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Der Morgen E-Book

Marc Raabe

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Beschreibung

Macht. Ohnmacht. Tatnacht. Im morgendlichen Schneegestöber an der Berliner Siegessäule steht ein verlassener Kleinlaster. Auf der Ladefläche findet die Polizei eine halbnackte tote Frau. Jemand hat ihr mit roter Farbe etwas auf den Körper geschrieben - die Privatadresse des Bundeskanzlers. Am Tatort trifft die ehrgeizige Kommissar-Anwärterin Nele Tschaikowski auf den berüchtigten Ermittler Artur Mayer. Was sie nicht wissen: Das ist kein Zufall. Das Thriller-Ereignis des Jahres mit farbigem Buchschnitt!

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Der Morgen

MARC RAABE hat eine TV- und Medienproduktion aufgebaut, bevor er sich 2021 für ein Leben als Autor entschied. Zu diesem Zeitpunkt begann er mit der Art Mayer-Serie. Seine Bestseller erscheinen in mehr als zehn Sprachen. Sein Handwerkszeug sind filmisches Erzählen, Schnitttechniken, Cliffhanger und Psychologie. Das Ergebnis: ein rasantes Kopfkino mit Tiefe. So wie seine Ermittlerfiguren bricht auch Marc Raabe hin und wieder Regeln.

Marc Raabe

Der Morgen

Thriller

Ullstein

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Ullstein Paperback ist ein Verlagder Ullstein Buchverlage GmbHOriginalausgabe© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Umschlagmotive: © Vyacheslav Lopatin / Alamy Stock Foto, FinePic®, MünchenAutorenfoto: © Hans ScherhauferE-Book-Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

ISBN 978-3-8437-2915-4

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Interview mit Marc Raabe

Der Morgen

Widmung

Motto

Intro

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Epilog

Es geht weiter!   MARC RAABEDIE DÄMMERUNG  Leseprobe

Prolog

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

Anhang

Leseprobe: Die Dämmerung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Interview mit Marc Raabe

Interview mit Marc Raabe

Wie entstand die Idee zu dem Thriller DER MORGEN?

Ich habe nicht diese eine Idee, die gleich den ganzen Roman vor mir ausbreitet, sondern ich schreibe mich in eine Situation rein, die ich interessant finde, die für mich eine Energie hat. Das ist ein bisschen wie ein Sprung aus dem Flugzeug. Daraus entstehen Figuren, Wendungen, Motive, die sich immer weiter aus sich selbst heraus entwickeln. Ab der Mitte des Romans öffne ich den Fallschirm, und überblicke die ganze Landschaft. Der Prolog von DER MORGEN ist eine Erinnerung aus meiner Kindheit. Da gab es einen bestimmten Kiosk, zu dem ich gern und häufig hingegangen bin, um Süßigkeiten zu kaufen. Aber das Süße war mit dem Schrecken verbunden. Ein paar Jugendliche lauerten mir da drei-, viermal auf, und das war wirklich eine furchtbare Situation, die mir Angst gemacht hat.

Was ist denn für Sie ein guter Kriminalroman?

Ich will hier gar nicht nur über Krimis reden, mich interessiert vor allem eine gute und packende Geschichte. Das eine ist, was vorne draufsteht, also zum Beispiel Thriller. Aber beim Schreiben achte ich überhaupt nicht auf Genre-Grenzen. Das, was mich am meisten reizt, ist, was passiert, wenn ich über die Grenze gehe. Wenn ich im Krimi auch eine Coming-of-Age-Geschichte habe, oder eine Liebesgeschichte, ein Drama, die Tiefe eines Romans, die Schnelligkeit eines Thrillers. Am Ende ist mir das Wichtigste, dass eine Geschichte lebt, neugierig macht und irgendwie auch aufregend ist. Ich will ein Abenteuer erleben. Und im Krimi liegt natürlich eins der größten Abenteuer darin, dem Bösen entgegenzutreten. 

Was fasziniert Sie an der Auseinandersetzung mit dem Konzept des Bösen?

Ich glaube, die Wurzel des Bösen ist häufig Angst. Von Geburt an müssen wir uns mit unserer Angst auseinandersetzen. Wir streben nach Sicherheit, aber in ganz vielen Momenten sind wir eben nicht sicher. Im Laufe unseres Lebens entwickeln wir Strategien, wie wir mit dieser Angst umgehen. Manche verhärten und versuchen, die Angst nicht zu spüren. Manche reagieren mit Aggression. Und dann entsteht das, was wir böses Verhalten nennen. Ich frage mich: Wie kann Angst so groß werden – und in eine so falsche Richtung gehen –, dass Menschen anderen wehtun oder gar zu Mördern werden? Und wie kann es sein, dass manche Menschen dabei eine absurde Freude empfinden, also inwiefern ist Sadismus an Angst gekoppelt? Das versuche ich in meinen Büchern herauszufinden – nicht auf eine komplexe psychologische Weise, sondern indem ich meine Figuren bestimmte Erfahrungen machen lasse und zeige, was das für Auswirkungen auf sie hat. Und zwar in alle Richtungen.

Der Ermittler Art Mayer scheint mit seiner Angst einen guten Umgang gefunden zu haben, er ist ein Einzelgänger, einer mit einem großen Herzen. Aktuell ist er aber ziemlich aus der Spur. Wie sehen Sie ihn?

Als Ermittler hat Art Mayer häufig erleben müssen, dass die Mittel der Justiz und der Polizei nicht ausreichen. Dass Täter wieder freikommen, sich mit guten Anwälten aus der Affäre ziehen. Obwohl er als Polizist sehr erfolgreich ist, hat Art Mayer so viele schlechte Erfahrungen gemacht, dass er am System zweifelt. Das wirkt sich immer stärker auf seine Haltung und seine Ermittlungen aus. Immer häufiger geht er Wege, die, sagen wir, etwas ungewöhnlicher, etwas direkter, etwas unkonventioneller und juristisch durchaus auch bedenklich sind. Und Art Mayer trägt eine Geschichte mit sich herum, die er besser niemandem erzählt. Abgesehen davon, dass es berufliche Konsequenzen haben dürfte, wenn sie öffentlich würde, muss Art Mayer fürchten, dass etwas in ihm lauert, vor dem er selbst Angst hat.

Der Morgen

Widmung

Für alle,die Geheimnisse haben.

Motto

Es gibt Dinge, die kannst du niemandem erzählen.Du bist allein damit.Du wirfst deine Erinnerung an diese Dinge in den tiefsten Brunnenschacht, den du nur finden kannst.Du hoffst inständig, dass nichts davon je wieder ans Tageslicht kommt. Und noch weißt du nicht, dass du selbst nie wieder von dort unten herauffinden wirst.

Intro

Er riss ein Streichholz an. Starrte auf den Körper. Der Schnee wirbelte stumm. Weiße verirrte dumme Punkte vor einem Himmel zwischen Schwarz und Orange. Wie viel Zeit blieb ihm noch? Fünf Minuten? Drei? Was sollte er mit der Waffe tun? Sie draußen verstecken? Drinnen? Sie reinigen und lügen?

Er schaute zu ihr. Gott, sie hat gar nichts an, schoss ihm in den Sinn. Als wenn das jetzt noch eine Rolle spielen würde. Bis gerade eben war es noch das Allergrößte gewesen.

Er versengte sich die Finger an der Flamme, ließ das Streichholz fallen und zündete ein zweites an.

Der Schwefel zischte in der Stille. Was für eine winzige Flamme und was für eine Riesenscheiße.

Schon damals, am ersten Tag, bei ihrem ersten Aufeinandertreffen, war Blut geflossen.

Und jetzt das!

Ihm wurde schlecht.

Noch zwei Minuten, vielleicht auch eine?

Noch heute weiß er genau, was er damals bei ihrer ersten Begegnung gedacht hatte: Mutig sein! Einfach mutig sein.

Aber mutig sein zu wollen war eines. Es tatsächlich zu sein, etwas ganz anderes. Vor allem, wenn man nicht auffallen durfte.

Prolog

Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen war er zwölf, unsterblich verliebt, und in Heiligensee stand die Hitze. Die Luft stieg flirrend vom Asphalt auf. Ein paar mächtige Linden überragten den ochsenblutrot gestrichenen Kiosk an der Minigolfbahn im Weiherpark und spendeten Schatten. Er steckte den Kopf durch das geöffnete Schiebefenster, um besser in den Kiosk hineinsehen zu können. Sie war nicht da! Auch nicht im Hinterzimmer.

Sein Herz kam ihm plötzlich vor wie ausgehöhlt.

»So, mein Kleiner.« Die Stimme der alten Berger klang wie ein Reibeisen. Warum nur musste er immer an sie geraten? Die Tüte in ihren Händen knisterte, als sie das Papier über den Schätzen zusammenschlug. Es roch nach Zigaretten, einem Hauch Schnaps, und aus den aufgereihten Plastikdosen stieg der süße Duft von klebrigem Weingummi.

»Eins fuffzig.« Die Berger reichte ihm die Tüte durchs Fenster. Ihre blonden Locken waren spröde und ihre Haut grau. Während er in seiner Hosentasche kramte, die vierzig Mark seiner Mutter beiseiteschob und nach den Münzen fingerte, ging sein Blick erneut zum Hinterzimmer.

»Wie alt bist ’n du«, fragte sie und musterte ihn. Hatte sie seinen Blick bemerkt? Ahnte sie, dass er wegen ihrer Tochter hier war? »Fünfzehn«, log er.

»So. Fünfzehn also.« Sie verzog keine Miene. Bestimmt hing ihre Tochter mit Älteren ab. Das taten Mädchen immer. Klimpernd legte er das Geld auf das schmale Fensterbord. Sie strich es ein. »Schicker Schlips.«

»Ist ’ne Schuluniform«, rechtfertigte er sich.

»Bist auch einer von dieser Schlauenschule, hm?«

»Mhm«, brummte er und wurde rot. Das Astoria hatte einen ziemlichen Ruf.

»Na denn …«, murmelte die Berger und machte eine leichte Kopfbewegung. Kein Nicken, kein Kopfschütteln. Irgendwas dazwischen. »Vielleicht kommste ja mal mit deinen Freunden zum Minigolf«, bot sie an und reichte ihm die Tüte. Ein goldener Wassermann an einer dünnen Kette blinkte zwischen ihren Brüsten. Starrte er etwa gerade in ihren Ausschnitt? Hastig wandte er sich ab.

»Ja, vielleicht.« Er nahm die Tüte und floh durch die grüne Gittertür neben dem Kiosk vom Gelände des Minigolfplatzes. Welche Freunde eigentlich? Die vom St. Joseph war er los, und am Astoria war er immer noch der Freak aus dem Heim.

Er wünschte, er hätte eines dieser Mofas, wie die coolen älteren Jungs. Dann würde er jetzt mit lautem Getöse in einer Staubwolke davonrauschen. Aber er hatte nur ein klapperndes grünes Hercules-Damenrad, zu klein für seine aufschießenden Glieder. Er schob sich einen Halbmond und eine Cola-Flasche gleichzeitig in den Mund und strampelte im zweiten Gang aus dem Schatten der Bäume, als er sie plötzlich sah.

Für einen Augenblick stand sein Herz still.

Er wusste ihren Namen noch nicht, aber das würde sich bald ändern. Sahra, Yvonne, Ellie, wie auch immer. Ihr Name war eigentlich egal. Er würde jeden Namen an ihr mögen.

Das Problem war, sie war nicht allein.

Mutig sein.

Zu fünft saßen sie in der Sonne, zwei Mädchen, drei Jungs – genau da, wo er vorbeimusste, am Ausgang des Weiherparks. Einer stand, die anderen hockten lässig auf den Lehnen der Stühle, die um einen quadratischen Metalltisch herum festgeschweißt waren. Ein paar Schritte weiter hatten zwei von ihnen ihre Enduro-Mopeds geparkt. Auf dem Tisch standen ein paar halb volle Bierflaschen.

Sie trank Cola und legte den Kopf in den Nacken. Ihre langen blonden Haare fielen über die Schultern, ihr weißes, locker sitzendes Top mit den tiefen Ärmelausschnitten warf ihn fast vom Rad. Jemand riss einen Witz, und sie musste prusten. Cola tropfte von ihrem Kinn auf ihr Top. Was sie nicht weniger perfekt machte. Jetzt, wo er sie sah, fand er, Ellie würde am besten passen. Hätte nur sie mit ihrer Freundin dagesessen, er hätte angehalten. Aber die drei Typen, die mit ihnen abhingen, waren schwierig. Zwei von ihnen kannte er vom Sehen, vom Astoria-Schulhof, sie waren aus der Abschlussklasse. Achtzehn. Mindestens.

Ihre Namen wusste er damals noch nicht.

Der Größte der drei Jungs glitt vom Stuhl und verstellte ihm den Weg, sodass er anhalten musste. Es war der, den er noch nie gesehen hatte. Der Typ trug eine NY-Kappe, der Schirm verschattete seinen Blick. »Schickes Fahrrad«, feixte Kappe und deutete mit der Bierflasche in seiner Hand auf das Mädchenrad.

»Schicker Schlips«, sagte der Zweite, der sitzen geblieben war. Er trug eine Brille und ein knallweißes, spöttisches Lächeln. »Aber irgendwie passt das nicht so richtig zusammen, oder?«

»Hallo«, sagte er leise, blickte angespannt an Kappe und Brille vorbei und lächelte Ellie an. Blaue Augen. Er versank. Sie wandte sich ab und wischte über die Cola-Spritzer auf ihrem Top.

»Ignoriert der uns?«, fragte Kappe. Seine Stimme leierte etwas. War wohl nicht sein erstes Bier heute.

»Sieht so aus«, grinste Brille. Auch er schien leicht einen sitzen zu haben. Oder täuschte das? Der dritte Typ hielt sich im Hintergrund, ließ ein silbernes Feuerzeug aufschnappen und steckte sich eine Zigarette an. Zippo hießen die Dinger. Jockel aus dem St. Joseph hatte auch so eins gehabt, er hatte es von irgendjemand abgezogen und immer behandelt wie eine Trophäe.

»Was is ’n der jetzt eigentlich, ’n Junge oder ’n Mädchen?«, frotzelte Kappe.

Brille zögerte. Für einen Moment schien er zu überlegen, ob er mitmachen wollte oder nicht. »Beides möglich, oder?«, sagte er und zeigte auf das Damenrad und den Schlips.

»Lasst ihn doch«, mischte Ellie sich ein. Himmel, war das peinlich. Als wäre er ein Baby, dem man helfen müsste.

»Wieso?«, meinte Kappe. »Er könnte uns neues Bier holen.«

»Der?« Ellies Freundin hob die Augenbrauen. Ihre Pupillen waren so groß wie bei Jockels Kumpel Falco, wenn er was intus hatte. Sie war ebenfalls blond und trug ein eng anliegendes geripptes Top mit tiefem Ausschnitt. Noch tiefer als Ellies Mutter. Wenn das überhaupt ging. »Der ist doch höchstens … dreizehn? Zwölf?«

»Dann soll er nach Hause und bei seinem Vater aus dem Kühlschrank was holen«, sagte Kappe.

Mist. Wenn er jetzt nicht bald etwas sagte, dann würde Ellie denken, er wäre der letzte Feigling. »Eure Flaschen«, kam es ihm über die Lippen, »die sind doch noch fast voll.« Sofort kam ihm der Satz idiotisch vor.

Es herrschte kurz Stille.

Der mit dem Zippo lächelte amüsiert.

»Hat das Mädchen mit dem Schlips was gesagt?«, fragte Brille.

»Ich hab nur voll gehört«, meinte Kappe. Mit ausdruckslosem Gesicht hob er die Flasche hoch und goss sie über ihm aus. Das Bier floss durch seine Haare, lief ihm ins Gesicht, von dort am Schlips herab bis in den Schritt.

Die mit dem Ausschnitt lachte schrill.

»Jetzt ist sie leer«, sagte Kappe mit falschem Bedauern.

»Mein Gott, jetzt lasst ihn doch«, bat Ellie erneut. In ihrem Blick regte sich Mitleid. Alles, nur das nicht, dachte er. Bitte kein Mitleid.

»Husch, husch, zu Papas Kühlschrank«, meinte Kappe. »Da kannst du Nachschub holen.«

»Nicht jeder Vater ist ein Säufer«, brachte er hervor.

Wieder Stille.

Keine gute Stille.

»Treffer, versenkt«, prustete Ellie.

Kappes Faust schnellte vor. Der Schmerz war eine stumpfe Explosion, es knirschte in seinem Mund, als wäre etwas zerbrochen, Kappe stieß nach und schickte ihn zu Boden. Das Fahrrad schlug scheppernd auf. Das Weingummi flog aus der Tüte und zierte den Boden mit bunten Sprenkeln in der Sonne. Er schmeckte Kupfer, alles wackelte.

»Ey, man schlägt kein Mädchen«, monierte Brille. Er klang plötzlich, als würde er sich nicht ganz wohl in seiner Haut fühlen.

»Ich dachte ganz kurz, es könnte ein Junge sein«, verteidigte sich Kappe grinsend. »Aber hast recht, jetzt, wo sie da so liegt … wir könnten ja mal nachsehen, was es wirklich ist.« Kappe beugte sich vor und machte Anstalten, ihm die Hose zu öffnen.

»Nein! Nicht!«, protestierte er. Blut lief ihm über die Lippen, er spuckte etwas kleines Weißes aus, ballte die Fäuste und wehrte sich aus Leibeskräften.

»Jetzt hilf mir schon«, blaffte Kappe. Brille zögerte, nahm einen Schluck aus der Flasche, dann kam er heran. Während Kappe ihn festhielt, zog Brille ihm Hose und Unterhose aus.

»Schau an! Ist doch ein Junge«, rief Kappe mit gespieltem Erstaunen.

»So ein süßer Flaum«, gluckste Ausschnitt.

Der mit dem Zippo wendete sich ab und ging ein paar Schritte.

»Wo willst ’n hin? Wird doch gerade interessant«, rief Kappe.

»Muss mal pinkeln«, erwiderte Zippo.

»Ey, du bist so ’n Verpisser.«

Kappe kramte in den Taschen der erbeuteten Hose, fand die vierzig Mark und hielt die Scheine hoch. »Hey, hey!«

»Gib das her. Das is für meine Ma. Ich soll zur Apotheke«, stöhnte er.

»Gehst du häufiger mal für deine Mama zur Apotheke?«

»Geht dich einen Scheiß an.«

»Vorsicht, Kleiner«, warnte Brille. »Übertreib’s nicht.« Er legte Kappe eine Hand auf den Arm und versuchte, ihn fortzuziehen, doch Kappe schüttelte ihn ab. »Das mit meinem Vater nimmst du zurück«, drohte Kappe mit erhobenem Zeigefinger. »Klar?«

»Leck mich«, nuschelte er.

Kappes Mundwinkel zuckten. »Na schön, kleines Großmaul. Dann würde ich vorschlagen, du gehst nicht an Papas Kühlschrank, sondern an Mamas Portemonnaie.« Er rollte die Hose zusammen und schleuderte sie den Weg hinunter. »Drei Tage, klar? Dann kriege ich das Gleiche noch mal. Vierzig Mark. Weißt ja, wo du uns findest. Und jetzt flieg, Kleiner, flieg schön heim auf deinem hübschen Fahrrad.«

Ellies Miene war starr wie eine Maske. Er wich ihrem Blick aus, kam gekrümmt auf die Beine und versuchte, seine Blöße vor ihr zu verstecken.

»Huh«, meinte Ausschnitt und wedelte mit der Hand, als hätte jemand einen unanständigen Witz erzählt.

»Sieht nach dem Beginn einer besonderen Freundschaft aus«, lachte Kappe. Ellie sah weg.

»Vor allem einer langen Freundschaft«, ergänzte Brille.

Er sollte recht behalten, gewissermaßen.

Was allerdings damals noch niemand wusste: Einer von ihnen würde Bundeskanzler werden.

Kapitel 1

Art Mayer stierte durch die Windschutzscheibe und rang um Kontrolle. Viertel vor sechs in der Früh, seit neunzehn Stunden keinen Schlaf und dazu noch … egal. Die umherwirbelnden Schneeflocken machten es jedenfalls nicht einfacher. Verdammte Kaltfront. Von Osten rollten mehrere Tage Schneefall heran, hatten sie im Wetterbericht verkündet. Sein Leben war so aus der Spur, dass er manchmal versucht war, einfach das Steuer loszulassen, bis es knallte. Er rang die Hände fester ums Lenkrad und fixierte die erleuchtete Goldelse durch das weiße, flirrende Gestöber. Der geflügelte Engel auf der Spitze der Berliner Siegessäule ragte in die Dunkelheit wie die Königin der Welt. Bis zum Großen Stern, dem Kreisverkehr um die Siegessäule, waren es noch etwa hundert Meter. Er begann zu schwitzen. Und er war zu schnell.

»Alles okay, Süßer?« Ivys Stimme klang rau, kraftlos und trotz ihrer Situation immer noch zuckrig. Alle Mädchen im Cherry Crown hatten diese Tonlage drauf. Der Zucker war ein Reflex, auch dann, wenn es schwierig wurde. Vielleicht sogar besonders dann.

»Artur? Was ist mit dir?«

Er schwieg, betätigte vorsichtig die Bremse, obwohl er lieber mit aller Kraft aufs Pedal getreten hätte, um seinen Frust an irgendetwas abzulassen. Doch die Temperatur lag laut Thermometer bei acht Grad unter null, die Straße war gefährlich glatt, und die Bremsen des alten Fords, in dem sie saßen, wirkten wie aus den Siebzigern.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Ivy. Art spürte ihre Hand auf seiner Rechten, mit der er sich ans Lenkrad klammerte, damit das beginnende Zittern nicht so auffiel. Ivys Hand war warm und ruhig, jedoch ein wenig steif. Vermutlich waren ein, zwei Finger verstaucht. Ihre Knöchel waren aufgeschürft und geschwollen. Die goldene Herren-Rolex hatte sie sich den Arm hochgeschoben, damit sie nicht so schlackerte.

»So weit kommt’s noch«, knurrte Art. Er versuchte es mit einem aufmunternden Blick in ihre Richtung. Ihr linkes Auge war blutunterlaufen und schwoll immer weiter zu. Er machte sich Sorgen um ihren Wangenknochen und die Augenhöhle.

Um halb vier Uhr früh hatte Ivy – ihren richtigen Namen kannte er nicht einmal – ihren letzten Strip an der Pole getanzt. Eigentlich hatte sie nur für Dana übernommen, die jetzt schon seit über zwei Wochen wie vom Erdboden verschluckt war. Im Cherry Crown hingen nur noch ein paar versprengte Gestalten fest, die Überbleibsel einer Banker-Bonus-Party, alle mit glasigem Blick und gelockerten Krawatten. Nicht gerade Killer, aber Getriebene. Grund genug, sie zu beobachten und zu überprüfen, ob jemand von ihnen etwas mit Danas Verschwinden zu tun haben könnte, denn genau das war der Grund, warum er im Crown angeheuert hatte – die Suche nach seiner verschwundenen Nachbarin Dana.

Bis vor Kurzem hatte er nicht gewusst, dass Dana Karasch in einem Stripklub arbeitete. Er hatte noch nicht einmal ihren Namen gekannt. Art hatte sich in Berlin-Neukölln in seiner neuen Wohnung eingegraben. Zwei Monate war das her. Und genau genommen war es eher ein Loch. Fünfundvierzig Quadratmeter im dritten Stock, eine Eins-vierziger-Matratze vom Outlet auf einem fleckigen Teppichboden, ein Sofa, eine Küche mit einem defekten Ofen, was ihn nicht weiter interessierte, ein WLAN-Router und zwei Kisten mit Büchern, die er nicht las. Dana wohnte eine Etage unter ihm. Sie lächelte selten, hatte müde Augen und war nie geschminkt. Ihre langen schwarzen Haare verbarg sie meist unter einer Mütze. Sie schien sich genauso vor der Welt zu verstecken wie Art. Nur wenn ihre kleine Tochter dabei war, lächelte sie manchmal. Dann aber ansteckend und innig.

An Neujahr um die Mittagszeit – Art hatte die Silvesternacht allein in seiner Wohnung verbracht – fand er Danas Tochter mit verweintem Gesicht auf dem Treppenabsatz vor dem Haus sitzend. Sie hieß Milla, war vermutlich sechs oder sieben Jahre alt und sah den schlecht rasierten großen Mann mit den schweren Stiefeln, dem dunklen Marinemantel und den wuchernden schwarzen Locken misstrauisch an. Art hätte sich selbst mit der gleichen Skepsis betrachtet. Was genau den Ausschlag gab, dass sie sich öffnete, wusste er nicht. Art hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, den Umgang mit Kindern zu üben. Seine Frau hatte keine gewollt, jedenfalls wohl nicht mit ihm. Vielleicht hatte Milla auch einfach nur aus Not mit ihm gesprochen oder weil er der Einzige gewesen war, der da war. Jedenfalls brachte sie heraus, dass ihre Mutter seit drei Tagen nicht mehr nach Hause gekommen war und sie Angst hatte, dass ihre Mutter jetzt einfach weg sei, wie damals ihr Vater.

»Bist du denn jetzt ganz allein zu Hause?« Art ließ sich neben ihr auf dem Treppenabsatz nieder.

Sie schüttelte den Kopf. »Nee, Oma ist noch da.«

»Weiß die Polizei denn schon, dass deine Mama weg ist?«

»Ja, Oma hat da angerufen, aber die machen gar nichts«, sagte Milla.

Art wusste, dass dieser Eindruck manchmal entstand. Manchmal stimmte er. Manchmal nicht. Vielleicht war es auch nur Millas kindliche Sicht der Dinge. Er hätte auf der Vermisstenstelle nachfragen können, doch mit der Polizei wollte er im Moment nichts zu tun haben.

»Und warum sitzt du jetzt hier draußen?«, fragte Art.

»Die Oma macht die Tür nicht mehr auf«, schniefte Milla.

Artur nahm Milla bei der Hand, staunte, dass sie es zuließ, und ging mit ihr in den zweiten Stock. Die Klingel gab ein kraftloses Schrillen von sich. Nichts passierte.

»Siehst du«, meinte Milla. Nach dem dritten Klingeln begann er, mit der flachen Hand an die Tür zu schlagen und zu rufen. Ohne Erfolg. Er wollte gerade schon den Notarzt rufen, als eine ältere Frau mit eingefallenen Wangen und zerzaustem grauem Dutt öffnete. Verwirrt sah sie erst Art und dann ihre Enkelin an. Milla schimpfte mit ihr in einer slawischen Sprache, schob sich an ihr vorbei in die Wohnung, um kurz darauf mit vorwurfsvoller Miene und dem Hörgerät ihrer Oma zurückzukehren. Dann lief Milla in die Küche, drehte den Gasherd an und schlug Eier in die Pfanne.

Sechs Jahre, dachte Art.

Drei Tage später war Dana Karasch immer noch verschwunden. Millas Oma wurde befragt, darüber hinaus schien es keine Ermittlungen zu geben, was Art ärgerte, aber nicht wunderte, als er herausbekam, wo Dana Karasch arbeitete – und als was. Also hatte er im Cherry Crown als Türsteher angeheuert und sich dort die letzten Nächte um die Ohren geschlagen, statt schlaflos an die rissige Decke über seiner Matratze zu starren und all das zu ignorieren, was ihn in den letzten Monaten aus der Bahn geworfen hatte.

Bis dann heute früh das mit Ivy passiert war. Um halb fünf Uhr morgens hatte er auf die Uhr geschaut und sich gewundert. Warum war Ivy noch nicht durch die Tür? Normalerweise stiegen die Mädchen hinter der Bühne in ihre Joggingklamotten, warfen sich einen Mantel über und machten, dass sie ins Bett kamen. Einige rauchten noch eine letzte Zigarette am Fenster oder im Hinterhof, aber dafür war es heute zu kalt. Dann hatte er die Geräusche aus dem Getränkekeller gehört.

Der Kerl war etwa dreißig. Einer von den Bonus-Jungs, Typ Sportler, die Sorte mit Fitnessstudio-Muskeln, straßenköterblond. Er trug Schlips, ein weißes Hemd und ein teures Jackett, die Anzughose schlackerte um seine Fußgelenke. Ivy lag entblößt vor ihm auf einem Tisch, den Nacken auf der Tischkante, ihr Kopf ruckte im Leeren. Im ersten Augenblick fürchtete Art, sie wäre bewusstlos.

Art packte den Kerl an den Haaren und zog ihn von ihr herunter. Der Mann war so in Fahrt, dass er direkt begann, auf Art einzuschlagen.

Artur kassierte zwei Treffer, wich dem dritten aus und gab ihm dann in schneller Folge zwei Linke straight auf die Nase, dann einen wuchtigen rechten Schwinger unter den Kiefer, hörte es knacken, zog ihn zu sich heran und rammte ihm das Knie ins baumelnde Gemächt, dann wandte Art sich Ivy zu.

Sie krümmte sich auf dem Tisch, schaffte es jedoch, sich aufzurichten. Art half ihr, eine Decke überzuwerfen. »Ich bin gleich wieder da, ja.« Ivy nickte benommen.

Er packte den Kerl am Kragen, schleifte ihn zum Hinterausgang, knöpfte ihm sein Portemonnaie ab und stieß ihn zwischen die Mülltonnen im Hof.

»Florian Schindler, hm?« Er betrachtete den Ausweis.

»Verdammtes Arschloch«, stöhnte der Mann und versuchte umständlich, im Liegen seine Hose hochzuziehen.

»Find ich auch.«

Artur fotografierte den Ausweis, dann warf er ihn mit dem Portemonnaie über die Mauer auf das Nachbargrundstück. »Schön stillhalten.« Art griff nach dem linken Arm des Mannes und musterte die Uhr an seinem Handgelenk. Rolex. Sah nicht gerade nach Fake aus. Er löste den goldenen Verschluss und kassierte die Uhr. »Wiedergutmachung«, sagte er leise.

Schindler stürzte sich wütend auf Arts Bein und versuchte, ihn zu Fall zu bringen. Artur kickte ihm in die Rippen, packte seinen Arm und verdrehte ihn, bis Schindler jammernd von ihm abließ. Im Gegenzug ließ Art seinen Arm los. »Du bist nicht das erste Mal hier, oder?«

»Geht dich ’n Scheiß an«, ächzte Schindler. Er setzte sich auf und befühlte seinen Arm und sein Gesicht.

Art zog ein Foto aus seiner Jackentasche. »Dana Karasch. Kennst du sie?«

»Warum sollte ich?«

»Sie hat hier gearbeitet. Ich suche nach ihr.«

»Ja, Scheiße, und? Was fragst du mich?«

»Wenn eins von den Mädchen verschwindet, dann fragt man immer Typen wie dich. Rate, warum.«

Schindler verzog das Gesicht. Bisher hatte Art in dessen Blick vor allem Wut und Schmerz gesehen, jetzt war da noch etwas anderes. »Sind Sie Polizist, oder was?«

»Hausmeister«, sagte Art diffus und deutete auf den Hintereingang des Crown. »Also, was ist? Kennst du sie?«

»Ist nicht mein Typ.«

»Du bist auch nicht mein Typ.«

Schindler starrte Art an, dann beschloss er offenbar, die Sache defensiver anzugehen. »Ey, die kenn ich nicht, ich hab sie noch nie gesehen. Ich schwör’s.«

Art fixierte ihn und nickte schließlich. »Okay. Ich hab deinen Ausweis. Ab heute bist du auf meiner Liste. Wenn ich rausfinde, dass du mich anlügst, sehen wir uns wieder. Klar?«

»Ja, is gut, Mann. Hab’s verstanden.«

Art starrte ihn an. »Schön«, knurrte er. »Was ist mit deinen Buddies?«

»Welche Buddies?«

»Die anderen Schlipsträger.«

»Die kenn ich nicht.«

»Klar. Ich geh jetzt rein und zeig denen mal deinen Ausweis. Mal sehen, vielleicht kennen die ja dich.«

Schindler presste die Lippen aufeinander und suchte nach einem Ausweg.

Art legte ihm das Foto auf die Brust. »Wir machen das so«, schlug er vor. »Du hörst dich ein bisschen um, und falls du einen Tipp für mich hast oder mir helfen kannst, sie zu finden, dann kriegst du deine Uhr zurück. Klar?«

Schindler nickte perplex.

Art steckte die Rolex ein und seufzte. Er hatte nicht vor, die Uhr zurückzugeben. Es war ein Schuss ins Blaue. Aber einen Versuch war es wert. »Und ansonsten will ich nie wieder etwas von dir hören oder sehen.«

Danach war Art zurück in den Klub zu Ivy geeilt. Sie war kaum in der Lage gewesen, zu laufen. Trotz ihrer Verletzungen hatte sie sich geweigert, mit ihm ins Krankenhaus zu fahren. Doch Art ließ ihr keine Wahl; nicht bei dieser Art von Verletzungen. Er wusste, dass sie keine Anzeige erstatten würde, aber ein Schädel-MRT war das Mindeste.

Der Große Stern lag jetzt direkt vor ihnen. Rückleuchten glühten auf. Im mehrspurigen Kreisverkehr geriet plötzlich etwas ins Stocken. Art lenkte vorsichtig nach rechts und umfuhr eine Ansammlung von Fahrzeugen. Ganz vorne stand ein Kleinlaster, ein Pritschenwagen mit eingeschalteter Warnblinkanlage. Ein Volvo Kombi versuchte, den kleinen Laster hektisch rechts zu umfahren, und kam Arts Wagen bedrohlich nah. Im letzten Augenblick bemerkte die Fahrerin des Volvos Art, wich aus, versuchte zu bremsen und schlitterte dabei gegen die rechte äußere Ecke der Stoßstange des Pritschenwagens. Ein kurzes metallisches Krachen. Das Rücklicht des Lasters splitterte, dann hupte jemand ungestüm.

Frida Wilke konnte es nicht fassen. Echt jetzt? Mitten im Kreisverkehr? Sie drückte erneut auf die Hupe, und ihr steinalter Mazda gab ein helles Blöken von sich. Ein Wunder, dass sie es überhaupt noch geschafft hatte, zu bremsen. Warum zum Teufel blieb dieser idiotische Lastwagenfahrer ausgerechnet hier, also direkt vor ihr stehen?

Rechts hatte es gekracht, ein dunkelblauer Volvo Kombi war dem Laster auf das äußere Ende der Stoßstange draufgerauscht, und auch links von ihr war kein Vorbeikommen. Sie blickte in den Rückspiegel. Scheinwerfer, stehender Verkehr. Den anderen ging es wie ihr. An Zurücksetzen war nicht zu denken.

Frida beugte sich vor und verrenkte sich beinah den Hals, um links an dem Laster vorbeizuschauen. Die maroden Wischblätter schnarrten über die eisige Scheibe und schoben hektisch die Flocken beiseite. Schemenhaft konnte sie erkennen, dass die Fahrertür des Lasters aufgestoßen wurde. Jetzt stieg der auch noch aus, oder was? Klar, der wollte sich wahrscheinlich den Schaden ansehen.

Frida stöhnte, und ihr Blick ging zum Handy. Fünf Uhr achtundvierzig. Shit. Sie würde so was von zu spät kommen. Kurz entschlossen riss sie die Tür auf, lehnte sich aus dem Wagen und wollte dem Fahrer etwas zurufen, doch statt dass der Typ zum Heck des Wagens kam, schlug er einfach die Tür zu, wandte sich von ihr ab und lief hastig nach vorne, um die Schnauze des Kleinlasters herum, wo er aus Fridas Blickfeld verschwand.

Für einen flüchtigen Moment blieb Arts Blick an dem dunkelblauen Volvo hängen, der links in den Laster gekracht war. Als er wieder nach vorne sah, huschte plötzlich eine schwarze Gestalt direkt vor ihm über die Fahrbahn. Ivy stieß einen überraschten Laut aus. Er trat auf die Bremse, doch der Wagen rutschte einfach weiter, als wäre nichts. Ein dumpfer Schlag, die Gestalt stürzte über die schwarze Motorhaube, beschrieb einen seltsamen Bogen und landete auf der Straße. Verflucht. Das durfte nicht wahr sein.

»Oh Gott«, stieß Ivy hervor.

Der Wagen stand inzwischen. Wo war dieser Typ so plötzlich hergekommen?

Art öffnete die Tür und stieg aus. Eisige Luft schlug ihm entgegen. Der Schweiß auf seiner Stirn machte ihn doppelt empfänglich für die Kälte. »Hey, Sie. Alles in Ordnung?«

Flocken tanzten im Licht der Scheinwerfer. Die Gestalt lag auf der schneebedeckten Fahrbahn zwischen gräulichen Reifenspuren. Jetzt richtete sie sich auf und blickte in Arts Richtung. Auf den ersten Blick glaubte er, einen Mann zu erkennen. »Wie geht’s Ihnen?«, rief Art. In seinem Rücken begann ein Hupkonzert.

Der Mann drehte sich weg, sah Richtung Park, dann humpelte er von der Straße zum Rand des Kreisverkehrs.

»Hey! Warten Sie. Was ist mit Ihnen«, rief Art. »Brauchen Sie Hilfe?«

Die Schritte des Mannes wurden immer schneller, er hielt zwei Wagen mit ausgestreckten Händen auf – beide bremsten schlitternd –, dann verschwand er im Park zwischen den schwarzen Baumgerippen. Art schaute ihm ungläubig nach, dann sah er zu Ivy. Seine Knie waren weich. Er fühlte sich kraftlos, wie ausgelaugt. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Und diesem Typ war offensichtlich nicht zu helfen. Rasch stieg er zurück ins Auto.

»Was bitte war das denn?«, fragte Ivy.

»Keine Ahnung«, knurrte Art. »Ich bring dich jetzt ins Franziskus-Krankenhaus.« Vorsichtig gab er Gas, reihte sich in den Verkehr ein und bog in die Hofjägerallee ab.

Frida Wilke war ausgestiegen und hatte ungläubig zugesehen, wie der Fahrer des Pritschenwagens im Park verschwunden war. Und nun stieg dieser baumgroße Typ auch noch zurück in seinen Wagen und fuhr los? Das war doch Fahrerflucht! Andererseits, was hätte sie selbst denn gemacht? Der Kerl aus dem Kleinlaster schien nichts anderes im Sinn gehabt zu haben, als abzuhauen.

Aus dem beschädigten Volvo stieg eine Frau um die fünfzig, die gut ihre Mutter hätte sein können. Sie war bleich, starrte auf die verbeulte Schnauze ihres Wagens und warf die Hände in die Luft. »Herrgott, das darf doch nicht wahr sein!«

»Entschuldigung«, rief Frida. »Könnten Sie Ihren Wagen vielleicht wegfahren? Dann könnte ich weiter …«

»Wegfahren? Ich? Haben Sie gesehen, wie der gebremst hat? Das war doch nicht normal«, rief die Frau. Schneeflocken fingen sich in ihren dunklen Haaren.

»Ja, das war so was von unnötig«, meinte Frida. »Und dann auch noch abhauen.«

»Würden Sie das bitte bezeugen? Sonst … na ja, Sie wissen schon …« Die Frau deutete auf den zerknautschten Wagen.

Klar. Wer auffuhr, der war schuld. Das trichterten sie einem ja schon in der Fahrschule ein. Außer derjenige, auf den man auffuhr, hatte den Unfall provoziert. Aber das musste man erst mal nachweisen. »Tut mir leid, ich bin eh schon spät dran«, rief Frida.

Die Frau hantierte mit ihrem Handy und hielt es dann ans Ohr. »Ich ruf eben die Polizei. Die müssen das aufnehmen, sonst krieg ich ein Problem mit der Versicherung.«

Mist. Polizei. Das würde ewig dauern. Frida ließ die Schultern hängen. Wenn sie jetzt hier wegfuhr, dann gab das nur Ärger. Bei so was verstand die Polizei keinen Spaß, das hatte sie schon mal erlebt. Und die Frau reckte bereits den Hals nach ihrem Kennzeichen. Apropos, wie war eigentlich das Kennzeichen von diesem Typen gewesen, der sich gerade vom Acker gemacht hatte?

Art Mayer bog in die Budapester ein. Nur noch ein kleines Stück. Im Schneegestöber sah er die Silhouette des Franziskus-Krankenhauses. »Wir sind da«, murmelte er, stellte den Wagen am Straßenrand ab, stieg aus, ging zur anderen Seite des Fahrzeugs und half Ivy aus dem Sitz. Gemeinsam humpelten sie zum Eingang des Krankenhauses. Genauer gesagt, Ivy humpelte, Art wankte.

»Arti, was is mit dir?«, fragte sie erneut. »Dir geht’s doch nicht gut.«

»Wird schon wieder«, brummte Art. Vor seinen Augen flirrte es, als würde die Welt unter einem Hitzeschild wabern. Das ist neu, dachte er. So hatte ich das noch nicht.

An der Rezeption sah der Pförtner erschrocken auf. Ivys Verletzungen ließen ihn sofort zum Hörer greifen, und einen Moment später kam eine Krankenschwester mit einem Rollstuhl. »Kommst du klar?«, fragte Art. »Soll ich mitkommen?«

»Ich komm klar«, nuschelte Ivy. »Danke, bist ’n Schatz. Und ruh dich aus, ja! Du siehst nicht gut aus.«

Art verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Etwas Schlaf, und alles wird gut«, meinte er leichthin.

Er sah Ivy nach, wie sie im Rollstuhl zur Notaufnahme gefahren wurde. Dann wandte er sich an den Pförtner. »He. Wo ist hier der nächste Getränkeautomat?«

»Erster Gang rechts, ein paar Meter runter.«

»Danke.« Art setzte sich in Bewegung. Alles schwankte.

Sein Herz galoppierte, und jemand saugte mit einem Strohhalm die Kraft aus seinen Beinen. Schweißgebadet kam er am Automaten an, kramte hastig ein paar Münzen aus seiner Tasche, mit der anderen Hand stützte er sich an dem mannshohen Automaten ab. Seine zittrigen Finger bekamen kaum die Münzen in den Schlitz. Es klimperte. Er drückte eine Tastenkombination, und eine Dose Cola rumpelte in den Schacht. Er fischte sie heraus, riss die Dose auf und trank die schäumende Cola in gierigen Schlucken. Dann sank er neben dem Automaten auf den Boden und lehnte sich erschöpft mit dem Rücken an die Wand. Gegenüber waren zwei Tische, ein paar Stühle. Ein Fernseher an der Wand. Das Morgenmagazin lief, stummgestellt. Bilder aus Berlin flimmerten über den Bildschirm. Vorbereitungen auf den G20-Gipfel in acht Tagen. Krawallbilder des letzten großen Gipfels. Kanzler Henrik Westphal gab ein Interview. Lippenbewegungen hinter einem Dutzend Mikrofonen. War wirklich der Fernseher so leise? Oder hörte er nichts mehr? Er wollte die Cola-Dose in den Papierkorb werfen, zerdrückte sie in der Hand, dann entglitt sie ihm, und die Lampen gingen aus.

Frida Wilke stampfte mit den Füßen, um sich warm zu halten. Wo, verdammt, blieb denn jetzt die Polizei? Sie hasste es, zu warten. Schon als Kind hatten ihre Eltern sie geradezu festbinden müssen, wenn sie ihr kleines Goldkind einmal hatten still sitzen sehen wollen. Hampelig hatte ihre Oma das immer genannt. ADHS hatte später der Arzt dazu gesagt.

Sie ging zur Fahrerkabine des Pritschenwagens und öffnete die Tür. Unglaublich! Der Schlüssel steckte noch. Wer bitte ließ seinen Wagen mitsamt Schlüssel einfach so stehen? Der Typ war entweder nicht ganz sauber, oder er musste einen kompletten Meltdown gehabt haben.

»He, was machen Sie da?«

Die Alte aus dem Volvo. Machte die jetzt einen auf Kontrolletti? »Nichts. Ich guck nur. Ist doch komisch, oder? Einfach so abzuhauen.«

»Hauptsache, Sie fassen nichts an.«

… oder türmen mit dem Laster, setzte Frida spöttisch in Gedanken fort. Vorsichtig, um nicht auszurutschen, ging sie um die Ladefläche herum. Die Pritsche war von einer schweren schmutzgrauen Plane verdeckt, auf der sich eine weiße Schicht Flocken sammelte. Frida stellte sich auf die Zehenspitzen, hob die Abdeckung etwas an und lugte darunter. Verblüfft fuhr sie zurück. War das etwa …? Sie trat einen Schritt von der Ladefläche weg. Sah sich um.

Mein Gott.

War sie jetzt irre?

Die Volvo-Lady beäugte sie misstrauisch. Sie fror sichtlich, aber wenn es sein musste, würde sie wohl lieber Eiszapfen ansetzen, als den Posten zu räumen. Und von der Polizei war immer noch nichts zu sehen.

Frida riskierte einen zweiten Blick unter die Plane. Nein, sie war nicht irre. Das hier war real. Sie bekam eine Gänsehaut. Nicht wegen der Kälte. Sah sich noch einmal um.

Dann kletterte sie kurz entschlossen auf die Ladefläche.

»Hallo? Das dürfen Sie nicht!«

Vorsichtig hob Frida die Plane an einer Ecke an, schlug sie um und zog sie beiseite. Mit einem dumpfen Rascheln gab die schwere Folie die Ladefläche frei. Der Anblick ließ Frida den Atem stocken. Beinah wäre sie ausgerutscht und rücklings vom Laster gefallen.

»Was ist denn? Was haben Sie da?« Die Frau aus dem Volvo trat näher heran.

Frida starrte mit offenem Mund auf die Ladefläche. Dann holte sie ihr Handy heraus und fing an, Fotos zu machen. Hinter ihr begann die Frau zu schreien.

Kapitel 2

Bitte, bitte, bitte nicht! Nele Tschaikowski saß am Küchentisch und wagte es nicht, hinzusehen.

Sie war fünfundzwanzig. Und jetzt sollte alles zu Ende sein?

Ihr Blick wich zum Fenster aus. Draußen war es noch dunkel, Schneeflocken tanzten im Licht der Straßenlaternen. Sie hibbelte mit den Füßen, die in Romans viel zu großen Wollsocken steckten. Die Dinger hatten zusammengewurstelt neben seinen Schuhen gelegen, und sie hatte sie rasch übergestreift. Sie rochen etwas, Männer halt, aber es störte sie nicht. Das Einzige, was sie wirklich störte, war dieses … Ding.

Der kleine helle Holztisch leuchtete warm unter der Pendellampe. Ihr Tee dampfte, und sie wärmte ihre Finger daran. Draußen war es kalt gewesen. Aber immer noch besser, als nichts zu tun. Etwas kratzte an ihrem rechten Fuß, und sie wackelte mit den Zehen. Waren das etwa Sägespäne? Gestern war Roman nicht arbeiten gewesen, dann musste er die Socken bereits seit zwei Tagen … Etwas Spitzes pikte in ihren Fuß, und sie musste plötzlich lachen, obwohl ihr ganz und gar nicht danach zumute war. »Peppa!«, flüsterte sie, beugte sich hinab und schob zärtlich die Schnauze des Pointers beiseite. Peppa knabberte kurz an ihrer Hand und stupste sie mit der feuchten Nase an. Sie schien ihre Unruhe zu spüren. Eigentlich war Peppa Romans Hündin, sie war gerade mal ein Jahr alt und noch verspielt, ein reinrassiger Jagdhund, den er mit drei Monaten von einem Züchter in München geholt hatte. Roman hatte sich geweigert, einen älteren Hund vom Tierschutz zu nehmen, weil er unbedingt einen unbeschädigten – so nannte er das – Begleiter für die Jagd haben wollte. Die Sache mit der Erziehung hatte er allerdings unterschätzt. Er war hoffnungslos überfordert damit, und immer häufiger schob er die Verantwortung dafür ab.

»Schatz?«

Nele fuhr hoch und stieß dabei mit den Beinen an die Tischkante. Tee schwappte auf das unbehandelte Holz. Hastig nahm sie das Ding, das neben der Tasse lag, vom Tisch und schob es in die Tasche ihrer Jogginghose.

»Hey, guten Morgen«, murmelte sie. Peppa tänzelte um Romans Beine, drückte ihren schlanken weißen Körper an seine Unterschenkel, dann schüttelte sie sich, und ihre weichen braunen Ohren flatterten umher.

Roman trug nur seine Unterhose. »Du bist schon auf?« Er umarmte sie, drückte sie dabei fest an sich, und sie spürte seine morgendliche Erektion. Hauptsache, er spürte nicht, dass sie ebenfalls etwas Hartes in der Hose trug.

»Was ist das?«, fragte er prompt und griff nach ihrer Tasche.

»Neugier ist dein zweiter Vorname, hm?«, grinste sie und schob seine Hand beiseite.

»Mein zweiter Vorname ist ganz was anderes«, murmelte er und küsste ihren Hals. Seine Hände wanderten hinab zu ihrem Po und schlüpften unter den Bund ihrer Jogginghose.

»Dann schlage ich für heute früh eine Namensänderung vor.« Nele versuchte sich in einem unbefangenen Lachen und kam sich vor wie die schlechteste Schauspielerin der Welt.

»Schöön«, sagte er gedehnt. Mit einem etwas unglaubwürdigen Ich-bin-nicht-enttäuscht-Grinsen löste er sich von ihr. In seinem Gesicht war noch eine Schlaffalte vom Kissen, seine weißen, etwas zu weit auseinanderstehenden Zähne blitzten. Sie mochte das an ihm. Das nicht Perfekte. Die etwas schiefe und zu groß geratene Nase, die breiten Schultern, den kräftigen Körperbau, bei dem sie jetzt schon sehen konnte, dass er vermutlich wie sein Vater einmal vor allem am Bauch zulegen würde. Aber bis dahin war ja noch viel Zeit.

»Aber dann verrat mir, was da in deiner Tasche ist«, sagte er.

So was von typisch! Wenn Roman nicht bekam, was er wollte, dann verhandelte er. Auch das hatte er wohl von seinem Vater.

»Hornhautfeile«, sagte Nele und schürzte die Lippen. »War fällig.«

»Ah«, machte Roman. Er nahm etwas Abstand und sah auf ihre Füße. »Und danach ziehst du meine Socken an?«

»Selbst wenn ich meine Hornhaut ein ganzes Jahr lang in deine Socken reinhobele, dann riechen sie immer noch mehr nach dir als nach mir«, konterte Nele.

Roman schob schmollend den Kiefer vor. »Das sind Pheromone, damit markiere ich mein Weibchen.«

»Du bist ungehobelt.«

»Mein Vater besitzt ein Sägewerk, was erwartest du?«

»Und ein Machoarsch.«

»Autsch«, sagte Roman. »Ist schon Kaffee da?«

»Nimm was von meinem Tee«, erwiderte Nele und deutete auf den Tisch.

Roman seufzte, nahm einen Lappen aus der Spüle, wischte den verschütteten Tee mit einer vorwurfsvollen Geste von der Tischplatte. Er mochte es nicht, wenn man Holz nicht pfleglich behandelte. Dann schlürfte er einen Schluck Tee aus ihrer Tasse. »Musst du heute so früh zum Dienst?« Er warf den Lappen zum Waschbecken zurück, wo er in einem Topf vom gestrigen Abend landete. »Oder bist du so früh aufgestanden, um dir die Füße zu schmirgeln?«

»Ich konnte nicht schlafen.« Zum ersten Mal hatte Nele das Gefühl, bei der Wahrheit zu bleiben.

»Ich sag’s ja, der Job ist ein Problem.«

»Der Job ist kein Problem«, platzte es aus Nele heraus.

»Du bist jetzt gerade mal seit zwei Monaten da, wo du eigentlich hinwolltest, und siehe da, schon kannst du nicht mehr schlafen. Was glaubst du, wie das in zwei Jahren ist?«

Nele biss sich auf die Lippen, schwieg aber. Stattdessen fischte sie den Lappen aus dem Topf und spülte ihn unter so heißem Wasser aus, dass ihr die Hände brannten.

»Schatz, entschuldige«, sagte Roman versöhnlich. »Ich mein’s nur gut. Schau, gib mir zwei, drei Jahre. Mein Vater hat doch schon angedeutet, dass er das mit der Firma nicht mehr lange schafft. Dann könnten wir raus nach Lübbenau ziehen, die Ruhe im Spreewald genießen und hätten ein schönes Leben. Ist das nichts?«

»Doch«, seufzte Nele, »du im Holzfällerhemd, ich in sorbischer Rüschenbluse hinter dem Schreibtisch in deiner Buchhaltung. Sehr verlockend.«

»Du könntest auch ein Totenkopf-T-Shirt tragen«, lächelte Roman gewinnend. Verdammt, er wusste nur zu gut, welche Wirkung dieses Lächeln auf sie hatte, und er konnte es nach Belieben ein- und ausschalten. »Und was ändert das?«, fragte sie.

»Fragt die, die schlecht schläft?«, meinte Roman und hob die Brauen.

»Das liegt nicht am Job«, gab Nele trotzig zurück.

»Ach ja? Woran denn sonst?«

Nele schluckte und verkniff sich die Antwort. Woran es wirklich lag, war im Moment das Letzte, was sie ihm erzählen würde.

»Also, was denn nun?«, bohrte Roman. »Sag schon.«

Das Telefonklingeln rettete sie vor seiner Hartnäckigkeit. Sie floh ins Bad, wo sie ihr Handy neben dem Waschbecken hatte liegen lassen. Es zeigte die Nummer ihrer Dienststelle. Doch statt der Koordinatorin war es Buchwald persönlich. Während er redete, betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel und konnte sehen, wie sie blass wurde.

»Jetzt sofort?«, fragte sie.

»Jetzt sofort«, erwiderte Buchwald schnörkellos. »Und ziehen Sie sich warm an.«

»Bin schon unterwegs«, erwiderte Nele und legte auf.

Durchatmen.

Es ging los. Darauf hatte sie immer gewartet. Es war, als ob ihr Körper unter Strom stand, sie vibrierte. Gleichzeitig verknotete sich ihr Magen. Es würde ihre erste Leiche werden. Waren da Zweifel? Hatte Roman vielleicht recht?

Nele fischte nach dem Ding in ihrer Hosentasche. Hornhautfeile. Nichts könnte weiter davon entfernt sein. Wie viele Minuten waren inzwischen vergangen? Drei? Fünf? Sie hielt die Luft an, betete – zu wem auch immer –, senkte den Blick auf das winzige Fenster in dem weißen Plastikding in ihrer Hand und stöhnte auf. Eine Reihe von Dominosteinen fiel in ihrem Inneren um.

Morgenübelkeit.

Ein hastiger, unruhiger Gang durch den Schnee zur Notapotheke.

Zwei rosa Streifen.

Der Frau im Spiegel traten Tränen in die Augen.

Schwanger.

Die Frau vor dem Spiegel straffte die Schultern.

»Gottverdammt, Peppa«, hörte sie Roman durch die geschlossene Badezimmertür. »Lass meinen Pulli los, hör auf damit!«

Sie strich sich die blonden Haare zurück, band sie straff im Nacken zusammen und presste die Zähne aufeinander. Als sie die Tür öffnete, fegte Peppa mit Romans Pullover im Maul an ihr vorbei, nahm schlitternd die Kurve ins Schlafzimmer und verschwand mit ihrer Beute unter dem Bett. Nele folgte ihr, öffnete den Schrank und zog sich hastig an. »Warum sagst du nichts dazu? Du hättest sie aufhalten können«, beschwerte sich Roman, der jetzt in der Tür stand.

»Das ist doch dein Hund«, meinte Nele.

»Ja, und du weigerst dich, ihn zu erziehen.«

Kapitel 3

Art Mayer öffnete die Augen. Matt ließ er den Blick kreisen. War das hier die Ambulanz? Irgendjemand musste ihn in die Notaufnahme gebracht haben. Stöhnend richtete er sich auf.

»Na, herzlichen Glückwunsch, da sind Sie ja wieder.« Ein junger Arzt trat von der Seite an seine Liege heran. Art fand, dass er ein wenig zu jung war.

»Was ist passiert?«, fragte Art.

»Sie sind am Getränkeautomaten kollabiert und haben im Delirium …«, der Arzt verstummte kurz. »Sie wissen, dass Sie Diabetiker sind?«

Art wischte die Frage mit einer Handbewegung fort. »Seit Kurzem, ja.«

»Sie hatten nichts bei sich. Keinen Traubenzucker, kein Insulin, keine Notfallspritze. Das ist ziemlich leichtsinnig.«

»Ich hab’s im Griff«, murmelte Art.

»Das hab ich gesehen«, nickte der Arzt.

Artur verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Seinen Insulin-Pen und das Blutzuckermessgerät hatte er beides im Wagen gelassen. Und der Traubenzucker lag zu Hause. »Haben Sie mich zurückgeholt?«

»Die Dose Cola. Und eine Spritze. Hat aber ’ne Weile gedauert, und ich musste gegenregulieren, damit Ihr Zucker nicht in die andere Richtung abhaut.«

Art setzte sich vorsichtig auf. Seine linke Hand war verbunden. »Was ist das?«, fragte er verblüfft.

»Sie haben im Delirium um sich geschlagen.«

»Ich habe was?«

»Wo sind Sie eingestellt worden?«

»Was meinen Sie?«

»In welchem Krankenhaus ist Ihr Diabetes eingestellt worden? Insulintherapie, Basis-Bolus, Ernährungsberatung … Sie wissen schon …«

»Ach, das«, murmelte Art. »Das kommt noch, ich hab mir selbst erst mal ein paar Sachen angelesen, um fit zu werden.«

Der Arzt sah ihn fragend an. »Na, weit sind Sie damit ja nicht gekommen.«

»Geht Sie das was an?«

Der Arzt schnappte zu wie eine Auster, und Art bereute sofort seine Grobheit. Der Kerl war hier, um ihm zu helfen, und wenigstens nahm er kein Blatt vor den Mund.

»Warum hab ich um mich geschlagen?«, wollte Art wissen.

»Sind Sie schon mal umgefallen?«

Art schüttelte den Kopf.

»Bei einem so massiven Unterzucker, wie Sie ihn hatten, da kann es schon mal zu aggressiven Schüben kommen, bevor man das Bewusstsein ganz verliert«, erläuterte der Arzt. »Der Körper ist dann in einer Art maximaler Not- oder Stressreaktion. Je nach Konstitution werden Patienten dann ungewöhnlich aggressiv, oder es kommt zu psychotisch anmutenden Handlungen.«

Psychotische Handlungen. Für einen Moment trat eine unangenehme Stille ein. »Verstehe«, brummte Art.

»Sie sollten das ernst nehmen.«

»Mach ich. Wie geht es der Frau, die ich hergebracht habe?«

»Sie wurde übel zugerichtet, aber da ist Gott sei Dank nichts, was nicht wieder verheilen würde. Leider will sie partout keine Anzeige erstatten.«

Art seufzte. Keine schwerwiegenden Verletzungen, das war erst mal die Hauptsache. Ivy würde wieder gesund werden. »Danke«, murmelte er. »Behandeln Sie sie gut, sie hat’s verdient.«

Der Arzt sah ihn forschend an, als versuche er, Arts Respekt und Ivys wenig dezente Kleidung auf einen Nenner zu bringen. Willkommen im Reich der Vorurteile. Wenn er jetzt noch etwas wie ›Sie hat es selbst herausgefordert‹ sagte, dann müsste er dem Kerl wohl eine scheuern. »Um Sie und Ihren Diabetes mach ich mir ehrlich gesagt mehr Sorgen«, meinte der Arzt. »Sie sollten hierbleiben.«

Art zuckte mit den Achseln. »Ich krieg das in den Griff«, meinte er. Zwei Tage sich ernsthaft mit dem Mist auseinanderzusetzen, würde mehr bringen als drei Wochen Krankenhaus, so viel stand fest. Er musste nur verhindern, dass er wieder umkippte. »Sagen Sie, diese Notfallspritzen, haben Sie davon ein oder zwei da?«

Der Arzt lachte in einem Anflug von Sarkasmus auf, den Art ihm nicht zugetraut hätte. »Schön, um noch mal Klartext zu reden«, sagte der Arzt und steckte die Hände tief in seine Kitteltaschen. »Ich melde Sie jetzt bei unserer Internistischen Abteilung an, und die werden Ihnen in den nächsten Tagen ein paar weitaus wichtigere Basics über Diabetes beibringen, als sich Notfallspritzen reinzudrücken …«

Arts Handy klingelte. Dankbar für die Unterbrechung griff er nach dem Telefon und ging dran, ohne die Nummer zu checken. »Artur Mayer«, meldete er sich.

»Art. Gut, dass du drangehst«, stieß Martin Buchwald in den Hörer.

Mist. Ausgerechnet Buchwald. Seinen Anrufen versuchte er schon seit Tagen aus dem Weg zu gehen. »Martin«, brummte Art. »Was willst du?«

»Hast du meine Nachrichten nicht bekommen?«

»Nachrichten?«

Der Arzt warf ihm einen kritischen Blick zu und tippte demonstrativ auf seine Armbanduhr. Art ignorierte ihn.

»Drei Anrufe, eine Mail, mehrere WhatsApps«, zählte Buchwald auf.

»Hab wohl nicht reingelesen. Könnte sein, dass es dran liegt, dass sie von dir kommen.«

»Du meinst das ernst, oder?«, fragte Buchwald. »Das, was du da neben dein Profilbild geschrieben hast.«

»Wenn’s da steht, muss ich’s wohl ernst meinen.«

»Hör zu, ich brauch dich, Art. Hier ist was passiert.«

»Du brauchst mich nicht. Vergiss es.«

»Darf ich selbst entscheiden, ob ich dich brauche?«

»Nein.«

Der Arzt warf resigniert die Hände in die Luft und widmete sich seinem Computer.

»Mein Gott, jetzt komm schon«, brauste Martin auf. Er schien unter Strom zu stehen, eigentlich war er sonst eher der ruhige Typ. »Vergiss mal für einen Moment dein neues Fuck-everything-and-become-a-pirate-Motto und mach dir ein Bild von dem, was hier passiert ist. Wenn du dann immer noch nicht zurückwillst, meinetwegen.«

»Ich will noch nicht mal für fünf Minuten zurück.«

»Art, warum bist du Polizist geworden?«

»Um Arschlöchern wie unserem Polizeipräsidenten eine reinzuhauen, wenn sie sich danebenbenehmen.«

Der Arzt hob kurz den Blick und sah ihn über den Bildschirm hinweg irritiert an.

»Schön, und warum noch?«, fragte Buchwald.

»Vielleicht, um ein paar Verbrechern eine reinzuhauen? Verhaften und Einsperren scheint nämlich ein Problem geworden zu sein.«

Martin Buchwald stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Mein Gott, hörst du dir eigentlich selbst zu? Ich kenne niemanden, der so sehr mit Leib und Seele Polizist war wie du. Wo ist bloß der alte Art hin?«

»Ich bin der alte Art. Ich hab nur ein paar neue Erkenntnisse gewonnen. Auch dank dir übrigens.«

Eine angespannte Stille breitete sich zwischen ihnen aus.

Buchwald räusperte sich. »Und wenn ich dir jetzt sage, dass wir eine Situation haben, in der dich vermutlich sogar Kauder wieder zurückhaben will?«

»Vermutlich?«

»Herrgott, mach’s dir doch nicht so schwer.«

»Ich mach’s dir schwer, nicht mir.«

»Art, du nervst.«

»Dann lass mich doch in Ruhe.«

»Würde ich ja, aber bei dieser Sache bist du gleich ein Doppelmatch.«

»Doppelmatch?«

»Du bist der Ermittler mit der besten Erfolgsquote seit Jahren, und in diesem Fall kommen noch deine Kontakte dazu.«

»Welche Kontakte?«, fragte Art misstrauisch.

Martin Buchwald schien einen Moment abzuwägen, bevor er weitersprach. »Dana Karasch.«

Art setzte sich kerzengerade auf. Woher wusste Buchwald, dass er nach Dana Karasch suchte? »Was ist mit Dana? Habt ihr sie gefunden? Ist sie …?« Er brach ab, und sein Herz wurde schwer. Wenn sie Dana gefunden hatten, konnte das eigentlich nur eins heißen. Warum sonst rief ihn Buchwald von der SO44 für Ermittlungen im Bereich Gewalt- und Sexualdelikte an?

»Ich erklär’s dir, wenn du herkommst«, erwiderte Buchwald. Er hatte den Haken ausgeworfen, und jetzt begann er schweigend, die Leine einzuholen.

»Ist sie tot?«, fragte Art.

»Komm an Bord, dann darf ich’s dir sagen.«

»Martin, du rufst mich doch nicht wegen einer vermissten Stripperin an. Warum ermittelt das BKA? Was ist da noch?«

»Komm vorbei, dann erklär ich’s dir.«

Art rieb sich die Stirn. Zurück in den Dienst? Er musste an Milla denken, Danas kleine Tochter, wie sie am Gasherd stand und Eier in die Pfanne schlug.

»Also, was ist?«, hakte Buchwald nach.

»Was ist mit Kauder?«

»Kauder ist im Bild, sagte ich doch schon, oder? Er ist einverstanden. Er ist bereit, die Sache als Ausrutscher zu betrachten.«

»Ausrutscher? Er hat mit meiner Frau geschlafen.«

»Sie hat sich getrennt, Art. Und du hast ihm die Nase gebrochen. Deinem Vorgesetzten.«

»Du bist mein Vorgesetzter.«

»Und Kauder ist Polizeipräsident. Sei froh, dass er bereit ist, Gras drüber wachsen zu lassen. Ich hätte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet.«

»Hab ich mit ihm zu tun?«

»Nein, Art. Nicht mehr als sonst. Der Kontakt läuft über mich, ich halte euch fern voneinander.«

Art gab ein Knurren von sich. Buchwald hatte ihn, und er wusste es. Dana gab den Ausschlag. »Okay«, sagte Art. »Wohin soll ich kommen?«

»Siegessäule«, sagte Martin Buchwald. In seiner Stimme schwang Erleichterung mit. »Ich schick dir einen Wagen, dann geht’s schneller. Bist du zu Hause?«

»Danke, ich laufe.« Art legte auf. Bis zum Großen Stern waren es nur ein paar Minuten. Er brauchte dringend frische Luft und musste den Kopf frei kriegen.

Der Arzt hatte sich eine Weile mit seinem Computer beschäftigt, jetzt sah er ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Sie sollten hierbleiben, das wissen Sie, oder?«

»Bitte keinen Vortrag«, brummte Art. »Ich kümmere mich um die Sache.«

»Die Sache ist ein ausgewachsener Diabetes. Hören Sie, Sie sind wirklich gut in Form und wirken auf mich kerngesund – bis auf den Diabetes. Aber Sie überschätzen sich. Ein diabetisches Koma, so wie Ihres heute, hat schon zig Menschen das Leben gekostet. Das nächste Mal werden Sie vermutlich nicht in einem Krankenhaus oder neben einem Getränkeautomaten mit zuckerhaltigen Getränken umkippen.«

»So weit lasse ich’s nicht kommen, keine Sorge«, erwiderte Art. Er würde auf dem Weg zur Siegessäule das Messgerät und den Insulin-Pen aus dem Wagen holen. »Danke für alles.« Er schwang die Beine von der Liege, nahm seinen Mantel vom gegenüberliegenden Stuhl und ging, so schnell er konnte, in Richtung Ausgang. Auf dem Weg zog er noch eine Dose Cola aus dem Getränkeautomaten und steckte sie in die Manteltasche. Nur für alle Fälle.

Kapitel 4

»Das ist er.« Martin Buchwald wies durch die Seitenscheibe des VW-Transporters in Richtung Hofjägerallee.

Nele Tschaikowski sah in einiger Entfernung eine Gestalt, die mit wuchtigen Schritten den Radweg entgegen der Fahrtrichtung auf den Großen Stern zulief. Das also war Artur Mayer? Woran erkannte Buchwald ihn auf diese Distanz? Allein am Schritt? Es war immer noch dunkel, und der Transporter für die Einsatzleitung war auf dem Gehweg direkt an der Siegessäule geparkt.

»Ich stell Sie vor«, murmelte Buchwald. Er nahm das Klemmbrett mit den Unterlagen vom Tisch und öffnete die Schiebetür. Nele folgte ihm. Schneeflocken tanzten ihr ins Gesicht. Mayer trat mit grimmigen Schritten ins Licht einer der Laternen am Kreisverkehr.

»Keine Sorge. Der bellt, beißt aber nicht.«

»Ich mach mir keine Sorgen«, sagte Nele. Was nicht zutraf. Aber es war der Satz, den man als frischgebackene Kommissaranwärterin, die gerade von der Polizeihochschule kam, parat haben musste, um in dieser Männerdomäne nicht als »Prinzesschen« abgestempelt zu werden.

»Und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe«, meinte Buchwald.

Nele nickte beklommen. Tatsächlich hatte Polizeihauptkommissar Martin Buchwald eine Menge gesagt, aber das Telefongespräch, das er vorhin mit Artur Mayer geführt hatte, erzählte mehr, als er je hätte sagen können. Ganz abgesehen von dem, was ihr Onkel ihr über Mayer alles aufgetischt hatte. Irgendwie gab es von allen Seiten Erwartungshaltungen und gute Ratschläge für sie. »Sei nicht zu nett zu ihm, sei vorsichtig, sag Bescheid, wenn was schiefläuft …« Ihr Onkel hatte Mayer zwar nach dem Schlag nicht in die Wüste geschickt, aber das lag wohl eher daran, dass Mayers Ex ihn zurückgehalten hatte – was niemand wissen durfte. Im Stillen schien er nur darauf zu warten, dass Mayer sich den nächsten Fehltritt leistete. Und Buchwald? Der schien sich eine Art direkten Draht in Mayers »zunehmend verquere Gedankenwelt«, wie er sich ausdrückte, zu versprechen. Vielleicht hätte sie protestieren sollen, hätte so etwas sagen sollen wie »Leute, klärt euren Scheiß doch bitte ohne mich«, aber so war sie nun mal nicht.

Artur Mayer trat ohne ein Zögern vom Gehweg in den Kreisverkehr. Dabei streckte er den Wagen, die sich einer nach dem anderen durch die von der Polizei errichtete Tatort-Umleitung fädelten, warnend eine ausgestreckte Hand entgegen. In seinen wild wuchernden schwarzen Locken fingen sich weiße Flocken. Die Autoscheinwerfer warfen ein Schlaglicht auf die schwarz glänzende Lederhose und den unteren Saum eines schweren Marinemantels mit silbernen Knöpfen und breitem Kragen. Seine linke Hand schien verbunden zu sein. Direkt vor ihm kam ein Mercedes schlitternd zum Stehen und hupte ungestüm, Nele sah den Fahrer wild gestikulieren. Mayer streckte ihm den Mittelfinger entgegen und kreuzte seinen Weg, ohne ihn anzusehen. Sein Blick hatte Martin Buchwald erfasst, und für einen kurzen Moment auch sie.

Ausatmen.

Gerade stehen.

Nichts anmerken lassen.

Sie fragte sich, ob ihr Pokerface gut genug wäre. Mayer eilte der Ruf voraus, Lügen riechen zu können.

»Nicht gerade die passende Kleidung«, meinte Buchwald und streckte ihm die Faust zur Begrüßung entgegen.

»Du holst mich zurück, um mit mir über die Kleiderordnung zu diskutieren?«

»Schon gut«, meinte Buchwald. Erst jetzt stieß Mayer seine Faust an.

»Was ist das?« Buchwald deutete auf den Verband.

»Nichts.«

Der Polizeihauptkommissar seufzte wie jemand, der das Beste hofft und das Schlimmste ahnt. »Na gut. Erst die Formalitäten. Für deinen Wiedereintritt.« Er hielt ihm das Klemmbrett und einen Stift hin. Mayer unterschrieb krakelig und ohne hinzusehen. Wortlos steckte er den BKA-Ausweis ein, den Buchwald ihm reichte.

»Darf ich dir Kommissaranwärterin Nele Tschaikowski vorstellen.«

Mayers Blick ging zum ersten Mal zu ihr, seit sie hier standen.

Blau. Dachte Nele. Sie hatte mit dunklen Augen gerechnet. Der Blick war seltsam offen, obwohl alles an diesem Artur Mayer abweisend war.

Art berührte kurz ihre schmale Faust. Eine Anfängerin. Straff nach hinten gebundene blonde Haare, akkurat sitzende Mütze, Wangen wie Rotkäppchen, ein im Grunde sinnlicher Mund mit zusammengepressten Lippen und eine Haltung wie ein Soldat in Habtachtstellung. In ihren Augen leuchteten Ehrgeiz und Furcht. »Tschaikowski«, sagte er, »wie der Komponist?«

»Sie sind nicht der Erste, der das fragt.«

»Bin ich der Erste, der eine Antwort bekommt?«

»Nein.«

Er lächelte schief. »Art«, sagte er zu ihr, und dann zu Buchwald: »Worum geht’s?«

»Die Kollegin Tschaikowski wird dich begleiten, um dir zuzuarbeiten.«

Art sah die junge Frau erneut an. »Ein Anstandswauwau?«

Sie errötete. Ob vor Ärger oder Unsicherheit, konnte er nicht sagen.

»Erfahrenere Kollegen sind nicht im Angebot?«, fragte er Buchwald.

»Erfahrenere Kolleg:innen«, verbesserte die junge Frau akzentuiert.

»Das steht nicht zur Diskussion, Art.« Buchwald hob die Augenbrauen.

Art musterte sie ein weiteres Mal, und sie versuchte, seinem Blick standzuhalten. »Nele, hm?«

Sie nickte zögerlich.

»Schön. Wenn Sie den Stock aus dem Arsch kriegen, können Sie von mir aus mitkommen.«