Der nette Herr Heinlein und die Leichen im Keller - Stephan Ludwig - E-Book
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Der nette Herr Heinlein und die Leichen im Keller E-Book

Stephan Ludwig

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Beschreibung

Ein liebenswürdiger Delikatessenhändler wird zum Mörder wider Willen – der neue Roman von Stephan Ludwig, dem Autor der Kult-Bestseller-Reihe »Zorn«, inklusive Gastauftritt von Zorn & Schröder Norbert Heinlein, Delikatessenhändler in dritter Generation, legt größten Wert auf Qualität und Tradition. Seine Kundschaft geht ihm über alles, er bedient sie mit ausgesuchter Höflichkeit.  So auch seinen neuen Stammkunden Adam Morlok, einen charismatischen Geschäftsmann. Bis Morlok eines Tages durch ein Versehen Heinleins tot zusammenbricht. In seiner Panik lagert Heinlein Morloks Leiche kurzerhand im alten Kühlhaus im Keller zwischen.  Doch statt einen Weg aus der Sache zu finden, gerät Heinlein immer tiefer hinein. Und es wird nicht bei einer Leiche im Keller bleiben – Morlok bekommt bald Gesellschaft im Kühlhaus …

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Seitenzahl: 367

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Stephan Ludwig

Der nette Herr Heinlein und die Leichen im Keller

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Norbert Heinlein, Delikatessenhändler in dritter Generation, legt größten Wert auf Qualität und Tradition. Seine Kundschaft geht ihm über alles, er bedient sie mit ausgesuchter Höflichkeit.

So auch seinen neuen Stammkunden Adam Morlok, einen charismatischen Geschäftsmann. Bis Morlok eines Tages durch ein Versehen Heinleins tot zusammenbricht. In seiner Panik lagert Heinlein Morloks Leiche kurzerhand im alten Kühlhaus im Keller zwischen.

Doch statt einen Weg aus der Sache zu finden, gerät Heinlein immer tiefer hinein. Und es wird nicht bei einer Leiche im Keller bleiben – Morlok bekommt bald Gesellschaft im Kühlhaus …

 

Skurril und liebenswert – der neue Roman vom Bestsellerautor der »Zorn«-Serie

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Eigentlich sollte Stephan Ludwig Musiker werden. Als Kind lernte er Violine, als Jugendlicher Kontrabass. Er spielte in Orchestern, später in einer Punkband, arbeitete als Theatertechniker und Rundfunkproduzent. 2012 erschien der erste von bisher zwölf Thrillern um die Kommissare Zorn und Schröder.

 

Ludwig isst nicht sehr viel – er raucht lieber – doch er kocht leidenschaftlich gern. Da ihm nur selten ein Gericht perfekt gelingt, beschloss er, über jemanden zu schreiben, der das kann. So wie der liebenswürdige Delikatessenhändler Norbert Heinlein im vorliegenden Roman.

Inhalt

Erster Gang Vorspeise

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Zweiter Gang Ein Gruß aus der Küche

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Dritter Gang Hauptgericht

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Siebenundvierzig

Achtundvierzig

Neunundvierzig

Fünfzig

Einundfünfzig

Zweiundfünfzig

Dreiundfünfzig

Vierundfünfzig

Fünfundfünfzig

Sechsundfünfzig

Siebenundfünfzig

Achtundfünfzig

Neunundfünfzig

Sechzig

Vierter Gang Die Rechnung

Einundsechzig

Zweiundsechzig

Dreiundsechzig

Vierundsechzig

Fünfundsechzig

Sechsundsechzig

Siebenundsechzig

Achtundsechzig

Neunundsechzig

Siebzig

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Erster GangVorspeise

(Amuse-Gueule)

Eins

Es war Anfang März, als der Mann mit dem Muttermal Heinlein’s Delicatessen- und Spirituosengeschäft zum ersten Mal betrat.

Zu diesem Zeitpunkt darf man sich Norbert Heinlein durchaus noch als glücklichen Menschen vorstellen – der Winter war lang gewesen, lang und dunkel; jetzt, endlich, zeigte sich in dem kleinen Park schräg gegenüber das erste hauchzarte Grün, die Menschen hatten ihre gefütterten Winterjacken, die Schals, Mützen und Handschuhe gegen leichtere Kleidung getauscht. Die Sonne schien schräg durch die beiden Schaufenster, spiegelte sich auf den alten Vitrinen, den in hohen Regalen aufgereihten Flaschen mit erlesenen Weinen, edlen Obstbränden und seltenen Olivenölen, blitzte auf der italienischen Espressomaschine hinter dem Tresen, den Kaviardosen, Marmeladen- und Gewürzgläsern und tauchte die Auslagen in golden schimmerndes Licht.

Ja, Norbert Heinlein war glücklich hier. Er führte den Laden bereits in der dritten Generation und tat, was er liebte, umgeben von einzigartigen Köstlichkeiten und dem seit Jahrzehnten vertrauten Duft exotischer Kaffee- und Teesorten, frischer Pastete und iberischem Schinken, der sich mit dem Geruch der vom Alter geschwärzten Holzvertäfelung zu einer einzigartigen Mischung verband.

Mit ausgesuchter Höflichkeit begrüßte Heinlein den Mann mit dem Muttermal. Das tat er mit seiner gesamten Kundschaft, man betrat schließlich nicht nur einen Laden, das Schellen der alten Türglocke war auch das Signal für den Eintritt in eine andere Welt abseits der Supermärkte und Discounter, eine Welt, in der anstelle billiger Schnäppchen handverlesene Qualität geboten wurde. Jeder, der herkam, teilte diese Werte und verdiente es, respektvoll behandelt zu werden – egal, ob er ein Gläschen französischen Cognac-Senf erstand oder an einem der beiden Fenstertische etwas von der Tageskarte verzehrte.

Der Mann mit dem Muttermal gehörte zu Letzteren. Er bestellte Espresso, ein Glas stilles Wasser und zu Heinleins Freude einen Teller Rehrückenpastete. Auf Smalltalk legte er offensichtlich keinerlei Wert, er setzte sich an den rechten der beiden runden Kaffeehaustische, bedankte sich mit einem Nicken, als Heinlein servierte, und aß schweigend, den Blick aus dem Fenster gerichtet. Als er später einen weiteren Espresso bestellte, bat er anstelle der brasilianischen Bohnen um eine jamaikanische Sorte, lobte die Pastete und ließ sich eine zweite Portion bringen. Heinlein, der seine Zutaten auf der Suche nach dem perfekten Rezept ständig variierte, wunderte das nicht. Am Morgen hatte er die Mandeln durch gemahlene Walnüsse ersetzt und war mit dem Ergebnis mehr als zufrieden, verzichtete aber auf eine Erläuterung. Im Laufe der Jahre hatte er ein feines Gespür für seine Kundschaft entwickelt; der Mann mit dem Muttermal war eindeutig ein Kenner, an einem fachkundigen Austausch allerdings schien er nicht interessiert.

Heinlein bat Marvin, seinen Angestellten, die Kasse im Auge zu behalten und ging nach oben in die Wohnung, um nach seinem Vater zu sehen. Als er zurückkehrte, war der Mann mit dem Muttermal gegangen.

Doch er kam wieder. Am nächsten Tag – einem Dienstag – ebenso wie in der folgenden Woche. Bereits am Mittwoch erkundigte sich Heinlein, ob er das Übliche bringen dürfe, am Freitag dann servierte er nach einer kurzen Begrüßung in stillem Einvernehmen das Gewünschte.

Und so hatte Norbert Heinlein einen neuen Stammkunden. Der Mann mit dem Muttermal sah zwar nicht aus wie ein feinsinniger Gourmet – in seinem leicht zerknitterten Anzug wirkte er eher wie eine Mischung aus alternder Buchhalter und ehemaliger, aus dem Leim gegangener Boxer. Ebenso wie Heinlein ging er auf die sechzig zu, das Haar war ungewöhnlich lang und fiel in rotblonden, zunehmend ergrauenden Strähnen auf die Schultern. Er versuchte nicht, das Mal auf der Stirn zu verbergen; im Gegenteil, das dünne Haar war streng nach hinten gekämmt, so dass der himbeerfarbene Halbmond, der sich von der linken Braue über die Schläfe bis zum Ohrläppchen zog, deutlich zu erkennen war. Er fuhr einen himmelblauen Mercedes, den er direkt vor dem Laden parkte, eine blitzende S-Klasse mit verchromtem Heckspoiler, um die Jahrtausendwende gebaut, die aber aussah, als würde sie direkt aus der Fabrik kommen. Er drückte sich gewählt, ein wenig umständlich aus, sein Tonfall war schnarrend, mit rollendem R und einem leichten Lispeln. Dass er direkt gegenüber in Keferbergs Pension übernachtete, war ein weiteres Zeichen guten Geschmacks. Die Zimmer waren klein, aber stilvoll eingerichtet, Johann Keferberg bot ein exzellentes Frühstücksbüfett, für das ihn Heinlein regelmäßig belieferte.

Seine Papiere verwahrte der Mann mit dem Muttermal in einer etwas albernen Handgelenktasche aus braunem Rindsleder. Er gab ein recht ordentliches Trinkgeld und legte, nachdem er seinen zweiten Espresso getrunken hatte, drei akkurat geglättete Zehneuroscheine auf den Tisch, die er mit dem geschliffenen Salzstreuer beschwerte, bevor er den Laden mit einem knappen Nicken verließ.

Was Heinlein betraf, hätte es so bleiben können. Zum einen natürlich wegen des Umsatzes, der sich in diesen nicht einfachen Zeiten zu einem durchaus erklecklichen Sümmchen addierte. Zum anderen genoss er die – wenn auch stumme – Wertschätzung seiner Arbeit.

Leider sollte der Mann mit dem Muttermal die liebevoll zubereiteten Speisen nicht lange genießen. Knapp drei Monate später würde er den Laden betreten, seine letzte Pastete essen und sterben, noch bevor ihm Norbert Heinlein den ersten Espresso servieren konnte.

Zwei

»Die Rotweinflaschen müssten mal abgestaubt werden«, sagte Heinlein zu Marvin.

Eine Woche war vergangen, wie immer saßen sie auf der Holzbank vor dem Schaufenster in der Morgensonne, um die letzten Minuten vor der Öffnung des Ladens an der frischen Luft zu verbringen.

»Findest du nicht?«

Marvin antwortete nicht. Heinlein unterstützte viele soziale Projekte, unter anderem ein afrikanisches Patenkind, mit dem er in regelmäßigem Austausch stand. So hatte er sofort zugesagt, als er vor zwei Jahren von der Leitung eines Förderzentrums für Menschen mit Behinderung um Unterstützung gebeten worden war. Auf einer Benefizveranstaltung hatte er das kalte Büfett eingerichtet, und Marvin, der dort in einer Werkstatt Elektrogeräte reparierte, war ihm als Helfer zugeteilt worden; als die Leiterin fragte, ob Heinlein den Jungen probeweise einstellen könne, hatte er eingewilligt. Nicht nur, weil Marvins Lohnkosten gefördert wurden – was natürlich nicht unwichtig war, denn einen Angestellten konnte sich Heinlein eigentlich nicht leisten –, der Hauptgrund war ein anderer: Er hatte den Jungen vom ersten Moment an gemocht.

»Und der Wagen könnte mal durchgesaugt werden.« Heinlein deutete auf den alten Renault Rapid, der mit dem Heck zur Straße auf der schmalen Freifläche rechts neben dem Haus parkte. »Aber das eilt nicht.«

Auch jetzt schwieg Marvin. Kurz vor Weihnachten war er einundzwanzig geworden, doch er wirkte viel jünger, ein blasser, weißblonder Junge, der sich höchstens einmal pro Woche rasieren muss. Die meisten hielten ihn für geistig zurückgeblieben, doch das war er nicht. Er versorgte sich selbst und wohnte allein in einer kleinen Einzimmerwohnung in der Nähe des Marktes. Marvin redete kaum, weil ihm sein Stottern peinlich war. Es war auch nicht nötig, denn er erledigte jeden Auftrag gewissenhaft und penibel.

»Wir werden den Preis für die Pastete etwas anheben müssen«, überlegte Heinlein. »Entenbrustfilet ist schon wieder teurer geworden. Sechs fünfzig pro hundert Gramm, was meinst du?«

»Sechs fünfzig«, nickte Marvin. Er mochte Zahlen. »Hundert G-Gramm.«

»Vater hat immer eine Prise Koriander benutzt. Ich hab’s heute mal mit etwas Muskat versucht, und was soll ich sagen?« Heinlein bildete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis. »Ein Gedicht, Marvin. Ein absolutes Gedicht!«

Er zog an seinem Zigarillo und blies den würzigen Rauch in die frische Morgenluft. Sein Tagesablauf war streng geregelt, wie immer war er um fünf aufgestanden, hatte seinen Vater versorgt und war hinunter in den Laden gegangen, wo er die nächsten dreieinhalb Stunden allein in der Küche verbrachte, in seinem Refugium (wie er’s insgeheim nannte), um sich seinen Pasteten zu widmen. Dies war die schönste Zeit des Tages, er probierte Zutaten und Gewürze, variierte die Mengen, testete neue Garzeiten und notierte die Ergebnisse in der ledergebundenen Kladde, in der schon sein Großvater Rezepte niedergeschrieben hatte.

Punkt halb zehn war Marvin erschienen und hatte sich umgezogen. Über der Käsetheke hing ein gerahmtes Schwarzweißbild, das Heinleins Vater in Kittel und weißem Käppi hinter dem Tresen zeigte, kurz nachdem dieser das Geschäft übernommen hatte. Marvin gefiel diese Montur, auch er hatte die Stifte in der Brusttasche, und nachdem er vor dem Spiegel den korrekten Sitz des Käppis geprüft hatte – etwas schief und näher über dem linken Ohr –, hatte er draußen den Bürgersteig gefegt und die Erde um die junge Kastanie geharkt, während Heinlein sein Refugium aufgeräumt und die Porzellanschüsseln mit der frischen Pastete in der Glasvitrine verteilt hatte.

Nun saßen sie wie üblich hier draußen, Marvin mit einem Glas Apfelmost, Heinlein mit seinem kubanischen Zigarillo – was natürlich nicht gut für seinen fein ausgeprägten Geschmackssinn war, doch es war das einzige Laster, das er sich gönnte.

»Endlich Frühling«, lächelte Heinlein. »Wurde auch Zeit.«

»Vierzehn«, sagte Marvin und schob das Käppi aus der Stirn.

Er schien immer etwas zu zählen. Was es diesmal war, konnte man nur vermuten. Vielleicht die Zinken der Harke, die an einer Mülltonne lehnte, oder die gestapelten Kisten drüben am Imbiss. Womöglich auch die Tauben, die sich schräg gegenüber auf der Dachrinne des Bankgebäudes drängten. Es war schwer zu sagen, worauf genau Marvins Blick hinter den dicken Brillengläsern gerichtet war.

Heinlein’s Delicatessen- und Spirituosengeschäft lag in einem alten Eckhaus an einer belebten Kreuzung. Der Verkehr war dicht an dieser Ringstraße in der Nähe des Marktplatzes, Fußgänger waren kaum unterwegs. Auf der Uhr am Imbiss auf dem Platz gegenüber war es kurz vor zehn. In vier Minuten, wenn der große Zeiger auf die volle Stunde sprang, würde Heinlein das Geschäft öffnen.

»Sie ist knapp hundert Jahre alt«, sagte er und deutete auf das alte Zifferblatt. »Und geht noch immer auf die Minute genau, seit Großvater den Laden eröffnet hat.«

Der Imbiss befand sich im vorderen, halbrunden Teil eines flachen Klinkerbaus im Bauhausstil, der in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts als Trafostation errichtet worden war. Zu Großvater Heinleins Zeiten war dort eine öffentliche Bedürfnisanstalt eingerichtet worden, zur Zeit seines Vaters ein Zeitungskiosk; nun, nach Jahren des Leerstandes, leuchtete über den Fenstern an der Stirnseite ein pinkfarbenes Neonschild mit der Aufschrift WURST & MORE.

»Damals war Großvater kaum älter als du heute«, sagte Heinlein. »Aber er wusste genau, worauf es ankommt. Auf Qualität, Marvin. Auch Vater hat sich immer daran gehalten, und ich tue es ebenfalls. Heutzutage hört sich das altmodisch an, doch wir sind immer noch da.« Er nickte Marvin zu. »Genau wie die Uhr.«

Eine Straßenbahn rauschte von Norden heran, tauchte in den Schatten des mächtigen Jugendstilhauses und verschwand Richtung Innenstadt. Die Sonnenschirme vor dem Kiosk flatterten im Luftzug, Papierfetzen wirbelten umher.

»Schau mal.« Heinlein deutete auf die junge Kastanie. »Da kommen die ersten Blätter.«

Marvins blasses Gesicht hellte sich auf, er liebte den Baum. Im letzten Jahr hatte die Stadt den Bürgersteig sanieren und direkt vor dem Laden eine Kastanie pflanzen lassen, die zu Heinleins Verdruss nach kurzer Zeit unter den Rädern eines Müllwagens zermalmt worden war. Nach mehreren vergeblichen Eingaben bei der Stadtverwaltung hatte er schließlich die Genehmigung erhalten und mit Marvin einen neuen Baum gepflanzt.

Im Hausflur hinter ihnen erklang ein Bellen. Die Tür neben dem Schaufenster wurde aufgerissen, ein untersetzter, bulliger Hund zerrte einen jungen Mann in zerbeulten Jogginghosen, Badelatschen und Camp David-Shirt an einer Leine auf den Fußweg.

»Guten Morgen«, sagte Heinlein freundlich.

Niklas Rottmann ignorierte den Gruß. In den beiden Etagen über dem Laden befanden sich vier Wohnungen. Eine stand seit Jahren leer, eine weitere hatte Heinlein an den stillen Herrn Umbach vermietet, in der dritten, direkt über seiner eigenen, lebten Rottmann und seine Mutter. Und damit auch dieser Hund – eine undefinierbare Mischung aus Terrier, Bulldogge und (womöglich) Rauhaardackel –, der jetzt zielstrebig auf die junge Kastanie zuhechelte, das Hinterbein hob und an den Stamm pinkelte. Heinlein spürte, wie Marvin sich neben ihm straffte. Auch Rottmann bemerkte es.

»Gibt’s ’n Problem?«, blaffte er verschlafen.

Norbert Heinlein versuchte nicht erst, dem stechenden Blick aus engstehenden Augen standzuhalten, und konzentrierte sich auf die polierten Spitzen seiner Lackschuhe, während der Urin des Hundes in dampfendem Strahl gegen den dünnen Stamm der Kastanie plätscherte. Immerhin, es war besser, als das Geschäft im Hausflur zu erledigen – was bereits öfter geschehen war.

Er ließ Rottmanns Mutter die besten Grüße ausrichten, sah hinüber zur Uhr über dem Kiosk, stand auf, zog die eisernen Rollgitter vor den Schaufenstern hoch und öffnete das Geschäft zum ersten Mal in seinem Leben zwei Minuten zu früh.

Drei

Auch der Rest des Tages war genau geregelt. Heinlein kümmerte sich um den Laden, telefonierte mit Lieferanten und bediente die Kundschaft, verkaufte sardischen Schafskäse, eingelegte Pfifferlinge und Trüffelpralinen, während Marvin die Waren in den Regalen sortierte, den Boden fegte und ab und zu hoch in die Wohnung ging, um nach dem alten Heinlein zu sehen. Kurz vor Mittag belebte sich das Geschäft, die alte Frau Dahlmeyer erschien, um wie üblich ihr (wie sie es nannte) zweites Frühstück einzunehmen, Johann Keferberg kam aus seiner Pension gegenüber auf einen kurzen Plausch herein und gab die Liste mit der wöchentlichen Bestellung für sein Frühstücksbüfett ab.

Auch der Mann mit dem Muttermal tauchte am frühen Nachmittag auf, verzehrte seine Pastete am rechten der beiden Fenstertische und bat den verwunderten Heinlein, als dieser den zweiten Espresso servierte, einen Moment Platz zu nehmen.

»Die Pastete war wie immer hervorragend«, lobte der Gast, nachdem er die vollen Lippen mit der Serviette abgetupft hatte. »Äußerst delikat.«

Marvin stand vor der Vitrine mit den Obstbränden und polierte die verschnörkelten Messinggriffe. Vor dem Laden funkelte die blaue S-Klasse in der Nachmittagssonne, dahinter quälte sich der Verkehr über die Ampel.

»Ich bin geschäftlich viel unterwegs«, fuhr der Mann mit dem Muttermal in schnarrendem Tonfall fort, »und ein wenig herumgekommen. Aber so etwas …«, er breitete die Arme aus, das Jackett spannte über dem breiten Brustkorb, »findet man nur noch selten.«

Heinlein verkniff sich die Frage, was genau wohl mit geschäftlich gemeint war. In Heinlein’s Delicatessen- und Spirituosengeschäft herrschte seit einem Jahrhundert ein höflicher, gleichzeitig auch etwas oberflächlicher Umgangston. Privatsphäre war heilig, hier wurde die Kundschaft zuvorkommend bedient und nicht mit indiskreten Fragen belästigt.

»Man muss Prioritäten setzen«, sagte Heinlein. »Bei mir ist es …«

»Qualität!«

»So ist es.«

»Nur darauf kommt es an«, schnarrte der Mann mit dem Muttermal und ließ das R rollen, während seine Zunge gegen die Zähne stieß und das Lispeln verstärkte. »Heutzutage wird das viel zu schnell vergessen. Es geht nur noch um den schnellen Profit, um …«

»Neunundvierzig!«

Marvin hatte sich vor der Vitrine aufgerichtet. Ob sich sein Blick auf die Konfitürengläser, Kaviardosen oder die Tütchen mit den Trüffelpralinen konzentrierte, war nicht zu erkennen.

Heinleins Gast schob den Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander, sah zu Marvin hinüber und ließ die Daumen vor dem massigen Bauch kreisen. Am Ringfinger der linken Hand schimmerte ein vergoldeter Siegelring mit einem blauen Achat.

»Zweiundsechzig«, murmelte Marvin und knetete den Lappen in den Händen.

Heinlein spielte verlegen mit dem Salzstreuer.

»Nun gut, ich will Sie nicht länger aufhalten.« Der Mann mit dem Muttermal öffnete den Reißverschluss seines Ledertäschchens, legte drei Geldscheine auf den Tisch und beschwerte sie wie üblich mit dem Salzstreuer. »Sie haben eine Menge zu …«

»Dreißig«, sagte Marvin.

»Stimmt.« Heinlein lächelte ihm zu. »Dreißig Euro.«

Marvin sah zu ihnen herüber. Die Strahlen der tiefstehenden Sonne huschten über die dicken Brillengläser. Er wandte sich ab und widmete sich wieder den Messinggriffen.

»Er zählt gern«, erklärte Heinlein seinem Gast.

»Das ist mir nicht entgangen«, schmunzelte dieser und strich eine aschblonde Strähne über dem Mal aus der Stirn. Für Heinleins Geschmack trug er das streng nach hinten gekämmte Haar im Nacken deutlich zu lang, seine Frisur erinnerte an den Komponisten, der nicht umsonst Namensgeber der putzigen Lisztäffchen war. »Ihr Sohn?«

»Leider nein. Jedenfalls nicht leiblich.«

»Aber Sie behandeln ihn als solchen. Scheint mir ein außergewöhnlicher Junge zu sein.«

»Das ist er.«

»Ihr Geschäft wird er wohl kaum übernehmen können.«

»Nein. Marvin hat …«, Heinlein räusperte sich, »andere Talente. Wir werden es noch herausfinden.«

Er senkte unangenehm berührt den Blick und widmete sich der Betrachtung der Linien auf der runden Marmorplatte. Es war nicht nur so, dass die Kundschaft in Heinlein’s Delicatessen- und Spirituosengeschäft traditionsgemäß niemals mit persönlichen Fragen behelligt wurde, ebenso war es üblich, als Inhaber keine gestellt zu bekommen.

»Ich will Ihnen nicht zu nahe treten«, entschuldigte sich der Mann mit dem Muttermal dann auch, »aber dürfte man fragen, ob Sie einen Nachfolger haben?«

»Nein. Beziehungsweise ja.« Heinlein verhaspelte sich ein wenig. »Sie dürfen natürlich fragen, aber die Antwort ist nein. Auf Ihre eigentliche Frage, die Frage, ob ich einen …«

»Dann sind Sie also der Letzte.«

»Es sieht danach aus.«

»Das ist schade«, seufzte der Mann mit dem Muttermal und stand auf. »Sehr schade.«

Er ging zur Tür, Heinlein kam ihm zuvor und öffnete. Die Glocke bimmelte über ihren Köpfen, würzige Frühlingsluft wehte ihnen entgegen. Heinleins Stammgast blinzelte in der Sonne, richtete die Krawatte unter dem fleischigen Kinn und trat die drei Stufen hinab auf den Bürgersteig.

»Es sind ja noch ein paar Jahre Zeit«, sagte Heinlein hinter ihm. »Irgendwann geht jeder in den Ruhestand.«

»Allerdings.« Der Mann mit dem Muttermal erwiderte Heinleins Lächeln, holte den Autoschlüssel aus der Jackettasche und lief auf den blauen Mercedes zu. »Fragt sich nur«, murmelte er im Gehen, »ob man so lange durchhält.«

Als Norbert Heinlein um achtzehn Uhr die Gitter vor dem Schaufenster herunterließ, hatte er seine gesamte Pastete verkauft – ausgenommen die Portion, die er für seinen Vater zurückgelegt hatte. Er setzte sich auf die Bank, um seinen zweiten Zigarillo zu rauchen. Als das silberne Feuerzeug aufflackerte, gingen wie auf Kommando die Laternen an.

Marvin hatte die morgige Lieferung für Keferberg in einer Plastikkiste zusammengestellt und harkte die Erde um die Kastanie. Drüben am Imbiss drängten sich die Menschen an den Stehtischen, aßen Pommes, fettige Steaks und Nudeln aus Plastiktellern.

Der Geruch von Frittierfett wehte über die Straße. Heinleins sensibler Magen verkrampfte sich ein wenig, doch wer hatte schon das Recht, einem anderen vorzuschreiben, was er essen sollte? Der Imbiss war bis Mitternacht geöffnet, nicht nur der Geruch, auch der Lärm war nicht unbedingt angenehm. Doch Norbert Heinlein gönnte den jungen Leuten ihren Spaß. Anderswo verödeten die Innenstädte, hier herrschte wenigstens noch Betrieb.

Er rauchte den Zigarillo zu Ende, verabschiedete sich von Marvin und ging ins Haus, um den Rest des Abends mit seinem Vater zu verbringen.

Vier

»Das ist dir sehr gut gelungen, Norbert.« Der alte Heinlein kaute bedächtig. »Das Brustfilet erscheint mir ein wenig zu stark püriert, aber der Teigmantel ist perfekt. Die Idee mit dem Muskat ist gewagt, aber im Zusammenspiel mit dem Kompott …« Er spießte eine Preiselbeere auf die Gabel. »Chapeau, mein Junge.«

»Ich hatte einen guten Lehrer«, lächelte Norbert Heinlein.

Sie saßen im Kerzenschein am Esstisch im Wohnzimmer, umgeben von wuchtigen, geschnitzten Möbeln, dicken Teppichen und schweren Samtgardinen, die schon zu Heinleins Kindertagen an den hohen Fenstern gehangen hatten.

»Noch ein Stück Baguette, Papa?«

»Nein danke.« Der Alte legte das Silberbesteck auf den Teller und griff nach der gestärkten Serviette. »Ich bin restlos satt, mein Junge.«

Abgesehen von einem dünnen Haarkranz war er kahl. Eine Strähne hatte sich gelöst und wippte über dem rechten Ohr wie eine Feder. Die graue Strickjacke über dem weißen Hemd war mit Zahnpasta bekleckert, auch der Schlips hatte Spritzer abbekommen. Heinlein würde die Sachen morgen in die Reinigung bringen.

»Dann räume ich ab«, sagte er. Als er das Tablett von der Anrichte holte, krachte im Treppenhaus eine Wohnungstür ins Schloss.

»Was ist eigentlich mit der Pechstein?« Der Alte deutete hoch zur vergilbten Stuckdecke. »Ist die immer noch mit der Miete in Rückstand?«

»Nein, Papa.«

»Wir dürfen uns nicht auf der Nase herumtanzen lassen, Norbert. Jeder Mieter hat seine Rechte. Wir sind ehrliche Geschäftsleute, doch auch wir haben Ausgaben. Wir müssen Rechnungen bezahlen, aber das können wir nur, wenn unsere Rechnungen bezahlt werden.«

»Natürlich.«

»Was ist mit dem Laden? Ich habe mir die Bücher lange nicht angesehen. Wie war der Umsatz letzten Monat?«

»Gut.« Heinlein räumte das Geschirr auf das Tablett. »Es war richtig, die Küche zu verkleinern, um mehr Verkaufsfläche zu schaffen. Dass wir die Frischwaren reduziert haben, hat die Kosten deutlich gesenkt. Und die Pastete ist immer ausverkauft.«

»Rechnet sich das?«

»Die Pastete?« Heinlein stellte den geflochtenen Brotkorb auf die gestapelten Teller. »Der Wareneinsatz ist natürlich nicht unerheblich, du weißt ja …«

Der Alte sah ihn an, die buschigen Brauen fragend gehoben.

»Die Zutaten sind exklusiv.« Heinlein griff nach der Balsamicoflasche. »Da kommt einiges …«

»Das ist mir bewusst. Die Frage ist, was unterm Strich rauskommt!«

»Es geht hier auch um Tradition, Papa.« Heinlein stellte das Schälchen mit dem Trüffelmus auf das Tablett und löschte die Kerzen. »Ich verwende Rezepte, die noch von Großvater sind. Wir hatten schon immer eine besondere Kundschaft, wir Heinleins sind Gourmets, die …«

»Natürlich sind wird das!« Der Alte reckte das knochige Kinn. »Aber wir sind auch Geschäftsleute. Wir müssen Gewinn machen, Norbert! Sonst ist das, was wir tun, kein Geschäft, sondern Träumerei.«

»Das ist mir klar, Papa.«

Heinlein wischte ein paar Krümel von der gestärkten Tischdecke und trug das Tablett in die Küche.

»Und?«, rief der Alte ihm nach. »Wie hoch ist der Gewinn genau?«

»Die konkreten Zahlen habe ich jetzt nicht parat«, gab Heinlein über die Schulter zurück. »Da müsste ich in den Büchern nachsehen. Insgesamt würde ich sagen … äh, Papa?«

Heinlein war unterwegs zurück ins Wohnzimmer und blieb auf der Schwelle stehen. Sein Vater saß am Tisch und war dabei, sich eine Serviette in den Hemdkragen zu stecken.

»Da bist du ja endlich!«, strahlte er. »Bin gespannt, was es zu essen gibt, ich hab einen Bärenhunger!«

Später lag Norbert Heinlein im Bett und lauschte dem Schnarchen, das aus der angelehnten Tür im Flur schräg gegenüber drang.

Heute hatte sein Vater einen vergleichsweise guten Tag gehabt und sich zwar mürrisch, aber ohne Gegenwehr duschen und nach längerem Zureden auch rasieren lassen. Beim Abendessen hatte er einige wache Momente gehabt. Anfangs hatte Heinlein seinen Vater noch korrigiert, wenn dieser auf Frau Pechstein zu sprechen gekommen war. Die alte Dame war tatsächlich das ein oder andere Mal mit der Miete in Verzug geraten, doch das war eine Weile her, sie war vor sieben Jahren gestorben. Seitdem stand die Wohnung leer. Das Wasser war abgestellt, da die alten Bleileitungen leckten, auch die Elektrik hätte neu verlegt werden müssen. Das würde einige Kosten verursachen, weshalb Heinlein beschlossen hatte, sich um die Sanierung später zu kümmern.

Er faltete die Hände hinter dem Kopf, sah zur Decke und lenkte seine Gedanken in eine andere, schönere Richtung, indem er überlegte, ob er für die morgige Trüffelpastete lieber Kalbs- oder Geflügelleber verwenden solle.

Draußen zischte eine Straßenbahn vorbei. Die Fenster klirrten, die Mauern vibrierten, in der Küche klapperte das Porzellan in der alten Vitrine. Vor dem Imbiss grölten ein paar Betrunkene, ein dumpfer Technobeat hallte über den Platz.

Norbert Heinlein entschied sich für Kalbsleber.

Über ihm knarrten die Dielen, Niklas Rottmann stritt mit seiner Mutter über das Fernsehprogramm.

Heinlein dachte über den Teigmantel nach. Dem Rezept seines Großvaters zufolge wurde der Teig nicht gewürzt, um möglichst neutral zu schmecken und der Füllung Raum zur Entfaltung zu lassen.

Aber ich könnte vielleicht …

Ein dumpfer Schlag ließ die Decke erbeben, der Streit bei Rottmanns spitzte sich zu. Das Bellen des Hundes gesellte sich zu den keifenden Stimmen.

Etwas Zimt vielleicht?

Heinlein schloss die Augen.

Aber nur eine Messerspitze.

Er lächelte. Und schlief ein.

Fünf

»Das hier ist eine Krustenpastete.« Heinlein reichte Marvin den Porzellanteller. »Sie besteht aus drei Komponenten.«

»Drei«, wiederholte Marvin.

»Außen ist der Teigmantel, der hält alles zusammen. Das hier …«, er wies mit der Gabel auf die Pastetenscheibe, »ist die Farce. Die besteht aus vielen zerkleinerten Zutaten und umrahmt das Herzstück in der Mitte, siehst du? Das ist Kalbsleber. Meistens benutzt man Fleisch oder Fisch, aber nicht unbedingt. Man muss kreativ sein, es gibt nahezu unendlich viele Möglichkeiten, die Zutaten zu kombinieren.«

»Unendlich«, murmelte Marvin. Seine Stirn umwölkte sich. In seiner von Zahlen geprägten Gedankenwelt hatte er Schwierigkeiten, diesen Begriff einzuordnen.

»Probier mal«, sagte Heinlein und reichte ihm die Gabel.

Marvin zerteilte die Pastetenscheibe vorsichtig und schob ein Stück in den Mund.

»Du musst langsam kauen, damit sich die Aromen entfalten.«

Es war früher Nachmittag, bisher waren die Geschäfte ruhig verlaufen. Die alte Frau Dahlmeyer hatte ihr zweites Frühstück verzehrt, Laufkundschaft hatte es kaum gegeben. Ein weiterer Stammkunde, ein kleiner, glatzköpfiger Kriminalkommissar, war nach längerer Zeit wieder einmal vorbeigekommen und hatte ein Glas Akazienblütengelee und einen Schweizer Nusskäse erstanden. Heinlein genoss die Gespräche mit dem freundlichen Polizisten, der nicht nur nur ein Gourmet, sondern ein äußerst kultivierter Feingeist war. Als er vor Jahren zwischenzeitlich den Dienst quittiert hatte, um in der Nähe des Bahnhofs einen Imbiss zu eröffnen, hatte Heinlein ihn beraten und von Zeit zu Zeit beliefert.

»Der Zimt erschließt sich erst im Nachgang, Marvin. Es ist nur eine Nuance, aber er bildet einen interessanten Kontrast zu den Trüffeln und bringt das Zusammenspiel zwischen der Minze und dem roten Pfeffer viel besser zur Geltung.«

Marvin schloss die Augen hinter den Brillengläsern, neigte den Kopf und schob die Pastete im Mund hin und her. Heinlein sah ihn fürsorglich, fast väterlich an.

»Lass dir Zeit. Gutes Essen will genossen werden.«

Ein dumpfes Krachen erklang, die Haustür neben dem Laden wurde aufgerissen. Der Hund hechelte auf den Bürgersteig, gefolgt von Niklas Rottmann, der die Leine mit beiden Händen halten musste. Anstelle der Badelatschen und Jogginghosen trug er schwere Schnürstiefel und die schwarze Uniform einer Sicherheitsfirma, bei der er als Wachmann angestellt war.

Marvin schluckte und öffnete die Augen.

»Und?«, fragte Heinlein, »was meinst du?«

Er hatte keine eigenen Kinder. Aber er hatte Marvin. Der Mann mit dem Muttermal war ein guter Beobachter, denn es stimmte, dass Heinlein den Jungen wie einen eigenen Sohn betrachtete. Ja, er war besonders, doch zum Geschäftsmann war er nicht geschaffen.

»Gut«, nickte Marvin.

»Gut?«, schmunzelte Heinlein. »Mehr nicht?«

Nun, zum Gourmet war Marvin wohl ebenfalls nicht geboren. Doch er war jung und würde seinen Platz im Leben noch finden.

»Gut«, wiederholte Marvin ernst und leckte einen Rest gehackte Kalbsleber aus dem Mundwinkel.

»Schön, dass es dir schmeckt. Das ist die Hauptsache, alles andere …«

Der Teller landete klirrend auf dem Tresen. Marvin starrte zum Schaufenster, hinter dem sich Niklas Rottmann auf dem Bürgersteig gerade eine Zigarette anzündete, während sein Hund sich wieder an der jungen Kastanie zu schaffen machte. Heinlein atmete tief ein und folgte Marvin, der bereits mit wehenden Kittelschößen zur Ladentür eilte. Draußen hielt er den wütenden Jungen am Arm zurück, sammelte sich kurz und wandte sich an Rottmann: »Muss das denn sein?«

Rottmanns Uniform ähnelte der Montur eines amerikanischen Streifenpolizisten. So fühlte er sich offensichtlich auch, er ließ sich Zeit für eine Antwort und musterte Heinlein von Kopf bis Fuß durch eine verspiegelte Pilotenbrille, die den martialischen Eindruck wohl verstärken sollte.

»Was?«, fragte er schließlich.

»Der Hund!«

»Bertram?« Rottmanns Blick folgte Heinleins Zeigefinger. »Was soll mit dem sein?«

»Muss er denn unbedingt an den Baum urinie–«

»Gepisst hat er schon. Jetzt kackt er.«

Der Berufsverkehr setzte ein, vor der Ampel am Jugendstilhaus hatte sich bereits eine Schlange gebildet. Ein hellblauer Mercedes schälte sich aus dem Stau und hielt auf dem Parkplatz vor dem Laden.

»Diese Kastanie hat Marvin gepflanzt«, sagte Heinlein.

»Ach.« Rottmann kam näher stolziert, verschränkte die Hände auf dem Rücken und baute sich breitbeinig vor Marvin auf. »Hat er das?«

Er schien eine Menge Zeit vor dem Fernseher zu verbringen, hauptsächlich wohl mit dem Betrachten amerikanischer Cop-Serien. Marvin öffnete den Mund, brachte jedoch nur ein Krächzen heraus.

»Was?« Rottmann hielt eine Hand hinter das Ohr. »Ich verstehe dich nicht.«

»Der Baum«, half Heinlein, »ist noch jung und deshalb empfindlich. Es wäre …«

Er wich zurück. Erde spritzte gegen seine gebügelten Hosenbeine. Der Hund wühlte mit den Vorderpfoten neben dem Stamm im Boden, um das – durchaus beachtliche – Produkt seines Verdauungstraktes zu vergraben.

»Dort drüben«, Heinlein wies über die Autoschlange zum Park, »ist eine Hundewiese. Ich würde …«

»Bertram will hier kacken.« Rottmann stieß den Rauch durch die Nase aus.

»Vielleicht kann man das Tier überzeugen, sich hinüber in den Park zu bemühen?«

»Kann man versuchen. Auf dich«, Rottmann tippte Marvin an die Brust, »hört Bertram bestimmt.«

»D – Du …« Marvin stieß keuchend die Luft aus. »Du b – bist ein …«

»Ja?«, grinste Rottmann. »Was?«

»A – A …«

»Astronaut?«

»A – A …«

»Sag schon!«, drängte Rottmann. »Ein Apotheker?«

Hektische Flecken blühten auf Marvins Gesicht, die schmale Brust hob und senkte sich unter dem Kittel. Heinlein tätschelte beruhigend seinen Arm, doch Marvin machte sich los und trat einen Schritt auf Rottmann zu.

»Du bist ein … A – A …«

»Ja ja.« Rottmann nahm gelangweilt die Brille ab und musterte die verspiegelten Gläser. »So weit waren wir schon.«

»Ein …«

Ein Hupen ertönte. Rechts von ihnen näherte sich ein bulliger Geldtransporter in der Autoschlange. Der Fahrer trug ebenfalls Uniform und winkte Rottmann aus dem Seitenfenster zu.

»Ich muss zur Schicht«, sagte dieser zu Marvin. »Du kannst ja so lange üben.«

Er zog den aufjaulenden Hund heftig heran und verschwand im Haus.

»ARSCHLOCH!«, brüllte Marvin aus vollem Hals.

»Na bitte!« Rottmanns Lachen hallte im Flur. »Geht doch.«

Die schwere Tür knallte so heftig ins Schloss, dass der Putz aus der Stuckverzierung des Portals rieselte und das Schaufenster bebte. Heinlein führte den schluchzenden Marvin zur Holzbank und bemerkte den Mann mit dem Muttermal, der an der Motorhaube seines Mercedes lehnte und offensichtlich alles mitbekommen hatte. Heinlein bat um ein wenig Geduld, und als er kurz darauf die Pastete servierte, kam Niklas Rottmann aus dem Haus, stolzierte über die Straße und stieg in den wartenden Geldtransporter.

Der mittlerweile eingespielten Routine folgend, hätte sich der Mann mit dem Muttermal bedanken und nach dem Besteck greifen müssen, doch er änderte den Ablauf, schob den Kaffeehausstuhl zurück, strich das Haar über dem Muttermal aus der Stirn, ließ die Daumen vor dem Bauch kreisen und sah Heinlein eine Weile prüfend an. Dann stellte er in seinem sonoren Tonfall eine Frage, die – obwohl einfach und naheliegend – Norbert Heinlein von selbst nie in den Sinn gekommen wäre.

»Warum«, fragte er, »lassen Sie sich das gefallen?«

Als Heinlein abends in die Wohnung kam, stand sein Vater in Hut und Mantel am Fenster und wartete auf ein Taxi, das ihn zur Nahrungsmittelmesse in Leipzig bringen sollte, wo er einen wichtigen Termin mit dem Vertreter des spanischen Handelsministeriums hatte.

Es dauerte eine Weile, den alten Mann zu beruhigen, doch er weigerte sich, etwas zu essen. Heinlein bedrängte ihn nicht, sondern legte ihn schlafen, ging selbst zu Bett und dachte über die Frage seines Stammgastes nach:

Warum lassen Sie sich das gefallen?

Norbert Heinlein verabscheute Gewalt. Schon als Kind war er den üblichen Rangeleien auf dem Schulhof aus dem Wege gegangen, seit damals waren ihm körperliche Auseinandersetzungen ein Gräuel. Selbst wenn er gewollt hätte, wäre er dazu kaum in der Lage gewesen, denn mit einer Körpergröße von einem Meter vierundachtzig war Heinlein zwar relativ groß, doch bei einem Gewicht von knapp siebzig Kilo nicht nur sehr dünn, auch der Anteil an Muskelmasse war verschwindend gering, da sich dieses Gewicht vor allem in den Fettpolstern um seine Hüfte konzentrierte.

Als toleranter Mensch gestand er jedem anderen eine eigene Meinung zu, ebenso war es nur natürlich, die eigenen Interessen durchsetzen zu wollen. Aber es gab Grenzen, allein die Androhung von Gewalt bedeutete nichts anderes als die Kapitulation der menschlichen Vernunft. Nach knapp sechzig Lebensjahren erkannte Heinlein, wann Argumente nichts mehr nutzten, nahm es als gegeben hin und zog sich zurück.

Die Frage des Mannes mit dem Muttermal implizierte, Heinlein habe eine Niederlage erlitten. Dieser sah das anders. Niklas Rottmann war zweifellos ein primitiver, unangenehmer Zeitgenosse, doch er hatte einen gültigen Mietvertrag. Das war nicht zu ändern, also musste man die Lage akzeptieren und das Beste daraus machen. Mit Vernunft war nichts auszurichten, man konnte nur versuchen, ihm so weit wie möglich aus dem Wege zu gehen. Andere mochten das als feige, ängstlich oder konfliktscheu empfinden. Heinlein ging es vor allem darum, Marvin zu schützen.

Er starrte seufzend an die Decke. Lauschte dem Knarren der Dielen, dem Rauschen der alten Wasserleitungen, dem Plärren des Fernsehers und wünschte zum wiederholten Male, das Haus wäre nicht so hellhörig. Aber er musste damit leben.

Ein Kläffen erklang.

Auch mit dem Hund. Es war nicht zu ändern.

Sechs

»Ich bin ein bisschen spät dran«, schnaufte Heinlein, schob die Glastür mit der Schulter auf und schleppte die Plastikkiste in die Pension.

Keferberg, der hinter dem vertäfelten Empfangstresen stand, sah kurz auf und vertiefte sich wieder in einen Ordner mit Rechnungen, während Heinlein die Lieferung neben einer Zimmerpalme auf dem dicken Teppich abstellte. Ein halbes Dutzend Gläser mit Quittengelee, Buchweizenhonig und grüner Tomatenmarmelade klirrte in der Kiste. Heinlein richtete sich ächzend auf und rieb sich in einer übertriebenen Geste den Steiß.

»Für die Butter mache ich dir einen Sonderpreis«, keuchte er. »Die ist nur noch bis zum Wochenende haltbar.«

»Espresso?«, fragte Keferberg, ohne den Blick von seinem Ordner zu heben.

»Nein«, wehrte Heinlein ab und deutete durch die Glastür zu seinem Laden. »Die Pastete ist noch im Ofen, ich hab mich ein bisschen mit dem Teig verplant. Und ich will Marvin nicht zu lange allein lassen.«

Keferberg brummte etwas, das wie Zustimmung klang. Er war ein paar Jahre älter als Heinlein, ein dünner, stets akkurat gekleideter Mann in weißem Hemd, grauem Wollpullunder und braunem Schlips, der noch vergoldete Manschettenknöpfe benutzte und seine Lesebrille an einem dünnen Kettchen um den Hals trug.

»Die Rechnung ist wie immer im Umschlag.« Heinlein wies auf die Kiste. »Die Salami ist teurer geworden, aber wir lassen’s beim alten Preis.«

»Wenn du die Ware teurer einkaufst«, sagte Keferberg, »musst du den Aufschlag auch weitergeben, Norbert.«

»Es war so abgesprochen, Johann. Absprachen werden eingehalten.«

Keferberg schob die Brille auf der Nase zurecht. »Die Abfallgebühren«, er holte tief Luft und schloss den Ordner, »sind schon wieder erhöht worden.«

Hinter ihm tickte eine alte Standuhr, an den Wänden hingen gerahmte Fotos mit historischen Aufnahmen der Stadt. Die Tür zum Frühstücksraum war angelehnt, auf einem langen, weiß gedeckten Tisch reihten sich Käse- und Aufschnittplatten, Marmeladenschälchen und sorgfältig arrangierte Obstschüsseln. Der Geruch frischen Kaffees und warmer Brötchen drang heraus und mischte sich mit dem Duft gestärkter Wäsche, Keferbergs Aftershave und der Rosen, die in Kristallvasen im Empfangsraum verteilt waren.

Stufen knarrten, der Mann mit dem Muttermal kam die geschwungene Treppe zu den Gästezimmern herab. Er trug den üblichen, etwas zerknitterten Anzug, auch das Handgelenktäschchen fehlte nicht. Nachdem er Heinlein einen guten Morgen gewünscht hatte, führte ihn Keferberg beflissen zum Frühstücksraum, versicherte, stets zu Diensten zu sein, und schloss die Tür, um seinen Gast in Ruhe speisen zu lassen.

»Er ist der Letzte«, seufzte er. »Das alte Ehepaar aus Tübingen ist gestern abgereist. Für nächstes Wochenende hatte ich drei Reservierungen, aber zwei sind schon abgesagt. Wegen der Rechnung …« Keferberg wies auf die Kiste, räusperte sich und lockerte mit dem Daumen den Hemdkragen. »Die letzten drei Lieferungen sind noch offen, ich weiß …«

»Das eilt nicht, keine Sorge«, wehrte Heinlein ab. »Du hast eine Durststrecke, Johann. Man braucht einen langen Atem, aber du weißt ja«, er nickte Keferberg zum Abschied aufmunternd zu, »Qualität zahlt sich immer aus.«

»Hätten Sie vielleicht einen Moment?«

»Natürlich«, erwiderte Heinlein, der gerade das Geschirr abräumte und wieder zum Tresen wollte, um den zweiten Espresso zu kochen. Der Mann mit dem Muttermal saß auf seinem Stammplatz am rechten der beiden Fenstertische und deutete einladend auf den zweiten Stuhl.

»Die Pastete war heute besonders deliziös«, sagte er, nachdem Heinlein Platz genommen hatte. »Der Rehrücken, worin haben Sie den eingelegt? War das Gin?«

»Nicht ganz«, korrigierte Heinlein schmunzelnd. »Genever.«

»Ach, natürlich!«, schnarrte sein Gast und ließ das R noch ein wenig länger als sonst rollen. »Genever!« Er schüttelte den massigen Kopf. »Wie dumm von mir.«

»Nicht doch, das war …«

»Adam Morlok.«

»Bitte?« Heinlein blinzelte verwirrt, dann bemerkte er die ausgestreckte Hand. »Heinlein«, sagte er und schlug ein. »Norbert Heinlein.«

»Ich weiß«, nickte der Mann, der sich als Adam Morlok vorgestellt hatte. Seine Hand war so groß, dass die von Heinlein unter den Fingern verschwand. »Freut mich, Herr Heinlein.«

Hinter dem Schaufenster quälte sich der Verkehr durch den feierabendlichen Stau. Am Taxistand lehnten die Fahrer rauchend an der Motorhaube ihrer Autos, an einem der Stehtische vor dem Imbiss bewarfen sich ein paar lärmende Teenager gegenseitig mit Pommes.

»Ich muss mich für gestern entschuldigen«, sagte Herr Morlok. »Falls ich Ihnen zu nahe getreten sein sollte …«

»Nicht doch«, wehrte Heinlein errötend ab.

»Es stand mir nicht zu, Ihnen diese Frage zu stellen.«

Draußen plärrte eine Hupe, ein Taxi bremste hinter einem gelben VW-Bus, der mit geöffneten Hecktüren in der zweiten Reihe parkte. Frau Lakberg, die Besitzerin des Copyshops nebenan, lud ein paar Kisten aus und schleppte sie in ihren Laden.

»Ich habe mich in Ihre Angelegenheiten eingemischt, Herr Heinlein.«

Morlok holte die Geldscheine aus seinem Ledertäschchen, legte sie unter den Salzstreuer, stand ächzend auf und glättete das Jackett über dem massigen Bauch.

»Das tue ich sonst nie. Es sei denn …«

Er sah Heinlein aus durchdringenden, hellblauen Augen an.

Dieser hob fragend den Kopf: »Ja?«

»Es sei denn«, wiederholte Adam Morlok, der Mann mit dem Muttermal, »ich werde darum gebeten.«

Sieben

»Et voila!« Schwungvoll stellte Heinlein den Teller auf den Tisch, legte das in eine Serviette eingewickelte Besteck daneben und schob die Porzellanvase zurecht. »Ihre Petits Patés, Frau Dahlmeyer!«

Die alte Dame beugte sich neugierig über die kleinen, von einem goldbraunen Teigmantel umhüllten Pasteten, die Heinlein zwischen grünen Salatblättern und Melonenwürfeln zu einem Kreis um ein Näpfchen mit Hagebuttengelee arrangiert hatte.

»Ach, Herr Heinlein …« Das runzlige Gesicht erstrahlte. »Sie sind ein Zauberer!«

»Nicht doch«, wehrte dieser bescheiden ab. »Man braucht nur Kalbsragout, Artischocken, schwarze Trüffel und einen Schuss«, er schnippte mit den Fingern, »Amontillado. Sagen Sie mal …« Heinlein stutzte, beugte sich vor und sah die alte Dame scheinbar verwundert an. »Kann es sein, dass Sie von Tag zu Tag jünger werden?«

»Hören Sie bloß auf, Sie Charmeur.« Frau Dahlmeyer errötete bis zum Ansatz der bläulichen Dauerwelle, obwohl das Gespräch seit Jahren nahezu wortgleich verlief. »Setzen Sie einer alten Schachtel keine Flausen in den Kopf!«

Über Nacht hatte das Wetter umgeschlagen. Der Tag war kühl, aus dem bleigrauen Himmel wehte ein feiner Nieselregen gegen das Schaufenster. Als Heinlein zum Tresen ging, um den japanischen Grüntee für die alte Dame vorzubereiten, kam Marvin aus der Küche und schleppte einen vollen Wassereimer und einen Wischmopp zur Tür neben dem Weinregal, die den Verkaufsraum mit dem Hausflur verband.

»Muss was w-wegmachen«, keuchte er auf Heinleins Frage und versuchte vergeblich, die Tür mit der Schulter zu öffnen. Als Heinlein ihm half, schlug ihm beißender Gestank aus dem Flur entgegen, dessen Ursache er schnell unter den Briefkästen entdeckte. Da es sich nicht nur um einen Haufen, sondern auch um eine große Pfütze handelte, hatte der Hund wohl gleich beide Geschäfte auf den alten Steinfliesen erledigt.

»Warte.« Heinlein griff nach dem schwappenden Eimer. »Ich erledige das schon. Bist du so lieb und bringst mir Handfeger und Kehrblech?«

Marvin mochte zwar eine Hilfskraft sein, doch Heinlein hatte nicht vor, ihn eine solch erniedrigende Arbeit verrichten zu lassen. Er kämpfte den Brechreiz nieder und nahm den Wischmopp. Marvin brachte das Gewünschte, und als Heinlein, bleich vor Ekel, den übelriechenden Haufen auf das Kehrblech fegte, öffnete sich oben eine Wohnungstür, und Niklas Rottmann kam die Treppe herab, in Uniform und schweren Schnürstiefeln, die auf den abgetretenen Stufen polterten. Er ignorierte Marvin ebenso wie den stinkenden Haufen auf dem Kehrblech in Heinleins Hand; dass dieser unter den Briefkästen kniete, schien ihn nicht zu interessieren. Stattdessen beschwerte er sich im Näherkommen über den Krach aus Heinleins Wohnung, der seine Mutter bei der wohlverdienten Mittagsruhe störe.

»Mein Vater hört nicht mehr gut«, erklärte Heinlein, noch immer am Boden kniend. »Das Radio muss also mit einer gewissen Lautstärke …«

»Mama kann bei dem Gedudel nicht schlafen!«

»Es ist ein Klassiksender, insofern würde ich nicht unbedingt von Gedudel …«

»Es nervt!«

Rottmann baute sich breitbeinig vor Heinlein auf. Dieser entleerte das Kehrblech in den Eimer, richtete sich schwerfällig auf und versicherte, er werde sich der Sache mit der Lautstärke annehmen.

Das dürfe man als zahlender Mieter auch erwarten, knurrte Niklas Rottmann, rückte das Lederkoppel über der Uniformjacke zurecht und griff nach der Türklinke.

»Herr Rottmann?«

»Was?«

Heinlein räusperte sich. »Der … Hund.«

»Was soll mit dem sein?«

Es gelang Heinlein nur unter Aufbietung sämtlicher Willenskraft, Rottmanns Blick standzuhalten, doch seine Reserven waren begrenzt. Kurz bevor er die Augen niederschlug, fasste sich Rottmann in einer übertriebenen Geste an die Stirn, als begreife er erst jetzt.

»Bertram ist sensibel, er hasst Regen. Irgendwo«, Rottmann wies mit dem Kinn auf die nassen Fliesen, »muss er ja sein Geschäft machen.«

Er riss die Tür auf und schlenderte durch die Regenschleier auf den bereits am Bordstein wartenden Geldtransporter zu.

»Arschloch«, sagte Marvin.

»Marvin«, tadelte Heinlein, »wir werden uns nicht …«

Die Haustür fiel donnernd ins Schloss.

»…auf dieses Niveau begeben«, endete Heinlein, als der Krach im Treppenhaus verhallt war. »Beschimpfungen bringen niemanden weiter. Es geht nicht um den Austausch von Beleidigungen, sondern von Argumenten. Wer laut ist, hat nicht unbedingt recht, und wenn der eine schreit, muss der andere nicht zurückschreien. Letztendlich zählt immer …«

»Neunzehn.«

»Tut mir leid, aber ich kann dir nicht folgen!«, rief Heinlein aus. »Ich versuche, dir etwas zu erklären! Ein bisschen Aufmerksamkeit ist doch wohl das Mindeste, das man erwarten …«

Er hielt inne. Marvin, der in die verschlungenen Muster auf den rissigen Bodenfliesen vertieft gewesen war, sah ihn erschrocken an.

»Entschuldige«, seufzte Heinlein. »Ich wollte dich nicht ausschimpfen.« Die Knie seiner Anzughose waren fleckig und feucht, von der Kehrschaufel in seiner rechten Hand tropfte eine bräunliche Masse auf die Schuhe. »Also«, er nickte Marvin aufmunternd zu, »ich mache das hier schnell fertig, danach muss ich unter die Dusche. Du siehst nach Frau Dahlmeyer, die wartet bestimmt schon auf ihren Sencha-Tee. Aber wo wir einmal hier sind …«

Heinlein holte seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und öffnete den Briefkasten. »Ach, wie schön!«, strahlte er und zog einen wattierten Umschlag heraus. »Lupita hat geschrieben!«

»Schau mal, wie groß sie geworden ist, Marvin!«

Marvin, der gerade den Tisch von Frau Dahlmeyer abräumte, stellte den Teller auf den Verkaufstresen und betrachtete das somalische Mädchen auf dem Foto, das unter einer Palme vor einer gekalkten Baracke saß und mit großen, dunklen Augen in die Kamera lächelte. Sie trug eine Schuluniform – Kniestrümpfe, dunkler Rock und weiße Bluse –, ein silberner Haarreif hielt die schwarze Lockenmähne in Zaum.