Zorn – Schwarze Tage - Stephan Ludwig - E-Book

Zorn – Schwarze Tage E-Book

Stephan Ludwig

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Beschreibung

Hauptkommissar Claudius Zorn und der dicke Schröder in ihrer dunkelsten Stunde – der dreizehnte Band der Kult-Thriller-Serie von Bestsellerautor Stephan Ludwig Hauptkommissar Zorn will nicht aufwachen. Nie wieder. Wenn er schläft, ist alles gut. Sobald er wach ist, muss er der kalten Wahrheit ins Gesicht blicken. Der wichtigste Mensch in seinem Leben ist tot, wurde vor seinen Augen überfahren. Auch sein Kollege Schröder hat mit der Situation schwer zu kämpfen. Aber Schröder weiß, dass er nicht ruhen kann, bis er Antworten hat. Mit Zorns Hilfe oder ohne. Wer ist der Todesfahrer und damit für diesen sinnlosen Tod verantwortlich? Als sich kurze Zeit später ein brutaler Mord ereignet, werden Zorn und Schröder stutzig. Und geraten selbst ins Visier der falschen Leute. »Das Erscheinen eines neuen ›Zorns‹ stellt ein absolutes Highlight im Bücherjahr dar, obwohl das Lesevergnügen immer wieder schon nach kürzester Zeit vorbei ist. Nur wenige deutsche Krimi-Autoren im Hier und Jetzt besitzen die Gabe eines Stephan Ludwig, den Leser derart zu paralysieren und seine gesamte Aufmerksamkeit auf das vor ihm liegende Buch zu richten. Möge diese spannende Reihe mit den wunderbaren Charakteren noch viele Fortsetzungen finden!« Literaturmarkt.info

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Seitenzahl: 389

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Stephan Ludwig

Zorn

Schwarze Tage

Thriller

 

 

Über dieses Buch

 

 

Der dreizehnte Fall für Zorn und Schröder

 

Hauptkommissar Zorn will nicht aufwachen. Nie wieder. Wenn er schläft, ist alles gut. Sobald er wach ist, muss er der kalten Wahrheit ins Gesicht blicken. Der wichtigste Mensch in seinem Leben ist tot, wurde vor seinen Augen überfahren. Zorn erscheint alles sinnlos.

Auch sein Kollege Schröder hat mit der Situation schwer zu kämpfen. Aber Schröder weiß, dass er nicht ruhen kann, bis er Antworten auf seine Fragen hat. Mit Zorns Hilfe oder ohne. Wer ist der Todesfahrer und damit für diesen sinnlosen Tod verantwortlich?

Als sich kurze Zeit später ein brutaler Mord ereignet, werden Zorn und Schröder stutzig. Und geraten selbst ins Visier der falschen Leute. 

 

»Das Erscheinen eines neuen ›Zorns‹ stellt ein absolutes Highlight im Bücherjahr dar.« Literaturmarkt.info

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Stephan Ludwig arbeitete als Theatertechniker, Musiker und Rundfunkproduzent. Er hat drei Töchter, einen Sohn und keine Katze. Zum Schreiben kam er durch eine zufällige Verkettung ungeplanter Umstände. Er lebt und raucht in Halle.

 

Außerdem bei FISCHER erschienen:

»Zorn – Tod und Regen«, »Zorn – Vom Lieben und Sterben«, »Zorn – Wo kein Licht«, »Zorn – Wie sie töten«, »Zorn – Kalter Rauch«, »Zorn – Wie du mir«, »Zorn – Lodernder Hass«, »Zorn – Blut und Strafe«, »Zorn – Tod um Tod«, »Zorn – Zahltag«, »Zorn – Opferlamm«, »Zorn – Ausgelöscht«, »Unter der Erde. Thriller«, »Der nette Herr Heinlein und die Leichen im Keller. Roman«

Die Bände 1–5 der Zorn-Reihe sind mit Stephan Luca und Axel Ranisch in den Hauptrollen fürs Fernsehen verfilmt.

 

Claudius Zorn ist auch auf Facebook und Instagram.

Inhalt

Auftakt

ERSTE THESE

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

ZWEITE THESE

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Sechsundvierzig

Siebenundvierzig

Achtundvierzig

Neunundvierzig

Fünfzig

Einundfünfzig

Zweiundfünfzig

Dreiundfünfzig

Vierundfünfzig

Fünfundfünfzig

Sechsundfünfzig

Siebenundfünfzig

Achtundfünfzig

Neunundfünfzig

Sechzig

Einundsechzig

Zweiundsechzig

Dreiundsechzig

DRITTE THESE

Vierundsechzig

Fünfundsechzig

Sechsundsechzig

Siebenundsechzig

Achtundsechzig

Neunundsechzig

Siebzig

Einundsiebzig

Zweiundsiebzig

Dreiundsiebzig

Vierundsiebzig

Fünfundsiebzig

Sechsundsiebzig

Siebenundsiebzig

Achtundsiebzig

Neunundsiebzig

Achtzig

Einundachtzig

Zweiundachtzig

Dreiundachtzig

Vierundachtzig

Fünfundachtzig

Sechsundachtzig

Siebenundachtzig

Achtundachtzig

Neunundachtzig

Neunzig

SCHLUSSTHESE

Letztes Kapitel

Frühling

Nachbemerkung

Auftakt

Ich will nicht.

Als er sich auf die Seite wälzt, knarrt die Matratze unter seinem Gewicht. Was genau ihn geweckt hat, kann er nicht sagen. Ein Knacken in den Heizungsrohren, vielleicht auch das Hundegebell, das durch das gekippte Fenster ins Schlafzimmer dringt. Feuchte Herbstluft weht herein, streicht über sein verschwitztes Gesicht.

Du musst, Claudius.

Friedas Stimme. Verschlafen, dicht an seinem Ohr.

Nein, ich will …

Zorn driftet zurück in seinen Traum, und als er wieder im Opernhaus ist, lächelt er im Schlaf. Er muss dringend pinkeln, sehnt sich nach einer Zigarette. Opern waren ihm schon immer verhasst, doch es ist schön, wunderschön. Denn Frieda sitzt neben ihm, die Augen auf den dicken Mann gerichtet, der oben auf der Bühne im Scheinwerferlicht eine Arie singt. Nein, schreit, das trifft es besser. Kein Vergleich zu Pavarotti, den Zorn sich auf Friedas Geheiß am Nachmittag zur Einstimmung anhören musste, sie hatte die Schallplatte extra gekauft. Das war zwar schmalzig, ansonsten ganz okay. Der Mann da oben mag eine ähnliche Statur haben, doch selbst der einfach gestrickte Zorn erkennt, dass er mit den hohen Tönen von Nessun dorma eindeutig überfordert ist.

Zorns linke Pobacke ist eingeschlafen, die Knie schmerzen. Als er die Beine ausstreckt und das Gewicht auf dem unbequemen Stuhl verlagert, wirft ihm Frieda einen missbilligenden Blick zu, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder zur Bühne richtet. Sie trägt ein schwarzes Abendkleid mit dünnen Trägern und die Korallenohrringe, die Zorn ihr zum neununddreißigsten Geburtstag geschenkt hat. Staubkörnchen tanzen in den Kegeln der Scheinwerfer, es riecht nach altem Stoff, Bohnerwachs, süßlichem Parfum und dem Schweiß des Publikums, das sich um Zorn herum in den Klappsitzen drängt. Er hasst diese Enge, hasst diese kitschige Musik, und doch ist er glücklich. Weil er …

Ein schrilles Piepsen erklingt. Mit geschlossenen Augen tastet Zorn nach dem Nachttisch, der Wecker verstummt.

Ich will nicht.

Was willst du nicht, Claudius?

Ich will zurück in die Oper. Zurück zu dem schreienden Mann.

Warum? Er hört Friedas Kichern. Ich weiß, wie furchtbar es für dich war.

Ja. Aber dann muss ich nicht aufwachen.

Zorn kneift die Augen zusammen wie ein trotziges Kind und zieht die Decke über den Kopf. Es gelingt ihm tatsächlich, noch einmal zu seinem Traum zurückzukehren, jetzt haben sie die Oper verlassen und sind auf dem Heimweg. Frieda geht voraus, sie ist sauer auf ihn. Die Absätze ihrer hochhackigen Schuhe hallen von den Fassaden der engen Seitenstraße wider, er sieht ihren Atem, der im trüben Widerschein der Laternen kondensiert. Hinter ihnen wird ein Auto gestartet. Der Motor heult auf, dann …

Ein weiteres Piepsen. Zorn öffnet die Augen einen Spalt, greift unter der Decke hervor und stoppt den Wecker. Graues Morgenlicht flutet das Zimmer.

Ich will nicht wach werden.

Du musst, Claudius.

ICH WILL ABER NICHT!

Warum?

Er vergräbt das Gesicht im Kopfkissen. Der Bezug ist nass, er hat im Schlaf geweint.

Weil du dann nicht mehr da bist, Frieda.

*

Als er eine Stunde später ins Büro kommt, ist Schröder wie immer bereits an seinem Platz. Zorn wirft die zerschlissene Lederjacke über den Garderobenständer und lässt sich gegenüber in seinen Stuhl fallen. Draußen regnet es, das Haar klebt in schmutzigen grauen Strähnen an seinen Schläfen.

»Die müssten mal gegossen werden«, sagt er mit einem Blick auf die Topfpflanzen auf dem Fensterbrett. »Ich mach’s nicht, es sind deine Begonien. Und pass auf, das nichts überläuft. Die Wasserflecken mach ich nämlich auch nicht weg.«

Schröders Hände sind über einer dünnen Akte gefaltet. Er sieht übernächtigt aus, dunkle Ringe zeichnen sich unter den Augen ab. Kinn, Wangen und der sonst sorgfältig rasierte Schädel sind von rostfarbenen Stoppeln bedeckt.

»Chef«, sagt er leise. »Du musst nicht …«

»Was?«

»Mach ein paar Tage frei.«

»Urlaub?« Zorn kratzt sich am Kinn. Er könnte ebenfalls eine Rasur vertragen, es klingt, als würde Sandpapier über die Farbreste auf einem alten Türblatt schmirgeln. »Danke, Chef«, sagt er schließlich und deutet durch das Fenster auf den diesigen Herbsthimmel. »Aber ich wüsste nicht, wohin ich bei diesem Wetter verreisen sollte.«

Außerdem, fügt er hinzu, habe er nicht die geringste Lust, den Urlaubsantrag auszufüllen. Er kramt seine Lesebrille aus einer Schublade und setzt sie umständlich auf.

»Ist er das?«, fragt er und deutet über den Rand seines Monitors auf die Akte.

Schröder senkt zustimmend das Doppelkinn.

»Hast du schon reingeguckt?«

»Nein. Ich …« Schröders Stimme bricht. »Das mache ich später. Du musst wirklich nicht …«

Das will ich auch nicht, denkt Zorn. Ich will wieder in mein Bett. Schlafen. Zurück zu dem Schreihals im Opernhaus.

Das geht nicht, Claudius.

Friedas Stimme. Irgendwo in seinem Kopf.

Er geht um den Schreibtisch. Einen Moment scheint es, als würde Schröder sich weigern, seine Hände pressen sich flach auf die Akte. OBDUKTIONSBERICHT ist auf dem Einband zu lesen. Als Zorn die Akte an sich nimmt, zeichnen sich die Umrisse von Schröders Fingern auf der grauen Pappe ab.

Er setzt sich wieder auf seinen Platz. Räuspert sich, schiebt die Lesebrille auf der Nase zurecht und öffnet den Obduktionsbericht. Nach mehr als drei Jahrzehnten Berufserfahrung sollte er so etwas schon oft getan haben, doch meist hat er Schröder solcherlei unangenehme Dinge überlassen. Diesmal muss er es selbst übernehmen.

Er liest den Namen auf dem Deckblatt. Das Geburtsdatum. Die Leiche ist weiblich, Körpergröße 1,68 m, Gewicht 53 kg, der Allgemeinzustand körperl. gepflegt. Zorn blättert durch die eng beschriebenen Seiten. Begriffe wie Freilegung des Weichteilgewebes, Besichtigung der inneren Kopfsektion nach bogenförmigem Hautweichteilschnitt und Fixierung des Gesamthirns in toto ziehen vorbei, er liest von subkutanen Unterblutungen, Abriss der Aorta abdominalis und Trümmerbrüchen der unteren Extremitäten.

Zunächst schließt er die Akte, dann die Augen. Weitere Worte flimmern über seine Netzhaut. Multiples Organversagen nach myorenalem Syndrom, ein medizinischer Fachbegriff, mit dem Claudius Zorn ebenso wenig anfangen kann wie mit den anderen, doch der Punkt, unter dem er in einer Tabelle aufgeführt wurde (TODESURSACHE), ist eindeutig genug.

»Tja.« Er bemüht sich um einen geschäftsmäßigen Tonfall. »Wir müssen uns wohl damit abfinden.«

Die Finger der verbliebenen Hand streichen über den grauen Einband. Eine Ecke ist zerknickt, darüber ist ein Fleck zu erkennen. Es sieht aus wie getrockneter Senf.

Wahrscheinlich, schießt es Zorn durch den Kopf, war der Rechtsmediziner im Stress. Er hatte bestimmt keine Zeit, eine Pause zu machen, also hat er seine Bockwurst gegessen, als er die innere Kopfsektion freigelegt hat und …

Als Schröder ein ersticktes Schluchzen ausstößt, fällt Zorns mühsam aufrecht erhaltene Fassade in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Er springt würgend auf und erbricht sich ins Waschbecken.

Du wirst drüber hinwegkommen, sagt Frieda.

Frieda, deren Stimme ausschließlich in seinem Kopf ertönt.

Frieda, die seit siebenundfünfzig Stunden und dreizehn Minuten tot ist.

ERSTE THESE:

Gott ist ein Arschloch.

Eins

Sie hatte die Karten schon vor Monaten bestellt. Es wäre also ausreichend Zeit gewesen, sich etwas einfallen zu lassen, doch Zorn hatte es gar nicht erst probiert. Er war für Frieda ein offenes Buch, es war sinnlos, sie hinters Licht führen zu wollen.

Als es dann so weit war, hatte er wider besseres Wissen trotzdem einen kläglichen Versuch unternommen und etwas von Bauchschmerzen gefaselt, die wohl von einem Döner stammen mussten, den er am Nachmittag mit Edgar gegessen hatte. Ein kurzer Blick hatte ihn umgehend verstummen lassen, und im Foyer des Opernhauses hatte Frieda sich dann zur Einstimmung ein Glas Sekt gegönnt, während Zorn sich anstelle eines Bieres mit einem Glas Kräutertee begnügen musste.

Es gab durchaus Schnittstellen, was ihrer beider Musikgeschmack betraf; sowohl er als auch Frieda liebten David Bowie und Bands wie die Pet Shop Boys oder die Red Hot Chili Peppers. Friedas Spektrum jedoch war deutlich breiter, sie mochte Heavy Metal, Jazz und – Zorns Meinung nach am schlimmsten – Opern. Irgendwann, hatte sie ihn immer wieder getröstet, würde auch er einen Zugang finden, doch auch der Turandot hatte keinerlei Widerhall erzeugt, und als es endlich vorbei war, sprang er noch während des Schlussapplauses auf, um zunächst eine Zigarette zu rauchen und danach pinkeln zu gehen. Nachdem ersteres erledigt war, wurde ihm letzteres verwehrt, da er nach dem Verlassen des Opernhauses keine gültige Eintrittskarte vorzeigen konnte. Das Personal hatte sich durch die Drohungen des Hauptkommissars (ich bringe euch alle hinter Gitter!) nicht einschüchtern lassen – kein Wunder also, dass es nicht sonderlich gut bestellt war um die Laune des Claudius Zorn.

Frieda erging es ähnlich. Schweigend traten sie den Heimweg an, überquerten den Kreisverkehr vor dem Opernplatz und liefen die enge Seitenstraße bergab Richtung Markt. Erst als Zorn den Reißverschluss seiner Jeans öffnete, um sich in einer Baulücke um die mittlerweile äußerst dringende Erledigung seines Geschäfts zu kümmern, ergriff Frieda kurz das Wort.

»Du benimmst dich wie ein Kind«, sagte sie und lief weiter.

»Mir doch egal«, blaffte Zorn und verzog sich hinter ein Gebüsch. Wie beinahe immer war er sich keinerlei Schuld bewusst, schließlich hatte er diese gestelzte Hampelei, dieses manierierte Geschwurbel (Begriffe, die er Frieda gegenüber niemals laut geäußert hätte) klaglos über sich ergehen lassen, sogar ein Jackett hatte er übergestreift. Er lauschte dem Plätschern seines in der nächtlichen Herbstluft dampfenden Urins und nahm sich fest vor, kein Wort der Entschuldigung von sich zu geben. Spätestens am Wochenende würde Frieda sich sowieso wieder versöhnen, dann nämlich stand sein Geburtstag an.

Der Wagen – ein grauer Toyota Corolla, der weiter oben zwischen den Autos der Anwohner am Bordstein parkte – war ihm im Vorbeigehen selbstverständlich nicht aufgefallen.

An das, was danach geschah, konnte er sich später nur noch bruchstückhaft erinnern. Er hatte das Aufheulen des Motors gehört, Reifen quietschten, und als er sich durch das Gebüsch zurück auf den Bordstein zwängte, raste der Toyota so dicht an ihm vorbei, dass ihm der Luftzug das Haar aus dem Gesicht wehte. Frieda stand ein paar Dutzend Meter bergab im Lichtkegel einer Laterne. Sie war auf die Fahrbahn ausgewichen, rechts von ihr versperrte ein Baugerüst den Fußweg, links ein Schuttcontainer. Selbst wenn sie es versucht hätte, gab es keine Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen. Sie stand mitten auf der Straße, die Handtasche schützend vor dem Bauch, während der Toyota direkt auf sie zuraste.

Ein dumpfer Aufprall erklang. Im nächsten Moment hielt Zorn sie in den Armen und schrie immer wieder ihren Namen. Sirenen näherten sich, irgendwann fand er sich im Krankenhaus wieder. Als der Arzt schließlich kam, graute draußen der Morgen, und Claudius Zorn, der mit noch immer offenem Hosenstall vor der Notaufnahme stand, wusste es, bevor der Arzt etwas sagte.

Das Erste, woran Zorn denken musste, waren die letzten Worte, die er mit Frieda gewechselt hatte.

Mir doch egal, hatte er gesagt. Mir doch egal.

Zwei

»Er ist noch immer nicht ansprechbar.« Schröder hatte das Telefonat mit dem Krankenhaus beendet. »Sobald sich sein Zustand ändert, werden wir informiert.«

Er klang müde, die hellen Augen waren trübe und leer.

Zorn schloss den Wasserhahn, warf einen Lappen in den Mülleimer und sank wieder in seinen Stuhl. Das Waschbecken war schnell von seinem Mageninhalt gereinigt gewesen; er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt etwas gegessen hatte.

»Ändert das was?«

Bei dem Fahrer handelte es sich um einen fünfundzwanzigjährigen Medizinstudenten, der unter erheblichem Alkoholeinfluss gestanden hatte.

»Es gibt keine Bremsspuren«, sagte Schröder. »Wie’s aussieht, hat er einfach die Kontrolle verloren und …«

Zorn knirschte so heftig mit den Zähnen, dass es deutlich zu hören war.

»Er ist noch jung«, sagte Schröder leise. »Sein Leben ist zerstört.«

»Aber er lebt noch.« Zorn atmete tief ein, dann wieder aus. Es klang, als würde die Luft aus einem defekten Fahrradschlauch entweichen. »Weißt du, was am schlimmsten ist, Schröder? Dass es so … banal ist.«

Ein Zufall. Eine Verkettung unglücklicher Umstände. Drei, vier Sekunden früher oder später hätte Frieda noch ausweichen können. Wären Zorns schauspielerische Fähigkeiten besser gewesen, hätte ihm Frieda die Bauchschmerzen abgenommen und sie hätten die Wohnung gar nicht erst verlassen. Oder der schreiende Tenor hätte die Magenprobleme bekommen und die Vorstellung wäre ausgefallen. Es gab unzählige weitere Möglichkeiten, angefangen bei einem Tarifstreik der Orchestermusiker (taten die das nicht ständig?) bis zu einem Erdbeben. Selbst einen Weltkrieg hätte Claudius Zorn in Kauf genommen.

»Ich muss zur Kriminaltechnik.« Schröder stemmte sich schwerfällig hoch. »Wir haben noch immer keinen Bericht über den Unfallwagen.«

»Glaubst du, da steht was Besonderes drin?«

»Nein, aber …«

»… wir müssen unsere Arbeit erledigen.«

»Das müssen wir«, nickte Schröder. »Wir werden es hinter uns bringen. So schnell wie möglich, aber ordentlich. Wenn wir sicher sind …«

»… legen wir den Fall zu den Akten.«

Schröder antwortete nicht.

»Und Frieda«, sagte Zorn. »Die legen wir dann auch zu den Akten.«

»Nein«, widersprach Schröder. »Sie … sie war einfach nur zur falschen Zeit am falschen …«

»Sag ich doch, es ist banal.« Zorn stand ebenfalls auf und nahm seine Jacke von der Garderobe. »Wenn du zur KTU gehst, gehe ich so lange eine rauchen. Pass auf, dass du die nicht weckst, die pennen ja meistens um diese Zeit und …« Er brach kopfschüttelnd ab. »Sorry, Schröder, aber mir fallen grad keine dämlichen Sprüche ein«, murmelte er und sah zu den Topfpflanzen auf dem Fensterbrett. »Und als ich dich vorhin mit deinem Hibiskus aufgezogen habe …«

»Begonien«, korrigierte Schröder sanft.

»Das krieg ich eigentlich besser hin. Aber ich schaff’s grad nicht.«

»Das wird schon wieder, Chef.«

Zorn streifte die Lederjacke über, tastete gewohnheitsmäßig nach seinen Zigaretten und verharrte mit gesenktem Kopf. »Diese verfickten Kippen.«

»Dem kann ich voll und ganz zustimmen. Abgesehen von der Wortwahl.«

»Wenn ich zuerst aufs Klo gegangen wäre und danach geraucht hätte, dann … dann hätte ich den ganzen Aufstand nicht gemacht und wir wären früher nach Hause gegangen. Oder ich hätte mich nicht zum Pinkeln ins Gebüsch verzogen und wäre bei ihr gewesen. Dann hätte ich sie vielleicht …«

»Schon gut.«

Als Schröder ihn unbeholfen in die Arme nahm, versteifte sich Zorn instinktiv, ließ es dann aber geschehen. So standen sie eine Weile da. Die Wange des kleinen Mannes ruhte an Zorns Brust, der Kugelbauch presste sich gegen seine Gürtelschnalle.

»Es ist so …« Zorns unrasiertes Kinn rieb über Schröders Glatze. »… ungerecht.«

»Das ist es.« Schröders Stimme drang dumpf zwischen Zorns Jackenaufschlägen hervor. »Geh ruhig nach Hause«, wiederholte er.

»Was soll ich da?«

»Du kannst auch bei mir bleiben.«

»Nee. Ich muss da durch.«

»Wir müssen da durch.«

Sie wiegten einander hin und her.

»Ich tropfe dir die Glatze voll«, schniefte Zorn.

»Und ich deine Jacke.«

»Schröder?«

»Ja?«

»Ohne sie wäre ich vor die Hunde gegangen.«

»Ich weiß.«

Zorn spürte Schröders warmen Atem am Hals. »Wer sorgt jetzt dafür, dass ich … funktioniere?«

»Du musst funktionieren.«

»Weil ich Bulle bin?«

»Nein. Für Edgar.«

»Aber Edgar klopft mir nicht auf die Finger. Ich hab ja sowieso kaum noch welche, ich … Scheiße, ich kriege ja nicht mal mehr ein dämliches Wortspiel zustande. Wer zieht mir den Hintern stramm, wenn ich mal wieder Mist baue?«

Schröder machte sich los und sah zu Zorn auf. Das volle Gesicht war von Tränen verschmiert, ein Jackenknopf hatte einen Abdruck auf der rechten Wange hinterlassen.

»Das ist ein Problem«, nickte er. »Aber ich bin ja auch noch da.«

Drei

»Die sagten, du wärst ansprechbar.«

Zorn stieß die Tür mit der Hacke hinter sich zu und betrat das Krankenzimmer. Als der Anruf kam, war Schröder wieder im Präsidium unterwegs gewesen, also war er in den Volvo gestiegen und allein hergefahren.

»Na?« Er ging zum Kopfende des Bettes und wedelte mit seinem Dienstausweis vor dem Gesichtsfeld der schmalen Gestalt. »Alles fit im Schritt?«

Die Augen des blassen Mannes blieben starr zur Decke gerichtet. Er trug einen Kopfverband, der linke Arm war eingegipst und ruhte angewinkelt auf dem weißen Laken über seinem Bauch. Die Finger waren von Schürfwunden übersät, unter dem rechten Auge prangte ein Bluterguss. Die winzigen Schnittwunden auf der linken Wange begannen bereits zu verheilen.

Sein Name war Tarek Macha. Er sah jung aus, zu jung. Zart, verletzlich, fast noch ein Kind. Geradezu unschuldig. Ein Gedanke, der Zorns Wut weiter anstachelte.

»Tut’s weh?« Zorn betrachtete den Infusionstropf neben dem Bett und den durchsichtigen Schlauch, der unter dem Laken verschwand. »Nee, oder? Viel scheinst du ja nicht abgekriegt zu haben. Außerdem kümmert man sich um dich.« Er deutete zur Tür, hinter der ein Zivilbeamter im Flur auf einer Bank vor sich hindöste. »Du hast sogar ’nen Babysitter.«

Keine erkennbare Reaktion.

»Dein Auto kannst du allerdings abschreiben. Totalschaden. Schade, technisch war die Karre völlig in Ordnung. Der TÜV ist übrigens vor zwei Wochen abgelaufen.« Zorn schnalzte vorwurfsvoll mit der Zunge. »Aber darum musst du dich ja jetzt nicht mehr kümmern.«

Schweigen.

»Ich hab auch schon besoffen hinterm Steuer gesessen«, fuhr Zorn scheinbar gelassen fort. »Aber ich hab nie jemanden über den Haufen gefahren.«

Ein kurzes Blinzeln.

»Ach, das weißt du noch gar nicht? Dann hat dir auch niemand gesagt, dass dieser jemand … tot ist?«

Tarek Macha presste die rissigen Lippen zusammen und starrte aus dunklen, fast schwarzen Augen unter dichten Brauen unverwandt nach oben. Seine Gesichtszüge waren weich, beinahe feminin. Als er schluckte, bewegte sich der Kehlkopf unter der gespannten, unrasierten Haut wie eine Stahlkugel.

War es wirklich so, wie Schröder gesagt hatte? War das Leben dieses Jungen tatsächlich zerstört? Mit einem guten Anwalt würde er womöglich mit einer Bewährungsstrafe davonkommen. Er hatte sein Leben noch vor sich. Im Gegensatz zu Frieda. Die war ebenfalls jung gewesen. Jetzt war sie tot.

Zorn stützte die Hände auf den Oberschenkeln ab und beugte sich über den jungen Mann. Dieser wandte den Kopf ab. Zorns Nähe, sein Schweißgeruch und der saure, mit kaltem Zigarettendunst gemischte Atem waren ihm sichtlich unangenehm.

»Warum hast du nicht gebremst?«, fragte Zorn.

Auch jetzt keine Antwort.

Es war vielleicht besser so. Zorn war am Ende seiner Kräfte und kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Hätte der Junge sich gerechtfertigt oder angefangen, weinend ein paar Entschuldigungen zu stammeln, wäre Zorn ihm wohl an die Gurgel gegangen.

Er richtete sich auf und verließ grußlos das Zimmer. Der Zivilbeamte saß noch immer auf seinem Platz und las mit übergeschlagenen Beinen in der neuesten Ausgabe des Spiegel. Als Zorn erschienen war, hatte er seine Lektüre nur kurz unterbrochen, um sich den Dienstausweis zeigen zu lassen; ein dünner, unscheinbarer Mann in gebügelten Hosen und Trenchcoat, der braune Hut neben ihm auf der Bank machte das Klischee perfekt. Ein paar Meter weiter saßen zwei weitere, deutlich jüngere und moderner gekleidete Männer, die offensichtlich das Nebenzimmer überwachten. Eine Frage tauchte in Zorns Hinterkopf auf, doch bevor er sie stellen konnte, sprach ihn jemand an.

»Hat er etwas gesagt?«

Er schätzte die Frau auf Mitte vierzig. Sie war schlank, trug Jeans und einen Anorak mit fellbesetzter Kapuze. Das blond gefärbte Haar war im Nacken zu einem kurzen Zopf gebunden, über ihrer Schulter baumelte eine graue Umhängetasche. Der Zivilbeamte sah kurz auf, nickte ihr zu und blätterte seine Zeitschrift um. Sie war wohl nicht zum ersten Mal hier.

»Ich bin seine Mutter«, erklärte sie, nachdem sie Zorns fragenden Blick richtig gedeutet hatte. »Ich bringe ihm etwas zum Lesen.«

»Da wird er sich bestimmt freuen.«

»Tarek ist ein guter Junge«, sagte die blonde Frau.

Zorns Hand lag noch immer auf der Klinke. Er bemerkte, dass er ihr den Weg versperrte, trat beiseite und machte Platz. Sie bedankte sich mit einem Nicken.

»Sagen Sie das Ihren Kollegen. Sie sind doch bei der Polizei?«

Darüber musste Zorn einen Moment nachdenken.

»Ich bin der, dessen Leben er auf dem Gewissen hat«, erwiderte er.

Und ging.

Vier

»Ich schaff das nicht.« Zorn warf seine Lederjacke in Richtung Garderobe und verfehlte den Haken. »Ich schaff’s einfach nicht.« Während er zum Schreibtisch schlich, hängte Schröder die Jacke auf. »Ich war kurz davor, dem das Kissen aufs Gesicht zu drücken. Und als seine Mutter meinte, er wäre ein … guter Junge, da …«

»Ich fahre nachher hin. Mit mir wird er bestimmt reden.«

»Klar.« Zorn lachte freudlos auf. »Mit wem sonst?«

Schröder deutete auf das Porzellankännchen neben seiner Tastatur. »Möchtest du auch einen Tee?«

»Eher schneid ich mir die Kehle durch, bevor ich diese fermentierte Jauche …« Zorn verstummte erschöpft. »Nee, Schröder. Danke.«

»Schon gut.«

»Es ist so … unfair. Der Kerl kommt mit ein paar Kratzern davon, und …«

»Das ist ein wenig übertrieben.«

»Der saß in ’nem Auto, Schröder. Und der Airbag hat ihn geschützt. Was wiegt so ’ne Kiste? Anderthalb Tonnen? Zwei? Frieda hat dreiundfünfzig Kilo gewogen. Das weiß ich so genau, weil wir letzte Woche beim Italiener am Markt waren. Sie war schon immer ’n Fliegengewicht, trotzdem hat sie genau drauf geachtet und nur ’nen Salat gegessen, weil sie angeblich zweihundert Gramm drüber war. Ich hab ihr gesagt, dass sie spinnt, aber …«, Zorn holte tief Luft, »du kennst sie ja. Sie hat’s eisern durchgezogen und dieses dämliche Grünzeug bestellt.«

Schröder nippte an seinem Tee. »Die KTU hat mir die Sachen mitgegeben.«

»Welche Sachen?« Zorn bemerkte den Pappkarton neben dem Papierkorb. »Du meinst … ihre Sachen?«

»Ja.« Schröder trank einen weiteren Schluck. Die Tasse zitterte ein wenig in seinen Händen. »Ich dachte, du …«

»Nein. Ja. Später.«

Ein energisches Klopfen, die Tür wurde aufgerissen. Ein gedrungener Mann mit roter Strickmütze und passendem Schal erschien, stellte sich als Lars Patzlaff vor und wedelte mit einem Presseausweis.

»Ich bin von der …«

»Wir wissen, von welcher Zeitung Sie sind«, unterbrach Schröder.

BELIEBTE STAATSANWÄLTIN MITTEN AUS DEM LEBEN GERISSEN! hatte das letzte verbliebene örtliche Boulevardblatt in fetten Lettern getitelt. Frieda war oft in der Öffentlichkeit aufgetreten und ständig fotografiert worden, für den Artikel hatte man sich für ein Foto entschieden, das bei einem Festakt zur Amtseinführung des neuen Generalstaatsanwaltes aufgenommen worden war und Frieda lachend mit einem Sektglas zeigte, in hochhackigen Pumps und dem schwarzen Kleid, in dem sie ein paar Monate später sterben sollte. In dem Artikel war von Deutschlands attraktivster Verbrechensbekämpferin die Rede gewesen und einer beruflichen Laufbahn, die zweifellos bis in die höchsten Ämter des deutschen Justizwesens geführt hätte. Die Fotografen waren erst eingetroffen, als der Rettungsdienst schon vor Ort war, aber es gab eine lange Fotostrecke mit Bildern des Unfallwagens, selbst die Sichtschutzwände waren abgelichtet worden (hier endet eine große Karriere), unter einem Archivbild des städtischen Krankenhauses war vom verzweifelten Kampf um ihr junges Leben die Rede gewesen.

»Wie wir hörten, haben Sie mit dem Täter gesprochen«, sagte Patzlaff ein wenig außer Atem, die feisten Wangen waren gerötet.

»Und von wem«, lächelte Schröder, »hörten Sie das?«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich muss meine …«

»Natürlich, Sie müssen Ihre Quellen schützen.«

Zorn saß bleich in seinem Stuhl und folgte wortlos dem Geschehen, während Schröder höflich auf eine Pressemitteilung verwies, die seines Wissens bereits in Arbeit sei.

»Der Täter hat also einen Migrationshintergrund?«, fragte Patzlaff.

Über den Unfallfahrer war nichts veröffentlicht worden. Schröder hob die Brauen, während sich der Reporter erneut auf den Schutz seiner Quellen berief.

»Es handelt sich um einen Studenten«, sagte Schröder. »Er wurde in Deutschland geboren, ist hier aufgewachsen und nach unserer Kenntnis hervorragend integriert.«

»Ein guter Junge«, presste Zorn tonlos hervor.

»Sie haben mit ihm gesprochen.« Patzlaff wandte sich an Zorn. »Was genau hat er …«

»Seid ihr mir gefolgt?« Zorn zog die Stirn in Falten.

»Dazu kann ich Ihnen leider keine Auskunft …«

»Sag mal«, Zorn sah Schröder über den Schreibtisch an, »wer hat den überhaupt reingelassen?«

»Ich habe einen gültigen Presseausweis«, gab der Reporter pikiert zurück. »Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Information.«

Das, versicherte Schröder, sei unbestritten.

»Oberstaatsanwältin Borck hat sich bestimmt viele Feinde gemacht.« Patzlaff ordnete den Schal über dem Wildledermantel. »Könnte es nicht sein, dass es sich um einen Racheakt handelt?«

Zorn und Schröder wechselten einen Blick. Natürlich hatten sie diese Möglichkeit sofort in Betracht gezogen. Schröder hatte alle verfügbaren Kräfte mobilisiert und Tarek Macha genau überprüfen lassen. Sonderschichten waren eingelegt worden, doch nach knapp drei Tagen gab es keine Ergebnisse – keine Vorstrafen, nicht einmal einen unbezahlten Strafzettel. Tarek Macha studierte im sechsten Semester Medizin, er lebte in einer kleinen Dachwohnung in der Innenstadt, einer typischen Studentenbude, karg, aber pragmatisch eingerichtet, und bei der Durchsuchung hatten sich keine Auffälligkeiten ergeben. Sein Name tauchte in keinem der Fälle auf, die Frieda früher bearbeitet hatte.

»Unsere Ermittlungen laufen auf Hochtouren«, sagte Schröder. »Für morgen ist eine weitere Pressekonferenz angesetzt. Falls Sie dann noch Fragen haben, können Sie gern mit der Pressestelle einen Termin vereinbaren.«

»Das habe ich mehrfach versucht.« Patzlaff wandte sich wieder an Zorn. »Aber Sie waren nicht zu erreichen. Weder hier noch in Ihrer Wohnung.«

»Ihr wart bei mir zu Hause?«

»Selbstverständlich.« Patzlaff schien den Sinn dieser Frage nicht zu verstehen. »Sie haben mit Frau Borck zusammengelebt. Es ist meine Aufgabe, die Hinterbliebenen zu befragen, über ihre Gefühle zu sprechen, ihre …«

»Meine Gefühle?«

»Es kann durchaus erleichternd sein, über einen solch schweren Verlust …«

»Steck das Ding wieder ein!«

Patzlaff hatte den Mantel aufgeknöpft und ein Diktiergerät hervorgeholt.

»Wie Sie meinen.« Er gehorchte und trat näher. Eine beißende Wolke schweren Rasierwassers wehte Zorn entgegen. »Wie geht’s eigentlich Ihrem Sohn?«

»Meinem … was?«

»Wie man hört, hatte er ja ein sehr enges Verhältnis zu …«

»Raus hier.« Plötzlich klang Zorn ruhig, doch die Sehnen am Hals spannten sich wie Stricke unter der Haut. »Du solltest dich jetzt wirklich verpissen.«

Patzlaff hob beschwichtigend die Hände und legte eine Visitenkarte auf den Schreibtisch. »Sie können mich jederzeit anrufen. Ich bin …«

»Kommen Sie«, unterbrach Schröder sanft, hakte Patzlaff unter und führte ihn zur Tür. »Ich bringe Sie zum Fahrstuhl.«

Zwei Minuten später saß er wieder am Schreibtisch.

»Er wird dich in Ruhe lassen, Chef.«

»Was hast du ihm gesagt?«

»Dass er deine Privatsphäre achten soll.« Schröder leerte seine Tasse. »Weil du ihm sonst sämtliche Knochen brichst.«

»Das soll ihm Angst machen?« Zorn hob hilflos die Arme. »Ich kann mich kaum auf den Beinen halten.«

»Das war nicht alles, was ich gesagt habe.«

»Ich höre?«

»Wenn du’s nicht tust, breche ich ihm die Knochen.«

Die Dämmerung hatte eingesetzt. Schröder schaltete das Licht ein und nahm seine abgewetzte Aktentasche, um ins Krankenhaus zu fahren. Als er nach der Türklinke griff, fiel Zorn die Frage ein, die ihm bereits vor drei Stunden durch den Kopf gegangen war.

»Warum lässt du ihn eigentlich bewachen?«

»Wie meinst du das?«

Zorn berichtete von dem Zivilbeamten. »Wie’s aussieht, wird das Nebenzimmer auch überwacht.«

»Bist du sicher?«

»Ich musste meinen Dienstausweis vorzeigen. Meine Fahrkarte wollte er jedenfalls nicht kontrollieren.«

»Komisch.« Schröder runzelte die Stirn. »Ich habe nichts dergleichen angeordnet.«

Fünf

Ich will nicht.

Zorn hatte die Tastatur seines Rechners beiseitegeschoben und saß vor dem Karton, den er auf den Schreibtisch gestellt hatte. Draußen war es dunkel geworden, die Neonröhren tauchten das Büro in grelles, steriles Licht.

Er klappte den Deckel ein Stück an, sah den Messingverschluss ihrer Handtasche und schloss den Karton wieder. Stand auf, ging um den Schreibtisch, nahm Schröders Porzellankanne und die Tasse und spülte beides im Waschbecken aus. Trocknete das Geschirr sorgfältig ab und stellte es in den Wandschrank. Verharrte einen Moment unschlüssig auf der Stelle.

Ich will das nicht sehen.

Als er wieder zum Schreibtisch ging, klingelte sein Handy. Malina, Edgars Mutter, rief an.

»Ich wollte nur sagen, dass wir an dich denken.«

»Das weiß ich, Malina.«

»Wenn du irgendwas brauchst, sind wir da.«

»Danke.«

»Edgar will dich sprechen.«

Zorn tröstete seinen weinenden Sohn, so gut er konnte. »Wir sehen uns morgen«, sagte er zum Abschied. »Und vergiss mein Geschenk nicht. Ich will ein großes. Nee, ein riesengroßes.«

Nachdem er aufgelegt hatte, begann er, das Büro aufzuräumen. Er wischte Staub in den Regalen, auf Schreibtisch und Fensterbrett. Er goss Schröders Pflanzen, trug den Papierkorb zum Fahrstuhl, leerte ihn in den Container vor dem Präsidium und rauchte auf der Bank unter der alten Kastanie eine Zigarette. Als er sich wieder in seinen knarrenden Stuhl setzte, waren seine Haare vom Regen durchweicht.

Ich will nicht.

Du musst, Claudius.

Der Karton war in akribischer Ordnung gepackt, wahrscheinlich von Schröder. Abgesehen von einem abgerissenen Henkel erschien die Handtasche unversehrt, Blutspuren waren nicht zu entdecken. Schröder hatte das Leder sorgfältig gereinigt und sogar die Messingverschlüsse poliert.

Schröder, der nun für Zorn sorgen musste. Der ihm den Hintern stramm ziehen würde, wenn er nicht funktionierte. Eine Drohung, die durchaus ernst zu nehmen war. Das galt auch für Patzlaff, den schmierigen Journalisten. Es war davon auszugehen, dass Schröder seine Warnung mit einem höflichen Lächeln ausgesprochen hatte, doch wenn Patzlaff sich nicht daran hielt, würde ihm Schröder wohl nicht alle, aber zumindest einige wichtige Knochen brechen.

In Friedas Handtasche hatte immer ein ziemliches Chaos geherrscht. Nun war sie leer, der Inhalt lag einzeln in durchsichtige Plastiktütchen verpackt im Karton. Zorn verteilte eine angebrochene Packung Tempotaschentücher, ihren Lippenstift, ein paar Münzen, den silbernen Kugelschreiber und ihr Schlüsselbund auf dem Schreibtisch. Es folgte ein größeres Tütchen mit ihrem Personalausweis, der Fahrerlaubnis, dem Dienstausweis und ihren Kreditkarten, dann ein drittes mit Quittungen und Kassenbelegen, die Frieda aus unerfindlichen Gründen immer wochenlang aufgehoben und irgendwann weggeworfen hatte. Der letzte Beleg war vor vier Tagen datiert und stammte von der Buchhandlung am Markt. Zorn stieß ein bitteres Lachen aus. Das Buch – Unsterblich sind nur die anderen – lag noch aufgeschlagen auf ihrem Nachttisch. Sie hatte es kaum bis zur Hälfte gelesen.

Vielen Dank für Ihren Einkauf, stand auf dem Beleg.

»Nichts zu danken«, murmelte er.

Auch ihr Schmuck war einzeln verpackt. Die Korallenohrringe. Ihre Ringe. Die silberne Halskette mit dem kleinen Saphir, für die sie sich erst nach langem Überlegen entschieden hatte. Zorn hatte ihr mit dem Verschluss helfen müssen. Danach hatte sie ihm einen Kuss gegeben und vorgeschlagen, er solle dem Anlass entsprechend einen Schlips tragen.

Nur über meine Leiche, hatte Claudius Zorn erwidert.

Er griff wieder in den Karton und holte die Eintrittskarte der Oper heraus.

Hätte ich meine behalten, dann hätten sie mich wieder reingelassen und es wäre anders gekommen. Du wärst garantiert noch sauer, aber du wärst bei mir.

Das bin ich doch, mein Schatz.

Aber nur in meinem Kopf.

Der Karton war nun leer.

Ich werde immer da sein, Claudius. Immer.

Sechs

»Wiederholen Sie das bitte«, verlangte Schröder.

»Ich sagte, dass Sie nicht mit Tarek Macha sprechen können.« Der hochgewachsene Mann, der Schröder auf dem langen Krankenhausflur entgegengekommen war und sich als Polizeioberrat Gursky vom Bundeskriminalamt ausgewiesen hatte, hob bedauernd die Hände. »Es tut mir leid, Herr Hauptkommissar.«

»Würden Sie mir das erklären?«

»Das ist momentan nicht einfach.«

Gursky hatte die Sechzig bereits überschritten, doch sein Gang war elastisch, die Haltung gerade. Sein Anzug stammte definitiv nicht von der Stange, der schwarze Rollkragenpullover war aus Kaschmir oder ähnlich edlem Material.

»Versuchen Sie’s trotzdem«, erwiderte Schröder und nahm den Fahrradhelm in die andere Hand. Kleine Tropfen glitzerten auf der grauen Nylonjacke, die Oberschenkel seiner Cordhose waren dunkel vom Nieselregen. Das alte Moped stand bis zum Frühjahr eingemottet in dem Schuppen, neben dem er das Brennholz gestapelt hatte, doch bis dahin würde er nur bei strengem Frost auf sein geliebtes Rennrad verzichten.

»Wir sollten unsere Zeit nicht mit albernem Kompetenzgerangel verschwenden.« Gursky sah aus grauen, wachen Augen hinter den Gläsern einer randlosen Brille auf Schröder hinab. »Sie wissen so gut wie ich, dass …«

»Das BKA hat also den Fall übernommen. Darf man fragen, seit wann?«

»Sie kennen die Vorschriften, Herr Hauptkommissar. Ich bin nicht befugt, Informationen …«

»Sie haben Tarek Macha überwacht?«

»So ist es.«

Schröder wies auf die leeren Bänke vor den Zimmertüren. »Jetzt nicht mehr?«

»Nein.«

»Warum?«

Polizeioberrat Gursky antwortete nicht. Das kurze, zu einem eisgrauen Igelschnitt frisierte Haar glänzte im Schein der Neonröhren, die in einer scheinbar endlosen Doppelreihe über ihren Köpfen hingen.

»Ich bin hier, um eine Befragung vorzunehmen.« Schröders Stimme bekam einen metallischen Unterton. »Tarek Macha hat den Tod einer langjährigen …«, er schluckte kurz, »Kollegin zu verantworten und ich habe keinesfalls die Absicht …«

»Auch ich kannte Oberstaatsanwältin Borck«, gab Gursky in weichem Bariton zurück. »Ich kann Ihnen nur mein tiefstes Mitgefühl …«

»Sie sprachen von Zeitverschwendung.« Eine Ader pochte an Schröders Schläfe. »Also sparen Sie uns die Floskeln, Herr Polizeioberrat.«

Ein Pfleger schob einen verchromten Rollwagen mit Bettwäsche vorbei. Schröder grüßte freundlich, machte Platz und wandte sich wieder an Gursky. »Wann gedachten Sie eigentlich, uns zu informieren?«

Das, gab Gursky zu, hätte längst geschehen sollen, und entschuldigte die Verzögerung mit den hinlänglich bekannten bürokratischen Dienstwegen. »Ich kann Ihren Unmut verstehen. Niemand stellt Ihre Kompetenz in Frage. Glauben Sie mir, ich wäre der Letzte, der das tun würde. Mein Sohn hat vor vier Jahren seinen Abschluss an der Polizeischule gemacht. Er schwärmt noch heute von Ihren Vorlesungen.«

Polizeioberrat Gursky war nicht der Mann, der anderen Komplimente machte, es war ihm ernst. Schröder interessierte es allerdings nicht im Geringsten.

»Wir werden dieses Gespräch in Ruhe fortsetzen«, versprach Gursky.

»Mit Sicherheit.« Schröder lockerte den Riemen seiner Aktentasche über der Windjacke. »Aber vorher rede ich mit Tarek Macha.«

Hinter der Tür zum Krankenzimmer war ein Poltern zu hören, als würde ein Schrank verschoben. Gedämpfte Stimmen erklangen, danach ein Schluchzen.

»Und zwar sofort.« Schröder langte nach der Klinke.

»Ich sagte Ihnen, dass dies nicht möglich ist.«

»Hat sich sein Zustand verschlechtert?«

»Darüber kann ich keine Auskunft geben.«

»Dürfen Sie nicht oder wollen Sie nicht?«

»Weder noch. Sie gestatten?«

Gursky bat Schröder, beiseitezutreten und öffnete die Tür. Vier Männer in Zivilkleidung drängten sich in dem engen Zimmer. Einer stand am Fenster, offensichtlich damit beschäftigt, Spuren zu sichern. Ein weiterer kniete vor einem geöffneten Schrank, ein dritter machte Fotos, während der vierte mit einer Krankenschwester sprach, die weinend auf einem Stuhl neben dem Krankenbett saß.

»Was seinen Zustand betrifft«, sagte Polizeioberrat Gursky, »würde ich Ihnen gern Auskunft geben. Aber Sie sehen ja selbst, dass es unmöglich ist.«

Die Krankenschwester brach in Tränen aus.

Das Bett war leer.

Sieben

»Ich kapier’s nicht«, hakte Zorn nach. »Was hat er sich?«

»Absentiert!« Diesmal war es Schröder, der die Garderobe verfehlte und nicht darauf achtete, dass seine Jacke zu Boden fiel.

»Scomparso.« Er watschelte zu seinem Platz. »Senza lasciare traccia.«

»Wie bitte?« Zorn hängte die tropfende Windjacke auf.

»Perdu.«

Schröders ausgeprägtes Faible für Fremdsprachen kam meist zum Vorschein, wenn er besonders ausgelassener Stimmung war. Davon konnte im Moment keine Rede sein. Das Gegenteil war der Fall.

»Gone.«

Die Aktentasche landete mit einem dumpfen Knall auf dem Boden.

»Lost in space.«

Der Stuhl ächzte unter Schröders Gewicht.

»Er ist verschwunden?«, fragte Zorn. »Trotz BKA-Aufgebot?«

»Si, señor.«

»Einfach so?«

»Mir nichts, dir nichts.« Die kurzen Finger schnipsten in der Luft. »Verduftet.«

»Keine Spuren?«

»Niente«, knurrte Schröder. »Nada. Nothing.«

»Und was«, fragte Zorn, »hat das zu bedeuten?«

»Nichts.«

»Aber …«

Schröder öffnete eine Schublade.

»Nothing ist Englisch und bedeutet …«

Schloss sie geräuschvoll.

»… nichts.«

»Das weiß ich, Schröder.«

»Warum fragst du dann?«

»Ich meinte, was wir daraus schließen.«

»Ganz einfach.« Schröder lehnte sich zurück. Erneut reagierte sein Stuhl mit einem gequälten Ächzen. »Wir werden verarscht.«

»Oha«, sagte Zorn.

Der Karton stand wieder in der Ecke neben dem Papierkorb. Schröders fahles Gesicht war gerötet, die müden Augen blitzten. Vor Wut zwar, doch er wirkte zum ersten Mal seit Tagen wieder lebendig.

»Das BKA hat Tarek Macha seit seiner Einlieferung überwacht«, sagte er. »Es muss einen Grund dafür geben. Ebenso für sein Verschwinden.«

»Weißt du, was ich mich frage?«, überlegte Zorn.

»Sag’s mir, Chef.«

»Nicht nur, warum er verschwunden ist, sondern wie. Ich meine, das sind doch angeblich Profis, Schröder. Die tauchen da auf mit dem ganz großen Besteck, überwachen den rund um die Uhr, und der spaziert einfach davon? Wie kann das sein?«

»Gute Frage.«

»Gracias.«

»Hast du eine Antwort?«

»Sogar zwei. Das Zimmer liegt im Erdgeschoss. Tarek Macha hat einiges abgekriegt, aber besonders schwer verletzt ist er nicht. Er ist einfach …« Zorn deutete mit der verbliebenen Hand ein startendes Flugzeug an. »Was beweisen würde, dass wir es nicht mit Profis, sondern mit Dilettanten zu tun haben.«

»Die zweite Antwort?«

»Tarek Macha ist nicht freiwillig abgehauen.«

»Er wurde entführt?«

»Yes«, nickte Zorn. »In diesem Fall hätte er Widerstand geleistet, und unsere … Profis vom BKA wären nicht nur Dilettanten, sondern absolute Vollhonks.«

»Es gibt noch eine dritte Möglichkeit.«

»Stimmt. Dass das BKA ihn verlegt hat, um zu verhindern, dass wir ihn weiter befragen. Aber diese Möglichkeit gefällt mir nicht, Schröder.«

»Warum?«

»Weil wir dann die Vollhonks wären.«

Schröder berichtete von der schluchzenden Krankenschwester und den Zivilfahndern, die im Krankenzimmer nach Spuren gesucht hatten. »Das kann natürlich inszeniert gewesen sein«, überlegte er laut.

»Wie du gesagt hast: Wir werden verarscht.«

»Das gehört zu ihrem Job, Chef.«

Zorn verdrehte die Augen. »Aber müssen wir uns das gefallen lassen?«

»Ich denke nicht«, erwiderte Schröder. »Und ich will wissen, was da los ist.«

»Vom BKA werden wir’s jedenfalls nicht erfahren.«

»Natürlich nicht, wir sind ja auch nicht mehr zuständig.«

Zorn zuckte die Achseln. »Dann kriegen wir’s eben alleine raus.«

»Wir werden alles noch einmal durchgehen«, beschloss Schröder. »Angefangen bei Tarek Macha bis zur Rekonstruktion des Unfallhergangs.«

»Dann gehen wir weiter von einem Unfall aus?«

Schröder schwieg einen Moment.

»Es ist besser für uns«, sagte er. »Weil wir dann vielleicht irgendwann damit abschließen können. Aber erst, wenn jeder Zweifel beseitigt ist.«

»Dann hast du Zweifel?«, fragte Zorn.

Schröder sah ihn an.

»Du etwa nicht?«

Zorn kratzte sich am Kinn. »Schwere Frage. Ich weiß nicht, was ich …«

»Dann stelle ich dir eine leichtere, Chef.«

»Das wäre nett, Schröder.«

»Pizza? Oder lieber Gulasch?«

Zorn neigte den Kopf. »Wie bitte?«

»Edgar mag beides«, sagte Schröder. »Malina und Rufus ebenfalls. Du isst lieber Gulasch. Mir ist es egal. Es ist dein Tag, du entscheidest.«

Zorn, unvermittelt zurück in der Realität, sank seufzend in die Lehne.

»Ich hab absolut keinen Bock auf ’ne Feier, Schröder.«

»Ich auch nicht, Chef. Aber du musst …«

»… funktionieren, jaja.«

»Für Edgar.«

»Wir machen Gulasch«, seufzte Zorn. »Für Edgar mit Nudeln, für die anderen Klöße.«

»Und Rotkraut?«

»Edgar hasst Rotkraut«, gab Zorn zu bedenken.

»Grüne Bohnen?«

»Beides.«

»Die Läden machen bald zu.« Schröder sah auf die Uhr. »Abmarsch, Chef. Ich koche, du zahlst.«

Acht

Sie erreichten Heinlein’s Delicatessen- und Spirituosengeschäft kurz vor Ladenschluss, wo Schröder die Zutaten für den Nachtisch erstand. Alles Weitere besorgten sie in dem großen Supermarkt an der alten Papierfabrik, und als sie die Einkäufe aus dem vollgepackten Volvo hoch in die Wohnung schleppten, waren zwei Stunden vergangen.

Zwei weitere verbrachten sie in der Küche. Zorn fügte sich klaglos in seine Rolle als Assistenzkoch, schnitt Paprika, zerkleinerte Zwiebeln, Möhren und Knoblauch und beschwerte sich auch nicht, als Schröder ihn in den Spätverkauf am Markt schickte, weil das Olivenöl alle war. Als er zurückkam, blubberte das Gulasch im Topf und Schröder schob einen Zupfkuchen in den Backofen.

»Den Rest machen wir morgen.« Er trocknete die Hände an einem Stück Küchenrolle. »Das Rotkraut ist vorbereitet, alles andere geht schnell.«

»Ich könnte ein paar Girlanden aufhängen«, schlug Zorn vor.

»Sind denn welche da?«

»In der Schublade unter dem Fernseher. Die stammen noch von Friedas … du weißt schon, ihrem Geburtstag …«

»Ich denke, auf Girlanden können wir verzichten«, entschied Schröder. »Auf Luftballons ebenfalls.«

»Das finde ich auch.« Zorn unterdrückte ein Gähnen.

»Der Kuchen muss in einer halben Stunde aus dem Ofen.«

»Willst du vielleicht hier …«

»Gern, Chef. Das Sofa reicht mir aus.«

Zorn sah verstohlen auf die Wanduhr neben der Dunstabzugshaube. Es war zwanzig Minuten vor Mitternacht.

»Leg dich ruhig schon hin«, sagte Schröder, der seinem Blick gefolgt war. »Keine Angst, ich werde dir kein Ständchen singen.«

Das tat er auch am nächsten Morgen nicht. Er nahm Zorn nur einen Moment stumm in den Arm, auch ihren Kaffee tranken sie schweigend. Danach fuhren sie ins Präsidium, um den Vormittag im Büro zu verbringen. Zorn studierte ein paar Akten mit Zeugenaussagen, während Schröder mit Polizeioberrat Gursky telefonierte.

»Angeblich keine Neuigkeiten«, teilte er Zorn danach mit.

»Hast du was anderes erwartet?«

»Gursky ist ein fähiger Mann. Die Situation ist ihm unangenehm, aber er muss sich an die Vorschriften halten. Man hat ihn angewiesen, ausschließlich und direkt an …«, Schröder deutete mit den Fingern ein paar Anführungszeichen an, »höchste Stelle zu berichten. Immerhin hat er versichert, dass Friedas Tod nicht mit einem ihrer früheren Fälle zusammenhängt.«

Zorn sah von seiner Akte auf. »Glaubst du ihm?«

»Zumindest in diesem Punkt. Gursky verschweigt eine Menge, aber er behandelt mich auf Augenhöhe.«

»Früher«, sagte Zorn und blinzelte kurzsichtig durch seine Lesebrille, »hätte ich jetzt einen schlechten Witz über deine Körpergröße gemacht.«

»Dazu wirst du bestimmt noch oft genug Gelegenheit haben«, tröstete Schröder.

Es war ein Samstag. Nachdem das Bundeskriminalamt die Zuständigkeit übernommen hatte, war das hektische Treiben im Präsidium deutlich abgeflaut. Es gab also kaum jemanden, der Zorn gratulieren konnte, was zu dessen Erleichterung auch nicht geschah – abgesehen von Kollegin Bratke, die seit Jahren ihren Dienst an der Pforte versah und ihm beim Verlassen des Präsidiums etwas verlegen einen Blumenstrauß und eine Blechdose mit selbstgebackenen Keksen überreichte. Zorn bedankte sich ungewohnt herzlich, sein Lächeln war ehrlich gemeint.

»Danke«, sagte er dann auch zu Schröder, als sie im Volvo zurück in die Wohnung fuhren.

»Wofür?«

»Für alles.«

Sie trafen die letzten Vorbereitungen. Als die Gäste kamen, tat Claudius Zorn das, was er tun musste. Er funktionierte.

Neun

»Schön, dass ihr da seid.«

Sie hatten sich im Wohnzimmer um den großen Esstisch versammelt – Zorn selbst, Schröder, Edgar und Rufus, den Malina im Rollstuhl an die Stirnseite geschoben hatte.

»Tja, dann …«

Zorn langte nach der Porzellankanne, um Kaffee auszuschenken.

»Erst die Geschenke«, verlangte Schröder.

Zorn betrachtete die Pakete auf der weißen Tischdecke, griff nach einer Papierrolle und löste die rosafarbene Schleife.

»Du wolltest eigentlich was Großes«, entschuldigte sich Edgar. »Aber als wir dich gestern angerufen haben, war ich schon fertig. Du hättest mir früher …«

»Es ist wunderschön.«

Edgar hatte einen großen Regenbogen gemalt. Darunter sich selbst, umgeben von allen, die ihm wichtig waren.

»Ist das ein Düsenantrieb?«, fragte Zorn und deutete auf Rufus’ Rollstuhl, den Edgar mit goldenen Speichen versehen hatte. Daneben hatte er Malina mit einem Blumenstrauß in der Hand gemalt.

»Raketen«, sagte Edgar. »Rufus wollte es so.«

Ein zustimmendes Glucksen drang aus Rufus’ magerer Brust.

Zorns Blick wanderte über das Bild: Schröder auf seinem Rennrad, Zorn selbst mit Hakenhand und Zigarette im Mundwinkel. Edgar hatte auf jedes Detail geachtet, jedes Karo auf Schröders Hemd war abgebildet. Selbst das Klettband um seine Wade, mit dem er die Cordhose vor der Kette schützte, hatte Edgar nicht vergessen, auch nicht die Narben auf der Wange seines Vaters, die er mit einem spitzen Bleistift gezeichnet hatte.

»Ich hab’s letzte Woche gemalt.« Edgar begann zu weinen. »Da war sie noch …«

Sich selbst hatte er in einem Black Panther-Kapuzenshirt gemalt, das er auch jetzt anhatte. Seine linke Hand umfasste die seiner Mutter, seine andere Friedas, die ein hellblaues Kleid mit silbernen Sternen trug.

»Danke.« Zorn nahm seinen Sohn in die Arme. »Ich wusste gar nicht, dass du so gut malen kannst. Viel besser als ich.«

»Jeder malt besser als du«, schluchzte Edgar.

»Stimmt«, nickte Rufus.

»Und was ist das?« Zorn blinzelte, um wieder halbwegs klar sehen zu können, griff nach dem nächsten Päckchen und wickelte es aus. »Das neue Mario Kart?«

»Von Mama und Rufus«, schniefte Edgar.

»Aber Edgar hat’s ausgesucht«, sagte Malina.

»Mit ganz neuen Strecken, Papa.«

Edgar hatte das Nintendospiel damals von Frieda geschenkt bekommen, sie hatten es seit über einem Jahr nicht mehr gespielt. Nach anfänglicher Euphorie war sein Interesse schnell erlahmt, während Zorn, seinem Sohn hoffnungslos unterlegen, noch eine Weile verbissen trainiert hatte, bis er seinen Controller eines Nachts wutentbrannt aus dem Fenster in den Fluss geworfen hatte.

»Wir können zusammen üben«, versprach Edgar. »Ich bring dir ein paar Tricks bei, dann wirst du nicht immer Letzter.«

»Ich mach dich fertig«, drohte Zorn. »Wirst schon sehen, du Angeber.«

Er sah zu Malina, formte mit den Lippen zwei lautlose Silben.

Danke.

Sie lächelte ihm kurz zu. Ihr Haar war gewachsen und zu einem straffen Zopf gebunden. Sie hatte aufgehört, es zu färben, die grauen Strähnen standen ihr gut.

Zorn langte nach einem weiteren Päckchen, löste das bunte Papier und öffnete die Schachtel eines iPhones. Schröder hatte das Display von Friedas Handy ersetzt und die Risse mit Flüssigkleber repariert.

Zur Erinnerung, hatte er auf eine Karte geschrieben. Ich hoffe, es hilft Dir.

Zorn nickte ihm zu, schloss die Schachtel und nahm das letzte Geschenk, ein längliches, in Silberpapier gewickeltes Päckchen. FÜR CLAUDIUS stand auf einem Kärtchen, das an der golddurchwirkten Schleife befestigt war.

»Mach’s auf«, forderte Edgar.

Zorn betrachtete Friedas geschwungene Schrift und den Kussmund, den sie darunter auf die Karte gemalt hatte.

»Später«, entschied er. »Jetzt trinken wir erst mal Kaffee.«