Die Tom Babylon-Serie 3 in 1 - Marc Raabe - E-Book

Die Tom Babylon-Serie 3 in 1 E-Book

Marc Raabe

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Beschreibung

Die Tom Babylon-Serie - der Thriller-Bestseller-Erfolg!  Tom Babylon vom LKA ermittelt gemeinsam mit Psychologin Sita Johanns in Berlin und stößt auf ein großangelegtes Verbrechen, dass Tom und Sita weit zurück in die eigene Vergangenheit in Ost- und Westberlin führen wird. Und über allem schwebt die eine Frage, die Tom nicht loslässt, hat seine Schwester überlebt? »Marc Raabe gelingt es meisterhaft, immer ganz dicht an seinen Figuren zu bleiben.« Volker Kutscher »Ganz großes Kopfkino« KRIMicouch.de

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Der Autor

Marc Raabe, 1968 geboren, arbeitete viele Jahre lang als Geschäftsführer und Gesellschafter einer TV- und Medienproduktion. Heute widmet er sich ausschließlich dem Schreiben. Seine Thriller mit Kommissar Tom Babylon, zuletzt erschien DIE HORNISSE, sind regelmäßig auf der LITERATUR SPIEGEL-Paperback-Bestsellerliste zu finden. Raabes Romane sind in über zehn Sprachen übersetzt. Er lebt mit seiner Familie in Köln.

Das Buch

Die Tom Babylon-Serie - der Thriller-Bestseller-Erfolg! Tom Babylon vom LKA ermittelt gemeinsam mit Psychologin Sita Johanns in Berlin und stößt auf ein großangelegtes Verbrechen, dass Tom und Sita weit zurück in die eigene Vergangenheit in Ost- und Westberlin führen wird. Und über allem schwebt die eine Frage, die Tom nicht loslässt, hat seine Schwester überlebt?

»Marc Raabe gelingt es meisterhaft, immer ganz dicht an seinen Figuren zu bleiben.« Volker Kutscher

»Ganz großes Kopfkino« KRIMicouch.de

Marc Raabe

Die Tom Babylon-Serie 3 in 1

Ullstein

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Sonderausgabe im Ullstein Taschenbuch

Dezember 2021

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021

Schlüssel 17:

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © Seb Oliver / Getty Images (Feder);© FinePic®, München (Struktur)

Zimmer 19:

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München

Die Hornisse

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020 Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München

Autorenfoto: © Gerald von Foris

ISBN 978-3-8437-2645-0

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Inhalt

Cover

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Mark Raabe: Schlüssel 17

Prolog

Teil 1

Kapitel 1

1998

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Teil 3

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Danke

Mark Raabe: Zimmer 19

Prolog

Mittwochnacht

Kapitel 1

August 2001

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Donnerstag

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Donnerstagnacht

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Freitag und Samstag

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Sonntag

Kapitel 73

Kapitel 74

Danke

Mark Raabe: Die Hornisse

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Epilog

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Mark Raabe: Schlüssel 17

Mark RaabeSchlüssel 17

ThrillerBand 1

Die Hölle, das sind die anderen.

Jean-Paul Sartre

Prolog

Berliner DomSonntag, 3. September 20176:28 Uhr

Winkler öffnet die Tür zur Stille. Und zur Finsternis.

Um diese Uhrzeit ist alles so anders hier. Intensiv und durchdringend, als hätte er keine Haut. Die Stille, der weite Hall, die Dunkelheit, in der das erste Tageslicht den gewaltigen Dom um ihn herum wie aus dem Nichts entstehen lässt – wie von Gottes Hand.

So war es auch mit ihr gewesen, am Altar. Sie war aus dem Nichts gekommen, hatte ihn überrumpelt. Ob Gott dabei seine Hände im Spiel gehabt hatte? Wohl eher der Teufel. Aber auch der, denkt Winkler, ist aus Gottes Holz geschnitzt.

Es war ein früher Sonntagmorgen gewesen, wie heute. Ihre Anwesenheit hatte in der Luft gelegen, gleich einem tiefen Ton, den niemand hört, der aber im Magen vibriert. Ihre Gestalt hatte sich aus dem Halbdunkel geschält, ihr Zeigefinger ging beschwörend zu ihren Lippen. Wortlos hatte sie ihn berührt, ihn gelenkt, die Stufen hinauf … Er ruft sich zur Ordnung, will die Erinnerung wegsperren, aber es hilft nichts. Die Gedanken sind da, kriechen wie durch ein Schlüsselloch in ihn hinein, in ein Zimmer, von dem er nicht wusste, dass es da ist.

Er weiß, dass es im Internet solche Ecken gibt. Filme. Widerwärtige Angebote. Man muss nur googeln. Man kann es aber auch lassen. Er hat es immer gelassen. Und dann kommt ausgerechnet sie, setzt sich auf sein Gesicht, zieht ihn an seinen Haaren in sich hinein. Er hätte »Nein!« schreien sollen, sich wehren. Stattdessen wollte er es, bettelte um mehr – und um weniger. Um mehr Schmerzen und um weniger Luft zum Atmen.

Sie hatte unablässig gestöhnt und geflüstert. Vor allem dieses eine Wort mit den vier Buchstaben, und der Dom hatte es dutzendfach wiederholt. Winkler mag das hässliche Wort nicht. Aber es hat sich in seinem Kopf verhakt. Es hängt dort wie ein schmutziger Anzug, der immerzu ruft: Probier mich an! Sechs Wochen ist das nun her, und er denkt jede Nacht daran, wenn er neben seiner Frau liegt. Im Herbst feiern sie silberne Hochzeit, und jetzt fürchtet er sich davor. Er schämt sich, wünscht sich, es hätte diesen Sonntag nie gegeben – und zugleich träumt er davon. Es kommt ihm vor wie eine Infektion.

Winkler schüttelt die Erinnerung ab. Leise schließt er die schwere Holztür hinter sich und tritt in den Dom. Seine Schritte huschen flüsternd über den Boden, die monumentalen Säulen empor, bis in den Scheitelpunkt der Kuppel.

Gott, wie er diese Akustik liebt!

Das hier ist sein Moment, sein magisches Ritual, jeden Sonntagmorgen, bevor er die Orgel zum Gottesdienst anschlägt und mit ihr das nervtötende Brabbeln, Husten und Räuspern der Besucher übertönt.

Graublaues Morgenlicht kriecht durch die Fenster. Nicht eine Kerze brennt, auch die Lichter für die Verstorbenen sind erloschen. Das Gold der opulenten Verzierungen im Altarraum unterscheidet sich kaum von den sandfarbenen Säulen und steinernen Wänden. Die Wandmalereien gleichen verwaschenen Bildern, die sich im Zwielicht verbergen. Erneut muss er an sie denken. Er meint, ihr Stöhnen von der Decke zu hören, ihr Flüstern, und beschließt, nicht hinzuhören – und auch nicht hinzusehen. Weder zur Kuppel noch zum Altar, wo es passiert ist. Es kommt ihm vor wie damals, vor sechs Wochen; ihre Anwesenheit liegt in der Luft.

Mit gesenktem Kopf und steifem Schritt geht Winkler zwischen den Bänken hindurch zur Mitte der Kuppelhalle. Nur noch ein paar Meter sind es bis zu dem Punkt, an dem sich die Gänge kreuzen, dann wird er sich seinem persönlichen Heiligtum zuwenden – der mächtigen Sauer-Orgel mit ihren 7269 Pfeifen. Winkler ist mit Leib und Seele Domorganist und wird es bis zu seinem letzten Atemzug bleiben.

Plötzlich bleibt er abrupt stehen und starrt auf den Boden.

Vor seinen Füßen ist eine glänzende Pfütze. Der säuerliche Geruch von Harn steigt ihm in die Nase. Alle Phantasien sind schlagartig aus seinem Kopf verschwunden. Zum Teufel! Nicht genug damit, dass das Oberpfarramt immer wieder Flecken beseitigen muss, von Betrunkenen oder anderen Ferkeln, die an die Fassade des Doms urinieren. Hier hat offenbar jemand seine Notdurft mitten in der Kirche verrichtet.

Voller Ekel tritt er einen Schritt zurück. Erst jetzt bemerkt er, dass die Pfütze nicht einfach hell und wässrig ist, sondern zur Mitte hin dunkler, als hätte sich hier etwas mit dem Urin vermischt. Plötzlich zittert die Pfütze.

Ein Tropfen, denkt Winkler, aber woher …?

Er legt den Kopf in den Nacken und richtet den Blick aufwärts, zum vierundsiebzig Meter hohen Scheitelpunkt der Kuppel.

Was er sieht, lässt seinen Atem stocken.

Direkt über ihm, in etwa zehn Metern Höhe, schwebt eine aufrechte menschliche Gestalt, eine Frau in schwarzem Gewand, mit ausgebreiteten Schwingen, einem aufsteigenden Engel gleich. Ihr Kopf hängt vornüber, Augen und Mund sind mit schwarzen Tuchstreifen verbunden, die Nase sticht als winziger bleicher Punkt hervor. Vom Saum des Umhangs fallen Tropfen in die Tiefe.

Winkler keucht. Schlagartig wird ihm übel. Mit der Linken sucht er Halt an einer der Bankreihen. Er würde gerne wegschauen, doch er kann nicht, muss hinsehen. Über der Frau ist ein Ring aus fahlem Licht – die Dämmerung hinter den Fenstern umgibt sie wie eine Aura.

Sie hängt schief, denkt Winkler. Und im nächsten Moment: Herrgott, was bin ich nur für ein Unmensch. Warum fällt mir ausgerechnet das jetzt auf? Trotzdem, irgendetwas ist nicht richtig daran. Die beiden Seile, an denen sie hängt, sind offenbar unterschiedlich lang, es sieht so unvollendet aus, als ob …

Von Osten fällt das erste Sonnenlicht in den Dom und lässt etwas aufblitzen, das an einer Schnur um den Hals des schwarzen Engels baumelt. Winkler sieht auf kurze Distanz nicht mehr gut, auf die Entfernung dagegen klar und scharf. Und der Gegenstand, den er sieht, ist ein Schlüssel. Nein, nicht ein Schlüssel. Es sieht so aus, als wäre es … Oh Gott, der Beschreibung nach würde es passen … aber das kann nicht sein … das würde ja heißen …

Plötzlich geht ein Ruck durch die Frau, sie hängt nun noch schiefer, schaukelt. Ein Tropfen fällt herab und trifft ihn an der Wange. Entsetzt weicht er zurück, wischt sich die klebrige Flüssigkeit aus dem Gesicht, starrt auf seine Hand, dann wieder nach oben. Links und rechts von der bleichen Nasenspitze laufen dunkle Rinnsale unter der Augenbinde hervor.

Bitterer Magensaft steigt ihm in die Kehle. Er hat das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Die Kuppel über ihm ist eine graue Totenkugel mit dünnen Fingern aus Licht, die durch die Fenster nach dem schwarzen Engel greifen.

Der Schlüssel um ihren Hals. Der graue Griff. Er muss an die Beichte des Jungen denken, wie still er am Ende gewesen war.

Das alles kann kein Zufall sein, denkt Winkler. Sie ist zurück. Nach fast zwanzig Jahren ist sie wieder da.

Teil 1

Kapitel 1

Berlin-KreuzbergSonntag, 3. September 20178:04 Uhr

Tom weiß, dass er den Umschlag aus dem Kopf bekommen muss – die Kritzelei und erst recht den Inhalt. Zumindest für die nächsten paar Stunden. Er öffnet die Fahrertür und wirft seine SIG Sauer P6 auf den Beifahrersitz. Die schwarzen Riemen des Schulterholsters klatschen auf das abgewetzte beige Leder.

Kopf einziehen, vorbeugen, rein. Bei einer Körpergröße von einem Meter sechsundneunzig schrumpfen die meisten Autos auf die Größe eines Gokarts. Toms über dreißig Jahre alter S-Klasse-Benz ist da eine der wenigen Ausnahmen.

Aufgewühlt zieht er die Fahrertür zu. Der Knall macht es nicht besser. Die Stille im Wageninnern auch nicht. In seinem Kopf jagt ein Gedanke den nächsten. Wie kann nur so ein kleines Ding auf einen Schlag alles verändern?

Es ist etwa zwanzig Minuten her, dass sein Telefon auf dem Nachttisch geklingelt hat.

»Och nee, bitte nicht«, hatte Anne neben ihm gemurmelt und sich auf die andere Seite geworfen, mit dem Rücken zu ihm. Die Kingsize-Matratze federte nach. Das Ungetüm hatten sie in der Romantikphase gekauft. Inzwischen war es vor allem Anne lästig, mit ihm zu wippen, wenn er sich unruhig im Schlaf wälzte oder spät zu ihr ins Bett stieg. Unwirsch knautschte sie ihr zweites Kopfkissen über das freie Ohr. Alle Schotten dicht.

Tom angelte sich das Handy. Die Nummer auf dem Display war eine von denen, die bereits beim Klingeln das halbe Telefonat erzählten. Die noch fehlende Hälfte waren Uhrzeit und Ort. Er hob ab, brachte aber nicht mehr als ein Räuspern zustande.

»Tom Babylon?« Die Stimme war jung und weiblich.

»Hmhm«, brummte Tom. Vermutlich das neue Planungsküken aus Hubertus Rainers Büro. Der Leiter von Dezernat 11 bevorzugte brünette Frauen im Alter seiner Tochter.

Sie sprach hastig, mit viel zu hoher Stimme und bemüht effizient. Tom gab ihr ein »Ja«, legte auf, zog sanft das Kopfkissen unter Annes Arm hervor und beugte sich über sie. »’tschuldige. Ich muss. Ist dringend.«

Warum sagte er das überhaupt? Das ganze Prozedere war für sie vermutlich so vorhersehbar wie für ihn das Telefongespräch, nachdem er die Nummer gesehen hatte. Schlechtes Gewissen? Weil es sich so gehörte? Seine Nasenspitze berührte ihre Wange, ihre Haut war noch warm vom Kissen. Ihre blonden Haare kringelten sich wild und rochen anders als sonst, weniger nach Shampoo.

»Was ist mit Coldplay heute Abend?«, murmelte sie.

»Das Konzert? Weiß nicht.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Muss ich sehen.«

»Muss ich sehen? Na, dann ist ja alles klar.« Annes Stimme klang frostig. In solchen Momenten fühlte sich ihr fünfjähriges Zusammenleben wie eine fünfzehnjährige Ehe an.

»Wie lange warst du denn gestern noch weg?«, fragte Tom.

Das Kissen raschelte, als Anne es wie einen Puffer zwischen sich und ihn zog. »Jetzt steig schon in deine blöde Schwabenkarre und tu, was du nicht lassen kannst.«

Tom knurrte – oder brummte. Was auch immer es war, es hörte sich in seinen eigenen Ohren erschreckend nach der Unzufriedenheit seines Vaters an. Nach dem frühen Tod seiner Mutter hatte Tom ein ganz ähnliches Murren zum ersten Mal bei ihm gehört. Selbst das zauberhafte Kleinkindlachen von Viola, seiner kleinen Schwester, hatte es nicht mehr verjagt. Und erst recht nicht die »Neue«, wie Tom die Geliebte seines Vaters seit über fünfundzwanzig Jahren nannte. Die Bezeichnung Stiefmutter wäre unpassend gewesen, immerhin steckte ja das Wort Mutter darin.

Tom betrachtete das Kissen zwischen Anne und sich und gab auf. Es hatte keinen Sinn, vor allem nicht jetzt.

Halbnackt lief er die kalte Stahltreppe hinunter ins Souterrain, in die offene Küche, und drückte eine Kapsel in die Maschine. Während der Espresso lief, starrte er auf die grauen Fugen in der Backsteinwand. Heute wieder kein Sport. Wie lange war eigentlich die letzte Trainingseinheit her? Drei Wochen? Vier? Anne begann schon zu sticheln, er würde ansetzen. Mit Anfang dreißig!

Er stürzte den Espresso ungezuckert und in einem Zug hinunter, lud nach und trank einen zweiten.

Im Bad wartete sein müdes Spiegelbild über einem Waschbecken mit Sprung. Der Dreitagebart stand seit zehn Tagen und juckte. Die Haare waren kurz geschnitten, damit sie sich nur ja nicht ringelten; mit seinen blonden Locken und den blauen Augen hätte er sonst einem zu groß geratenen Engel geglichen. Ungünstig in seinem Beruf.

Mit beiden Händen schaufelte er sich kaltes Wasser ins Gesicht.

Früh aufstehen war gegen seinen Biorhythmus, trotz Espresso stand er immer noch im Tunnel. Dementsprechend unauffindbar war der Autoschlüssel. Er durchwühlte alle Jacken- und Manteltaschen an der Garderobe, auch die von Anne. Hätten sie Kinder gehabt, vermutlich hätte er auch deren Jacken noch durchsucht.

Annes Manteltasche spannte, als er seine große Hand herauszog. Ein kleines, weißes Papierbriefchen rutschte hervor und segelte zu Boden. Er starrte auf den quadratischen Miniumschlag auf dem Dielenboden. Jemand hatte mit schwarzem Kugelschreiber ein Herz darauf gemalt, durchbohrt von einem Pfeil.

Was für ein dummes Klischee, schoss es ihm als Erstes in den Sinn. Die Müdigkeit war schlagartig fort. Eine Reihe von Dominosteinen fiel in seinem Kopf um. Jeder Einzelne tat weh. Was hatte er gedacht? Dass Anne seine ständige Abwesenheit einfach so aushielt? Dass ihm erspart bliebe, was um ihn herum ständig passierte, seinen Kollegen, seinen Freunden?

Das Briefchen war kaum größer als ein Nachtfalter in seiner Hand. Während er es öffnete, zitterten seine Finger. Er erwartete irgendetwas Geschriebenes. Liebesgeflüster. Eine Telefonnummer, im besten Fall. Dann war vielleicht noch nichts geschehen.

Stattdessen fand er ein kleines Plastiktütchen mit weißem Pulver.

Unwillkürlich hielt er den Atem an. In seinem Mund ein bitterer Nachgeschmack von Espresso.

War es das, wonach es aussah?

Unsinn, das hätte ihm doch auffallen müssen.

Er eilte in die Küche, riss vom Notizblock das oberste Blatt ab und schüttete etwas von dem Pulver darauf, faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Hosentasche. Das Briefchen mit Herz und Pfeil schob er zurück in Annes Manteltasche, dann verließ er fluchtartig die Wohnung.

Jetzt sitzt Tom regungslos in seinem Wagen und fixiert den Stern auf dem dunklen Lenkrad. Er hätte längst losfahren müssen. Weitermachen. Polizist sein.

Wie lange geht das schon? Die Frage will nicht mehr aus seinem Kopf. Er kann nicht glauben, dass Anne ihn betrügt, aber er muss an den Geruch in ihren Haaren denken und wird wütend, schlägt aufs Lenkrad.

Warum?

Bei anderen findet er diese Frage immer lächerlich. Es gibt ja immer einen Grund. Man will es nur nicht wahrhaben. Jetzt hat sich das Warum auch in seine Gedanken geschlichen, obwohl er die Antwort kennt. Aber sie hilft verdammt noch mal nicht.

»Tu, was du nicht lassen kannst.«

Anne hat es vorhin einfach so dahergesagt, aber in dem Satz steckt ihre ganze Enttäuschung. Sie ist Cutterin, und in Produktionsphasen, wenn sie für eines ihrer TV-Doku-Projekte vor ihrem Schnittsystem festhängt, kommt sie selbst oft spät nach Hause, leer, mit vor Müdigkeit brennenden Augen und trotzdem nervös. Und es sind gerade diese Nächte, in denen sie ihn mehr braucht als in anderen, wenn sie früh zu Hause ist. Sie hadert mit ihrem Job, weil beim Fernsehen alles den Bach runtergeht, wie sie sagt, und sie nur von ADSlern umgeben ist. Nichts sei mehr einfach. Es gehe nicht mehr um gute Filme, nur noch um möglichst schlankes Produzieren.

Aber auch in den Nächten, in denen sie spät heimkommt, ist er oft nicht da, und sie spürt, dass es in seinem Leben etwas gibt, von dem er nicht lassen kann. Sie glaubt, dass es seine Arbeit ist, sein Ehrgeiz, sein Verantwortungsgefühl, weil er einer von den Guten ist, wie sie sagt. Genau das bewundert und liebt sie an ihm.

Tom lässt sie in dem Glauben. Es ist ja auch nicht ganz falsch. Wenn sie wüsste, dass es immer noch um Vi geht, wäre sie nur noch verletzter. Am Ende würde sie in ihrem Kummer vielleicht sogar Vi die Schuld dafür geben, dass sie einfach nicht schwanger wird. Als läge es daran, dass er blockiert ist und nur seine Schwester im Kopf hat. Menschen suchen dauernd nach Ausreden, in Beziehungen, beim Verhör, vor sich selbst. Um sich unschuldig zu fühlen, um andere für ihre Probleme verantwortlich zu machen.

Für ihn gibt es keine Ausrede. Er ist schuld daran, dass Vi nicht mehr da ist. Deshalb kann er nicht aufhören, sie zu suchen. Ihr Verschwinden fühlt sich nach all den Jahren immer noch so an, als hätte jemand ein Stück aus ihm herausgeschnitten.

Konzentrier dich, verdammt. Mach weiter jetzt.

Tom dreht den Zündschlüssel. Der nachtblaue Benz schnurrt gefräßig. Tom fährt los und zwingt seine Gedanken nach vorn, auf die Straße. Frühnebel über dem Landwehrkanal. Ein Blatt fällt und kommt unter die Räder. Der zusammengefaltete Zettel mit dem weißen Pulver drückt durch den dünnen Stoff seiner Hosentasche.

Tom biegt vom Heckmannufer links ab in die Schlesische Straße. Er muss auf die andere Spreeseite, in den früheren Osten. Ostberlin. Es kommt ihm vor, als hätte er niemals dort gelebt. Vi würde sich erst recht nicht daran erinnern können. Sie wurde ein Jahr vor Öffnung der Grenze geboren. Es gibt ein Foto von ihnen beiden, da ist er vier, ihre Mutter hat ihm erlaubt, die Kleine im Arm zu halten, und er strahlt vor Glück. Das Bild ist schief aufgenommen, vom rechten Rand scheint ein Wachturm ins Foto hineinzufallen.

Manchmal hat Tom den Eindruck, seine kleine Schwester säße neben ihm, die blasse Nasenspitze mit den Sommersprossen emporgereckt, so wie sie es immer tat, wenn sie sich älter machen wollte als ihre zehn Jahre. Und dann ist da der silberne Schlüssel, der an einer dünnen Kordel um ihren Hals hängt. Ihre Finger spielen nervös damit.

Du hättest dieses Ding nie haben dürfen, Vi.

Sie zieht die Stirn kraus. Du hast ihn mir doch selbst gegeben.

Nein, du hast ihn dir genommen.

Vi nimmt den Schlüssel und lässt ihn unter ihrem Pyjamahemd verschwinden, dem Pyjama, den sie damals trug, bevor sie verschwand, und der an ihr immer aussah wie ein geschrumpfter Altherrenschlafanzug.

Der Benz wippt über die Brückenschwelle, überquert den Fluss. Rechter Hand gleiten die Ziegelbögen der restaurierten Oberbaumbrücke am Fenster vorbei. Zu Mauerzeiten sind hier, an der Sektorengrenze, mehrere Kreuzberger Kinder ertrunken. Die DDR-Grenzposten unterließen es einfach, ihnen zu helfen, und die aus dem Westen wagten es nicht, wegen des Schießbefehls. Tom wurde fünf Jahre vor dem Mauerfall im Osten geboren. Jetzt ist er dreiunddreißig, und die DDR ist nur eine Randerscheinung in seiner Kindheitserinnerung. Die alte Grenze, die sich wie eine Narbe durch die Stadt zieht, ist zwar nicht seine Narbe, trotzdem geht sie ihm unter die Haut.

Er muss an den Anruf seiner Dienststelle denken und fragt sich, was genau ihn im Berliner Dom erwartet. Säße Vi neben ihm, sie würde jetzt vor Neugierde unruhig auf dem Sitz hin und her rutschen.

Wohin fahren wir?

Zu einem Tatort.

Schon wieder?

Ich dachte, du findest das aufregend.

Blöde Tatorte.

Da ist er wieder. Violas alter Gegenteil-Trick. Irgendwann einmal war sie auf die Idee gekommen, sie müsste nur möglichst uninteressiert tun, dann hätte sie vielleicht eine Chance, dabei zu sein. Denn nicht dabei sein zu dürfen, das war weiß Gott ihr wunder Punkt.

Und ich muss wirklich mit?

Das ist nicht FSK 12, Vi. Es wird wahrscheinlich blutig.

Pfff. Als wenn ich zum ersten Mal Blut sehen würde.

Klingt, als wolltest du doch ganz gerne mitkommen.

Nö. Aber wenn ich schon mal im Auto sitze.

Wenn es etwas gibt, was Tom seiner kleinen Schwester gerne abgewöhnt hätte, dann ihre Faszination für Verbrechen. Doch dafür ist es jetzt zu spät. Neunzehn Jahre zu spät.

Aus dem dünnen Frühnebel über dem Wasser erhebt sich die Museumsinsel. Tom biegt rechts ab. In der Straße Am Lustgarten, vor dem Dom, zucken Blaulichter. Absperrband flattert im aufkommenden Wind. Eine für den frühen Sonntagmorgen beachtliche Menschenmenge hat sich versammelt. Tom hält hinter zwei Streifenwagen vor der provisorischen Absperrung. Dahinter zählt er drei weitere Einsatzfahrzeuge: Notarzt, ein weißer Transporter der Kriminaltechnik und ein mausgrauer Audi. Der Berliner Dom ragt auf wie eine dunkle, stille Göttin.

Tom nimmt eine Tablette aus dem Handschuhfach und schluckt sie trocken. Zwanzig Milligramm Methylphenidat, eine kleine Dosis, aber das Zeug bringt ihn auf Spur. Die Hunderterpackung ist fast leer, er braucht dringend ein neues Rezept. Unwillkürlich muss er an das weiße Pulver in seiner Hosentasche denken. Zu den Tabletten hat Anne bisher nie etwas gesagt, vielleicht hat sie aber auch einfach nicht genau genug hingeschaut.

Er steigt aus und legt sein Holster an. Die frische Morgenluft lässt ihn schaudern. Das Adrenalin baut sich langsam auf – die Anspannung vor dem Betreten eines Tatorts. Sämtliche Poren öffnen, um alles zu spüren, und dennoch kühl auf Distanz bleiben. Ein höllischer Widerspruch für jeden Ermittler. Entscheidet man sich fürs Offensein, läuft man früher oder später umher wie eine klaffende Wunde. Wählt man Distanz, fehlt die Einfühlung in Opfer und Täter. Man klärt nichts mehr auf, verkümmert und wird kalt.

Tom zieht die Schultern hoch. Eine Leiche im Dom, hat es geheißen, entdeckt vom Domwart. Mehr weiß er noch nicht. Das Kreuz auf der Kuppel sticht golden in den Morgenhimmel.

Presseleute tigern rastlos vor der Absperrung umher: dpa, Reuters, die BZ. Trotz des neuen, angeblich abhörsicheren digitalen Polizeifunks sind sie immer als Erste vor Ort. Ein Reporter mit einem Teleobjektiv von der Länge eines Gewehrs wird von einem Polizeibeamten mit gelboranger Weste und der Aufschrift »Pressebetreuung« zurückgewiesen. Die beiden sind alte Bekannte. An den meisten Tatorten gibt es unter den Kollegen der Polizei einen lockeren Handschlag, einvernehmliches Nicken, die üblichen Scherze – manchmal auch gegenüber der Presse. Hier passiert nichts von alledem. Die Gesichter sind ernst. Die Tote im Dom wirft schon jetzt einen langen Schatten.

Zwei Beamte, die ihm höchstens bis zur Nasenspitze reichen, treten Tom in den Weg. Er wedelt mit seinem Ausweis: »Babylon, LKA.« Zweimal Nicken. Rückzug. Vor dem Hauptportal kommt ihm ein dürrer Mann im weißen Overall der KT entgegen. Sein Haar ist ohne erkennbare Frisur, und er hat eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte oder, wie er selbst sagt, Hasenscharte. »Morgen, Tom.«

»Morgen, Peer. Schon alle da?«

»Meine Mannschaft seit zehn Minuten, der Pathologe fehlt noch – und eure Leute.« Peer Grauwein bleibt stehen, kratzt sich am haarlosen Kinn und schiebt ein Fisherman’s Friend in seiner Mundhöhle von links nach rechts. Mit den Bonbons hält er sich den Tod vom Leib, oder zumindest dessen Geruch. »So, wie die Dinge liegen, kreuzen bestimmt bald der Staatsanwalt und jemand von der Chefetage hier auf.«

»Wer ist denn die Tote?«

»Wissen wir noch nicht. Ist kompliziert, da oben ranzukommen.«

»Da oben?«

»Schau’s dir erst mal selbst an. Ich muss weitermachen.« Grauwein schafft es, einen ironisch-militärischen Gruß anzudeuten. Mit raschelndem Schutzanzug geht er zum Dienstwagen, um weitere Ausrüstung zu holen.

Tom streift sich Überzieher über die Schuhe, strafft erneut die Schultern und nähert sich dem Domportal. Sein Handy klingelt, er fischt es aus der anderen Jackentasche. Es ist Doktor Walter Bruckmann, Leiter des LKA 1 für Delikte am Menschen. Toms direkter Vorgesetzter ist eigentlich Hubertus Rainer, Leiter des Dezernats für Tötungsdelikte. Peer hat recht. Es geht schon los mit den hohen Tieren.

»Tom? Wo sind Sie?« Vorname und Siezen – eine Eigenart von Bruckmann, als wären alle außer ihm selbst noch in der Ausbildung.

»Schon da«, erwidert Tom.

»Wo, da?«

»Am Dom.«

Bruckmann macht eine Pause, holt Luft. Er ist Ende fünfzig und energiegeladener, als die Tiefe seiner Falten erwarten lässt. Tom sieht ihn vor sich, mit seinem quadratischen Glatzkopf, die wässrigen hellgrauen Augen hinter der abgetönten Pilotenbrille, aufgekrempelte Hemdsärmel über kurzen, kräftigen Unterarmen.

»Tom, ich muss Sie bitten umzukehren. Kommen Sie in die Dienststelle. Morten erledigt die Sache im Dom.«

Tom stutzt. Jo Morten von der Mordkommission 4? Er fragt sich, was das mal wieder soll, erst hü, dann hott. Ob Bruckmann weiß, dass sein Dezernatsleiter nicht die MK 4, sondern die MK 7 angefordert hat? »Morten ist noch nicht da. Auch sonst keiner von der Vierten. Hubertus Rainer hat uns von der Sieben eingeteilt, und Hauptkommissar Behring ist krank, deshalb übernehme ich vorübergehend die Leitung. Scheint was Größeres zu sein. Ich geh kurz rein und schau nach dem Rechten, wenn ich schon mal hier bin.«

»Tom? Warten Sie, Ihr Engagement in Ehren, aber …« Bruckmanns Stimme knistert und wird unverständlich. Tom hat die schwere Tür aufgedrückt, den Vorraum durchquert und tritt jetzt ins gewaltige Innere des Doms. Der bizarre Anblick lässt seinen Atem stocken. Bruckmann sagt irgendetwas, doch Tom hat das Telefon sinken lassen und starrt ebenso ungläubig wie entsetzt auf das groteske Bild, das sich ihm bietet. Erste Scheinwerfer sind aufgestellt worden. Im gleißenden Licht, unter dem Scheitelpunkt der Kuppel, schwebt in perfekter Symmetrie und etwa fünfzehn Metern Höhe eine einsame Gestalt, in ein schwarzes Pfarrgewand gekleidet. Ihre Arme sind ausgestreckt wie bei einer Kreuzigung und spannen den Stoff darunter zu Flügeln.

Wie ein gerichteter schwarzer Engel, denkt er. Sein Blick fällt auf die Brust der Gestalt. Etwas Silbernes blitzt dort auf.

»Hallo, Tom? Bekomme ich eine Antwort?«, schnarrt Bruckmanns Stimme aus dem Telefon.

»Entschuldigung, ich hab Sie nicht ganz verstanden. Die Verbindung.«

»Noch mal klar und deutlich«, sagt Bruckmann scharf. »Das – ist – nicht – Ihr – Fall.«

Toms Mund öffnet sich, sein Herz beginnt schneller zu schlagen. Er starrt den kleinen silbernen Gegenstand um den Hals der Toten an, traut seinen Augen nicht.

»Babylon, verdammt. Hören Sie mir überhaupt zu?«

Wortlos legt Tom auf.

Seine Augen sind gut, laut Einstellungstest einhundertzwanzig Prozent Sehvermögen. Trotz der Entfernung erkennt er das glänzende, gezackte Etwas auf der Brust des schwarzen Engels als Schlüssel. Er nimmt sein Handy, fotografiert die Leiche, zoomt dann so nah wie möglich heran und macht ein Bild von dem Schlüssel. Ein spezieller Schlüssel mit einer grauen Plastikkappe über dem Griff. Die Auflösung des Fotos könnte besser sein, doch es reicht, um die Riefen in dem grauen Plastik zu erkennen. Und die Zahl.

Bruckmanns Stimme klingt noch in Toms Ohr. Das ist nicht Ihr Fall! Seine Hände zittern. Sein Herz zieht sich zusammen.

Bruckmann liegt falsch! Egal, was sein Dienstherr ihm sagt. Egal, welche Folgen es hat: Das hier ist sein Fall.

1998

Kapitel 2

Stahnsdorf bei BerlinSamstag, 11. Juli 199816:03 Uhr

Tom starrte durch das halbblinde Glas in den Regen hinaus. Seine rechte Faust umschloss den zerknüllten Zettel mit der krakeligen Kinderschrift.

Tschuldigung, Vi

Ob sein Vater schon zurück war? Tom hielt den Gedanken kaum aus, ihm in die Augen sehen zu müssen. Was sollte er nur sagen?

Das Wasser lief in Strömen vom Dach des Schuppens, in den er sich verkrochen hatte, und suppte unter der Tür hindurch, als wollte Gott ihn ertränken.

Gestern Nachmittag war der Himmel noch strahlend blau gewesen.

Der Tag war so leicht dahergekommen, mit knallbunten Farben, die Wolkenränder glühten, das Wasser auf dem Teltowkanal glitzerte wie der Schweiß auf ihren Gesichtern.

Die seit Jahrzehnten stillgelegte Eisenbahnbrücke ragte stoisch über den Kanal, vierzehn Meter siebenundzwanzig hoch, das hatten sie letzten Sommer mit einem Nagel und einem Nylonfaden gemessen. Die Brücke war ihr Revier, trotz oder gerade wegen der Schilder Zutritt verboten – Einsturzgefahr. Ein Schild mit Herzlich willkommen – genießen Sie den Ausblick hätte sie wirkungsvoller ferngehalten.

Bis in die Fünfziger waren hier mit der Friedhofsbahn Leichen aus Berlin gebracht worden, über Dreilinden zum Waldfriedhof in Stahnsdorf. Ein paar hundert Meter weiter hatte die Grenze später die Bahnlinie durchschnitten. Hier Osten, drüben Westen. Seitdem rosteten Brücke und Gleise vor sich hin. Auch die Wiedervereinigung hatte daran nichts geändert.

Tom war vierzehn und der Nachmittag langweilig. So schön es hier auf der Brücke sein konnte, das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, nutzte sich ab. Für Viola wäre es sicher eine Riesensache gewesen, dabei zu sein, aber sie war eben klein, deshalb musste sie auch zu Hause bleiben. Bene dagegen war schon fünfzehn. Er blies sich immerzu die fransigen, rotblonden Haare aus dem pickeligen Gesicht und schoss mit dem Luftgewehr auf Blechbüchsen, die beiseitesprangen, wenn er traf. Karin stellte sie wieder auf, immer mit ängstlichem Blick auf den Gewehrlauf, dabei würde das Ding höchstens eine kleine Wunde reißen, außer vielleicht, der Schuss ging ins Auge. Josh spielte mal wieder den Superhelden, hatte sein Shirt ausgezogen und behauptete, er würde gleich von der Brücke springen, während Naddi ihm versprach, wenn er heil unten ankomme und den Kopf aus dem Wasser stecke, werde sie ihm ihre Brüste zeigen. Sie kannte Joshs Heldentum zur Genüge und wusste, dass keinerlei Gefahr bestand, ihr Versprechen einlösen zu müssen. Tom hätte nur zu gerne mit Josh getauscht und wäre an seiner Stelle gesprungen. Wenn auch lieber für einen Kuss als für den Anblick ihrer Brüste. Zur Not aber auch für Letzteres.

Doch ihm galt ja das Angebot nicht.

Tom war viel zu groß und hatte viel zu lange Glieder. Er verfluchte seinen Körper dafür, dass er ständig nur in die Höhe wuchs statt in die Breite. Er war durchaus sportlich, bewegte sich aber so schlaksig, als wäre ihm sein Körper fremd. Da half es auch nichts, wenn sein Vater ihm immer wieder erklärte, das würde sich später auswachsen. Er fühlte sich jetzt fehl am Platz – wen interessierte da, was später war. Selbst Bene mit seinem fransigen Topfschnitt und den Pickeln schien sich wohler in seiner Haut zu fühlen. Vielleicht, weil er ohnehin keine Schnitte bei den Mädchen hatte; vielleicht aber auch, weil er seinen Frust besser verbergen konnte.

Tom warf einen Blick zu Josh hinüber, der wiederum Naddi verstohlen beäugte. Seit letztem Sommer spannte ihr T-Shirt sichtlich. Zwei winzige Spitzen zeichneten sich unter dem dünnen Baumwollstoff ab. Nadja, so hieß sie eigentlich, strich ihre braune Mähne hinüber auf die andere Seite und gab für Josh den Blick frei. Himmel! Tat sie das mit Absicht?

»Okay. Gilt«, sagte Josh. Seine Stimme klang rau. Nach trockenem Mund.

Naddi runzelte die Stirn. »Pfff. Ich glaub’s erst, wenn ich’s klatschen höre.«

»Dann mach mal die Ohren auf.« Joshs Kieferknochen traten hervor, als er ein Bein über das Geländer schwang.

»Scheiße, bist du irre«, sagte Bene und ließ das Luftgewehr sinken. Mit offenem Mund sah er alles andere als intelligent aus, obwohl er durchaus clever war. »Du weißt doch, wie hoch das ist.«

Naddi hob kokett eine Augenbraue. »Gegen die Klippenspringer in der Davidoff-Werbung ist das gar nichts. Die würden einen Salto mit Köpper machen. Und die Arme dann so …« Sie streckte ihre Arme wie Schmetterlingsflügel zur Seite. Dabei hob sich ihr T-Shirt, und für einen Moment war ihr Bauch zu sehen. Joshs Adamsapfel hüpfte.

Naddi lächelte wie die Unschuld vom Lande. Josh war chancenlos

Karin warf Naddi einen gereizten Blick zu. »Jetzt hör schon auf. Bene hat recht. Das ist zu hoch.«

Josh schwang das zweite Bein hinterher, stand jetzt auf der Außenkante der Brücke und stellte sich mit dem Rücken zum Geländer, die Hände links und rechts hinter sich. Auch wenn Tom es nicht gerne zugab, aber im Gegenlicht, mit seinem im Luftzug wehenden Haar und dem muskulösen Kreuz, das deutlich breiter als sein eigenes war, glich Josh tatsächlich ein wenig einem Superhelden oder einem dieser Klippenspringerhechte.

»Dann komm schon mal vor ans Geländer«, sagte Josh heiser. »Gleich is’ Showtime.«

Naddi trat hinter ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter. Für Tom sah es so aus, als flüsterte sie ihm etwas ins Ohr. Im selben Moment ließ Josh los und stürzte in die Tiefe.

Mit einem spitzen Kieksen wich Naddi zurück. Tom, Bene und Karin beugten sich zeitgleich über das Geländer. Von unten erscholl ein kurzer Schrei, der abriss, als Josh hart in das glitzernde Wasser eintauchte. Spritzer schossen in die Höhe.

»Wohow«, brüllte Bene. »Coolio!«

Tom starrte fasziniert nach unten. Er hätte gegen Josh gewettet – und verloren. Das hier war cool.

In Karins Augen war nur Verärgerung zu lesen. Sie war die Jüngste von ihnen, doch ihr Augenrollen und das unausgesprochene »Boa, Jungs ey!« ließ sie eindeutig am ältesten wirken. Dass ihre Mutter die Gemeindepastorin war, machte sie nicht gerade lockerer. Doch ihr Spießertum in diesem Moment hatte wohl eher egoistische Gründe, vermutete Tom. Wäre Josh für sie gesprungen, hätte sie wohl kaum protestiert.

Die Wasseroberfläche wölbte sich nach oben, dann wieder nach unten und schickte kreisförmige Wellen in die sanfte Strömung. Aber wo blieb Josh?

»Da!«, brüllte Bene.

Joshs Kopf näherte sich der Wasseroberfläche.

»Ha!« Bene grinste Naddi an. »Jetzt musst du liefern.«

Tom fing Naddis Blick auf, ihre Gesichtsfarbe war dunkelrosa.

»Titten raus, Babyyy«, johlte Bene.

»Nicht für dich, du Schwachmat«, fauchte Naddi. »Dreh dich gefälligst um.«

Bene grinste, gehorchte aber. Erneut fing Tom einen Blick von Naddi auf, ihre Pupillen leuchteten grün in der Sonne. Es war ein Moment, kurz wie ein Lidschlag. Gleich würde sie auch von ihm verlangen, dass er sich umdrehte, und er würde es widerspruchslos tun. Das Ganze war für sie schon peinlich genug.

Nadja sah ihn immer noch an, hob das T-Shirt, und für einen Augenblick erlag Tom der Vorstellung, das hier wäre nur für ihn. Er konnte nicht anders, als hinzusehen. Sie drehte sich zum Kanal, beugte den Oberkörper über das Geländer. »Josh – wuhuhuuu!« Sie schrie alle Peinlichkeit hinaus, es klang fast wütend. Tom erschien sie so schön wie noch nie zuvor, ihre Brüste weiß und perfekt über dem Abgrund.

Mühsam riss er sich von dem Anblick los, sah in die Tiefe zu Josh, erwartete ein grinsendes Gesicht mit Stielaugen, ein Siegerlächeln. Doch Joshs Kopf war immer noch unter der Wasseroberfläche. »Verdammt, was ist da los?«

Karin und Nadja blieben stumm, sahen wie er gebannt nach unten.

Die Wasseroberfläche bewegte sich. Josh schien mit den Armen zu rudern.

»Oh Gott. Ist ihm was passiert?«, hauchte Karin.

Bene hatte sich wieder umgedreht, blickte ebenfalls in die Tiefe. Nadja stand wie erstarrt da, das T-Shirt immer noch halb erhoben. Tom räusperte sich, deutete auf ihre Brust. Erst jetzt ließ sie ihr Shirt fallen. »Scheiße«, flüsterte sie. »Komm schon, Josh. Komm schon!«

Tom streifte hastig sein Hemd ab. Öffnete seinen Gürtel.

Plötzlich stieß Joshs Kopf durch die Wasseroberfläche. Er schnappte nach Luft, dann brüllte er. Nicht triumphierend, nicht siegessicher. Er schrie vor Angst – oder Schmerz.

»Jooosh«, rief Nadja. »Was ist los?«

Josh gab keine Antwort. Er schrie einfach nur weiter. Die Strömung ließ ihn langsam abtreiben.

»Fuck«, murmelte Bene. »Was machen wir jetzt?«

Tom sah hinab. Vierzehn Meter siebenundzwanzig. Bisher war er höchstens vom Dreier gesprungen. Seine Kehle wurde eng.

»Scheiße, da ist irgendwas. Da unten«, sagte Karin. In ihren Augen standen Tränen.

»Wir müssen ihn rausholen«, sagte Tom.

»Wie denn? Das ist doch saugefährlich.«

Josh schrie immer noch.

»Er hat ’nen Schock oder so was. Wir müssen ihm helfen.«

»Also, ich spring da nicht runter. Auf keinen Fall.« Instinktiv wich Bene vom Geländer zurück.

Tom riss sich die Hose herunter. Stieg über das rostige Geländer. Sein Herz schlug, als wollte es den Brustkorb sprengen. Seine Gedanken rasten.

Für eine Sekunde ist er fünf, sitzt auf dem Rücksitz des DS, Viola neben ihm.

Mutters Hände am Lenkrad, der Motor jault.

Der Baumstamm fliegt heran, liegt quer!

Das Dach wird abgerissen, ALLES oberhalb des Lenkrads wird abgerissen. Nur er und Vi nicht, weil sie klein sind.

Ein Hagel aus Glas.

Ohrenbetäubendes Krachen, mit dem sich die lange Wagenschnauze innerhalb von Sekundenbruchteilen in ein gepresstes Etwas verwandelt.

Dann Vaters tröstende Hand bei Mamas Beerdigung. Für einen schrecklichen Augenblick wünscht er sich nichts so sehr wie tauschen zu können. Mamas Hand bei Vaters Beerdigung.

»Josh! Halt durch!«

Karins Stimme ließ Toms Erinnerungsfaden reißen. Er starrte hinunter auf das fließende Wasser.

»Pass bloß auf«, flüsterte Nadja.

Scheiße, war das hoch. Tom spürte ein Ziehen in der Leistengegend. Dachte daran, dass er die uncoolste aller Unterhosen trug. Schiesser, Feinripp mit Eingriff. Spürte Nadjas Blick auf sich. Hörte Josh erneut schreien.

Und sprang.

Die Luft zog im Schritt. Dass Mut gleichzusetzen war mit dicken Eiern, das war nichts als Gequatsche. Seine schrumpelten gerade auf Erdnussgröße.

Einige Meter von Josh entfernt schlug er ein, mit den Füßen voran.

Seine Sohlen brannten. Nein, sein ganzer Körper brannte. Wasser schoss ihm in die Nase. Vor Schreck riss er die Augen auf, fand sich in einem Meer aus Luftblasen. In seinen Ohren toste es, während er tiefer sank. Plötzlich sah er neben sich ein unscharfes Etwas am Grund. War das etwa Josh? Seine Lungen schmerzten. Er stieß Blasen aus und ruderte mit Armen und Beinen, bis er auftauchte. Die Sonne stach ihm ins Gesicht, er hustete und schüttelte das Wasser ab. Ein Stück weiter kanalabwärts war Josh, schreckensbleich, hektisch paddelnd. »Scheiße. Hast du das gesehen?«, rief er mit sich überschlagender Stimme.

Tom schnappte nach Luft. »Was denn?«

»Na, das da unten!«

»Jetzt beruhig dich erst mal«, prustete Tom.

»Beruhigen? Wie denn, verdammte Scheiße. Wie denn?«

»Hey, alles klar bei euch?« Das war Nadja, oben auf der Brücke.

»Ja, alles klar«, schrie Tom. Wasser lief ihm aus den Haaren in die Augen. »Josh, komm schon. Lass uns erst mal zum Ufer schwimmen.«

Joshs Unterlippe zitterte. Er paddelte unkoordiniert. Die leichte Strömung trieb ihn stetig ab, dabei geriet er mit dem Mund unter Wasser und spuckte.

»Josh! He, ganz ruhig. Alles okay, hörst du? Lass uns zum Ufer schwimmen.« Tom näherte sich vorsichtig. »Ich komm jetzt zu dir, ja?«

Er griff nach Joshs Oberarm, versuchte, ihn festzuhalten und in Richtung Ufer zu ziehen, doch Josh schüttelte ihn mit wilden Armbewegungen ab, schlug nach ihm.

»Tom, pack ihn von hinten«, rief Bene von der Brücke. »Mit Rückenschwimmen.«

Tom schnaubte. Einfacher gesagt als getan. »Hast du gehört, Josh? Ich komm jetzt. Und dann schwimmen wir beide auf dem Rücken ans Ufer, okay?«

Er wartete Joshs Antwort nicht ab. Schlang ihm einen Arm um die Brust, brachte sich in Rückenlage und fing an, mit den Beinen zu paddeln. Im nächsten Augenblick lag Josh so schwer auf ihm, dass er untertauchte. Tom schlug doppelt so kräftig mit den Beinen, versuchte, Mund und Nase über Wasser zu halten. Verdammt, wann kam endlich das Ufer?

Wenigstens wehrte Josh sich jetzt nicht mehr. Ungelenk bewegte er seine Beine synchron zu Toms. Die Eisenbahnbrücke über ihnen schwankte und tanzte. In Toms Ohren gluckste Wasser, und mehr als einmal verschluckte er sich. Irgendwann spürte er einen scharfen Schmerz am unteren Rücken. Über dem Bund seiner Unterhose riss die Haut auf, als er über einen Stein schrammte.

Sofort hielt er die Beine still, tastete mit den Füßen nach dem Boden. Endlich. Grund. Stolpernd zerrte er Josh die Böschung hoch. Die Schürfwunde an seinem Rücken brannte wie Feuer.

»Schon gut. Kannst mich loslassen«, murmelte Josh. »Bin ja kein Baby mehr.«

Mit zitternden Beinen sanken sie ins hohe, von der Sonne erhitzte Gras.

Tom fiel auf, dass die anderen nicht mehr auf der Brücke standen. Vermutlich waren sie auf dem Weg zu ihnen, liefen über den kleinen Trampelpfad, der zu dieser Seite des Ufers führte. »Was zur Hölle war denn los mit dir?«

»Es hat mich festgehalten. Ich schwör dir, es hat mich festgehalten«, flüsterte Josh.

»Was hat dich festgehalten?«

»Hast du ihn nicht gesehen?«

»Du meinst, da war jemand?«

»Du hast nichts gesehen?«

»Na ja, doch«, meinte Tom. »Aber nicht so genau. Ich dachte zuerst, das wärst du.«

»Nein, das war er.«

»Also, was denn jetzt? Er? Es?«

»Der Tote«, flüsterte Josh.

»Du meinst, da unten ist eine …« Tom schluckte, spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten. »… eine Leiche?« Trotz der Wärme hatte er plötzlich eine Gänsehaut.

Josh nickte. »Ich hab sie berührt, als ich reingesprungen bin. Scheiße, Mann, war das eklig.« Er wischte sich hastig die Hände im Gras ab. »Ich hab Panik gekriegt und wollte rauf, aber sie hat mich festgehalten.«

»Festgehalten? Wie soll das denn gehen?«, fragte Tom unsicher.

Hinter ihnen raschelte es, und sie fuhren beide vor Schreck auf.

»Alles in Ordnung?« Bene trat aus dem Gebüsch. Hinter ihm Nadja und Karin.

»Jaja. Alles okay«, beeilte sich Tom zu sagen. Nadjas Blick glitt über Josh, dann über ihn, und plötzlich kam er sich entsetzlich nackt vor. Die Schiesser hing ihm tief auf den Hüften und war so labberig, dass er bestimmt aussah wie der letzte Idiot. Prompt schlich sich ein Grinsen in Nadjas Gesicht. »Josh meint, da wäre ’ne Leiche im Wasser«, sagte Tom hastig.

Das Grinsen verschwand. »Eine was?«

Josh erzählte seine Geschichte erneut, und die drei anderen wechselten beunruhigte Blicke.

»Und jetzt?«, fragte Nadja.

»Am besten, wir rufen die Polizei«, schlug Karin vor.

Bene runzelte missbilligend die Stirn. »Nicht, bevor wir uns das angesehen haben.«

»Bist du noch bei Trost?« Karin tippte sich an die Stirn. »Ich geh da auf keinen Fall rein. Außerdem hast du’s doch gehört. Sie hat Josh festgehalten.«

»Schwachsinn«, brummte Bene. »Wenn’s ’ne Leiche ist, kann die nix festhalten.«

»Und wenn doch?«

»Dann will ich sie erst recht sehen.«

»Leute, ehrlich«, meldete sich Josh zu Wort. »Mich kriegen da keine zehn Pferde mehr rein. Ich bin für die Polizei.«

»Jetzt mal echt«, echauffierte sich Bene. »Wir hängen hier den ganzen Sommer rum und wünschen uns, dass mal was passiert, und dann stoßen wir auf ’ne echte Wasserleiche, und alle machen sich ins Hemd?«

»Du hast gut reden«, murrte Josh. »Du warst nicht da unten.«

Bene zuckte mit den Schultern. »Aber Tom. Und der ist nur halb so blass wie du.«

»Vielleicht ist das Wasser ja verseucht«, warf Karin ein. »Wer weiß, wie lange die Leiche da schon liegt.«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.

»Na ja«, überlegte Tom. »Ist ja keine Pfütze hier. Die Strömung würde bestimmt alles wegspülen.« Alle Augen richteten sich auf ihn. »Habt ihr eigentlich meine Klamotten mit runtergebracht?«

»’tschuldige. Die sind noch oben«, murmelte Nadja. »Ging alles etwas schnell.«

»Is’ doch sexy, der Schlotterlappen um die Hüfte«, grinste Bene.

Tom wäre am liebsten im Boden versunken. »Also gut, sehen wir nach«, schlug er vor. »Wer kommt mit?«

Für einen Moment war selbst Bene still, als wäre er gerade rechts überholt worden. Dann zog er sein T-Shirt aus, stieg ins Wasser und watete langsam kanalaufwärts, zurück zur Brücke.

»Wie albern ist das denn?«, frotzelte Tom und deutete auf seine lange Hose.

»Und wie albern ist das?«, revanchierte sich Bene postwendend. Tom brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, wohin er zeigte.

»Ich komm auch mit«, meinte Nadja, klang jedoch recht unsicher.

»Coolio.« Bene hob den Daumen. Seit der Rapper Coolio vor knapp drei Jahren mit Gangsta’s Paradise einen Riesenhit gelandet hatte, gab es kein einfaches »cool« mehr für ihn.

»Gott, seid ihr bescheuert«, stellte Karin fest. Sie stand jetzt verdächtig nah bei Josh, und Tom wurde das Gefühl nicht los, dass sie ganz froh war, für einen Moment mit ihm allein zu sein.

Zu dritt wateten sie dicht am Ufer durchs Wasser, gegen die Strömung. Tom in seiner Feinrippunterhose, Bene mit seinen knochigen Schultern und seiner Jeans, die sich sofort mit Wasser vollgesogen hatte und ihm an den Beinen klebte, und Nadja, die ihre knappen Shorts ausgezogen hatte und darunter ein Bikinihöschen trug. Das T-Shirt hatte sie angelassen. Offenbar war ihr Oben-ohne-Bedarf vorerst gedeckt.

Als sie weit genug oberhalb der Brücke waren, schwammen sie zur Kanalmitte und ließen sich bis auf Höhe der Brücke treiben. Das kühle Wasser tat gut an Toms brennendem Rücken.

»Hier müsste es sein, oder?«, fragte Bene.

Tom nickte. Ihm war mulmig zumute. Auch Bene schien im Wasser deutlich mehr Respekt zu haben als vorhin an Land. Aber jetzt konnten sie nicht mehr zurück.

Tom atmete tief ein und tauchte unter. Kleinste Schmutz- und Pflanzenteile schwebten im Wasser. Der Kanal war hier etwa vier Meter tief. Links und rechts von ihm waren Bene und Nadja.

Sie kamen gleichzeitig unten an. Sahen alle drei zugleich dasselbe. Benes Schwimmbewegungen setzten einen Moment lang aus. Nadja stieß eine Wolke Luftblasen aus. Ihre Augen waren unwirklich weit geöffnet. Dann stieß sie sich vom Grund ab. Sedimente wirbelten auf, und sie schwamm hektisch nach oben.

Tom starrte den auf dem Grund liegenden Körper an. Er war in ein engmaschiges Drahtgeflecht gewickelt, die Waben glichen Schuppen. Von der Statur her schien es ein Mann zu sein, schwer zu sagen, welches Alter. Das Gesicht war entstellt, das Fleisch quoll zwischen den Drähten hervor. Ein helles Hemd bauschte sich zwischen den Waben. Mehrere größere Steine waren mit in den Draht gewickelt und hielten die Leiche am Boden. Am Bauch hatte sich ein breites Stück Drahtgeflecht gelöst und ragte in die Höhe, als hätte es sich in ein unsichtbares Etwas verhakt. Die Haare des Toten trieben sanft im Rhythmus von Toms Schwimmbewegungen. Über ihm glänzte die Wasseroberfläche wie Quecksilber. Im gebrochenen Licht blinkte etwas auf dem Boden, bei der rechten Hand des Toten.

Tom fasste sich ein Herz, schwamm so dicht heran, dass er das Gefühl hatte, der aufgequollene Arm könnte ihn jeden Moment packen, griff nach dem blinkenden kleinen Ding, stieß sich ab und schwamm hastig nach oben, nur weg von der Leiche.

Prustend tauchte er auf. Nadjas Gesicht war bleich, auch Bene hatte es nicht lange unten ausgehalten.

»Alter«, stieß Bene hervor. »Der is’ mausetot.«

Nadja sagte kein Wort.

Tom hielt den glänzenden Gegenstand in die Höhe. »Das hier lag neben ihm.« An einer gerissenen Schnur baumelte ein silberner Schlüssel mit einer grauen Kappe über dem Griff. In das Plastik war die Zahl Siebzehn geritzt.

Kapitel 3

Berliner DomSonntag, 3. September 20178:39 Uhr

»Tom!«, ruft Peer Grauwein. Gerade hat er mit seinem silbernen Tatortkoffer den Dom betreten und Tom unterhalb der Orgel entdeckt, am Rand, wo er sich an den Seilen zu schaffen macht, die den Körper der Toten in der Luft halten. Der KT-Overall knistert wütend, als Grauwein auf den Ermittler zustürmt. »Was zum Teufel treibst du da? Bist du verrückt geworden? Ich hab noch nicht mal Fotos gemacht.«

Tom ignoriert ihn. Er kann nicht anders. Warten war noch nie seine Stärke, aber bei dem hier wäre es ganz und gar unmöglich. Rasch macht er sich daran, auch das zweite Seil zu lösen. Die Tote baumelt wie eine schief geknüpfte Marionette in der Luft und gleitet ruckend dem Boden entgegen.

Mit hochrotem Kopf versucht Peer Grauwein, Tom das Seil aus den Händen zu reißen. »Wir haben noch gar nicht angefangen, verdammt, und du versaust schon den Tatort?«

Tom schiebt den deutlich kleineren Grauwein unwirsch beiseite.

»Hast du den Verstand verloren?«, zetert der Kriminaltechniker.

Tom lässt das letzte Stück Seil durch seine Finger laufen. Er hat dünne Latexhandschuhe übergezogen und unterhalb der Kuppel eine Plastikplane ausgebreitet, um die Pfütze aus Blut und Ausscheidungen abzudecken. Als die Beine der Toten einknicken und der leblose Körper plump auf die Plane sinkt, versetzt es seinem Herzen einen Stich. Es hilft nichts. Er braucht Gewissheit. Jetzt.

»Scheiße«, flüstert Grauwein.

Für einen Moment ist es ganz still. Sie sind zu viert in der ansonsten menschenleeren Kirche: Tom, Grauwein und zwei seiner Assistenten, die wie erstarrt aus einiger Entfernung zusehen.

Tom eilt durch die Bankreihen zur Mitte.

Die Frau liegt da, mit seltsam abgeknickten Beinen und ausgebreiteten Armen, die an einer hinter ihren Schulterblättern durch das Pfarrgewand geschobenen Holzlatte fixiert sind. An deren äußeren Enden hat jemand die beiden Schnüre befestigt, die sie in der Luft gehalten haben.

Tom starrt auf den Schlüssel. Auf die abgenutzte graue Plastikkappe, in die die Zahl Siebzehn geritzt ist. Sein Herz rast. Das Gesicht der Frau, ihre Nase, der Mund. Ist das Vi? Unzählige Male hat er sich vorgestellt, wie ihr Gesicht heute aussehen würde, ob er sie erkennen würde. Vielleicht am Lachen, an den Grübchen, am Leuchten der Augen, der Farbe der Iris. Aber die Augenpartie der Toten ist mit einem schwarzen Tuch verbunden.

»Tom, um Gottes willen …« Grauwein steht hilflos neben ihm, wippt von den Fersen auf die Ballen. »Was tust du da?«

»Halt den Mund«, sagt Tom heiser.

Ihm ist, als beugte sich Viola mit ihm gemeinsam über die tote Frau. Der Pyjama schlackert um ihre kindlichen Hüften, ihre blonden Locken sind zerzaust. Die Tote hat ebenfalls blonde Haare, mit etwas grau. Vi schaut ihn an, deutet auf den Schlüssel.

Das ist meiner. Wieso hat die Frau meinen Schlüssel?

Weil du es bist?

Mit zitternden Fingern berührt Tom die Augenbinde, versucht, sie nach oben zu streifen. Der Stoff ist feucht und klebt förmlich auf der Haut. Mit sanfter Gewalt zieht er die Binde ab, schaut in das bleiche, leere Gesicht – oder das, was davon übrig ist. Tom keucht. Geht neben der Leiche in die Knie. Unter der Plastikplane schmatzt es.

Grauwein stößt pfeifend den Atem aus; es riecht nach Fisherman’s. Menthol, Lakritze, Eukalyptus.

Anstelle der Augen klaffen zwei leere Höhlen im Gesicht der Frau. Dunkle Tränenspuren laufen links und rechts der Nase über die Wangen. Ohne Augen wirkt das Gesicht entstellt und seelenlos. Ein Finger ohne Fingerabdruck. Dennoch ist Tom jetzt sicher: Die Tote ist nicht Viola. Sie ist um die fünfzig, die Nase ist zu schmal, die Augen stehen zu weit auseinander. Nein, dieses Gesicht hat wenig mit dem seiner Schwester gemein.

Die Erleichterung hält nur einen kurzen Moment an. Sekunden später ist die Enttäuschung da. Die Enttäuschung, die er so hasst, die wie eine Achillesferse ist, ihn schwach macht, weil er manchmal aufgeben möchte, nicht mehr suchen will. Ein Teil von ihm sehnt sich danach, dass es endlich vorbei ist.

»Heilige Scheiße«, haucht Grauwein. »Das gibt richtig Druck.«

»Was meinst du?«, fragt Tom, immer noch mit sich beschäftigt und weit weg von dem Ermittler, der er sein sollte.

»Erkennst du sie nicht?«

»Sollte ich?«

»Guckst du keine Nachrichten? Das ist doch die Riss, die Ex-Bischöfin und Dompredigerin.«

»Brigitte Riss?« Tom wird blass. »Bist du sicher?« Er sieht in das Gesicht mit den leeren Augenhöhlen.

»So sicher, wie ich weiß, dass du gerade deinen Job aufs Spiel setzt.« Grauwein lässt die Pastille in seinem Mund klickern.

Erst jetzt, da er nicht mehr ausschließlich nach Gemeinsamkeiten mit Viola sucht, erkennt Tom Brigitte Riss. Karins Mutter, ausgerechnet. Seit fast zwei Jahrzehnten hat er sie nicht mehr gesehen, nur hin und wieder auf einem Buchcover oder in Zeitungsberichten, als es um ihren Rücktritt vom Bischofsamt ging. Wie lange ist das her? Drei Jahre? Er muss an Karin denken, die sich bei ihren Treffen damals immer beklagte, wie peinlich ihre Mutter sei. »Kirche hier, Kirche da, ohne diesen ganzen Protestantenscheiß wäre Papa bestimmt bei uns geblieben«, rutschte es ihr einmal in einem stillen Moment am Ufer des Teltowkanals heraus.

Er sieht Karin vor sich, wie herausgeschnitten aus dem Tag, als sie den Schlüssel fanden. Ihre Argumente damals, ihre Bedenken – das alles war so richtig gewesen. Und trotzdem hatten sie es ignoriert.

»Bruckmann bringt dich um, wenn er das hier erfährt.« Grauwein deutet auf die Tote am Boden.

»Ja, wahrscheinlich«, seufzt Tom und versucht, seine Gefühle zu sortieren. »Habt ihr sonst noch was gefunden?«

»Wie denn?«, schnaubt Grauwein. »Wir hatten gerade das Licht aufgestellt. Und dann kommst du und hängst unsere Leiche ab.«

»Schon gut«, sagt Tom. »Entschuldige.« Er mag Grauwein mit seinem schrägen Lächeln, das wegen der Gaumenspalte immer etwas verunglückt aussieht. Der Mann ist ein Vollprofi, und sein gelegentlicher Zynismus wird nur noch von seiner Einsamkeit und seiner Begeisterung für den Job übertroffen. Trotz seiner beachtlichen Körpergröße fühlt Tom sich plötzlich klein, es tut ihm leid, dass er dem Kollegen die Arbeit schwergemacht hat. Ein kontaminierter Tatort ist der Alptraum eines jeden Kriminaltechnikers, besonders wenn absehbar ist, dass der Staatsanwalt schnelle Resultate einfordern wird. Der Fall ist nicht umsonst direkt beim LKA gelandet, es wird eine Menge Druck geben. Dennoch bereut Tom keine Sekunde, was er gerade getan hat. Wäre es Vi gewesen, er hätte sie niemals dort oben hängen lassen können.

Toms Blick fällt auf den Schlüssel, der silbrig auf dem Gewand der Dompredigerin glänzt.

Sein Handy klingelt und hallt in der Kuppel wider. Es ist Bruckmann, Tom stellt den Klingelton leise. Jetzt ist nur noch ein wütendes Schnarren zu hören. Tom lässt den Blick schweifen, versucht, alles in sich aufzunehmen, was er sieht. Brigitte Riss, die beiden V-förmig vom Kuppelgang auf sie zulaufenden Seile. Die Umlenkrollen, mit deren Hilfe sie hochgezogen wurde, und das schwarze Gitter unter der Orgelempore, an dem die Seilenden befestigt sind. Die Atmosphäre des Doms, das frühe Licht, die Stille. Er versucht, der Ermittler mit den offenen Poren zu sein, der, der alles an sich heranlässt.

Wieder schnarrt das Handy. Diesmal ist es Anne.

Er geht nicht dran. Anne will er umarmen, wenn das alles hier vorbei ist. Dann fällt ihm der Umschlag mit dem weißen Pulver ein. Ein Grund mehr, gerade nicht mit ihr zu reden.

Kapitel 4

Stahnsdorf bei BerlinFreitag, 10. Juli 199816:53 Uhr

Tom saß in seiner klatschnassen Unterhose auf einem warmen Stein am Kanalufer, in der geballten Faust den Schlüssel. Innerlich war ihm kalt. Wasser tropfte aus seinen Haaren und rann ihm über den Rücken. Seine Schürfwunde brannte.

Sie saßen im Halbkreis, wie um eine Feuerstelle. Bene, Karin und Nadja waren kreidebleich. Josh dagegen schien ruhiger, die Erschütterung der anderen relativierte seine eigene. Er kam zurück in die Spur.

»Den hat einer umgebracht, oder?«, sprach Nadja das Offensichtliche aus. Ihr Blick ging ins Leere.

»Nicht einfach nur umgebracht«, meinte Bene. »Habt ihr das Gesicht gesehen? Und den Kaninchendraht?«

»Kaninchendraht?«, fragte Josh.

»Die haben den ersäuft, Mann.«

»Du meinst, die haben ihn eingewickelt und dann …?«

»Klar, mit diesen dicken Steinen.« Bene beschrieb sie mit seinen Händen.

Nadja hatte die Schultern hochgezogen, als wollte sie in Deckung gehen. »Meint ihr, der hat noch gelebt, als er reingeworfen wurde?«

Schweigen.

»Was ist denn mit dem Gesicht?«, fragte Karin leise.

Tom räusperte sich. Der Kloß in seinem Hals wollte einfach nicht kleiner werden. »Das sah aus wie Schnitte.«

»Die wollten nicht, dass ihn jemand erkennt«, überlegte Bene.

»Vielleicht wollten sie ihm auch weh tun«, sagte Tom leise. »Ihn für irgendwas bestrafen.«

Karin hielt sich die Hand vor den Mund.

»Die Schnitte haben ihn auf jeden Fall nicht umgebracht«, fuhr Tom fort. »Welchen Sinn sollte denn sonst der Aufwand mit dem Kaninchendraht haben?«

»Dass er nicht gleich ans Ufer gespült wird? Oder oben schwimmt?«, mutmaßte Bene.

»Wenn sie nicht wollten, dass er entdeckt wird, hätten sie ihn doch auch irgendwo vergraben können. Ich glaube eher, sie waren darauf aus, ihn, na ja, zu bestrafen eben.« Tom sah in die Runde.

»Warum eigentlich sie? Meinst du, das waren mehrere?«, fragte Karin.

»Weiß nicht. So ’ne Leiche ist doch schwer. Erst recht mit den Steinen.«

Stille.

Karin rieb sich nervös den Hals. »Wir … wir müssen zur Polizei.«

»Was glaubt ihr, wie lange liegt der schon da unten?«, fragte Bene.

Tom zuckte mit den Schultern. »Ich kenn mich nicht aus mit so was. Vielleicht ’ne Woche? Sonst müsste er doch schon … anders aussehen.«

»Angefressener«, half Bene aus.

Sie schwiegen erneut. Dass die Leiche offenbar erst seit kurzem im Kanal schwamm, machte das Ganze noch bedrohlicher. Tom sah nach oben zur Brücke, von wo Josh und er gesprungen waren. Von dort mussten sie den Mann hinuntergeworfen haben. Das war alles so verdammt … nah! Als könnten gleich Männer aus dem Gebüsch kommen und auch sie ertränken.

»Wir müssen zur Polizei gehen«, wiederholte Karin.

»Was machen wir mit dem Schlüssel?« Josh deutete auf Toms Faust, aus der die gerissene Schnur herauslugte. Tom öffnete instinktiv die Hand. Der Schlüssel lag unschuldig auf seinem Handteller.

»Na, abgeben. Ist doch klar«, sagte Karin.

Bene rollte mit den Augen. »Du bist echt die Pastorentochter, oder?«

»Pastorinnen-Tochter«, sagte Karin steif. »Mein Vater hat mit Glauben nichts am Hut.«

»Stimmt, deshalb ist er ja auch abgehauen«, stichelte Bene.

»Leute, könnt ihr das mal lassen. Ist doch jetzt echt überflüssig«, unterbrach Tom.

»Sag ihm das, nicht mir.« Karins Lippen waren schmal vor Ärger. Sie hatte viele empfindliche Punkte. Ihr Vater war definitiv einer der empfindlichsten.

»Und wenn die ihn wegen dem Schlüssel umgebracht haben?«, fragte Josh. »Vielleicht ist der wertvoll. Gehört vielleicht zu ’nem Schließfach oder so.«

Tom runzelte die Stirn. »Warum hat er ihn dann noch?«