Der Mut der Hoffnungslosigkeit - Slavoj Žižek - E-Book

Der Mut der Hoffnungslosigkeit E-Book

Slavoj Zizek

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Beschreibung

Ein rastloser, wortgewandter Autor und ein origineller Denker Die Weltlage ist zum Verzweifeln. Alles wird immer nur schlechter. Doch das hat auch sein Gutes. Der bekannte Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek analysiert das aktuelle Elend auf zwei Ebenen: Im ersten Teil geht es um den ökonomisch-politischen Schlamassel, in dem wir stecken, von der vergeblichen Mühe der Syriza-Partei, aus den Zwängen des Kapitalismus auszusteigen, über TTIP, das Internet der Dinge, die weltweite Migration bis zur Rückkehr der Religion als politischer Faktor. Im zweiten Teil, auf der Ebene der Ideologie, analysiert Žižek u.a. die »terroristische Bedrohung«, die politische Korrektheit sowie den neuen Populismus. Angesichts der Lage zieht es der Philosoph vor, verzweifelt zu sein. Denn erst wenn es keine Hoffnung mehr gibt, wird der wahre Mut freigesetzt, kann fundamentaler Wandel auf den Weg gebracht werden.

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Seitenzahl: 610

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Slavoj Žižek

Der Mut der Hoffnungslosigkeit

Aus dem Englischen von Frank Born

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Jela, einfach so, [...]Einleitung: V wie Vendetta, Teil 2Teil I Das Auf und Ab des globalen KapitalismusKapitel 1 Das Unbehagen im globalen KapitalismusStörungen unter der KuppelDie Kuppel in Ost und WestDie manipulierte Kuppel I: Warum lecken sich Hunde an den Eiern?Die manipulierte Kuppel II: »Freihandelsabkommen«Die manipulierte Kuppel III: Hinab in den MaelströmFortschritt in Richtung Sklaverei und PrekariatFaire bouger les chosesMissunterschätzen Sie nicht den Fetisch der Demokratie!Jenseits des KapitalismusKollaboratives GemeingutKapitel 2 Syriza, der Schatten eines EreignissesEin zweiter Aufstieg von Syriza?Probleme linker GouvernementalitätVerschuldet ja – aber nicht schuldig!Vom Syntagma zum ParadigmaDas ReferendumDie ApokalypseEin Plädoyer für den bürokratischen SozialismusKapitel 3 Die Religion und ihre InhalteChinas alternative ModerneChina, Religion und AtheismusAtheismus – aber welcher?Wohin, Zionismus?Islamozentrismus? Nein danke!Muslimische Wurzeln der Moderne?Die Rückkehr der Religion?Teil II Das ideologische SchattentheaterKapitel 4 Die »terroristische Bedrohung«Formen falscher SolidaritätIst der Fundamentalismus prä- oder postmodern?Kolonialer Feminismus, antikolonialer Antifeminismus»Bête et méchant«Terroristen mit menschlichem AntlitzCiaccos Antwort oder Fremde in einem fremden LandKapitel 5 Das Sexuelle ist (nicht) politischDie Fallstricke der politischen KorrektheitVereint gegen HeterosexismusScheinkämpfeDie Geschlechterdifferenz – Hierarchie oder Antagonismus?Die Verfahrenheit des TransgenderismusDie gescheiterte AnrufungDer universelle AntagonismusKapitel 6 Die populistische VersuchungDie öffentliche Defäkation als eine schöne Kunst betrachtetDer Beginn einer wunderbaren Freundschaft? Wenn die Linke die Zugehörigkeit entdecktDie Krise der Fabrikation von KonsensDer Brexit oder Die große Unruhe unter dem HimmelEine Gesetzesmacht, die sich selbst aufhebtGesichter des DemokratiedefizitsEin Triumph der IdeologieClinton – Duterte – TrumpWas tun – mit Trump und mit uns?Finale: Die Einsamkeit des Weltpolizisten in einer multizentrischen Welt

Für Jela, einfach so, ohne jeden Grund

Einleitung: V wie Vendetta, Teil 2

In einem wunderbaren Kommentar zu Italo Svevos Roman Zenos Gewissen entwickelt Alenka Zupančič eine systematische Matrix der Beziehungen zwischen Wiederholung und Ende.[1] Die Grundversion ist der falsche Verweis auf die Wahlfreiheit, bei der (wenn wir das Beispiel des Rauchens nehmen) mein Bewusstsein, dass ich jederzeit damit aufhören kann, garantiert, dass ich es nie wirklich tun werde – die Möglichkeit, mit dem Rauchen aufzuhören, ist genau das, was die tatsächliche Verhaltensänderung blockiert; sie erlaubt es mir, mein fortwährendes Rauchen ohne schlechtes Gewissen zu akzeptieren, so dass das Ende des Rauchens geradezu als Grund für dessen Fortsetzung ständig präsent ist. (Man stelle sich, wie Zupančič scharfsinnig bemerkt, eine Situation vor, in der das Subjekt dem Befehl unterworfen ist: Du kannst rauchen, wenn du willst, aber wenn du einmal damit anfängst, hast du keine Wahl – du darfst nicht mehr damit aufhören. Unter dieser Voraussetzung würden sich viel weniger Menschen dazu entschließen, mit dem Rauchen anzufangen.) Wenn ich die Heuchelei dieser endlosen Entschuldigung nicht länger ertragen kann, folgt der nächste Schritt, der in der immanenten Umkehrung dieser Haltung besteht: Ich entscheide mich, zu rauchen, und erkläre, dies sei die letzte Zigarette meines Lebens, so dass ich sie – im Bewusstsein, dass es meine letzte ist – mit einem gewissen Mehrwert genießen kann … Dies tue ich immer wieder und wiederhole ein ums andere Mal das Ende, die letzte Zigarette. Das Problem an dieser Lösung ist, dass sie nur funktioniert (das Mehr-Genießen also nur dann entsteht), wenn ich nicht nur erkläre, sondern auch wirklich daran glaube, dass die jeweilige Zigarette meine letzte ist, und somit ist diese Strategie ebenfalls zum Scheitern verurteilt. In Svevos Roman geht es damit weiter, dass Zenos Psychoanalytiker (der den Protagonisten bis dahin stets zu überzeugen versucht hatte, dass Rauchen seine körperliche und geistige Gesundheit gefährde) seine Strategie ändert und erklärt, Zeno solle so viel rauchen, wie er wolle, da seine Gesundheit kein ernsthaftes Problem darstelle – das einzige pathologische Merkmal sei vielmehr Zenos Besessenheit vom Rauchen und seine Leidenschaft, damit aufzuhören.

Was beendet werden soll, ist daher nicht das Rauchen, sondern der beharrliche Versuch, damit aufzuhören. Wie (für jemanden mit psychoanalytischer Erfahrung) nicht anders zu erwarten, ist die Wirkung dieser Veränderung katastrophal: Statt sich endlich erleichtert zu fühlen und ohne Schuldgefühle rauchen zu können (oder es zu lassen), ist Zeno zutiefst verstört und verzweifelt. Er raucht wie verrückt und fühlt sich dennoch vollkommen schuldig, ohne aus seinen Schuldgefühlen eine narzisstische Befriedigung ziehen zu können. Verzweifelt bricht er zusammen. Alles, was er tut, erweist sich als falsch: Verbote funktionieren ebenso wenig wie Freizügigkeit, es gibt keinen Ausweg, keinen angenehmen Kompromiss; und weil es der Mittelpunkt seines Lebens war, verliert nun sogar das Rauchen jeden Sinn und Zweck. In völliger Verzweiflung – und nicht etwa als gewichtige Entscheidung – gibt er schließlich das Rauchen auf … Der Ausweg tut sich also unerwartet auf, als Zeno die absolute Hoffnungslosigkeit seiner Lage akzeptiert. Und genau diese Matrix sollten wir auch hinsichtlich der Aussicht auf einen radikalen Wandel zugrunde legen. In der akademischen »radikalen Linken« herrscht immer noch die Haltung vor, die George Orwell schon 1937 in Bezug auf den Klassenunterschied wie folgt beschrieben hat:

Wir alle wettern gegen die Klassenunterschiede, aber nur sehr wenige Leute wollen sie im Ernst abschaffen. Hier stößt man auf die bedeutsame Tatsache, daß jede revolutionäre Ansicht einen Teil ihrer Kraft aus der insgeheimen Überzeugung gewinnt, daß nichts verändert werden kann.[2]

Orwell ist der Auffassung, dass die Radikalen die Notwendigkeit einer revolutionären Veränderung wie eine Art Talisman ins Feld führen, um genau das Gegenteil zu erreichen, nämlich zu verhindern, dass die Veränderung tatsächlich stattfindet – so wie die akademische Linke heute den kapitalistischen Kulturimperialismus kritisiert, aber in Wirklichkeit mit Entsetzen daran denkt, dass ihr Studiengebiet tatsächlich überflüssig werden könnte. Die Haltung gleicht der des Rauchers, der davon überzeugt ist, jederzeit aufhören zu können: Die Möglichkeit der Veränderung wird beschworen, um sicherzustellen, dass sie nicht verwirklicht wird. Wir können eine ganze Palette von Strategien benennen, die auf dasselbe hinauslaufen, bis hin zu der des »Akzelerationismus«, dem zufolge der Kapitalismus an seiner eigenen Überentwicklung scheitern und zusammenbrechen wird, weswegen wir uns voll und ganz auf ihn einlassen sollten … Erst wenn wir verzweifeln und nicht mehr wissen, was wir tun sollen, kann die Veränderung in die Tat umgesetzt werden – wir müssen durch diesen Nullpunkt der Hoffnungslosigkeit hindurch. Kurz, wir müssen in der Politik eine Umkehr vornehmen, die der in Schuberts »Leiermann« gleichkommt, dem Schlussgesang der Winterreise. Das Lied scheint die äußerste Verzweiflung des verlassenen Liebhabers zu beschreiben, der am Ende jede Hoffnung, ja sogar die Fähigkeit, zu trauern und zu verzweifeln, selbst verliert und den Mann »drüben hinterm Dorfe« beschwört, der seine Leier dreht. Es wurde jedoch auch schon vielfach bemerkt, dass sich dieses letzte Lied ebenso als Zeichen der bevorstehenden Erlösung interpretieren lässt: Während der Held in allen anderen Liedern des Zyklus nur introvertiert und grübelnd dargestellt wird, wendet er sich hier erstmals nach außen und stellt einen minimalen Kontakt, eine emphatische Identifikation mit einem anderen Menschen her, auch wenn es sich dabei um einen weiteren verzweifelten Verlierer handelt, der nicht einmal mehr fähig ist zu trauern und nur noch blind-mechanische Gesten ausführen kann. Zwei Jahre vor seinem Tod, als deutlich wurde, dass es keine gesamteuropäische Revolution geben würde, und er wusste, dass die Idee des Sozialismus in einem Land Unsinn war, war Lenin an diesem Punkt und schrieb:

Wie aber, wenn die völlige Ausweglosigkeit der Lage, wodurch die Kräfte der Arbeiter und Bauern verzehnfacht wurden, uns die Möglichkeit eines anderen Übergangs eröffnete, um die grundlegenden Voraussetzungen der Zivilisation zu schaffen, als in allen übrigen westeuropäischen Staaten?[3]

Stalins ideologische Grundoperation bestand genau darin, Lenins Interpretation der Lage umzukehren. Er stellte die Isolation der Sowjetunion als einmalige Chance zum Aufbau des Sozialismus in einem Land dar. Stalins Formel in dieser historischen Situation war eine der Hoffnung. Das folgende Jahrzehnt brachte dann jedoch den Preis ans Licht, der für den Versuch, diese Hoffnung zu erfüllen, gezahlt wurde: politische Säuberungen, riesige Hungersnöte und so weiter. Der Kommunismus des 20. Jahrhunderts lehrt uns, dass wir die Kraft aufbringen müssen, die Hoffnungslosigkeit vollständig anzunehmen. Giorgio Agamben sagte in einem Interview, Denken sei »der Mut der Hoffnungslosigkeit« – eine Einsicht, die in unserem historischen Moment ganz besonders gilt, in dem selbst die pessimistischste Diagnose gewöhnlich nicht ohne den Hinweis auf irgendeine Version des sprichwörtlichen Lichts am Ende des Tunnels auskommt. Wahrer Mut besteht nicht darin, sich eine Alternative auszumalen, sondern darin, die Konsequenzen der Tatsache zu akzeptieren, dass es keine klar erkennbare Alternative gibt: Der Traum von einer Alternative ist ein Zeichen von theoretischer Feigheit, dient er doch als Fetisch, der uns davon abhält, die Ausweglosigkeit unserer Lage konsequent zu Ende zu denken. Wahrer Mut besteht, kurz gesagt, darin, einzugestehen, dass das Licht am Ende des Tunnels wahrscheinlich die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Zuges sind.

Dieser auf uns zurasende Zug hat in jüngster Zeit viele Gestalten angenommen. Die Probleme in unserem globalkapitalistischen Paradies sind in den vergangenen Jahren besonders an vier Stellen zum Ausbruch gekommen, mit denen vier Figuren des Feindes verknüpft werden können: die neuerliche fundamentalistisch-terroristische Bedrohung (die Kriegserklärung gegen die Terrororganisationen Islamischer Staat, Boko Haram …); geopolitische Spannungen mit und zwischen neuen, nichteuropäischen Mächten (China und vor allem Russland); der Aufstieg neuer radikal emanzipatorischer Bewegungen in Europa (derzeit in Griechenland und Spanien); der Flüchtlingsstrom über die Mauer, die »uns« von »denen« trennt und »unsere Art zu leben bedroht«. Es ist wichtig, die wechselseitige Verknüpfung dieser Bedrohungen zu erkennen – nicht als die vier Facetten desselben Feindes, sondern in dem Sinn, dass sie verschiedene Aspekte desselben inneren »Widerspruchs« des globalen Kapitalismus ausdrücken. Auch wenn der Fundamentalismus und der Flüchtlingsstrom die bedrohlichsten der vier zu sein scheinen (ist der IS nicht eine brutale Ablehnung unserer zivilisierten Werte?), stellen die Spannungen mit Russland eine weitaus ernstere Gefahr für den Frieden in Europa dar, während Bewegungen wie Syriza vor ihrer Kapitulation den globalen Kapitalismus in seiner neoliberalen Form von innen her unterminieren. Aber damit keine Missverständnisse aufkommen: Die westlichen Mächte können ohne weiteres mit fundamentalistischen Regimes koexistieren, während das Problem im Fall Putins darin besteht, wie Russland geopolitisch in Schach gehalten werden kann (vergessen wir nicht, dass sein Aufstieg das Resultat der katastrophalen, von Korruption geprägten Amtszeit Jelzins ist, als westliche Wirtschaftsberater mithalfen, Russland zu demütigen und in den Ruin zu führen). Obwohl also die USA dem IS formell den Krieg erklärt haben und obwohl ständig von einem drohenden Krieg mit Russland die Rede ist, geht die wahre Gefahr von den gemäßigten und »sanften« neuen emanzipatorischen Bewegungen – von Syriza in Griechenland bis zu den Anhängern von Bernie Sanders in den USA – und deren mutmaßlicher Radikalisierung aus. Aufgrund dieser Fehlwahrnehmung von radikaler Politik leben wir in einer Zeit der Scheinkonflikte: Ja oder Nein zum Brexit in Großbritannien, das Militär oder Erdoğan in der Türkei, neue baltisch-polnisch-ukrainische Fundamentalisten oder Putin in Osteuropa, Burkini oder nackte Brüste in Frankreich, Assad oder IS in Syrien und so weiter. Auch wenn man in all diesen Fällen eher der einen als der anderen Seite zuneigen mag, sollten wir hier letztlich jene Haltung der Gleichgültigkeit einnehmen, wie sie beispielhaft von Stalin an den Tag gelegt wurde, der in den 1920er Jahren auf die Frage, welche Abweichung schlimmer sei, die rechte oder die linke, erwiderte: »Sie sind beide schlimmer!« Gibt es jenseits dieser Scheinkämpfe noch das Potential für einen echten Wandel? Ja, es gibt dieses Potential, denn die Funktion jener Scheinkämpfe besteht genau darin, den Ausbruch der echten Kämpfe zu verhindern.

Wut, Rebellion und eine neue Macht stellen eine Art dialektische Triade des revolutionären Prozesses dar. Zuerst gibt es die chaotische Wut: Die Menschen sind unzufrieden und zeigen dies auf mehr oder weniger gewalttätige Weise, aber ohne ein klares Ziel oder eine klare Organisation. Wenn diese Wut organisiert wird, kommt es zu einer Rebellion, in der schon ein Mindestmaß an Organisation und ein mehr oder weniger klares Bewusstsein dafür herrscht, wer der Feind ist und was sich ändern muss. Und schließlich, wenn die Rebellion erfolgreich ist, steht die neue Macht vor der gewaltigen Aufgabe, die neue Gesellschaft zu organisieren. (Erinnern wir uns an die Anekdote über das Gespräch zwischen Lenin und Trotzki unmittelbar vor der Oktoberrevolution. Lenin fragt: »Was wird geschehen, wenn wir scheitern?«, worauf Trotzki antwortet: »Und was wird geschehen, wenn wir Erfolg haben?«) Das Problem ist, dass diese Triade fast nie ihrem logischen Verlauf folgt: Die chaotische Wut wird abgeschwächt oder verwandelt sich in rechten Populismus; die Rebellion gelingt, aber sie verliert an Schwung und wird sich in vielfacher Weise untreu. Aus diesem Grund kommt Wut nicht nur am Beginn, sondern auch am Ende und als Folge gescheiterter emanzipatorischer Projekte auf. Denken wir etwa an die Proteste, die nach der Erschießung Michael Browns durch einen Polizisten im August 2014 in Ferguson, Missouri, aufkamen. Sind sie nicht aktuelle Beispiele für das, was Walter Benjamin als »göttliche Gewalt« bezeichnet hat? Sie sind kein Teil einer langfristigen Strategie – sie sind, in Benjamins Worten, Mittel ohne Zweck. Gilt nicht dasselbe auch für andere Proteste, die auf Ferguson folgten, wie die Krawalle in Baltimore im April 2016, aber ebenso für die Aufstände in französischen Vorstädten im Herbst 2005, als Tausende Autos brannten und es zu heftigen öffentlichen Gewaltausbrüchen kam? Was bei diesen Protesten ins Auge fällt, ist das völlige Fehlen jeder positiven utopischen Aussicht unter den Protestierenden. Während die Proteste im Mai 1968 vorwiegend von Studenten und Arbeitern mit einer utopischen Vision angeführt wurden, handelte es sich bei den Aufständen in den Pariser Vorstädten von 2005 um Ausbrüche in ghettoisierten Einwanderergemeinschaften ohne jeden Anspruch auf eine gemeinsame Vision. Wenn die oft wiederholte Platitude, dass wir in einem postideologischen Zeitalter leben, irgendeinen Sinn hat, dann liegt er hier. Die Tatsache, dass es in den brennenden Vorstädten von Paris kein Programm gab, ist daher selbst ein interpretationsbedürftiges Faktum, das viel über unser ideologisch-politisches Dilemma aussagt. Was ist das für eine Welt, in der wir leben, die sich selbst als eine Wahlgesellschaft feiert, in der jedoch die einzig mögliche Alternative zum erzwungenen demokratischen Konsens in einem blinden Abreagieren besteht?

Der schwedische Soziologe Göran Therborn fasst unsere Lage wie folgt prägnant zusammen: »Nie zuvor waren die Aussichten auf eine gute Welt für die Gattung Mensch als Ganzes größer. Gleichzeitig war die Kluft zwischen dem menschlichen Potential und den bestehenden Verhältnissen der Menschheit in ihrer Gesamtheit wahrscheinlich nie breiter.«[4] Warum diese Kluft? Axel Honneth beginnt sein Buch Die Idee des Sozialismus mit dem großen Paradoxon der gegenwärtigen Situation:[5] Es herrscht zwar eine wachsende Unzufriedenheit mit dem globalen Kapitalismus, die oft in Wut umschlägt, aber es wird immer weniger möglich, diese Wut in einem neuen linken Projekt politisch zu artikulieren. Wenn die anwachsende Wut in ein politisches Programm überführt wird, so geschieht dies vorwiegend im Gewand des Rechtspopulismus. Wir wundern uns über den rätselhaften Aufstieg des muslimischen Fundamentalismus – aber sollten wir uns nicht ebenso über den nicht minder rätselhaften Aufstieg des religiös-nationalistischen Fundamentalismus in Ländern wie Polen, Ungarn oder Kroatien wundern? Polen war in den letzten zehn Jahren eine der wenigen echten europäischen Erfolgsgeschichten: Nach dem Fall des Sozialismus erhöhte sich das Bruttosozialprodukt pro Kopf um mehr als das Doppelte, und während der letzten Jahre regierte die gemäßigte liberal-konservative Koalition unter Donald Tusk – bis plötzlich, wie aus dem Nichts, ohne dass es irgendwelche größeren Korruptionsskandale wie in Ungarn gegeben hätte, die extreme Rechte an die Macht kam und es mittlerweile eine weitverbreitete Bewegung für ein radikales Abtreibungsverbot gibt, das selbst bei Lebensgefahr für die Mutter, Vergewaltigung oder Missbildung des Fötus gelten soll. Was geht da vor sich?

Der Fall Polen ist noch aus einem anderen Grund von Bedeutung: Er liefert einen starken empirischen Gegenbeweis für die vorherrschende linksliberale Einschätzung, der autoritäre Populismus sei eine Politik voller Widersprüche und zum Scheitern verurteilt. Das ist zwar im Prinzip richtig – auf lange Sicht sind wir alle tot, wie John Maynard Keynes sagte –, auf (mehr oder weniger) kurze Sicht kann es allerdings einige Überraschungen geben:

Was die USA (und möglicherweise auch Frankreich und die Niederlande) im Jahr 2017 erwartet, ist nach landläufiger Meinung ein unberechenbarer Herrscher, der eine widersprüchliche Politik verfolgt, welche in erster Linie den Reichen zugutekommt. Die Armen werden verlieren, weil die Populisten trotz gegenteiliger Versprechungen keine Chance haben, Arbeitsplätze im Produktionssektor zurückzuholen. Auch die massiven Zuströme von Migranten und Flüchtlingen werden anhalten, weil die Populisten keinen Plan haben, um das Problem an der Wurzel zu packen. Am Ende werden die populistischen Regierungen an ihrer Unfähigkeit zu einer effektiven Amtsführung zugrunde gehen, und ihre Chefs werden sich entweder Amtsenthebungsverfahren ausgesetzt sehen oder nicht mehr wiedergewählt werden. […]

Doch die Liberalen lagen falsch. PiS [Recht und Gerechtigkeit, die in Polen herrschende rechtspopulistische Partei] hat sich von einer ideologischen Nichtigkeit zu einer Partei gewandelt, die in Rekordgeschwindigkeit und mit großer Effizienz erschütternde Veränderungen zustande gebracht hat. […]

Sie hat die größten Sozialtransfers der zeitgenössischen Geschichte Polens beschlossen. Eltern erhalten monatlich 500 Złoty (120 Euro) Kindergeld für jedes Kind nach dem ersten beziehungsweise für alle Kinder in ärmeren Familien (das durchschnittliche Nettoeinkommen liegt bei 2900 Złoty im Monat, wobei jedoch zwei Drittel der Polen weniger verdienen). In der Folge ist die Armutsquote um 20 bis 40 Prozent, bei Kindern sogar um 70 bis 90 Prozent gesunken.

Und die Liste lässt sich fortführen: 2016 führte die Regierung die kostenlose Medikamentenversorgung für Menschen über 75 ein. Der Mindestlohn ist jetzt höher, als es die Gewerkschaften gefordert hatten. Das Renteneintrittsalter wurde von 67 Jahren auf 60 für Frauen und 65 für Männer gesenkt. Des Weiteren plant die Regierung Steuerentlastungen für Steuerpflichtige mit niedrigen Einkommen.[6]

Die PiS setzt in Polen um, was auch Marine Le Pen für Frankreich verspricht: eine Kombination aus Anti-Sparpolitik – Sozialtransfers, von denen keine linke Partei zu träumen wagt – und dem Versprechen von Ordnung und Sicherheit, welches die nationale Identität bekräftigt und ein Ende der Bedrohung durch die Einwanderung in Aussicht stellt. Wer kann diese Kombination schlagen, die unmittelbar auf die beiden großen Sorgen der einfachen Leute eingeht? Am Horizont zeichnet sich eine seltsam verquere Situation ab, in der die offizielle »Linke« die Sparpolitik durchsetzt (und dabei gleichzeitig für multikulturelle Rechte und dergleichen eintritt), während die Rechtspopulisten auf einen Anti-Sparkurs setzen, um den Armen zu helfen (und dabei gleichzeitig ihr fremdenfeindliches, nationalistisches Programm verfolgen) – die jüngste Gestalt dessen, was Hegel als »verkehrte Welt« beschrieben hat.

Und wenn Trump nun in dieselbe Richtung geht? Was wäre, wenn sein Projekt eines moderaten Protektionismus und großer öffentlicher Bauvorhaben gepaart mit einwanderungsfeindlichen Sicherheitsmaßnahmen und einem neuen perversen Frieden mit Russland tatsächlich irgendwie gelänge? Im Französischen kann man nach bestimmten Verben oder Konjunktionen das sogenannte »pleonastische« oder »zusätzliche ne« (le ne explétif) verwenden; es wird auch »nicht-negatives ne« genannt, weil es ein reines Füllwort ohne verneinende Wirkung ist: »Es wird gebraucht, wenn der Hauptsatz eine negative (im Sinne von schlecht oder im Sinne einer Verneinung) Bedeutung hat wie bei Befürchtungen, Warnungen, Zweifeln oder verneinten Ausdrücken.«[7] Ein Beispiel: Elle a peur qu’il ne soit malade (»Sie fürchtet, dass er krank ist«). Lacan bemerkte, dass diese überflüssige Verneinung perfekt die Lücke wiedergibt, die unser wahres unbewusstes Begehren von einem bewussten Wunsch trennt: Eine Ehefrau, die fürchtet, dass ihr Mann krank ist, kann sich durchaus Sorgen machen, dass er nicht krank ist (begehren, dass er krank ist). Und können wir nicht exakt dasselbe über die Linksliberalen sagen, die entsetzt über Trump sind? Ils ont peur qu’il ne soit une catastrophe. Was sie wirklich fürchten, ist, dass er keine Katastrophe ist.

Springen wir also nun zum anderen Extrem, dem Aufbau einer neuen Macht. Nur einen Tag nach ihrem Erfolg beim Referendum gegen den Druck der EU und für ein Nein zur Sparpolitik gab die Syriza-Regierung in Griechenland jenem Druck vollständig nach. Diese atemberaubende Kehrtwende steht für das »unendliche Urteil« (Zusammenfallen der Gegensätze) der gegenwärtigen linken Politik: Es gab keine stufenweise Vermittlung zwischen den beiden Extremen, kein langsames Hineingleiten in einen Kompromiss, sondern eine direkte und brutale Umkehr – unmittelbar nach dem resoluten »Nein« zur Austeritätspolitik wurde Syriza deren getreue Vollstreckerin. Wir müssen dieses Paradox unumwunden akzeptieren und dürfen es nicht durch den Verweis auf besondere Umstände (Furcht oder sogar Korruption aufseiten der Syriza-Führung und dergleichen) herunterspielen. Wir haben es mit einer echten dialektischen Umkehrung im Hegel’schen Sinne zu tun, wo die höchste ethische Haltung zu einer nicht minder prinzipientreuen Unterwürfigkeit wird.

Der Film V wie Vendetta (V for Vendetta, 2006) endet damit, dass Tausende unbewaffnete Londoner Bürger mit Guy-Fawkes-Masken auf das Parlamentsgebäude zumarschieren; das Militär hat keinen Befehl und lässt die Menge passieren, so dass sie das Parlament übernehmen kann. Als Chief Inspector Finch Vs Verbündete Evey nach dessen Identität fragt, antwortet sie: »Er war wir alle.« Ein schöner ekstatischer Moment, zugegeben, aber ich würde meine Mutter in die Sklaverei verkaufen, wenn ich dafür V wie Vendetta, Teil 2 sehen könnte: Was passiert am Tag nach dem Sieg des Volkes? Wie (re)organisieren die Menschen ihren Alltag?

Als Echo auf die großen Volksproteste der letzten Jahre, zu denen sich Tausende Menschen auf öffentlichen Plätzen versammelten (von New York, Paris und Madrid bis Athen, Istanbul und Kairo) ist die Versammlung, die Assemblée, die Assemblage (nicht im Sinne der von Latour und DeLanda entwickelten Assemblage-Theorie, sondern als Analyse des Phänomens von Versammlungen im öffentlichen Raum, deren performativer Wirkung und ihrer Fähigkeit, die bestehenden Machtbeziehungen herauszufordern) zu einem beliebten Theoriegegenstand geworden. Man sollte gegenüber diesem Gegenstand eine skeptische Distanz wahren. So wertvoll er auch sein mag, lässt er doch das Hauptproblem unberührt, wie sich von der Protestversammlung aus eine neue Macht etablieren lässt und wie sich diese neue Macht im Gegensatz zur alten verhalten wird. Jean-Claude Milner berichtet, dass Althusser einmal eine Typologie der Revolutionsführer improvisiert habe, die Kierkegaards Einteilung der Menschheit in Offiziere, Dienstmädchen und Schornsteinfeger in nichts nachsteht: diejenigen, die Sprichwörter zitieren, diejenigen, die keine Sprichwörter zitieren, und diejenigen, die sich (neue) Sprichwörter ausdenken. Die Ersten sind Schurken (Althusser dachte an Stalin), die Zweiten sind große Revolutionäre, die zum Scheitern verurteilt sind (Robespierre); nur die Dritten verstehen die wahre Natur der Revolution und haben Erfolg (Lenin, Mao). Wenn wir Milners Interpretation dieser Triade (die erfolgreichen authentischen Führer importierten die revolutionäre Idee aus dem Ausland und um ihr den Anschein der Verwurzeltheit im eigenen Land zu geben, mussten sie sie im beliebten Gewand von Sprichwörtern verstecken)[8] einmal außer Acht lassen, so liegt ihre Bedeutung vor allem darin, dass sie drei Arten der Bezugnahme auf den großen Anderen aufzeigt (die symbolische Substanz, den Bereich der ungeschriebenen Sitten und Weisheiten, die am besten in der Stupidität von Sprichwörtern zum Ausdruck kommt). Schurken schreiben die Revolution einfach nur neu in die ideologische Tradition ihrer Nation ein (für Stalin war die Sowjetunion die letzte Stufe der fortschreitenden Entwicklung Russlands). Radikale Revolutionäre wie Robespierre scheitern, weil sie lediglich einen Bruch mit der Vergangenheit herbeiführen, ohne dass es ihnen gelingt, neue Sitten und Gebräuche durchzusetzen (denken wir an das völlige Scheitern von Robespierres Idee, die Religion durch einen neuen Kult des höchsten Wesens zu ersetzen). Führer wie Lenin und Mao waren (zumindest eine Zeitlang) erfolgreich, weil sie neue Sprichwörter erfanden, das heißt neue Sitten und Gebräuche einführten, die den Alltag regelten und ordneten. Eine der besten Anekdoten über den Hollywood-Produzenten Samuel Goldwyn besagt, dieser habe, nachdem ihm die Klage von Kritikern zu Ohren gekommen sei, in seinen Filmen gebe es zu viele alte Klischees, eine Notiz an seine Drehbuchabteilung geschrieben mit der Anweisung: »Wir brauchen mehr neue Klischees!« Er hatte recht, und genau darin liegt die schwierigste Aufgabe einer jeden Revolution: »neue Klischees« für das normale Alltagsleben zu schaffen.

Bei vielen enttäuschten radikalen Linken kursiert unterschwellig eine Idee, die eine Art abgemilderte Version der Hinwendung zum Terror im Anschluss an die 68er-Bewegung (wie bei der Action directe in Frankreich oder der Baader-Meinhof-Gruppe in Deutschland) ist: Nur eine tiefgreifende Katastrophe (vorzugsweise eine ökologische) kann die großen Massen noch aufwecken und so der radikalen Emanzipation neue Impulse geben. Die jüngste Variante dieser Idee betrifft die Flüchtlinge: Wenn diese in Massen nach Europa strömten, könnte die europäische radikale Linke wiederbelebt werden. Ich finde diesen Denkansatz obszön. Abgesehen davon, dass eine solche Entwicklung mit Sicherheit einen massiven Anstieg einwanderungsfeindlicher Gewalttaten bedeuten würde, ist das wirklich Verrückte an der Idee, dass die durch den Mangel an Proletariern entstandene Lücke durch deren Import aus dem Ausland gefüllt werden und die Revolution somit also durch Stellvertreter-Revolutionäre herbeigeführt werden soll …

Man könnte natürlich sagen, die ständigen Niederlagen der Linken seien nur Schritte in einem langen Lernprozess, an dessen Ende möglicherweise der Sieg steht – dass etwa die »Occupy Wall Street«-Proteste die Bedingungen für die Bernie-Sanders-Bewegung schufen, die ihrerseits möglicherweise den Beginn des Aufstiegs einer großen, organisierten linken Bewegung darstellt. Allerdings muss man auch konstatieren, dass der Machtapparat seit 1968 eine außergewöhnliche Fähigkeit bewiesen hat, kritische Bewegungen als Quelle zur eigenen Erneuerung zu nutzen. Wenn aber die Lage derart trostlos ist, warum hören wir dann nicht einfach auf und finden uns mit einem bescheidenen Reformismus ab? Das Problem ist ganz einfach, dass der globale Kapitalismus uns mit einer Reihe von Antagonismen konfrontiert, die sich innerhalb des globalen kapitalistischen Demokratierahmens nicht kontrollieren oder gar eindämmen lassen. Kein Geringerer als die Silicon-Valley-Ikone Elon Musk, Gründer von SolarCity und Tesla, brachte es auf die Formel »Roboter werden Ihre Jobs übernehmen, und der Staat wird Ihnen Ihr Gehalt zahlen müssen«:

Computer, intelligente Maschinen und Roboter scheinen die Arbeitskräfte der Zukunft zu sein. Da immer mehr Jobs durch Technologie ersetzt werden, gibt es für die Menschen immer weniger Arbeit, bis sie irgendwann durch Zahlungen vom Staat versorgt werden, prophezeit Elon Musk […]. Laut Musk gibt es keine andere realistische Möglichkeit: »Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir infolge der Automatisierung am Ende ein bedingungsloses Grundeinkommen oder etwas in der Art haben werden.«[9]

Wenn diese Aussicht nicht das Ende des Kapitalismus bedeutet, was dann? Bemerkenswert ist auch, dass Musks Formel einen starken Staat impliziert, nicht nur ein Netzwerk lokaler Kooperativen. Die einzige wirkliche Frage lautet demnach heute: Schließen wir uns der vorherrschenden Akzeptanz des Kapitalismus als einer Tatsache der (menschlichen) Natur an oder beinhaltet der heutige globale Kapitalismus Antagonismen, die stark genug sind, um seine unendliche Reproduktion zu verhindern? Es gibt vier solcher Antagonismen. Sie betreffen (1) die Commons der Kultur im weitesten Sinne, des »immateriellen« Kapitals: das unmittelbar sozialisierte »kognitive« Kapital, besonders die Sprache, unsere Kommunikations- und Bildungsmedien, ganz zu schweigen vom Finanzbereich und den absurden Folgen unkontrollierter virtueller Geldzirkulation; (2) die Commons der äußeren Natur, die von Verschmutzung durch den Menschen bedroht sind: Jede der einzelnen Gefahren – die globale Erwärmung, das Meeressterben usw. – ist jeweils ein Aspekt einer Entgleisung des gesamten Reproduktionssystems des Lebens auf der Erde; (3) die Commons der inneren Natur (das biogenetische Erbe der Menschheit): Dank der neuen biogenetischen Technologie ist die Erschaffung eines neuen Menschen im wörtlichen Sinn einer Veränderung der menschlichen Natur zu einer realistischen Aussicht geworden; und (4) last, not least, die Commons der Menschheit selbst, des gemeinsamen sozialen und politischen Raums: Je globaler der Kapitalismus wird, desto mehr neue Mauern und Ausgrenzungen entstehen, die diejenigen innerhalb von denen außerhalb trennen. Diese globale Teilung wird von Spannungen begleitet, die zwischen neuen geopolitischen Blöcken aufkommen (dem »Kampf der Kulturen«). Der Bezug zu den »Commons« rechtfertigt hier die Wiederbelebung des Begriffs des Kommunismus, der uns die zunehmende »Einhegung« der Commons als einen Prozess der Proletarisierung derer erkennen lässt, die dadurch von der Substanz ihres Lebens selbst ausgeschlossen werden.

Nur der vierte Antagonismus, der Bezug auf die Ausgeschlossenen, rechtfertigt den Begriff Kommunismus. Die ersten drei betreffen im Grunde Fragen des wirtschaftlichen, anthropologischen und sogar physischen Überlebens der Menschheit, während die vierte letztlich eine Frage der Gerechtigkeit ist. Hier stoßen wir auf die alte und langweilige Frage nach dem Verhältnis zwischen Sozialismus und Kommunismus. Warum nennen wir das Ziel einer radikalen emanzipatorischen Bewegung Kommunismus? Im Marxismus wurde Sozialismus traditionell als die berühmtberüchtigte untere Stufe des Kommunismus gedacht, der »Fortschritt« sollte also vom Sozialismus zum Kommunismus verlaufen. (Es ist kaum verwunderlich, dass in der traurigen Lebenswirklichkeit des »real existierenden Sozialismus« jede Menge Witze kursierten, wie jener berühmte aus der Sowjetunion, in dem eine Menschengruppe in Moskau vor einem großen Propagandaplakat steht, auf dem zu lesen ist: »In zwanzig Jahren werden wir im vollendeten Kommunismus leben!« Einer aus der Gruppe fängt an zu lachen, und als die anderen ihn nach dem Grund fragen, sagt er: »Ich habe Krebs. In zwanzig Jahren bin ich mit Sicherheit tot!«) Die Realität sah jedoch anders aus; die meisten sozialistischen Länder begannen nämlich mit einer Art von primitivem, aber radikalem Kommunismus (die Sowjetunion zwischen 1918 und 1920 etc.) und waren dann, um zu überleben, zum »Rückschritt« und zu Kompromissen mit der alten Gesellschaft gezwungen – die Entwicklung verlief also vom Kommunismus zum Sozialismus (der das Alte mit dem Neuen verband). Das Schlechteste, was wir heute tun können, ist, den Namen »Kommunismus« fallenzulassen und für eine abgemilderte Version des »demokratischen Sozialismus« einzutreten. Die Aufgabe, vor der wir stehen, liegt genau darin, den Kommunismus neu zu erfinden und eine radikale Veränderung herbeizuführen, die über eine vage Vorstellung von gesellschaftlicher Solidarität weit hinausgeht. Insofern im Verlauf des historischen Veränderungsprozesses auch dessen Ziel selbst neu definiert werden sollte, könnte man sagen, dass »Kommunismus« als Name für das neu erfunden werden muss, was nach dem Scheitern des Sozialismus als Ziel hervortritt.

Das Establishment reagiert heute auf die »radikale« Theorie genauso, wie es schon Hegel in der Vorrede zur Philosophie des Rechts beschrieben hat, in der er von »einem Briefe Joh. v. Müllers« schreibt, »wo es vom Zustande Roms im Jahre 1803, als diese Stadt unter französischer Herrschaft stand, unter anderem heißt: ›Befragt, wie es um die öffentlichen Lehranstalten stehe, antwortete ein Professor: On les tolère comme les bordels [Man toleriert sie wie die Bordelle].‹«[10] Wird nicht das meiste, was heute in der »radikalen« akademischen Welt vor sich geht, auf die gleiche Weise toleriert? Wie bei Hegel wird davon ausgegangen, dass »man in ihr nur inhaltslose, also nichtsgebende und nichtsverderbende Formeln erhalte, daß somit die Empfehlung auf keinen Fall schaden sowie nichts nutzen werde«.[11] Ich behaupte, dass nur eine Neuerfindung des Kommunismus der Theorie ihre emanzipatorische Kraft zurückgeben kann.

Diese Sicht auf den Kommunismus (die ich in vielen meiner letzten Bücher erläutert habe) ist in letzter Zeit vielfach kritisiert worden – meine Kritiker machen dabei im Wesentlichen fünf Hauptsünden aus: meinen (offen eingestandenen) Eurozentrismus, das heißt mein Beharren auf den europäischen Wurzeln des Projekts der allgemeinen Emanzipation; meine Ablehnung des Vorschlags der Linken Plattform in Griechenland, nach dem Sieg der Syriza-Regierung beim Referendum radikalere Maßnahmen (wie den Grexit) zu wagen; meine Kritik an der Erhebung von Flüchtlingen und Migranten zu einer neuen Form des globalen Proletariats und mein Insistieren auf den Problemen der kulturellen Identität; meine Zweifel an einigen ideologischen Elementen der LGBT+-Bewegung; und, nicht zu vergessen, meine »Unterstützung« des »Faschisten« Donald Trump. Wie zu erwarten, werden alle diese Vorwürfe in der These zusammengeführt, ich sei im Grunde ein homophober, eurozentrischer Rassist, der jede wirklich radikale Maßnahme ablehnt … Das vorliegende Buch widmet sich systematisch allen diesen kritischen Punkten.

Der Mut der Hoffnungslosigkeit ist tatsächlich ein düsteres Buch, aber ich ziehe es vor, Pessimist zu sein. Wenn ich nichts erwarte, werde ich hin und wieder angenehm überrascht (weil die Dinge dann doch meistens nicht so schlimm sind, wie sie sein könnten); der Optimist muss dagegen mit ansehen, wie seine Hoffnungen zunichtegemacht werden, und ist ständig deprimiert. Die beiden Teile des Buches entwickeln die düstere Diagnose auf zwei Ebenen: Der erste Teil – »Das Auf und Ab des globalen Kapitalismus« – behandelt den ökonomisch-politischen Schlamassel, in dem wir stecken, der zweite – »Das ideologische Schattentheater« – die ideologische Bühne, auf der die politischen und ökonomischen Kämpfe ausgefochten werden (dieses Theater ist keineswegs nur ein sekundäres Spiegelbild des »wahren« ökonomischen Kampfes, sondern gerade der Ort, an dem die »wahren« Kämpfe ausgetragen werden). Teil I bietet zunächst einen kurzen Überblick über die Sackgassen des globalen Kapitalismus; anschließend beschreibt er das Schicksal von Syriza als den Versuch, aus den globalen kapitalistischen Verwicklungen zu entkommen; er schließt mit einem Blick auf die Rückkehr der Religion als politischer Faktor von China bis Israel. Teil II beginnt mit einer Analyse der sogenannten »terroristischen Bedrohung« durch den religiösen Fundamentalismus; er behandelt dann den Kampf um die Sexualität, der weltweit zwischen Konservativen und den Kräften der politischen Korrektheit tobt; er endet mit einer Betrachtung der populistischen Wut als der vorherrschenden Reaktion auf jene Sackgassen. In einem kurzen Finale wird schließlich in noch düstereren Farben angedeutet, wie die anhaltenden geopolitischen Spannungen zum Dritten Weltkrieg führen könnten.

Teil I Das Auf und Ab des globalen Kapitalismus

Kapitel 1 Das Unbehagen im globalen Kapitalismus

Störungen unter der Kuppel

In Edgar G. Ulmers Horrorklassiker Die schwarze Katze (The Black Cat, 1934) verkörpern die beiden Hauptdarsteller Bela Lugosi (Dr. Werdegast) und Boris Karloff (Poelzig) die beiden Erscheinungsformen des »Untoten«, wobei sie jeweils ihren bekannten Leinwand-klischees entsprechen – Lugosi spielt den gespenstischen Überlebenden, der von seiner traumatischen Vergangenheit besessen ist, Karloff ein maschinenhaftes Ungetüm, das heißt, es stehen sich der vampirartige Untote und das Frankenstein’sche Monster gegenüber (was durch die Art ihres Schauspiels deutlich wird: Lugosi zeigt die Dracula-typischen Manierismen, Karloff agiert mit hölzernen Gesten). So läuft der ganze Film auf eine theatralisch inszenierte sadomasochistische Folterszene am Schluss zu, in der Lugosi damit beginnt, Karloff bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen. Entspricht dieser Gegensatz nicht dem auf ein Minimum reduzierten Klassenkampf, dem Konflikt zwischen dem aristokratischen Vampir und dem proletarischen lebenden Toten? Welche Form hat das Abziehen der Haut demnach in unserer Zeit angenommen?

In der ersten Hälfte des Jahres 2015 wurde Europa von radikal emanzipatorischen Bewegungen wie Syriza und Podemos in Atem gehalten, während sich die Aufmerksamkeit in der zweiten Jahreshälfte auf das »humanitäre« Problem der Flüchtlinge verlagerte – der Klassenkampf wurde von den liberal-kulturellen Themen Toleranz und Solidarität buchstäblich verdrängt und ersetzt. Nach den Terroranschlägen am Freitag, dem 13. November 2015 in Paris wurde selbst die Flüchtlingskrise (die immer noch mit großen sozioökonomischen Problemen einhergeht) durch eine schlichte Gegenüberstellung in den Schatten gestellt, die sämtliche demokratischen Kräfte in einen gnadenlosen Krieg mit den Kräften des Terrors verwickelt sah – und man kann sich denken, was dann folgte: eine paranoide Suche nach IS-Agenten unter den Flüchtlingen und so weiter (die Medien vermeldeten hämisch, dass zwei der Terroristen als Flüchtlinge über Griechenland nach Europa gelangt waren).[12] Die größten Opfer der Pariser Terroranschläge werden die Flüchtlinge selbst sein, und die wahren Gewinner hinter Platituden à la Je suis Paris werden natürlich die Anhänger eines totalen Krieges auf beiden Seiten sein. Wir sollten die Morde von Paris wirklich verurteilen, und zwar nicht, indem wir pathetisch unsere antiterroristische Solidarität zur Schau stellen, sondern indem wir beharrlich fragen: Cui bono? Wem nützen die Massaker? Wir brauchen kein »tieferes Verständnis« der IS-Terroristen (in dem Sinn, dass ihre schrecklichen Taten immer auch Reaktionen auf die brutalen Interventionen der Europäer sind); die Terroristen sollten als das charakterisiert werden, was sie sind: das islamo-faschistische Gegenstück zu den europäischen einwanderungsfeindlichen Rassisten – es sind zwei Seiten derselben Medaille.

Es gibt jedoch noch einen anderen, eher äußerlichen Aspekt, der uns zu denken geben sollte, und das ist die Form der Anschläge selbst – eine zeitweilige brutale Störung des normalen Lebens. (Die angegriffenen Ziele stehen bezeichnenderweise nicht für den Militär- oder Politikapparat, sondern für die alltägliche Populärkultur: Restaurants, Veranstaltungsorte für Rockkonzerte und so weiter.) Diese Form des Terrorismus – eine zeitweilige Störung – ist charakteristisch für Anschläge in westlichen Industrieländern; in vielen Ländern der Dritten Welt sieht es dagegen ganz anders aus, denn hier ist die Gewalt eine Dauertatsache des Lebens. Versuchen Sie sich den Alltag im Kongo, in Afghanistan, in Syrien, im Irak oder im Libanon vorzustellen – wo bleiben die Aufschreie und internationalen Solidaritätsbekundungen, wenn dort Hunderte sterben? Wir sollten uns jetzt daran erinnern, dass wir unter einer Art Kuppel leben, wo die terroristische Gewalt eine Bedrohung ist, die nur von Zeit zu Zeit ausbricht, während das alltägliche Leben in vielen anderen Ländern (mit Beteiligung oder Mitschuld des Westens) ununterbrochen von Terror und Brutalität geprägt ist.

In seinem Buch Im Weltinnenraum des Kapitals zeigt Peter Sloterdijk, wie das Weltsystem mit der heutigen Globalisierung seine Entwicklung vollendet hat und als kapitalistisches System sämtliche Bedingungen des Lebens bestimmt. Das erste Symbol dieser Entwicklung war der Londoner Kristallpalast, der Ort der ersten Weltausstellung von 1851. Er steht für die unausweichliche Exklusivität der Globalisierung als Errichtung und Ausweitung eines Weltinnenraums, dessen Grenzen unsichtbar, aber von außen praktisch unüberwindbar sind und der inzwischen von anderthalb Milliarden »Globalisierungsgewinnern« bewohnt wird. Die dreifache Menge Menschen bleibt außen vor. Infolgedessen ist »der Weltinnenraum […] keine Agora und keine Verkaufsmesse unter offenem Himmel, sondern ein Treibhaus, das alles vormals Äußere nach innen gezogen hat«.[13] Dieses auf kapitalistischen Überschüssen errichtete Innere bestimmt alles: »Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, daß die Erde um die Sonne, sondern daß das Geld um die Erde läuft.«[14] Nach dem Prozess, der die Welt in den Globus verwandelt hat, konnte »sich das soziale Leben […] nur in einem erweiterten Interieur, in einem hausartig geordneten und künstlich klimatisierten Binnenraum, abspielen«.[15] Mit der Herrschaft des kulturellen Kapitalismus werden alle weltformenden Aufstände unter Kontrolle gehalten: »Unter solchen Bedingungen könnten keine historischen Ereignisse mehr eintreten, allenfalls Haushaltsunfälle.«[16] Sloterdijk weist zu Recht darauf hin, dass die kapitalistische Globalisierung nicht nur für Offenheit und Eroberung steht, sondern auch für eine in sich geschlossene Kuppel, die ihr Inneres vom Äußeren trennt. Die beiden Aspekte sind untrennbar miteinander verbunden: Die globale Reichweite des Kapitalismus hat ihren Grund darin, dass er eine radikale Klassenteilung auf dem gesamten Globus herbeigeführt hat, welche diejenigen, die von dieser Sphäre geschützt werden, von denen außerhalb ihres Schutzes trennt.

Die jüngsten Terroranschläge in Paris wie auch der Flüchtlingsstrom erinnern uns für einen kurzen Moment an die gewalttätige Welt außerhalb unserer Kuppel, eine Welt, die uns Insidern meist nur in Fernsehberichten über ferne, von Gewalt beherrschte Länder begegnet – nicht als Teil unserer Wirklichkeit, sondern als in sie eindringend. Es ist unsere ethisch-politische Pflicht, die Realität außerhalb unserer Kuppel nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch unsere Mitverantwortung für die dort stattfindenden Gräuel vollkommen einzugestehen. James Mangolds Thriller Cop Land (1997) spielt in der fiktiven Stadt Garrison am gegenüberliegenden Flussufer von Manhattan in New Jersey, wo der korrupte Polizist Ray Donlan (gespielt von Harvey Keitel) einen Ort geschaffen hat, an dem die New Yorker Polizisten und ihre Familien ein sicheres Leben führen können. Als der ehrliche Polizist Freddy Heflin (Sylvester Stallone) moralische Bedenken gegen die Vorgehensweise seines Kollegen äußert, erwidert Donlan:

Freddy, ich habe Männer eingeladen – Polizisten, gute Männer –, in dieser Stadt zu leben. Und um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, überqueren diese Männer täglich die Brücke in die Stadt, wo alles auf dem Kopf steht, wo der Bulle der Täter ist und der Täter das Opfer. […] Sie haben bloß ihre Familien da rausgeholt, bevor es brenzlig wurde. Wir haben einen Ort geschaffen, wo es vernünftig zugeht, wo man ohne Angst über die Straße gehen kann. Und jetzt kommst du und willst die Dinge zurechtrücken. Die ganze Stadt soll Händchen halten und »We Are the World« singen. Sehr schön. Aber, Freddy, dein Plan ist der Plan eines Jungen, ein unüberlegter Schnellschuss. Du hast ihn gemacht, ohne dir die Karten anzusehen. Ich sehe mir das Blatt an, und ich sehe diese Stadt zerstört. Das ist nicht das, was du willst, oder?

Es ist unschwer zu erkennen, inwieweit Donlans quasi-ontologische Sicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit falsch ist: Die Gruppe von Polizisten schafft sich einen sicheren Hafen, indem sie sich aus dem korrupten Manhattan zurückzieht, doch nur ihre Beteiligung am korrupten und verbrecherischen Universum Manhattans versetzt sie überhaupt in die Lage, die Kriminalität von ihrem Viertel fernzuhalten und ihr sicheres und angenehmes Leben weiterzuführen. Das bedeutet, gerade ihr Bemühen um einen sicheren Hafen trägt zur systematischen Vermehrung des Verbrechens in Manhattan bei – und dasselbe lässt sich auch für alle anderen Kriminellen Manhattans sagen, mit Ausnahme der Kleinkriminellen auf den Straßen. Tun nicht auch Mafiabosse, was sie tun, um ihren Familien einen sicheren Hafen zu bieten? Man beachte die Zirkularität dieser Konstellation: Das Bemühen, einen sicheren Hafen zu schaffen und vor der verrückten Außenwelt zu schützen, erzeugt genau die Welt, vor der es uns schützen will. Begegnet uns das gleiche Paradox nicht auch in Songdo City, der neuen Planstadt für eine Viertelmillion Einwohner, die in der Nähe der südkoreanischen Großstadt Incheon aus dem Boden gestampft wird und wie ein in Stein gemeißeltes ideologisches Manifest wirkt? Der ehemalige italienische Senator Francesco Martone schreibt in einem Artikel über Songdo, die Stadt sei

aus dem Nichts erbaut worden, auf 6,5 Quadratkilometern, die dem Meer abgerungen wurden, von einer menschlichen Hand, die Grenzen und Morphologien verändert. Sie soll irgendwann 250000 Menschen beherbergen und entwickelt sich rasant zu einer Trendlage, in die schon diverse Seifenopern-Stars gezogen sind, die in dem Ort gern das Beverly Hills des Ostens sehen würden.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt besteht die Stadt jedoch aus nahezu leeren, futuristischen Gebäuden, ein paar Radfahrern, die auf den breiten Boulevards entlangfahren, und Baustellen, auf denen rund um die Uhr gearbeitet wird. Im Hintergrund Kanäle voll mit Handelsschiffen. Wer zwischen diesen hochaufragenden Gebäuden aus Stahl und Kristall spazieren geht, auf halbverlassenen Straßen, die darauf warten, mit Autos gefüllt zu werden, fühlt sich wie in einer Truman Show des grenzenlosen Liberalismus. […]

Es ist eine Art »Stadtstaat«, in dem Investoren alle möglichen Freiheiten genießen, wie Steuererleichterungen und anderes mehr. Eine künstliche und virtuelle Darbietung des extremen Liberalismus, die Vergegenständlichung der Alltagswirklichkeit, der zum Konsumgut verwandelten Natur, die unmögliche Gleichung zwischen einem Green New Deal und Wachstum, falsche Steine und gerupfte Bäume im flachen Sand, von Windböen umpeitscht, eiskalt im Winter, glühend heiß im Sommer. […]

Songdo, das heute als Schaukasten der »Green Economy« erachtet und angepriesen wird, wurde auf Kosten der Verdrängung eines empfindlichen Ökosystems erbaut, in dem nicht weniger als elf Arten von Zugvögeln lebten, darunter der Schwarzstirnlöffler (Platalea minor), und das ein hochwichtiger Ort gemäß der Ramsar-Konvention ist. Emissionsfreie Super-Öko-Kraftwerke verwandeln Gezeitenströme in Energie und zerstören dabei fragile Küstenlebensräume. Das weltweit größte Kraftwerk dieser Art, das Gezeitenkraftwerk Sihwa-ho, wurde paradoxerweise als Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (CDM) anerkannt, mit dem Schadstoffemissionen verringert und Kohlenstoffgutschriften generiert werden sollen. »A Conflict of Greens: Green Development Versus Habitat Preservation – The Case of Incheon, South Korea« [»Grün ist nicht gleich grün: Grüne Entwicklung gegen den Erhalt von Lebensräumen – Der Fall Incheon, Südkorea«] lautet der vielsagende Titel eines Artikels, der den Widerspruch zwischen grünem Kapitalismus und Ökologie aufzeigt. Welche Art von ökologischem Umbau ist an einem künstlichen Ort möglich, an dem das Recht den Regeln des Marktes und des Geldes unterworfen ist? Einem Ort, der sich als Labor eines Green New Deal ausgibt, antiseptisch und seelenlos? […]

Urbane, extraterritoriale Räume wie die Incheon Free Economic Zone (IFEZ) und viele andere »in vitro« entwickelte, von Raum und Zeit entbundene schwarze Löcher, in denen Ausnahmen vom Arbeitsrecht und Steuererleichterungen die Regel sind, werden, angetrieben von der Plünderung von Ressourcen anderswo auf der Welt, die Grenzen des wilden Liberalismus neu ausloten. Tatsache ist, dass Songdo gegenwärtig einer dieser »extraterritorialen« Räume ist, ähnlich wie die Exporthandelszonen, die gemeinsam mit Steueroasen eine parallele Machtgeographie entwerfen, ein feines Netz paralleler Regierungsformen jenseits öffentlicher Kontrolle, das keine Anomalie oder Alternative kennt. […]

Das vom Architekturbüro Kohn Pedersen Fox geplante Songdo ist mithin eine Stadt, die sich mit ihrem Central Park, ihrem World Trade Center, ihren Kanälen, die an ein futuristisches Venedig erinnern, einem Technikpark und einem Biokomplex überall auf der Welt reproduzieren ließe. Elektronische Toiletten in den Hotels bieten ihren Gästen vielfältige Möglichkeiten, vom automatisierten Einlauf bis zur temperaturvariablen Gesäßmassage. Die Supermärkte verkaufen kosmetische Produkte, die mit Hilfe genetisch veränderter Stammzellen hergestellt wurden, um die Haut aufzuhellen und die Illusion ewiger Jugend zu hegen.[17]

Diese neue Stadtform ist nichts anderes als eine Verkörperung der neoliberalen Ideologie, die unmögliche Kombination aus einer der staatlichen Kontrolle entzogenen Marktwirtschaft und den üblichen »progressiven« Umwelt-, Bildungs- und Gesundheitsbelangen, was dann im Ergebnis zu einer »grünen« Umwelt führt, die auf einem verwüsteten natürlichen Lebensraum errichtet wurde. Um sich ein vollständiges Bild zu machen, muss man sich nur eine gigantische durchsichtige Kuppel vorstellen (wie in den Filmen Zardoz [1974] oder Elysium [2013]), mit der die Stadt gegen ihre verseuchte Umgebung abgeschirmt wird, während im Innern Transgender-Toiletten dafür sorgen sollen, dass es keinerlei Segregation mehr gibt (in einer Stadt, die selbst eine abgetrennte Zone ist).

Die Kuppel in Ost und West

Ist die Kuppel in unserer gegenwärtigen historischen Konstellation auf die westlichen Wohlstandsländer (und deren Kopien auf der ganzen Welt) beschränkt, so dass also das proletarische Bemühen, in die Kuppel einzudringen, mit dem Kampf gegen das Schreckgespenst des »Eurozentrismus« gleichzusetzen ist? Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra befürwortet in diesem Zusammenhang »eine Rückkehr zu jenen osmanischen, konföderativen Institutionen, welche die Macht dezentralisieren und Minderheitenrechte garantieren«:

Im 21. Jahrhundert wurde der alte Zauber des allgemeinen Fortschritts – ob durch den Sozialismus, den Kapitalismus oder die Demokratie nach westlichem Vorbild – endgültig zerstört. Die optimistischen Annahmen aus dem 19. Jahrhundert, wonach diese universalistischen Ideologien und Techniken zu endlosem Wachstum und politischer Stabilität führen werden, lassen sich nicht länger aufrechterhalten. […]

Die globale Krise, die ebenso moralisch und intellektuell wie politisch und ökologisch ist, stellt vor allem unsere lang anhaltende Unterwerfung unter westliche Vorstellungen von Politik und Ökonomie in Frage. Ob man nun die katastrophalen Kriege im Irak und in Afghanistan oder die desaströsen Interventionen in Libyen nimmt, die Finanzkrise von 2008, die sprunghaft steigende Arbeitslosigkeit in Europa, die ein unlösbares Problem zu sein scheint und wahrscheinlich auf dem ganzen Kontinent Parteien am rechten Rand stärken wird, die ungelöste Euro-Krise, die abscheulichen Einkommensungleichheiten in Europa wie auch in den USA, den weitverbreiteten Verdacht, dass das große Geld demokratische Prozesse korrumpiert hat, das in absurdem Ausmaß gestörte politische System der Vereinigten Staaten, Edward Snowdens Enthüllungen über die National Security Agency oder den dramatischen Verlust des Sinns für Möglichkeiten bei jungen Leuten auf der ganzen Welt – all das hat für sich und zusammengenommen nicht nur die moralische Autorität des Westens deutlich verringert, sondern auch dessen intellektuelle Vormachtstellung geschwächt. Aus diesem Grund kann seine Botschaft an den Rest der Welt nicht mehr in der sanften Beruhigung bestehen, die westliche Lebensart sei die beste und andere sollten sich in ihrem Teil der Welt fleißig bemühen, sie auf dem Wege der Nationenbildung und des Industriekapitalismus nachzuahmen. […]

Der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz stellte eine Verwandlung der Welt in ein »allgegenwärtige[s] Flickwerk« fest und sprach davon, dass die »Zerschmetterung größerer Zusammenhänge, oder dessen, was als Zusammenhang erschien, in kleinere und lose miteinander verbundene […] die Verknüpfung lokaler und übergreifender Wirklichkeiten […] extrem erschwert [hat]. Wenn das Allgemeine überhaupt zu begreifen und neue Einheiten zu entdecken sind«, so Geertz weiter, »können sie offenbar nicht auf direktem Weg und in einem Anlauf erfaßt werden. Wir müssen sie über den Umweg von Beispielen, Unterschieden, Variationen und Besonderheiten erschließen – Stück für Stück eben und von Fall zu Fall. Die Splitter sind es, an die wir uns in einer zersplitterten Welt halten müssen.« […]

Der westliche Weg zur Moderne kann nicht mehr als »normal« angesehen werden; er kann nicht der Maßstab sein, an dem der historische Wandel in anderen Teilen der Welt gemessen wird. Die Europäer haben unter den besonderen historischen Umständen des 19. und 20. Jahrhunderts ihre spezifische Art von Modernität geschaffen, und andere Völker haben seitdem mit wechselndem Erfolg versucht, sie nachzuahmen. Doch gibt und gab es schon immer auch andere Auffassungen des Staates, der Gesellschaft, der Wirtschaft und des guten Lebens. Sie alle haben ihre spezifischen Schwierigkeiten und Probleme. Die einzige Möglichkeit, sie zu verstehen, ist jedoch eine unvoreingenommene und nachhaltige Beschäftigung mit nichtwestlichen Gesellschaften und deren politischen und geistigen Traditionen. Das allein wäre schon ein gewaltiges Unterfangen, das überdies noch jedem Instinkt jenes selbstverliebten Universalismus zuwiderlaufen würde, den der Westen seit zwei Jahrhunderten aufrechterhält. Es wird jedoch unumgänglich sein, wenn wir das große Problem, vor dem die überwältigende Mehrheit der sieben Milliarden Menschen auf der Welt steht, ernsthaft in Angriff nehmen wollen: Wie lässt sich inmitten wachsender Ungleichheit und Feindseligkeit in einer interdependenten Welt ein würdevolles und nachhaltiges Leben sicherstellen?[18]

Die Passage ist es wert, in ganzer Länge zitiert zu werden, gibt sie doch auf präzise Weise die allgemeine postkoloniale Haltung wieder: Wir sollten anerkennen, dass die westliche Zivilisation als globales Modell ebenso gescheitert ist wie die dekolonisierten Nationen, die ihm nacheiferten. Es gibt allerdings ein Problem mit dieser Diagnose. Natürlich ergibt sich als Lehre aus dem 11. September 2001, dass Francis Fukuyamas Traum von einer globalen liberalen Demokratie zu Ende ist; doch auf der wirtschaftlichen Ebene triumphiert der Kapitalismus dafür auf der ganzen Welt – die Drittweltländer, die sich ihm angeschlossen haben, verzeichnen jetzt spektakuläre Wachstumsraten. Die Maske der kulturellen Vielfalt wird vom faktischen Universalismus des globalen Kapitals aufrechterhalten. Und dieser neue globale Kapitalismus funktioniert sogar noch besser, wenn er von einer Politik ergänzt wird, die sich auf sogenannte »asiatische Werte« stützt. Der globale Kapitalismus hat kein Problem damit, sich auf eine Vielzahl von lokalen Religionen, Kulturen und Traditionen einzustellen. Die grausame Ironie des Anti-Eurozentrismus liegt somit darin, dass – im Namen des Antikolonialismus – der Westen genau an dem Punkt der Geschichte kritisiert wird, an dem der globale Kapitalismus westliche kulturelle Werte (Egalitarismus, Grundrechte, den Wohlfahrtsstaat) gar nicht mehr nötig hat, um reibungslos zu funktionieren, da er auch mit einer autoritären »alternativen Moderne« sehr gut zurechtkommt. Kurz, wir neigen dazu, die Werte der westlichen Kultur ausgerechnet in dem Moment bloßzustellen, da viele dieser Werte nach einer kritischen Neuinterpretation als Waffe gegen die kapitalistische Globalisierung dienen könnten. Umgekehrt ist es, wie der indische Politikwissenschaftler Saroj Giri treffend bemerkt, möglich, dass

die Einwanderer, die sich dank des antirassistischen antikolonialen Kampfes Rechte sichern, auch das Recht auf freies kapitalistisches Unternehmertum sichern, dass sie nicht sehen wollen und sich weigern, »die Augen zu öffnen«, wie der wütende Schwarze dem postkolonialen Einwanderer entgegenschrie. Dieses Recht auf freies Unternehmertum bietet dem postkolonialen Unternehmer eine weitere Möglichkeit zur Kapitalakkumulation: Es schafft im Namen des Kampfes gegen die koloniale Herrschaft der Differenz »unfreie Arbeit« und rassifizierte Klassenbeziehungen […]. Hinter dem Antirassismus hyperbolischer Antikolonialisten steckt insgeheim eine Klassenposition, die an Ayn Rand erinnert – es ist somit nicht schwer zu erkennen, dass die nichtmoderne, radikale Alterität, auf der das Antikoloniale basiert, heute für das kapitalistische Allgemeine steht.[19]

Wir sollten den letzten Satz in seiner ganzen hegelianischen Stringenz begreifen: Das »konkrete Allgemeine« des gegenwärtigen globalen Kapitalismus, die besondere Form, die seine Totalität überdeterminiert und färbt, ist die des »antikolonialen«, nichteuropäischen Kapitalisten.

Es geht Giri nicht einfach nur darum, den Vorrang des ökonomischen »Klassenkampfes« gegenüber anderen Kämpfen (wie beispielsweise gegen Rassismus oder für sexuelle Befreiung) zu unterstreichen – wenn man rassistische Spannungen als bloße Reflexionen von Klassenunterschieden deutet, so verschleiert man mit einer solchen direkten Verschiebung der Ethnizität auf die Klasse auf reduktionistische Weise die Dynamik der Klassenbeziehungen selbst. Giri bezieht sich hier auf Texte von Jared Sexton nach den Unruhen in Los Angeles 1992, in denen dieser

Wissenschaftler wie Sumi Cho kritisiert, welche die Auffassung vertreten, dass »die Fähigkeit (koreanischer Amerikaner), Geschäfte (in Schwarzenvierteln) zu eröffnen in hohem Maße von einer Klassenvariablen abhängt«. Daher »könnten viele der Spannungen (zwischen diesen Gruppen) eher klassen- als rassenbasiert sein, insofern sie eigentlich die Unterschiede zwischen den koreanischen Einwanderern als Ladenbesitzern und den afroamerikanischen Kunden widerspiegeln«. Wie Sexton zeigt, hat diese Klassenanalyse nichts mit dem Klassenkampf zu tun, denn eine Klasse ist etwas von jeder realen ungleichen Klassenbeziehung Abstrahiertes. Zweitens »geschieht die Erwähnung der klassenbasierten Beziehung, um die angeblich aus ›kulturellen Unterschieden und ethnischen Animositäten‹ entstandenen Ressentiments und Feindseligkeiten abzumildern«. Für Cho hänge daher »die Fähigkeit, Läden (koreanische Geschäfte) zu eröffnen, in hohem Maße von einer Variablen der Klasse im Gegensatz zu einer der Ethnie ab«. Es wird ein aufgeweichter, politisch steriler Klassenbegriff herangezogen und gleichzeitig die Frage des Rassismus gegen Schwarze verwässert. Sexton nennt diesen Ansatz die »Unterordnung der Bedeutung der Ethnizität bei gleichzeitiger Befriedung des Klassenbegriffs« […]. Hier begegnet uns die bekannte Geschichte der postkolonialen Einwanderer, die großartige Unternehmer abgeben und den amerikanischen Traum lebendig halten, während andere Migranten, die »illegal« sind und keine Papiere haben, nach unten gedrängt werden und die überwiegende Mehrheit der Schwarzen nicht nur Marginalisierung und Deprivation, sondern den »sozialen Tod« erleidet […]. Durch diese zweifelhafte Betonung der Klasse lässt sich der überdeterminierte Status der schwarzen Armen als etwas darstellen, was dann wie das natürliche Ergebnis von (freien) Marktbeziehungen aussieht.[20]

Ist dies nicht ein Musterbeispiel dafür, wie der Verweis auf die Klasse selbst als Mittel dazu dienen kann, das konkrete Wirken des Klassenkampfes zu verschleiern? Der Klassenunterschied kann selbst der Fetisch sein, der den Klassenkampf verschleiert.

Das westliche Erbe besteht nicht nur in der (post-)kolonialen imperialistischen Herrschaft, sondern auch in der selbstkritischen Hinterfragung der Gewalt und Ausbeutung, die der Westen über die Dritte Welt gebracht hat. Die Franzosen haben Haiti kolonialisiert, die Französische Revolution schuf aber auch die ideologische Grundlage für die Rebellion, welche zur Sklavenbefreiung und zur Unabhängigkeit Haitis führte; der Prozess der Dekolonisation wurde in Gang gesetzt, als die kolonisierten Nationen dieselben Rechte einforderten, die der Westen für sich in Anspruch nahm. Kurzum: Wir sollten nicht vergessen, dass der Westen selbst die Maßstäbe liefert, an denen er (ebenso wie seine Kritiker) seine kriminelle Vergangenheit misst. Wir haben es hier mit der Dialektik von Form und Inhalt zu tun. Wenn ein Kolonialland Unabhängigkeit fordert und eine »Rückkehr zu den Wurzeln« vollzieht, dann ist die Form dieser Rückkehr (die des unabhängigen Nationalstaats) eine westliche. Somit siegt der Westen noch in seiner Niederlage (dem Verlust der Kolonien), indem er dem anderen seine Gesellschaftsform überstülpt.

Die drei Typen der Subjektivität, die nach Alain Badiou im globalen Kapitalismus wirken, decken nicht das gesamte Feld ab. Es gibt demnach die Subjektivität der hegemonialen westlichen Mittelschicht, die sich selbst für den Leuchtturm der Zivilisation hält; es gibt diejenigen, die vom Begehren nach dem Westen besessen sind; und es gibt jene, die sich aufgrund der Enttäuschung ihres Begehrens nach dem Westen dem (selbst-)zerstörerischen Nihilismus zuwenden. Doch gibt es auch den globalkapitalistischen Traditionalismus: die Haltung derer, die zwar voll und ganz an der globalen kapitalistischen Dynamik teilnehmen, deren destabilisierende Exzesse aber unter Kontrolle zu halten versuchen, indem sie einer traditionellen Ethik oder Lebensweise (Konfuzianismus, Hinduismus usw.) anhängen.

Das emanzipatorische Erbe Europas lässt sich nicht auf »europäische Werte« in dem vorherrschenden ideologischen Sinn reduzieren, in dem sich beispielsweise die Medien darauf beziehen, wenn sie davon reden, unsere Werte würden durch den Islam gefährdet; im Gegenteil, die größte Bedrohung für das, was am europäischen Erbe schützenswert ist, sind die (einwandererfeindlichen, populistischen) Verteidiger Europas selbst. Platons Denken ist ein europäisches Ereignis; der radikale Egalitarismus ist europäisch; die Idee der modernen Subjektivität ist europäisch; der Kommunismus ist das europäische Ereignis schlechthin. Wenn Marxisten die Fähigkeit des Kapitalismus zur Auflösung alter gemeinschaftlicher Bindungen loben und in dieser Auflösung die Schaffung eines Freiraums für die radikale Emanzipation erkennen, dann sprechen sie im Namen des emanzipatorischen europäischen Erbes. Hier liegt auch der Grund dafür, dass Walter Mignolo und andere postkoloniale Eurozentrismus-Kritiker Verfechtern des Kommunismus wie Alain Badiou vorwerfen, zu europäisch zu sein: Sie lehnen den Kommunismus ab, weil er eine europäische Idee ist (was ja auch zutrifft), und schlagen statt seiner irgendwelche alten asiatischen, lateinamerikanischen oder afrikanischen Traditionen als Quelle des Widerstands gegen den globalen Kapitalismus vor. Wir müssen hier eine wichtige Entscheidung treffen: Widersetzen wir uns dem globalen Kapitalismus, weil er lokale Traditionen untergräbt, oder heißen wir seine zersetzende Kraft gut und stellen uns ihm im Interesse eines universellen emanzipatorischen Projekts entgegen? Der Anti-Eurozentrismus ist heute gerade deswegen so populär, weil der Kapitalismus viel besser funktioniert, wenn seine Exzesse von irgendwelchen alten Traditionen reguliert werden. Globaler Kapitalismus und lokale Traditionen sind keine Gegensätze mehr, sie stehen auf derselben Seite.[21]

Betrachten wir ein Beispiel, welches die Haltung, örtliche Sitten und Gebräuche seien Orte des Widerstands, auf die Probe stellt. Im Herbst 2016 vergewaltigte ein fünfundfünzigjähriger ehemaliger Pastor in Santiago Quetzalapa, einer entlegenen indigenen Gemeinde 450 Kilometer südlich von Mexiko-Stadt, ein achtjähriges Mädchen, und das örtliche Gericht verurteilte ihn dazu, dem Vater des Opfers zwei Kästen Bier zu kaufen. Santiago Quetzalapa liegt im Bundesstaat Oaxaca, wo viele indigene Gemeinden nach einem eigenwilligen System geführt werden, das gemeinhin als usos y costumbres (»Sitten und Gebräuche«) bekannt ist und die Traditionen der verschiedenen indigenen Bevölkerungsgruppen bewahren soll. Funktionsträger solcher Gemeinden haben das System der usos y costumbres in der Vergangenheit auch als Vorwand benutzt, Frauen von lokalen Regierungsämtern auszuschließen; so wurde beispielsweise der indigenen Kandidatin Eufrosina Cruz Mendoza von örtlichen Anführern wegen ihres Geschlechts das Bürgermeisteramt verweigert, obwohl sie die Wahl gewonnen hatte. Fälle wie diese zeigen eindeutig, dass es keinesfalls angebracht ist, lokale Volksbräuche als Formen des Widerstands gegen den globalen Imperialismus zu verehren. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, sie zu untergraben, indem man Aktionen gegen solche Bräuche im Land selbst unterstützt, wie zum Beispiel die erfolgreichen Netzwerke indigener Frauen in Mexiko.

Die manipulierte Kuppel I: Warum lecken sich Hunde an den Eiern?

Die Trennung zwischen dem von der Kuppel umschlossenen Innenraum und seiner Außenseite ist nicht einfach nur das Ergebnis einer objektiven »Kapitallogik« – vielmehr wurde der Raum des globalen Kapitalismus auch ganz bewusst so »manipuliert«, dass er diejenigen im Innern der Kuppel privilegiert, wie die Enthüllung der sogenannten Panama Papers deutlich gemacht hat. Das einzig wirklich Überraschende an den geleakten Finanzdaten der Panama Papers war, dass sie keinerlei Überraschung enthielten. Erfuhren wir nicht genau das, was wir von dubiosen Offshore-Finanzgeschäften ohnehin erwartet hatten? Es ist jedoch etwas anderes, ob man allgemein über eine Sache Bescheid weiß oder ob man konkrete Daten erhält. Ein vergleichbarer Fall wäre, dass man im Grunde weiß, dass der Partner oder die Partnerin fremdgeht – dieses abstrakte Wissen kann man akzeptieren; aber es tut weh, wenn man die schlüpfrigen Details erfährt, wenn man Bilder von ihrem Treiben zu sehen bekommt … Mit den Panama Papers erhalten wir nun also ein paar von den schmutzigen Bildern der Finanzpornographie, und wir können nicht länger so tun, als wüssten wir von nichts.

Ein kurzer Blick auf die Papiere enthüllt vor allem zwei Dinge – das eine ist positiv, das andere negativ. Das Positive ist die allumfassende Solidarität unter den Beteiligten: In der dunklen Welt des globalen Kapitals sind wir alle Brüder. Der ganze entwickelte Westen ist dabei, einschließlich der rechtschaffenen Skandinavier, und schüttelt Putin und dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping die Hand; Iran und Nordkorea sind ebenfalls dabei; Muslime und Juden zwinkern sich freundlich zu – es ist ein wahres Königreich des Multikulturalismus, wo alle gleich und alle verschieden sind. Das Negative ist das augenfällige Fehlen der USA, welches den Behauptungen der Russen und Chinesen, bei den Recherchen seien politische Interessen im Spiel gewesen, eine gewisse Glaubwürdigkeit verleiht.

Was sollen wir nun mit diesen ganzen Daten anfangen? Ein alter Witz erzählt von einem Ehemann, der früher als erwartet nach Hause kommt und seine Frau mit einem anderen Mann im Bett erwischt. Die überraschte Frau fragt ihn: »Was ist los? Du hast doch gesagt, dass du erst in drei Stunden zurück sein wirst!« Der Mann erwidert wütend: »Hast du sie noch alle? Was machst du mit diesem Typen im Bett?« Darauf gibt die Frau gelassen zurück: »Lenk nicht vom Thema ab, beantworte zuerst meine Frage!« Ist es mit den Reaktionen auf die Panama Papers nicht ganz ähnlich? Die erste (und überwiegende) Reaktion ist ein Ausbruch moralischer Entrüstung: »Schrecklich, wie viel Gier und Verlogenheit in den Menschen steckt! Wo bleiben die Grundwerte unserer Gesellschaft?« Hier sollten wir das Thema sofort von der Moral auf unser Wirtschaftssystem lenken: Politiker, Banker und Manager waren schon immer gierig, was an unserem Rechts- und Wirtschaftssystem versetzt sie also in die Lage, ihre Gier auf so spektakuläre Weise auszuleben?

Die Wirklichkeit, die hier zum Vorschein kommt, ist die der Klassenteilung, so einfach ist das. Die Enthüllungen zeigen, dass die Wohlhabenden in einer eigenen Welt leben, in der andere Regeln gelten und in der die Justiz und die Polizei Reiche nicht nur schützt, sondern sogar die Rechtsstaatlichkeit systematisch untergräbt, um ihnen entgegenzukommen. Trifft nicht das Gleiche auch auf die Insolvenz des Energiekonzerns Enron im Dezember 2001 zu, die sich als eine Art ironischer Kommentar zum Begriff der Risikogesellschaft auffassen lässt? Die Tausende von Angestellten, die ihre Arbeitsplätze und ihre Ersparnisse verloren, waren tatsächlich einem Risiko ausgesetzt, allerdings ohne eine echte Wahl zu haben – das Risiko erschien ihnen als blindes Schicksal. Diejenigen dagegen, die wirklich um die Risiken wussten und auch die Möglichkeit hatten einzugreifen (die Topmanager), minimierten ihr Risiko, indem sie ihre Aktien und Optionen vor der Pleite verkauften. Wir leben also tatsächlich in einer Gesellschaft der riskanten Entscheidungen, wobei jedoch die einen (die Wall-Street-Manager) das Entscheiden besorgen, während die anderen (die einfachen Hypothekenzahler) das Risiko übernehmen …