient ihr von seinem Vorhaben, uns zu kontaktieren, erzählt zu haben, oder es lag daran, dass sie heute schon die Kriminalpolizei im Haus gehabt hatte. Ich betete, dass der Tatort noch zu gebrauchen war, er konnte in der Regel diverse Lügen bei der Befragung aufdecken.

Im Obergeschoss gab es sechs Zimmer an einem Korridor, der mit einem Brechreiz verursachenden senfgelben Läufer ausgelegt war. Mr. Marjors erklärte uns, dass die rechten drei Zimmer belegt waren; ihm und seiner Verlobten hätten die hinteren beiden linken Zimmer gehört, ihm dabei das zur Straße. Wir betraten den besagten Raum.

Zu meiner Überraschung lag die Leiche fast unangetastet am Boden. Sie war eine kleine, schlanke Frau mit langem, schwarzem Haar. Sie lag mit merkwürdig verkrampften Händen auf dem Rücken. Das Bett war gemacht, die Schranktüren geschlossen; der Raum hatte keine Fenster und kam mir mit seinen gelb gestrichenen Wänden wie eine Zelle vor. Auf einer Kommode bei der Tür standen zwei Teetassen, bis zur Hälfte mit grünem Tee gefüllt. Ein Strauß Rosen stand auf dem Nachttisch in einer Vase. Rechts neben der Tür war ein Tresor in die Wand eingelassen, dessen Front in der Mitte eine tiefe Delle aufwies. Der Spiegel über der Kommode war zerbrochen.

„Ist alles genauso wie zur Tatzeit?”, fragte ich.

„Beinahe”, erwiderte Alan Marjors. Er vermied, seine tote Verlobte anzusehen. „Die Polizei hat lediglich Fingerabdrücke genommen, das Licht eingeschaltet und ihr die Pistole aus den Händen genommen. Sie wollen in Kürze mit speziellerem Werkzeug und dem Leichenwagen vor Ort sein.”

Ich hob die schwere Kamera und fotografierte alles so genau wie möglich, während Clifford einen Schreibblock und einen Stift aus dem Aktenkoffer holte.

„Als Tatzeit benennen sie acht Uhr morgens?”, fragte er.

„Acht Uhr zwölf”, meinte Mr. Marjors. „Ich hatte gerade auf die Uhr gesehen, als der erste Schuss fiel.” Er schluckte. „Der zweite folgte fast unmittelbar darauf.“

„Ihre Verlobte heißt?”

„Sarah Doreen. Sie kommt aus Whitchlingsborough.“

„Wann ist sie geboren? Hat sie Familie?”

„Am achten Juli, 1909. Der Vater ist in zweiter Ehe verheiratet. Er hat einen Betrieb bei Manchester, meine ich. Dort lebt er auch. Ihre Mutter - sie sprach nicht von ihr, wissen Sie? Geschwister hat sie nur einen Bruder, der eine Gärtnerei führt, ich weiß nicht, wo. Wir waren”, er stockte, „seit zwei Jahren verlobt.”

Clifford ergänzte seine Notizen. Ich legte die Kamera ab und versuchte, mir jeden Blick und jede Geste von Mr Marjors einzuprägen, während Clifford weiterfragte.

„Wie verlief die Tat, sagten Sie?”

„Ich habe alles gesagt, was ich weiß. Es war kurz nach acht, ich habe drüben meine Akten sortiert, und ich hörte, wie der Franzose ihr Zimmer betrat. Dann -“

„Welcher Franzose?”, wollte Clifford wissen.

Alan Marjors’ Gesicht verfinsterte sich. “Dieser Kerl im Zimmer gegenüber. Scamfourt, so heißt er. Sarah war ihm einmal begegnet und eine Zeit lang hatten sie wohl eine Beziehung, bis sie sich zerstritten. Sie hat ihm später immer wieder wütende Briefe geschrieben. Ihn hier wiederzutreffen, hatten wir nicht erwartet. Nun, er ging in ihr Zimmer, ich hörte sie reden, plötzlich schrie er: ‚Das Zeug ist meins, Sarah, und wehe, du verweigerst!’ Dann wurde geschossen. Es war kurz still. Ich rannte nach drüben, der Franzose kam mir entgegen und lief in sein Zimmer und -“ Er brach ab. Sein Blick wanderte zu der Frau auf dem Boden.

„Man hat sie gefunden mit der Waffe in den Händen. Es sind nur ihre Fingerabdrücke darauf, ein Schuss aus dieser Waffe hat sie getötet, der Franzose sagt, sie hätte sich erschossen aus Angst und das passt auch zur Szenerie, aber ich glaube ihm nicht.”

Ich betrachtete die Leiche. Sie trug keinen Schmuck und schien durch den von vorn gekommenen Schuss zu Fall gebracht worden zu sein. Die Schusswunde lag auf der linken Seite der Brust unterhalb des Schlüsselbeins. Blut hatte das Kleid der Toten an dieser Stelle dunkel verfärbt. Etwas daran kam mir auffällig vor, und ich beschloss, Clifford später davon in Kenntnis zu setzen.

„Gehört die Waffe Miss Doreen? Monsieur Scamfourt? Haben sie eine Ahnung?”, fragte Clifford.

„Sarah besaß keine Waffe”, erwiderte Mr. Marjors. "Diesem Scamfourt ist alles zuzutrauen. Ich weiß es nicht.”

Clifford öffnete den Mund, aber in diesem Moment polterten Schritte die Treppe hinauf. Einen Moment später trat Kriminalinspektor Fellingworth mit zwei Männern im Gefolge das Zimmer, in dem trotzdem noch überraschend viel Platz war. Inspektor Fellingworth musterte mich eingehend.

„Laurentius Newcombe”, sagte er herablassend.

Für die Erwähnung meines Vornamens hätte ich ihn gern stranguliert, aber stattdessen lächelte ich nur. Mr. Marjors’ Kinnlade fiel nicht herunter und er grinste auch nicht, daher schien er meinen Namen bereits zu kennen, vermutlich von Adriana. Manchmal fragte ich mich, ob die ganze Menschheit nichts anderes im Sinn hat, als mich zu blamieren. Wäre ich dabei nicht auf die Leiche Sarah Doreens gefallen, ich wäre in diesem Moment gerne vor Scham gestorben.

„Haben Sie eine Frage?”, wollte ich wissen.

„Hier wird ermittlerisch professionelle Verbrechensaufklärung praktiziert”, erklärte Fellingworth. „Ich wäre angetan, würden Sie den Tatort verlassen.”

Innerlich wütend sah ich die drahtige, dunkelhaarige Gestalt in der Polizistenuniform an und erwiderte, bemüht, höflich zu klingen: „In der Tat, wir praktizieren hier ermittlerisch professionelle Verbrechensaufklärung. Jetzt verlassen wir den Tatort, führen weitere Ermittlungen durch und stören Sie nicht beim Aufräumen.” Ich machte einige Schritte an den anderen vorbei in den Flur.

Der Inspektor und ich konnten uns nicht sonderlich leiden, was darauf zurückzuführen war, dass wir einander nicht verbieten konnten, sich ebenfalls mit dem eigenen Fall zu beschäftigen. Bei den meisten Ermittlungen liefen wir uns über den Weg und versuchten, dem anderen einen Schritt voraus zu sein. Nun ja, und das führte dazu, dass wir miteinander im ewigen Clinch lagen.

Clifford und Mr. Marjors traten nach mir auf den Flur. Der Mann aus St Nicholls sah nach meiner Konversation mit dem Inspektor etwas beunruhigt aus, aber ich konnte verstehen, dass es ihn nicht zwangsläufig motivierte, dass der von ihm angeheuerte Detektiv sich in seiner Gegenwart mit dem Inspektor stritt, aber ich würde nicht weiter darauf eingehen.

„Alle weiteren Fragen”, erklärte ich, „würden wir Ihnen gern genau dort stellen, wo sie sich befanden, als Miss Doreen verstarb.”

„Warum fragen sie mich überhaupt aus?”, wollte Mr. Marjors irritiert wissen. „Bezüglich der Tat macht es ja Sinn, aber ich bin doch kein Mordverdächtiger!”

„Doch”, erwiderte Clifford spitz. „Zu Beginn ist für uns erstmal jeder verdächtig, auch die Kakerlake in der Ecke. Deshalb stellen wir Ihnen Fragen. Soweit ich weiß, haben Sie ein Interesse daran, dass wir diesen Fall aufklären, und eine Aufdeckung des Tathergangs und der Motive ist uns nur nach einer Befragung aller Beteiligten möglich.”

Mr. Marjors machte in keinster Weise einen überzeugten Eindruck, geleitete uns jedoch ins Nachbarzimmer. Vor dem Fenster zum Hinterhof stand der Schreibtisch, an der der Tür gegenüberliegenden Wand das Bett. Ein offener Koffer stand vor dem Schreibtisch auf dem Boden. Im ganzen Raum herrschte ein unbeschreiblicher Wirrwarr aus getragenen Kleidungsstücken und Papier. Wenn unser Klient tatsächlich seine Rechnungen sortiert hatte, weit konnte er damit nicht gekommen sein.

Alan Marjors ließ sich auf dem lederbezogenen Schreibtischstuhl nieder. Clifford blieb mangels Sitzgelegenheit stehen und zückte seinen Block erneut; ich ließ mich vorsichtig auf einem kleinen Beistelltischchen nieder.

Obgleich wiederwillig, beantwortete der Mann unsere Fragen. Er und Miss Doreen kannten sich seit drei Jahren. Den Franzosen hatte er erst hier in der Möwe kennengelernt, in der sie sich aufhielten, weil Alan Marjors seiner Verlobten zum Geburtstag Theaterkarten für ein Stück am vorigen Abend geschenkt hatte. Es war Dunkle Wolken gewesen, mit, wie ich wusste, Adriana Shilling in der Hauptrolle der Jasmine White. Von welchem Geld Monsieur Scamfourt vor der Ermordung Sarah Doreens gesprochen hatte, wusste er nicht. Auch die anderen zwei Bewohner der Herberge kannte er nicht wirklich gut. Er hatte keine Theorien, wer die junge Frau getötet haben könnte und warum, außer derer über den Franzosen und seinen alten Streit mit Sarah. Diese Mutmaßung schien mir etwas abwegig, weil ich nicht glaubte, dass etwas derart Simples einen Mord ausgelöst hätte. Ich nahm eher an, dass Sarah und Monsieur Scamfourt sich erneut gestritten hatten und es dabei um weit mehr ging als nur eine gescheiterte Beziehung.