DER MÖRDER BLEIBT ÜBER NACHT - Margaret Scherf - E-Book

DER MÖRDER BLEIBT ÜBER NACHT E-Book

Margaret Scherf

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Dr. Grace Severance, eine pensionierte Pathologin aus Chicago, hat ein paar Freunde und Nachbarn in ihr neues Heim in Montana geladen. Sie ahnt nicht, dass unter all den netten Leuten ein Giftmörder auf sein Opfer lauert... Margaret Scherf (* 1908 in Fairmont, West Virginia; † März 1979) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin. Der Roman Der Mörder bleibt über Nacht erschien erstmals im Jahr 1971; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

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MARGARET SCHERF

 

 

Der Mörder bleibt

über Nacht

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 140

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER MÖRDER BLEIBT ÜBER NACHT 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Dr. Grace Severance, eine pensionierte Pathologin aus Chicago, hat ein paar Freunde und Nachbarn in ihr neues Heim in Montana geladen.

Sie ahnt nicht, dass unter all den netten Leuten ein Giftmörder auf sein Opfer lauert...

 

Margaret Scherf (* 1908 in Fairmont, West Virginia; † März 1979) war eine US-amerikanische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Der Mörder bleibt über Nacht erschien erstmals im Jahr 1971; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte im gleichen Jahr.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DER MÖRDER BLEIBT ÜBER NACHT

 

 

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Dr. Grace Severance nahm ihren Kaffee und die Geburtstagspost mit in den Garten hinaus. Die meisten Karten waren widerlich sentimental, aber das war ein Zeichen der Zeit: Je älter man wurde, desto weniger witzige und desto mehr kitschige Karten erhielt man. Trotzdem war es nett, dass so viele Leute sich an ihren Geburtstag erinnerten. Sogar einige frühere Studenten aus ihrem Pathologie-Seminar in Chicago hatten geschrieben, obwohl sie doch schon fünf Jahre im Ruhestand lebte.

Heute Abend sollte bei den Lindsays eine große Party zu ihren Ehren stattfinden. Sie fuhr bei dem Gedanken daran leicht zusammen. Alle würden lächeln, ihr die Hand schütteln und dabei sagen: »Wie blendend Sie aussehen, Grace!« - als ob das in ihrem Alter eine besondere Leistung sei...

»Mir wäre es lieber, wenn Sie das nicht täten«, hatte sie Laura und Elliot Lindsay erklärt. »Ich stehe dabei nur Todesängste aus.«

»Unsinn! Sie haben noch nie im Leben Angst gehabt«, widersprach Elliot. »Solange wir hier sind, geben wir jedes Mal eine große Party, und Ihr Geburtstag ist ein wunderbarer Anlass!«

»Wenn Ihnen das wirklich lieber ist, Grace«, warf Laura besorgt ein, »sagen wir einfach nicht, dass Sie Geburtstag haben. Aber Sie kommen trotzdem?«

»Ich bin undankbar, Laura. Laden Sie die Leute ruhig zu meiner Geburtstagsparty ein. Aber ich komme nur, wenn Elliot mir keinen seiner Drinks auf drängt.«

»Einverstanden! Ich garantiere Ihnen, dass Sie nur reinen Bourbon zu trinken brauchen, Doc.«

Laura traf also ihre Mammutvorbereitungen, arbeitete unermüdlich und steckte die ganze Nachbarschaft mit ihrem vitalen Enthusiasmus an. Aber diese Begeisterung wird nicht lange verhalten, dachte Dr. Severance. Die meisten Leute hier am See konnten sich nur für eine gute Kirschernte begeistern - sie lebten praktisch nur von Ernte zu Ernte.

Grace hob den Kopf und betrachtete die ausgedehnten Obstgärten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Nur an einigen Stellen standen keine Obstbäume - bei Althea Doran und bei den Lindsays. Althea war Universitätsdozentin und wollte in den Semesterferien nichts mit Ernten oder Gewinnen zu tun haben. Die Lindsays waren Hollywoodschauspieler und kamen zur Erholung hierher nach Montana. Elliot amüsierte sich über den Ernst, mit dem die Obstzüchter über ihre Kirschen sprachen. Man konnte sich leicht über die Geldsorgen anderer amüsieren, wenn man selbst keine hatte.

Grace beschäftigte sich wieder mit ihrer Post, riss einen Umschlag auf und freute sich, als sie einen nüchternen Geschäftsbrief sah. Aber schon der erste Absatz zerstörte ihr Vergnügen. Der Brief kam von einer angesehenen alten Firma, von der sie einige Aktien besaß, und teilte ihr den bevorstehenden Zusammenschluss mit einer anderen Firma mit, von der sie noch nie gehört hatte. Sie sollte sich entscheiden, ob sie ihre Aktien verkaufen oder Wandelschuldverschreibungen der Neugründung annehmen wollte.

»Was sind Wandelschuldverschreibungen?«, murmelte sie vor sich hin. »Warum müssen Firmen dauernd zusammengelegt werden? Wissen die Leute denn gar nicht, was sie damit anrichten?«

Sie ging ins Haus und rief Les Ackerman an. Irene antwortete. »Er schläft noch, Doktor Severance. Ich möchte ihn auf keinen Fall wecken.«

»Entschuldigung, ich habe gar nicht auf die Zeit geachtet. Ich rufe später noch einmal an.«

»Hallo, Doc«, sagte Les, der am zweiten Apparat mitgehört hatte. »Was gibt’s denn?«

»Einen dieser verdammten Firmenzusammenschlüsse. Ich weiß nicht, was ich mit dem Angebot anfangen soll.«

»Kommen Sie damit herüber«, schlug Les vor. »Ich stehe gerade auf. In einer halben Stunde?«

Grace bedankte sich, legte auf und sah aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite inspizierte Althea Doran ihre Blumenbeete. Um diese Zeit - Mitte Juli - waren die Zinnien besonders prächtig.

Althea genoss den Sommer mit dem Glücksgefühl eines für kurze Zeit befreiten Sträflings. Während des Semesters litt sie unter den Launen des Leiters ihres Departments, der sie ausnützte, weil er längst wusste, dass sie keinen Widerstand leisten würde. Sie respektierte ihn als Wissenschaftler und hatte ihn auf ihre zurückhaltende Weise ursprünglich recht gern gehabt. Aber das war schon lange her; manchmal hasste sie ihn jetzt. Trotzdem dachte sie nicht daran, sich eine andere Stellung zu suchen, sondern zog es vor, die bekannten Schwierigkeiten weiter zu erdulden. Sie freute sich den ganzen Winter lang auf die Ferien am See, wo sie in ihrem eigenen Haus unabhängig und frei war.

Sie hoffte, dass Charles Fredericks seine laute Sprühkanone nicht anstellen würde, bevor sie wieder im Haus war. In diesem Augenblick fing der Apparat bereits an zu arbeiten. Der Lärm erinnerte an eine riesige Windmaschine, und das zerstäubte Ungeziefervertilgungsmittel sank nicht nur auf seinen Obstgarten hinab, sondern breitete sich auch über Altheas Grundstück aus. Die leichte Brise trieb den Tröpfchennebel weit über die angrenzenden Grundstücke. Gestern hatte Charles bei den Ackermans gespritzt, und das Zeug war aus der anderen Richtung heruntergekommen.

Vor Jahren, als Althea den Kaufpreis nur mit Mühe und Not aufbringen konnte, hatte sie dieses große Grundstück erworben, ein Haus gebaut und ihren Garten angelegt. Ihr kleines Königreich war ihr wertvollster Besitz, und sie wurde wütend, wenn sie an diese Invasion aus der Luft dachte, mit der die beiden gefühllosen - nein, barbarischen - Neusiedler, die nur nach Gewinn strebten, die Waldtiere vergifteten. Bisher hatte auch sie Gewinn aus ihrem Grundstück gezogen - Ruhe, Zufriedenheit und Schönheit jetzt brachten Fredericks und Ackerman sie um diesen Ertrag.

Sie sah Earl Moss, der Kisten aus dem Werkzeugschuppen der Ackermans trug. Earl begann jeden Morgen pünktlich um acht mit der Arbeit. Er schuftete unermüdlich und erhielt dafür einen Hungerlohn von Leuten wie den Ackermans, die reich und geizig waren. Das ist einfach unfair! dachte Althea. Earl ist nett und freundlich und ein wunderbarer Gärtner. Warum geht es auf der Welt so ungerecht zu?

Earl war unterwegs, um weitere Kisten zu holen, als er plötzlich stehenblieb und zu Boden starrte. Althea sah, dass sein Gesicht schmerzverzerrt war. Sie setzte sich in Bewegung und ging auf ihn zu.

Im Klee lag ein kleines braunes Kaninchen auf dem Rücken und streckte alle viere von sich.

Earl sah nicht auf. »Der Spray hat es umgebracht. Auf dem Klee.« -

»Oh...«, sagte Althea leise.

»Es hat gelitten.«

Laura Lindsay kam quer durch den Obstgarten auf sie zu. Althea war froh darüber, denn Laura würde verstehen, wie ihnen beiden zumute war. Trotzdem war es schrecklich, dass sie das arme kleine Tier gesehen hatte.

»Guten Morgen!« Laura lächelte freundlich. Dann senkte sie den Kopf und sah das Kaninchen. »Oh, was ist mit ihm passiert?«

»Spray«, erklärte ihr Earl. »Die armen Tiere fressen Klee und gehen daran ein.«

»Und wer benutzt ein so giftiges Mittel?«, fragte Laura aufgebracht.

»Fredericks. Er spritzt bei sich und bei Ackerman.«

Laura starrte das Kaninchen an. »Gibt es denn keine Möglichkeit, ihn daran zu hindern?«

»Nein«, erklärte ihr Althea betrübt. »Die beiden halten mich für eine hysterische alte Jungfer, wenn ich davon rede, wie gefährlich dieses Zeug ist.«

»Haben Les Ackerman und Charles Fredericks die Sache mit den Kirschen nicht nur angefangen, um für die Steuer einen Verlust zu erwirtschaften?«

»Ich nehme es an, aber in einem guten Jahr können sie der Versuchung nicht widerstehen, alles zu tun, um sich einen Gewinn zu sichern.«

Laura fragte, ob die anderen Obstzüchter diese hochgiftigen Mittel ebenfalls benutzten. Earl verneinte ihre Frage.

»Charles hält die anderen für Dummköpfe«, fügte Althea hinzu. »Er arbeitet mit neuen Methoden - und dazu gehören leider auch solche Sprays.«

»Ich nehme an, dass er seine Immobiliengeschäfte ähnlich rabiat macht«, stellte Laura fest. »Ohne Rücksicht auf Nebenwirkung bei anderen.«

»Keines dieser Mittel ist gut für die Tiere«, warf Earl ruhig ein, »aber manche sind eben schlimmer als die übrigen.«

»Und Charles verwendet das schlimmste!«

Earl zuckte mit den Schultern. »Das kann ich nicht beurteilen. Angeblich ist das Zeug völlig harmlos. Er trägt nicht einmal eine Maske, wenn er spritzt.«

»Hoffentlich erwischt es ihn eines Tages wie dieses arme Kaninchen hier!«, rief Laura aus. »Wie heißt das Teufelszeug eigentlich, Earl?«

»Als ich zuletzt mit ihm gesprochen habe, war es Paramordant, aber es kann jetzt schon ein anderes Mittel sein. Er und Ackerman schwärmen für neue Mittel.«

»Dabei haben sie es beide nicht nötig, auch nur einen Cent mit Kirschen zu verdienen!«

Althea versuchte öl auf die Wogen zu gießen, indem sie Laura zum Kaffee einlud.

»Danke, das ist sehr nett von Ihnen, aber ich habe wirklich keine Zeit. Vor der Party ist noch so viel zu tun! Ich wollte mir nur schnell Ihre Garnierspritze leihen.«

»Ich dachte, Edna Conklin hätte angeboten, die Geburtstagstorte zu backen?«

»Das tut sie auch, aber ich möchte noch eine kleinere Torte backen, falls die große nicht für alle reicht.«

»Ich würde Ihnen die Garnierspritze gern leihen, Laura, aber ich kann sie nicht finden. Als ich sie vor ein paar Tagen benutzen wollte, habe ich sie überall vergeblich gesucht. Aber irgendjemand in der Nachbarschaft hat bestimmt eine.«

Laura nickte zustimmend und wollte gehen, aber Earl hielt sie zurück.

»In der Tanne dort drüben haben Vögel gebrütet. Als ich gestern nachgesehen habe, waren die Jungen noch gesund und munter.«

Althea lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Ob ihnen etwas zugestoßen ist?«

Earl ging auf die Tanne zu. Althea wünschte, sie hätte diese Frage nie gestellt - sie wollte nicht wissen, ob die kleinen Vögel tot waren.

»Es hat sie erwischt!«, rief Earl. »Sehen Sie sich das Nest an!«

»Das könnte ich nicht ertragen«, antwortete Althea. Sie sah zu Laura hinüber, die blass geworden war. »Er zeigt mir immer solche grässlichen Sachen. Ich weiß nicht, warum er glaubt, ich könnte das aushalten... Wenn Mr. Fredericks seinen Willen durchsetzt, wird es hier bald keine Tiere mehr geben.«

»Schrecklich!«, stimmte Laura zu und eilte davon.

 

Norm Brenner, Gesundheitsbeamter im Lake County, verließ sein Büro in Poison um neun Uhr und fuhr auf dem Highway 35 zum Ostufer des Sees. Seit zwei Wochen versuchte er, mit Mr. Ackerman wegen seiner Kläranlage zu sprechen, die zu nah am See lag. Jedes Mal war Mrs. Ackerman am Telefon gewesen und hatte behauptet, ihr Mann sei nicht zu Hause. Die Kläranlage sei außerdem schon installiert gewesen, als sie das Haus gekauft hatten, und gehe sie deshalb nichts an. Mrs. Ackerman war nicht gerade umgänglich - er verglich sie im Stillen sogar mit einem Stachelschwein. An diesem Morgen hatte er nicht angerufen, weil er hoffte, Mr. Ackerman abfangen zu können, bevor er das Haus verließ.

Es war ein wunderschöner klarer Tag, an dem man bis zur Woods Bay am anderen Ende des Sees sehen konnte. Wild Horse Island ragte mit seinen grünen Hügeln aus dem klaren blauen Wasser, und die Kuppel der Radarstation auf dem Blacktail glitzerte im Sonnenschein. Aber Norm achtete kaum auf die Landschaft - er machte sich Sorgen. Er hatte noch Glück gehabt, dass er die Übertretung bei Ackermans festgestellt hatte, ganz nah bei Charles Fredericks. Aber allein der Gedanke, in die Nähe dieses Kerls zu kommen, beunruhigte ihn. Norm er- io tappte sich dabei, dass seine Gedanken in eine unangenehme Richtung abschweiften. Er gab Gas und fuhr schneller, als könne er es nicht mehr erwarten, mit Irene Ackerman zusammenzutreffen.

Zehn Minuten später bog Norm Brenner von der Straße ab, folgte der kiesbestreuten Einfahrt und hielt vor dem weißen Bungalow. Er stieg aus und ging um die nächste Hausecke. Mrs. Irene Ackerman stand auf der Treppe, die von der Terrasse in den Obstgarten hinunterführte. Sie kehrte Norm den Rücken zu und hatte eine Spritze in der Hand, mit der sie einen Rosenstock besprühte. Von hinten hatte sie die Figur einer Dreißigjährigen, aber als sie sich jetzt umdrehte, hatte Norm ein sechzigjähriges Gesicht vor sich, dessen streitsüchtig-misstrauischer Ausdruck ihn zusammenzucken ließ.

Sobald Norm begonnen hatte, die Ackermans darauf hinzuweisen, dass ihre Kläranlage fast zwanzig Meter zu dicht am Seeufer lag, hatten die Nachbarn die beginnende Auseinandersetzung interessiert verfolgt. Alle erzählten Norm von Irene und forderten ihn auf, nicht nachzugeben. Niemand hatte ein freundliches Wort für sie, und so viel Norm wusste, hatte sich noch niemand gegen die durchsetzen können.

»Guten Morgen«, sagte er lächelnd und war auf eine bissige Antwort gefasst.

»Ach, Sie sind’s!« fauchte Mrs. Ackerman. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nichts veranlassen kann, bevor mein Mann zurückkommt. Sie brauchen also nicht eigens herzukommen und mir zu drohen!«

»Ich wollte Ihnen keineswegs drohen, Mrs. Ackerman. Aber ich dachte, er sei vielleicht zu Hause.«

»Er ist nicht hier, das sehen Sie doch selbst!«

»Können Sie mir vielleicht sagen, wann er zurückkommt?«

»Nein, das weiß ich nicht. Rufen Sie lieber an, bevor Sie wiederkommen - wenn Sie unbedingt kommen müssen.« Sie arbeitete weiter.

Norm zuckte mit den Schultern, wandte sich ab und ging zu seinem Wagen zurück. Als er einsteigen wollte, kam eine freundliche weißhaarige Dame die Einfahrt entlang.

»Guten Morgen«, sagte sie. »Ich bin Doktor Severance. Haben Sie sich eben mit Irene unterhalten?«

»Ja, leider... Ich wollte Mr. Ackerman sprechen.« Norm stellte sich vor.

»Die meisten Leute würden lieber mit Les sprechen. Aber ich bin davon überzeugt, dass er zu Hause ist. Er erwartet mich.« Dr. Severance zeigte auf die offene Garage. »Dort steht auch sein Wagen.«

Norm wurde rot. Irene hatte absichtlich gelogen, um ihn loszuwerden. Aber er würde zurückgehen und noch mal mit ihr reden. In Dr. Severances Anwesenheit hatte er vielleicht mehr Glück.

Als sie um die Ecke bogen, war Irene nicht mehr zu sehen. »Sie muss hineingegangen sein.« Norm trat an die Terrassentür, um zu klopfen.

Dr. Severance sah die lange Treppe hinunter und entdeckte Irene. »Hierher, Norman!«, rief sie Brenner zu und eilte zu der leblosen Gestalt.

Irene lag mit dem Gesicht nach unten auf der Treppe. Ihr rechter Arm war unnatürlich verdreht und konnte gebrochen sein. Sie bewegte sich nicht. Neben ihrem Kopf lag ein mit Moos und Flechten bewachsener Stein, der weich und harmlos aussah. Vielleicht ist sie davon getroffen worden, dachte Grace. Sie ließ sich durch Nebensächlichkeiten ablenken, weil sie sich nicht an das Hauptproblem heranwagte: Lebte Irene noch?

»Großer Gott!«, flüsterte Norm betroffen. »Ist sie schwer verletzt?«

»Das weiß ich noch nicht.«

In diesem Augenblick stöhnte Irene und beantwortete damit die wichtigste Frage. Norm trug sie nach oben auf die Terrasse und legte sie in einen Liegestuhl. Sie starrte ihn an, stöhnte wieder und betastete ihren Arm. »Sie haben mich gestoßen!«, behauptete sie.

»Ich war gar nicht in Ihrer Nähe, Mrs. Ackerman. Sie müssen gestolpert sein.«

»Ich habe mir bestimmt den Arm gebrochen. Sehen Sie ihn sich nur an, Doktor Severance!«

Der Arm schien nicht gebrochen zu sein, aber das ließ sich erst nach einer Röntgenaufnahme sagen.

»Ich spüre, dass er gebrochen ist!« jammerte Irene. »Sie sind gar keine echte Ärztin, nicht wahr?«

»Ich bin Pathologin, keine praktische Ärztin«, gab Grace zu. »Legen Sie sich jetzt hin und versuchen Sie, sich zu entspannen - Sie sind unglücklich gestürzt und natürlich noch ein bisschen durcheinander.«

Die Terrassentür wurde geöffnet. Les Ackerman erschien in einem gestreiften Bademantel. »Was ist passiert, Irene?«, fragte er besorgt.

»Ich bin die Treppe hinuntergefallen und habe schreckliche Magenschmerzen. Mir ist schlecht, Les. Ich werde ohnmächtig, glaube ich.«

»Wieso bist du gefallen?«, wollte ihr Mann wissen. Er legte ihr eine sommersprossige Hand auf die Schulter.

»Dieser Mann hat mich gestoßen.« Irene zeigte auf Norm.

»Ich habe Ihre Frau nicht angerührt, Mr. Ackerman! Als ich gegangen bin, hat sie dort drüben auf der Treppe gestanden. Sie hat gesagt, Sie seien nicht zu Hause.«

»Warum hätte ich das nicht sagen sollen?«, erkundigte sich Irene. »Les braucht seinen Schlaf. Er arbeitet schwer. Die Sache mit der Kläranlage hat wirklich noch Zeit!«

»Was hast du auf der Treppe gemacht?«, fragte Les.

»Ich habe die Rosen gesprüht.«

»Du weißt doch, dass ich das tue. Damit brauchst du dich nicht abzurackern.« Er ließ sich in einen Sessel fallen und holte eine Zigarettenpackung aus der Tasche seines Bademantels. »Bleib ganz ruhig liegen, dann erholst du dich am schnellsten.« Ackerman sah zu Dr. Severance und Norm Brenner hinüber. »Setzen Sie sich doch! Eine Tasse Kaffee würde ihr guttun, nicht wahr, Doc?«

Grace stimmte zu. Les ging ins Haus zurück und holte eine verchromte Thermoskanne. »Irene hat mir den Kaffee schon hingestellt. Sie sorgt für mich, nicht wahr, Liebling? Mr. Brenner, würden Sie bitte in der Küche nachsehen, ob Sie ein paar Tassen finden können?«

Als Norm ins Haus gegangen war, wandte Les sich an seine Frau. »Lass ihn bitte in Ruhe, Irene. Wir müssen uns an die Vorschriften für Kläranlagen halten - daran ist nichts zu ändern. Er ist ein netter junger Mann, der nur seine Pflicht tut.«

»Warum kümmert er sich nicht um richtige Verstöße? Was ist mit den Leuten, die Wasser trinken, das durch einen Hühnerhof fließt? Er hat es nur auf uns abgesehen, weil er sich einbildet, dass wir Geld haben und ihn bestechen, damit er wegbleibt. Aber ich zahle niemandem Schmiergelder!«, rief sie laut, als Norm mit den Tassen zurückkam.

Der junge Mann wurde rot. »Falls Sie damit mich meinen, Mrs. Ackerman, kann ich Ihnen versichern, dass ich keine Schmiergelder nehme.«

»Das wissen wir, Norm«, versicherte ihm Les. »Warum Irene wohl gestürzt ist? Sie steht sonst sehr fest auf den Beinen.«

Norm ging die Treppe hinunter bis zu der Stelle, wo sie Mrs. Ackerman gefunden hatten. »Hier ist ein Draht über die Treppe gespannt!«, rief er nach oben.

Les war sprachlos. Dr. Severance und er gingen die Stufen hinunter. Ein sehr dünner, fester Draht war zwischen zwei Bäumen ausgespannt und musste Irene zum Stolpern gebracht haben.

»Wer kann das gewesen sein?«, fragte Dr. Severance. »Anscheinend sollte der Draht den ersten, der die Treppe hinunterging, zu Fall bringen.«

Sie stiegen wieder zur Terrasse hinauf und erstatteten Irene Bericht.

»Ich weiß genau, wer das war!«, rief sie aus. »George Bache. Er würde sich schieflachen, wenn ich mir den Arm brechen würde. Ich...«

»Nein, Irene«, wandte Les ein. »George spielt anderen Leuten gern Streiche, aber er tut nichts, was anderen ernstlich schaden könnte.«

»Das ist ihm ganz egal, glaube ich. Er ist ein schrecklicher Kerl!«

Dr. Severance kannte George Bache, den geistreichen, sarkastischen Besitzer eines Antiquitätengeschäfts in der Nähe. Er war ihr sympathisch. Sie wusste recht gut, dass George Mrs. Ackerman nicht leiden konnte, aber sie glaubte nicht, dass er diesen Draht gespannt haben sollte.

»Da kommen die Lindsays«, sagte Les, als ein Mann und eine Frau die Treppe heraufstiegen. »Vorsicht, Elliot! Im oberen Teil ist ein Draht gespannt - fallt nicht darüber!«

Elliot Lindsay winkte. Laura und er beugten sich über den Stolperdraht und kamen dann auf die Terrasse. »George Bache«, meinte Elliot grinsend. »Dieser alte Gauner!«

»Was fehlt Ihnen, Irene?«, fragte Laura freundlich. Sie gehörte zu den wenigen Leuten, die unbefangen mit Irene sprechen konnten.

»Ich habe Magenschmerzen«, klagte Mrs. Ackerman.

Nachdem Laura gehört hatte, was passiert war, beruhigte sie Irene. »Heute Abend fühlen Sie sich bestimmt wieder besser. Sie dürfen Does Geburtstagsparty auf keinen Fall versäumen.«

»Ich kann unmöglich kommen.«

»Wenn Sie zu krank sind, Irene, erwarten wir zumindest Les«, warf Elliot ein und blinzelte dabei Grace zu.