Der Orden der Schwerter - Markus Heitz - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Orden der Schwerter E-Book

Markus Heitz

0,0
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lodrik wird neuer Herrscher des Reiches Tarpol. Doch seine Reformen rufen Neider, Intriganten und falsche Freunde auf den Plan. Bald weiß Lodrik nicht mehr, wem er trauen kann, und ist auf die Hilfe finsterer Gestalten angewiesen, um seine Macht zu verteidigen. Und über allem schwebt die verhängnisvolle Prophezeiung, dass die Dunkle Zeit wiederkehren und die Welt in Leid und Zerstörung versinken wird … Die spektakuläre Fortsetzung der großen Fantasy-Saga »Ulldart – Die Dunkle Zeit«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Entdecke die Welt der Piper Fantasy:

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Originalausgabe

11. Auflage Februar 2010

Erstmals erschienen:

Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München 2002

© Piper Verlag GmbH, München 2004

Umschlagkonzeption: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Umschlagabbildung: Ciruelo Cabral, Barcelona

Karten: Erhard Ringer, Wien

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-492-95050-3

Ulldart, Königreich Ilfaris, Herzogtum Turandei, Königspalais, Winter 442/443 n.S.

Das Besteckgeklapper im Speisezimmer hatte aufgehört. Abgenagte Entenknochen lagen akkurat geordnet auf dem Abfallteller, die Schüsseln und Töpfe, die vor einer Stunde noch bis an den Rand gefüllt waren und den kleinen Tisch mit ihrer Last beinahe in die Knie gezwungen hatten, waren leergeräumt. Nur eine einsame Kartoffel befand sich als einzige Überlebende des Abendessens auf der Silberplatte, immer noch jungfräulich unangetastet, mit Butter, Salz und Kräutern appetitlich bestreut.

König Perdór, ein gemütlicher Mensch in bestem Mannesalter mit langen, grau gelockten Haaren, buschigen Augenbrauen und einem lockigen Vollbart, ließ die Nachricht sinken, die ihm vor wenigen Minuten überbracht worden war.

»Er wird es sehr schwer haben, der junge Kabcar.« Behutsam legte er das Papier zur Seite, die Stirn zog sich in Falten. Scheinbar gedankenverloren nahm er die Serviette ab, die seinen teuren, bunten Brokatrock vor Flecken schützen sollte.

»Man muss kein Prophet sein, um das vorherzusagen.« Der dünne Hofnarr an seiner Seite wiegte übertrieben den Kopf, und seine Schellen an der farbenfrohen Kappe klingelten in unterschiedlichsten Tönen. »Ich setze mein Monatsgehalt darauf, dass ihn der Rat der Brojaken innerhalb eines Monats absägt und sie einen ihrer Hara¢s als Platzhalter einsetzen.«

»Mein guter Fiorell, diese Wette verlierst du.« Der Herrscher von Ilfaris lächelte. »Du vergisst, dass die Bardri¢-Dynastie immer einen gewaltigen Vorteil gegenüber den Großbauern hatte, und der nennt sich ›Garnisonen‹. Das Militär war bisher stets auf der Seite der Kabcare, ebenso wie das Volk. Von daher sehe ich keine allzu große Gefahr, dass die Machthungrigen in Tarpol wirklich an die Macht gelangen.«

Fiorell, wie immer in einem farbigen, rautenverzierten Trikot gekleidet, setzte eben zu einer Erwiderung an, doch Perdór wandte sich zur Seite und zog an der Klingelschnur neben sich.

Sekunden darauf erschienen drei Bedienstete und brachten den Nachtisch.

»Ah«, sagte der König gedehnt und rieb sich die Finger. »Kirschgrießpudding mit einer Sauce aus Beerenkompott. Kandiertes Obst mit Schokoladencreme und«, sein Blick blieb an einem mit einer Haube verdeckten Teller hängen, »was ist das?«

»Ein neues Werk von unserem Pralinenkreateur, Hoheit«, antwortete einer der Diener und verbeugte sich. »Er nennt sie ›Wärmende Wintersonne‹.« Theatralisch zog er den Sichtschutz weg und gab den Blick auf einen kleinen Berg Konfekt aus dunkler Schokolade frei.

Perdór fischte sich mit leuchtenden Augen eine der Süßigkeiten aus dem Stapel, steckte sie in den Mund und schloss erwartungsvoll die Augen.

Der Hofnarr kannte die Zeremonie zur Genüge. Es würde Minuten dauern, bis der König wieder gewillt war, etwas zu sagen. Also wartete Fiorell geduldig, bis die Sinne seines Herrn wieder zurück in die Gegenwart kamen.

»Köstlich«, seufzte der König nach einer Weile und öffnete langsam die Augen. »Ganz köstlich. Halbbitterschokolade mit süßem Orangenlikör, einem Stück Orange und Marzipan. Das zergeht auf der Zunge und gibt nach und nach sein Aroma frei. Diesen Meister, nein, diesen begnadeten Künstler, diese Ausgeburt an höchster Kreativität in meine Dienste zu nehmen, war die beste Idee seit langem.« Er nahm sich eine weitere vom Tablett. »Solch ein Genuss wäre mir fast einen Krieg wert.«

»Dann sind wir ja bei der richtigen Materie angelangt«, unterbrach der Hofnarr die schwärmerischen Ausführungen, während er sich ebenfalls eine Praline griff, sie in die linke Backentasche beförderte und höchst ungenießerisch zerkaute. »Mh, wirklich nicht schlecht.«

Missmutig sah Perdór zu seinem Spaßmacher hinüber. »Du ehrst das Können des Pralinenmeisters keinesfalls angemessen, Bursche. Du zelebrierst nicht, du stopfst.«

»Eure Gäste ehren meine Künste auch eher selten, Hoheit«, gab der Hofnarr zurück. »Wie soll ich demnach das für andere aufbringen, was mir vorenthalten wird? Ich fühle mich nicht sehr geschmeichelt, wenn man mir eine Katze zuwirft, während ich jongliere, nur um zu sehen, ob ich das Tier zusammen mit den Bällen in der Luft halten kann.«

Der Herrscher schmunzelte. »Du hast es aber geschafft.«

»Vielen Dank. Die Biss- und Kratzspuren verheilen auch allmählich«, grummelte Fiorell. »Ich wollte aber auf den Krieg zurückkommen.«

Perdór entließ die Diener, stand auf und ging zu seinem massiven Arbeitspult hinüber.

Er öffnete eine Schublade mit Hilfe eines kleinen, filigranen Schlüssels, den er an einer Kette um den Hals trug, und drückte den verborgenen Knopf im Inneren.

Ächzend schwenkte ein Teil der schweren Wandvertäfelung an der langen Seite des Saales zurück. Meterhoch stapelten sich dahinter Bücher, Schriften, Ordner und andere Papiere, fein säuberlich nach Königreichen und Anfangsbuchstaben in Regalen geordnet.

Aus einer Nische zog der König eine Trittleiter und bedeutete Fiorell, nach oben zum Buchstaben ›B‹ zu klettern. »›Borasgotan‹, wenn ich bitten darf. Hopp, hopp!«

Gehorsam hüpfte der Hofnarr die Sprossen hinauf, schnappte sich den Einband und machte einen eleganten Sprung zurück auf den Boden.

»Hier, Majestät.« Er schlug das Buch auf. »Und das sind die neuesten Nachrichten aus dem Reich, heute Morgen per Eiltaube eingetroffen. Sie wäre fast erfroren bei den Temperaturen. Ein Eisvogel, sozusagen.«

Ohne auf die Bemerkung einzugehen, las Perdór den Bericht eines Spions, der unerkannt in den Reihen der borasgotanischen Verwaltung saß und immer, wenn sich etwas Wichtiges ergab, Ilfaris sofort in Kenntnis setzte.

Solche wachsamen Menschen hockten zu Hunderten in allen Ländern Ulldarts, in Verwaltungen, Gilden, lebten unerkannt als Handwerker, Bauern oder Adlige.

Es hatte Ilfaris Zeit und noch mehr Geld gekostet, um aus den vielen Fäden und Stricken ein dichtes Netzwerk zu flechten, aber die Mühe lohnte sich. Oft erreichte die Nachricht über ein wichtiges Ereignis den ilfaritischen König schneller als den Herrscher des betreffenden Reichs. Und dieses Wissen wurde gegen viel Geld an andere weiterverkauft – wenn es im Interesse Perdórs lag.

Das riesige Speisezimmer war das geheime Schatzkästlein des Königs und nur eines von vielen Archiven. Die anderen waren im übrigen Palais verstreut, wurden von vertrauenswürdigen, ausgesuchten Männern verwaltet, die jede noch so scheinbar winzige und belanglose Mitteilung sammelten. Von Wirtschaft und Zöllen über Steuern und Garnisonen, Schlagkraft von Scharmützeleinheiten bis zu Gerüchten, es fand sich alles.

Ein schwarzes Loch blieb aber auf der Landkarte: Kensustria. Dort war es Perdór und all seinen Vorgängern nicht gelungen, auch nur eine einzige Nachrichtenquelle langfristig zu verankern. Sie versiegten unvermittelt nach ihrer Entsendung, nie wieder hörte man etwas von den ausgesandten Männern und Frauen.

»Das sieht alles sehr nach einem drohenden Unheil aus«, sagte Perdór nach einer kurzen Pause, legte den linken Arm auf den Rücken und begann, im Saal auf und ab zu schreiten. Dabei überflog er immer wieder die Nachricht. »Wieso erhalte ich die Neuigkeiten erst jetzt?«

»Ihr wart mit dem Frühstück beschäftigt. Da seid Ihr zu nichts zu gebrauchen.« Fiorell zwinkerte, machte einen Handstand und erklomm kopfüber die Stufen der Trittleiter, als ob es nichts Einfacheres auf der Welt gäbe.

Oben angekommen, sprang er in die Hocke, balancierte sich auf einem Bein auf der Spitze der Leiter aus und jonglierte mit drei Pralinen. Dann warf er sie hoch in die Luft, und eine nach der anderen verschwanden sie in seinem Mund.

»Wir könnten sie doch dem jungen Kabcar zukommen lassen«, schlug er vor und schluckte geräuschvoll. »Er wäre gewarnt und könnte Borasgotans Absichten zunichte machen, indem er …«

»Ilfaris hat noch nie Wissen verschenkt, und ich gedenke nicht, eine Ausnahme zu machen«, fiel ihm der König ins Wort. »Es muss nicht ein Krieg gegen Tarpol sein, auch wenn sich die innenpolitische Lage vielleicht gerade anböte. Alle Länder haben den Tausendjährigen Friedensvertrag unterschrieben.«

»Was sollen aber dann die vielen Erzlieferungen, die verstärkte Eisenproduktion, die Rodungen und die Aushebungen von ›Freiwilligen‹ unter dem Vorwand, man würde Scharmützelkommandos heranziehen?« Der Hofnarr machte eine Pirouette, drückte sich ab und kehrte Glöckchen klingelnd auf den Marmorfußboden zurück. »Sicherlich, man könnte aus dem Material auch Zahnstocher mit Eisenspitzen herstellen.«

»Vielleicht wollen sie ihre Flotte verstärken?«, schlug Perdór wenig überzeugt vor.

»Und Agarsien und Palestan den Zahnstocherhandelskrieg erklären, Hoheit? Ich bitte Euch, ich bin von uns beiden der Narr, vergesst das nicht.« Schelmisch blitzten die dunklen Augen auf. Solche Worte durfte er sich nur erlauben, wenn die beiden Männer alleine waren. Und diese Gelegenheiten nutzte er sehr gerne.

»Wohl wahr. Und deshalb kann ich dich köpfen lassen und nicht du mich, vergiss das nicht. Hier steht etwas von Waffenlieferungen an die Provinz Worlac«, lenkte der Herrscher ab. »Worlac wurde erst vor kurzem von Grengor Bardri¢ befriedet, und der geheimnisvolle, fast überall unbekannte Gouverneur Pujur Vasja hat in Granburg für Ruhe gesorgt. Er scheint ein sehr junges Talent zu sein, was man so hört, der sich gegen den alten, korrupten Fuchs Jukolenko durchgesetzt hat. Warum sollte es in nächster Zeit also zu Unruhen kommen? Es sah friedlich aus.«

»Ihr wisst doch, was passiert, wenn man einer betagten Dame das Mieder abnimmt?« Fiorell zog den Bauch ein und ließ ihn dann hervorschnellen. »Solange das Mieder da ist, hat sie eine tadellose Figur. Nimmt man es ab, dehnt der Körper sich aus. Und genauso wirkt vielleicht das Ableben des Kabcar auf die Provinzen. Bardri¢ hat sie zusammengehalten, in seine Form gepresst und gestaltet. Es wird sich zeigen, ob der Tras-Tadc eine gleichwertige Korsage wie sein Vater sein wird oder ob seine Schnüre und Miederstangen reißen. Worlac hat außerdem in den letzten Jahren mit Borasgotan geliebäugelt.«

»Wie immer bist du ein weiser Narr, lieber Fiorell«, sagte Perdór. »Ich hatte gerade den gleichen Gedanken. Ich vermute, dass Borasgotan die Vorbereitungen vielmehr als Druckmittel einsetzt, um bei anstehenden Verhandlungen einen Vorteil zu haben. Säbelrasseln gehört zum Geschäft. Und dazu kommt der Dauerzwist mit Hustraban um die Baronie Kostromo. Auch dieses Reich will nun testen, ob der neue Kabcar widerstandsfähig genug ist. Es braust gewaltig im Norden, wie mir scheint. Da wird sich bald viel Geld mit Informationen verdienen lassen.«

»Wenn der kalte Wind im Norden bleibt und nicht uns um die Nase weht, soll es mir recht sein«, meinte der Hofnarr nachdenklich.

»Wie sollte er das anstellen?« Eine weitere Praline verschwand im Innern des Königs.

»Den Wind sollte man niemals unterschätzen, Hoheit. Er bläst plötzlich von allen Seiten, und ohne dass man weiß wieso, steht man überrascht im Sturm.«

»Bisher sieht es nach einem Sturm im Wasserglas aus, bester Fiorell. Du klingst derzeit kein bisschen nach Narr, eher nach düsterem Prophet, wenn ich es mir so überlege. Solltest du nicht für eine lustige Unterhaltung sorgen, anstatt das Unheil an die Wand zu malen?« Er klopfte mit der Hand auf den Tisch. »Trotzdem, du hast im Grunde Recht. Wir werden den Spionen sagen, die sollen doppelt nach Auffälligkeiten Ausschau halten.«

»Was wird nun mit dem jungen TrasTadc, der bald zum TrasKabcar wird? Wollen wir ihn in sein Unheil laufen lassen?« Der Hofnarr kniff die Augen zusammen. »Es wäre nicht sehr geschickt von uns, die Hände in den Schoß zu legen. Ich denke da an die Zukunft des Kontinents, wenn Ihr wisst, was ich meine.« Er senkte die Stimme. »Die Prophezeiung, Majestät.«

Sinnierend nahm Perdór eine Praline zwischen Daumen und Zeigefinger und beobachtete, wie sich die Schokolade langsam verflüssigte. »Arrulskhán der Sechste von Borasgotan ist zwar ein bisschen barbarisch, wenn ich an seine Essgewohnheiten denke«, der Mann schüttelte sich angewidert, »aber nicht dämlich. Er würde, vorausgesetzt unsere schlimmsten Befürchtungen würden wahr, dem Kabcar kein Haar krümmen. Ich gehe außerdem davon aus, dass auch Tarpol über einen Geheimdienst und Spione verfügt, die von den umfangreichen Vorbereitungen in Borasgotan gehört haben.« Er lächelte. »Aber wir werden dem Kabcar vielleicht zu seiner Krönung, die wohl bald stattfinden wird, ein Geschenk machen, eine gute Geste von Herrscherhaus zu Herrscherhaus. Deshalb möchte ich genaueste Auskünfte und Berichte. Aktiviere alle unsere Männer und Frauen, die wir in Borasgotan haben. Jede noch so kleine Bewegung soll gemeldet werden. Falls der verehrte Arrulskhán eine Invasion plant, will ich vor ihm wissen, wann und wo sie stattfindet.«

»Ich hetze die nächsten Tauben sofort auf den Weg, Hoheit.« Fiorell verbeugte sich. »Hoffen wir, dass sie ankommen, ohne sich in einen gefiederten Eiszapfen verwandelt zu haben.«

»Ach, einen Moment«, rief ihn der König zurück. »Was ist eigentlich aus dem Gerücht geworden, der Tadc würde sich in einer Provinz der Tzulani verstecken? Haben unsere Leute schon herausgefunden, wo das sein könnte?«

Der Hofnarr schüttelte den Kopf und macht ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. »Ich bin untröstlich, Majestät. Sicher ist, dass er die Hauptstadt Ulsar verlassen hat und gegen Norden zog.«

Perdór kam ein äußerst interessanter Gedanke. »Und wenn er der neue Gouverneur wäre? Du weißt, der junge Mann, der in Granburg so furchtbar unter dem Adel gewütet hat?«

»Bei diesem voreiligen Schluss bin ich ebenfalls angelangt, aber die äußeren Umstände sprechen dagegen«, sagte Fiorell und lehnte sich an die Tür. »Es ist ein junger, tatkräftiger, engagierter und schlanker Jüngling, der in Granburg zu Werke geht. Kampferfahrung scheint er ebenso zu haben, immerhin hat er mehrere Anschläge überlebt, die auf Jukolenkos Geheiß geschahen. Und das sind alles Eigenschaften, die nicht auf den dicken TrasTadc zutreffen, wenn ich mich richtig entsinne. Einzig und allein das blonde Haar passt bei beiden. Vasja ist der Sohn irgendeines unbedeutenden Verwaltungsbeamten, der kürzlich durch einen Reitunfall starb, wie man mir sagte, also keine falschen Annahmen, Majestät. Ich lasse es aber bereits überprüfen. Den genauen Aufenthaltsort kennt nur noch Oberst Mansk und vielleicht der Tadc selbst, wenn er ab und zu zwischen den Essen aufsteht und aus dem Fenster sieht.«

»Es wäre auch zu einfach gewesen, nicht wahr, lieber Fiorell?«, seufzte der Herrscher. »Und es wäre das einzige Mal, dass ich eine Neuigkeit für mich behalten hätte. Im Interesse des Kontinents.« Er nahm die letzte Praline vom Teller. »Und jetzt geh. Veranlasse alles, wie besprochen.«

Der Hofnarr imitierte weit übertrieben einen militärischen Gruß, schlug dabei die Hacken der Schnabelschuhe zusammen, dass die Glöckchen an der Kappe hüpften, und lief klingelnd wie ein Schellenbaum hinaus.

»So, meine Wintersonne. Du bist die Letzte deiner Art und wirst mich nun innen mit mildem Feuer wärmen«, sagte Perdór leise zu dem Konfekt und steckte es in den Mund.

Langsam zerfloss die Schokolade und ließ den Likör entweichen, der sich wie warmer Honig auf der Zunge verteilte. Ganz vorsichtig lutschte er auf dem Orangenstück herum, dann kaute er andächtig den fingerkuppengroßen Brocken Marzipan zusammen mit den Resten des Likörs, des Obsts und der Schokolade.

»Ach, wie inspirierend. Die Sinne veranstalten Freudenfeste bei so viel Wonne in meinem Gaumen. Wer nicht genießen kann, ist ein Nichts«, sinnierte er halblaut mit geschlossenen Augen, während er sanft durch die Nase ausatmete. »Nicht einer meiner besten Aussprüche, aber er gefällt. Und nun, Perdór, an die Arbeit. Hustraban und die Geschäfte rufen.«

Ohne Zögern schlug er das dicke Buch über das Königreich auf und begann, die Einträge, Nachrichten und Gerüchte des letzten Jahres zu lesen.

»Taralea, die Allmächtige Göttin, die schon von Anbeginn der Zeit existiert, schuf in ihrer Gnade unsere Welt aus den Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde.

Sie formte einen Fladen Landmasse aus der Erde, schob und drückte ihn, damit die Oberfläche nicht so langweilig sei, versah in mit Tiefen und Höhen. Aber sie hatte noch ein wenig von dem Fladen übrig. Sie zerteilte ihn in kleine Stücke, formte sie ebenfalls zu runden Fladen und legte sie zur Seite. So entstanden die fünf Monde.

Dann goss Taralea große Mengen Wasser über ihr Werk. Das Wasser sammelte sich in den Vertiefungen und Rillen. So entstanden das Meer und die Kontinente mit ihren Flüssen und Seen.«

DIE LEGENDE VON DER ERSCHAFFUNG DER WELT,

Kapitel 1

Ulldart, Königreich Tarpol, Provinz Granburg, Winter 442/443 n.S.

Lodrik zog den schweren Exekutionssäbel langsam aus der Scheide. Mit einem ganz leisen, schleifenden Geräusch kam die Waffe millimeterweise aus ihrer Hülle zum Vorschein, zeigte Stück für Stück ihrer Gravuren und aufgeschmiedeten Bannsprüche.

Wie die meisten Hinrichtungswerkzeuge war auch sie bedeckt mit einer Unzahl von Motiven, Formeln und Zeichen, die zur Abschreckung böser Geister dienen und für eine ruhige Hand bei dem blutigen Geschäft sorgen sollten.

Die Menschen erzählten sich Geschichten über die Waffen berühmter Henker, deren Schwerter, Beile oder Äxte Zauberfähigkeiten besaßen. Manche fraßen die Seelen der Gerichteten, um zu verhindern, dass sie als Spuk zurückkehrten, andere versetzten die Opfer in einen ruhigen Zustand, damit sie beim Schlag des Scharfrichters den Kopf nicht bewegten.

Prüfend hielt der junge Mann, Tadc und zukünftiger Kabcar Tarpols, die Klinge vor seine Augen. Sollte es wirklich so sein, dass der Säbel mehr vermochte, als es den Anschein hatte?

Die untergehende Sonne warf einen rötlichen Lichtschein durch die breite Fensterfront des Fechtsaales und erzeugte auf der Schneide die Illusion von zähfließendem Blut.

Einen Moment lang flackerte die Erinnerung an Jukolenkos Hinrichtung auf: das erstaunte Gesicht des ehemaligen Gouverneurs und die Menge, die Lodrik nach dem Tod des Adligen zugejubelt hatte.

Sanft fuhr er über die Klinge und berührte eine der Gravuren.

Ein heißer Schauer rann ihm den Körper hinab. Die Fingerspitzen kribbelten, als würde eine Horde Ameisen durch sein Fleisch wandern, ein stechender Schmerz brannte plötzlich hinter seinen blauen Augen. Keuchend ließ Lodrik den Säbel fallen und schlug die Hände vors Gesicht.

Das Stechen ließ nach einer Weile nach, es blieb ein dumpfes Pochen im Hinterkopf.

Der Gouverneur atmete tief ein und ließ die Hände sinken, ging in die Hocke und fasste die Waffe am Griff, um sie wieder in der Scheide zu verstauen.

»Welches Geheimnis verbirgst du vor mir?«, fragte er den Säbel leise, der harmlos an seiner Seite baumelte und keinerlei Anstalten machte, einen Hinweis zu geben.

»Herr, was macht Ihr hier?«, dröhnte Waljakovs Stimme durch den Saal. »Ihr solltet Euch mit Miklanowo treffen, um den neuen Gouverneur zu bestimmen, anstatt jetzt an Kampfübungen zu denken.«

»Ich weiß, Waljakov, ich weiß«, seufzte Lodrik, fuhr sich mit den Fingern durch die blonden Haare und wandte sich seinem hünenhaften Leibwächter zu. »Ich bin einfach … Ich weiß nicht, was ich bin.«

»Durcheinander?«, half der Mann. Die eisgrauen Augen ruhten auf dem Gouverneur. »Verwirrt? Soll ich einen Cerêler holen lassen?«

»Ich glaube nicht, dass er mir helfen könnte«, lehnte der Tadc ab. »Es ist etwas im Gange mit mir.«

»Herr, Ihr werdet zum Kabcar von Tarpol gekrönt, das ist im Gange und sonst nichts.« Waljakov kam näher. »Und die Krönung sollte bald geschehen, meint Stoiko. Sonst würden sich alle möglichen Gerüchte über den Nachfolger verbreiten, die die Menschen im Reich nur unnötig in Aufregung versetzen.« Er stellte sich neben seinen Schützling. Lodrik nahm den schwachen Geruch von Öl wahr, mit dem der Leibwächter seinen Brustharnisch regelmäßig behandelte. »Da kann ich ihm nur zustimmen. Es wird ohnehin eine lange Reise, bis wir in Ulsar angekommen sind. Hoffentlich behalten die Minister und Räte einen kühlen Kopf, bis Ihr in Amt und Würden seid. Eine überschnelle Reaktion auf eine Drohung Borasgotans wäre verheerend.«

Lodrik lehnt sich an die Wand und schaute auf seine Stiefelspitzen.

»Und wie soll ich auf eine Drohung Borasgotans reagieren? Eine Provinz zu regieren ist eines. Aber ein ganzes Königreich? Ich wäre manchmal wirklich lieber jemand anderes. Ein Bauer. Oder doch lieber ein Adliger.«

»Ihr seid der Tadc und der zukünftige Kabcar, Herr«, sagte Stoiko von der Tür. »Euer Wort hat mehr Gewicht als das aller Adligen zusammen.« Der Vertraute durchschritt den Saal, die braunen Haare wehten hinter ihm her. »Du wirst nachlässig, Waljakov. Ich hätte ein Attentäter sein können.«

Der Leibwächter grinste böse. »Dann hätten deine Schritte anders geklungen, als du vor der Tür auf und ab gegangen bist.«

»Du hast uns belauscht?« Lodrik funkelte den Mann mit dem gewaltigen Schnauzer an.

Stoiko hob abwehrend die Hand. »Nicht wirklich belauscht. Nur mitgehört.«

»Und bist dabei hin und her gelaufen«, ergänzte Waljakov, der die mechanische Hand an den Säbelgriff legte und fröhlich vor sich hin feixte. »Ich kenne deine Schritte sehr gut.«

»Wollt ihr mich dafür vor ein Tribunal stellen? Ich habe mir nur Sorgen gemacht, und Miklanowo sucht Euch ebenfalls, Herr«, verteidigte sich der Vertraute. »Wir müssen nach Ulsar, die Feierlichkeiten durchführen und Tarpol jetzt so schnell wie möglich einen Kabcar geben, damit Borasgotan nicht glaubt, es habe leichtes Spiel mit einem führungslosen Land. Der ganze Hof sucht vermutlich nach dem verschwundenen Nachfolger. Und das Letzte, was wir brauchen können, sind Gerüchte vom Ableben des Tadc. Hoffentlich macht Oberst Mansk alle Zweifel im Ansatz zunichte.«

Lodrik gab sich einen Ruck und richtete sich auf. »Also schön. Wollen wir das Unvermeidliche nicht länger hinauszögern und einen Gouverneur einsetzen. Sind die Gäste alle erschienen?«

Stoiko nickte. »Friedlich wie Lämmer sitzen sie im Audienzzimmer und harren der Dinge. Und wie mir die Diener versichert haben, sind alle überrascht, weshalb die Provinzversammlung einberufen wurde. Apropos überrascht: Wo ist eigentlich unser guter Hetrál abgeblieben?«

»Er hat mich um Urlaub gebeten«, erklärte Lodrik die Abwesenheit des turîtischen Meisterschützen. »Er muss noch etwas in seiner Heimat regeln. Was genau, darüber wollte er mir keine Auskunft geben. Er meinte nur, er sei im Frühjahr am Hof in Ulsar.«

»Der Mann ist der beste Schachspieler, den ich kenne. Treffsicher mit Pfeilen und mit Schachzügen. Schade, gerade jetzt im Winter hätte ich gerne die ein oder andere Partie mit ihm geschlagen«, bedauerte der Vertraute.

»Er ist von angenehmer Ruhe«, lobte Waljakov.

»Natürlich ist er ruhig«, lachte Stoiko. »Er ist stumm.«

»Was manch anderen hin und wieder auch nicht so schlecht bekommen würde«, murmelte der Leibwächter. »Wir sollten gehen.«

Die drei Männer verließen den Fechtsaal und gingen über den Paradeplatz zum Gouverneurspalast, der, seines Blattgoldes vollständig entledigt, weit weniger spektakulär aussah: ein großer, grauer Kasten mit einem mächtigen Balkon und martialischen Marmorfiguren rundherum, die an die kriegerischen Zeiten des Königreichs erinnerten.

Lodrik hoffte beim Anblick der steinernen Zweikampfnachbildungen, nie wieder in solcher Art Auseinandersetzungen verwickelt zu werden. Weder persönlich noch als Herrscher von Tarpol. Ein eiskalter Wind pfiff ihnen auf dem Weg zum Eingang um die Ohren.

»Es wird ohne Zweifel Miklanowo sein, der Euch in Granburg vertreten wird, oder?«, schätzte Stoiko beim Betreten der Eingangshalle. Hart knallten ihre Absätze auf den Marmorfußboden.

»Um ehrlich zu sein, ich hatte einen Moment lang an Norina gedacht«, gestand der Gouverneur.

»Was? Das meint Ihr doch nicht ernst, Herr«, brach es aus Waljakov hervor.

»Keine Angst«, wehrte der junge Mann grinsend ab. »Da ich mir diese Wirkung sehr gut bei den anderen Brojaken und bei der Bevölkerung vorstellen konnte, wenn eine junge Frau an die Stelle eines Gouverneurs tritt, habe ich diesen Gedanken ganz schnell wieder fallen lassen.«

Der Leibwächter atmete hörbar aus, rückte seinen Säbel zurecht und schloss für eine Sekunde dankbar die Augen.

Stoiko lachte laut auf. »Du magst ein guter Leibwächter sein, Waljakov, aber Diplomat wärst du niemals geworden.«

»Nein, wäre ich niemals«, sagte er. »Ich kann schlecht lügen.«

»Soll das heißen, dass alle Diplomaten Lügner sind?«, hakte der Vertraute nach, seine Augen leuchteten amüsiert.

»Nun, die meisten von ihnen jedenfalls«, wich der Kämpfer aus. »Von Amts wegen. Und nun lassen wir das. Das Streitgespräch ist beendet.«

Stoiko lächelte den Gouverneur an. »Was wären wir nur ohne die Stimme der Vernunft, Herr, nicht wahr? Der gute Waljakov, immer bereit für einen ehrlichen Meinungsaustausch.«

Der Leibwächter brummte etwas, was sich entfernt wie eine Verwünschung anhörte.

»Lass es gut sein, Stoiko«, griff Lodrik ein und schüttelte den Kopf. »Keinen Streit. Nicht jetzt.« Er überprüfte den Sitz der grauen Gouverneursuniform mit den aufwändigen grünen Stickereien und den silbernen Kordeln, Bändern und Ketten. »Später, wenn ihr möchtet, aber nicht jetzt. Geht es so?«

»Tadellos«, lobte Stoiko das Erscheinungsbild. Waljakov nickte.

Sie erklommen die Stufen und betraten das Audienzzimmer, in dem sich die letzten beiden Adligen und acht Brojaken Granburgs versammelt hatten. Das Feld der Mächtigen in der Provinz hatte sich nach der aufgedeckten Verschwörung gegen den Gouverneur und dank der Exekutionen beträchtlich gelichtet.

Zur linken Seite des Kopfendes saß Ijuscha Miklanowo, der einzige Brojak, der den unerfahrenen Gouverneur von Anfang an unterstützt hatte.

Aus der Unterstützung war so etwas wie Freundschaft geworden. Der vollbärtige Mann hatte Lodrik beigebracht, die Mentalität der Menschen in der Provinz zu verstehen und sich dem Volk zu nähern, Ängste und Sorgen der einfachen Leute zu sehen. Ohne die Hilfe des freundlichen Großbauern wäre es für den Tadc wesentlich schwieriger gewesen, etwas zu bewegen. Und, was für Lodrik nicht weniger wichtig geworden war, Miklanowo hatte die hübscheste Tochter auf dem ganzen Kontinent.

Aber nicht nur freundliche Gesichter sah der Gouverneur. Unter den Gästen entdeckte Lodrik auch die markante Raubvogelnase von Tarek Kolskoi.

Der Hara¢ wirkte zwischen all den gut genährten Männern wie eine dürre Vogelscheuche, die viel zu weite und teure Kleider trug. Trotzdem zweifelte der Gouverneur nicht eine Sekunde daran, dass sich keine einzige Krähe auf dem Feld niederlassen würde, auf dem Kolskoi stand. Die stechenden braunen Augen des Adligen gingen durch Mark und Bein.

Er war der einzige, von dem jeder wusste, dass er an der Verschwörung beteiligt gewesen war, aber der sichere Nachweis seiner Schuld fehlte. Und ausgerechnet er war als ranghöchster Adliger der Sprecher der Provinzversammlung. Ein Gremium, das bisher noch nie einberufen worden war, weder zu Jukolenkos Zeiten noch unter Lodriks Führung.

Kolskois Kopf zuckte herum. Einen Moment lang lag blanker, unverhohlener Hass in seinen Augen, der innerhalb eines Wimpernschlags einer falschen Freundlichkeit wich.

»Werte Herren, steht auf«, rief er und erhob sich. »Der Gouverneur von Granburg, Hara¢ Vasja, gibt sich die Ehre.«

Die Adligen und Brojaken sprangen fast in die Höhe, nur um sich dann tief vor dem Stellvertreter des Kabcar zu verneigen.

Lodrik schritt den Tisch entlang und begab sich an das Kopfende, dicht neben ihm ging ein aufmerksamer Waljakov. Stoiko, nachdem er den Bediensteten an der Tür Anweisungen gegeben hatte, folgte mit ein wenig Abstand.

Der Gouverneur blieb für einen Moment an seinem Platz stehen, musterte die Runde und setzte sich. Erst jetzt ließen sich die Gäste nieder, wie es die Etikette vorsah.

»Schön, Euch zu sehen, Ijuscha«, begrüßte Lodrik seinen Freund leise. »Seid Ihr bereit für den großen Auftritt?«

Der Brojak schmunzelte. »Ich bin auf die Gesichter hier gespannt.«

»Ich muss schnell noch etwas nachlesen, dann können wir anfangen. Habt Ihr das Buch dabei, um das ich Euch gebeten habe?« Miklanowo reichte es ihm herüber.

Diener brachten Becher und Krüge mit Bier, während Lodrik einen dicken Band mit Akten wälzte und sich scheinbar in Paragrafen vertiefte, als interessierten ihn die Männer um ihn herum nicht.

Nach einiger Zeit hob er den Kopf, klappte das Buch zu und stützte die Ellbogen auf die Tischplatte.

»Es freut mich außerordentlich, dass so viele meiner Einladung gefolgt sind. Ich habe mehrere Sachen zu verkünden, über die sich die meisten von Euch, werte Herren, sehr freuen werden.«

»Der Gouverneur beliebt zu scherzen, vermute ich.« Kolskoi machte ein misstrauisches Gesicht. »Etwa noch mehr Vergünstigungen für die Bauern? Ich weiß inzwischen nicht mehr, wie ich meinen Haushalt bestreiten soll, so wenig liefern sie mir ab.«

Lodrik sah ihn mit seinen blauen Augen ruhig an. »Nein, das hatte ich nicht vor, Hara¢. Ich werde die Provinz verlassen müssen.« Gemurmel setzte ein. »Zumindest für eine Weile. Der neue Kabcar will mich sehen.«

»Und wer leitet die Geschäfte in Eurer Abwesenheit?«, wollte einer der Brojaken vorsichtig wissen.

»Das Amt übernimmt normalerweise der höchste Adlige der Provinz, wie es sich gehört«, antwortete Kolskoi, in seiner Stimme schwang gehässige Freude mit. »Also ich, wenn ich den Sachverhalt richtig betrachte, oder, Gouverneur? Oder habt Ihr bei Eurer Säuberung jemanden übersehen?«

»Darüber reden wir gleich. Zunächst aber liefere ich die Erklärung, weshalb ich die Provinzversammlung wieder ins Leben gerufen habe.« Er legte die rechte Hand auf den Bucheinband. »Sinn und Zweck des Gremiums ist es, ein regelmäßiges Treffen all derer zu ermöglichen, die in der Provinz das Sagen haben. Man tauscht sich aus, redet über Schwierigkeiten und versucht, eine für alle zufrieden stellende Lösung zu finden.«

Keiner der Männer am Tisch machte ein begeistertes Gesicht.

»Welche Art von Schwierigkeiten meint Ihr damit, Gouverneur?«, fragte einer der Großbauern.

»Nun, wenn es Probleme mit den Bauern geben sollte oder Unsicherheiten aufkommen, wie etwas zu regeln sei«, meinte Lodrik vage. »So konkret kann ich das nicht sagen, es wird sich schon etwas ergeben, das man in einem größeren Kreis bereden kann.«

»Wir regeln unsere Schwierigkeiten alleine ganz gut, wie ich finde«, begann Kolskoi nach einer Weile des Schweigens. »Wenn wir uns treffen wollen, tun wir das. Aber eine Provinzversammlung? Ich weiß nicht, Gouverneur, ganz überzeugt bin ich von Eurer Idee nicht. Ich sehe keinen …«

»Vorteil?«, fiel ihm Lodrik ins Wort. »Ich weiß, wie sehr Ihr auf Euren Vorteil bedacht seid, Hara¢. Aber in diesem Fall läge der Vorteil bei allen, nicht bei einem Einzelnen. Es wird keine Diskussionen über die Provinzversammlung geben, sie wird einmal im Monat stattfinden, und zwar immer am Ersten. Wer nicht persönlich erscheinen kann, sendet einen Beauftragten und hundert Waslec als Strafe. Ich bin mir sicher, werte Herren, Ihr alle werdet das Gremium bald zu schätzen wissen.«

Kolskoi lehnte sich demonstrativ auf seinem Stuhl zurück und schaute auf seinen Becher, die Unterkiefer mahlten.

»Und nun habe ich ein anderes, außerordentliches Vergnügen. Wie die werten Herren sehen können, ist ein Stuhl an der Tafel frei geblieben. Das ist durchaus keine Unachtsamkeit der Diener, sondern so von mir vorgesehen.« Der Gouverneur nickte den Bediensteten an der Tür zu, die den Eingang öffneten. Neugierig wandten sich die Brojaken und Adligen um.

Auf der Schwelle stand Norina.

Sie trug ein bodenlanges, dunkelrotes Kleid mit goldenen Stickereien, dazu passende schwarze Stiefel. Das lange, schwarze Haar floss um ihre Schultern und umrahmte ihr hübsches Gesicht. Das Amulett mit dem schwarzen Stein, das ihr Lodrik geschenkt hatte, lag auf ihrer Brust. Ihre leicht mandelförmigen, braunen Augen schauten kühn in die Männerrunde, ihr Kopf war leicht empor gereckt und verriet ihre Entschlossenheit, keinen Fuß breit zurückzuweichen.

Wenn man der jungen, hoch gewachsenen Frau die Aufregung auch nicht ansah, so bemerkte der Gouverneur doch, dass die kleine Narbe an ihrer rechten Schläfe deutlicher zu erkennen war. Ihr Herz schlug also schneller als gewöhnlich.

»Werte Herren, Ihr kennt Norina, die Tochter des Brojaken Miklanowo«, sagte Lodrik und stand auf. Er ging zu der jungen Frau hinüber und führte sie an den freien Platz, auf dem sie sich niederließ.

»Was«, zischte Kolskoi, »soll das bedeuten? Eine Frau? Hier?«

»Hervorragend beobachtet, Hara¢«, lobte Stoiko und strich sich mit todernstem Gesicht über den Schnauzbart.

Ein paar der Brojaken grinsten, andere husteten krampfartig.

»Norina Miklanowo ist, wie alle in diesem Raum wissen, die Verwalterin der Gebiete, die einst den Verschwörern zugehörig waren«, erklärte ein amüsierter Lodrik. »Und als solche hat sie einen Anspruch darauf, in diesem Gremium zu sein. Ich werde sie in den Stand eines Brojaken erheben.«

»Mit Verlaub, jetzt geht Ihr entschieden zu weit, Gouverneur!« Kolskoi sprang von seinem Stuhl auf, stützte die Hände auf den Tisch und lehnte sich nach vorne. Die stechenden Augen schienen Lodrik durchbohren zu wollen. Waljakovs Hand lag am Säbel. »Ihr habt schon oft … Ideenreichtum bewiesen, aber das hier werde ich nicht hinnehmen. Eine Frau als Brojak ist unvorstellbar und ohne Beispiel in der Geschichte Tarpols. Es gibt nicht einmal eine ordentliche Bezeichnung für eine solche Position.«

»Brojakin«, sagte Norina freundlich und lächelte den aufgebrachten Adligen an.

»Sagt Eurer Tochter, sie soll den Mund halten, wenn Erwachsene reden«, fauchte Kolskoi Ijuscha an.

»Sagt es Ihr selbst, Hara¢«, antwortete der bärtige Mann gelassen. »Ihr seid alt genug.«

Langsam drehte sich Kolskoi zu der jungen Frau um. »Ihr solltet ganz schnell wieder zurück zum Gut Eures Vaters reisen und die Hühner füttern, wie es sich für Euch gehört. Was Ihr hier tut, verstößt gegen alle Gesetze.«

»Da irrt Ihr Euch«, meldete sich Lodrik und schlug auf das Buch. »In keinem der Statuten Tarpols steht, dass eine Frau diese Stellung nicht einnehmen darf. Es ist zwar nur von Männern die Rede, aber ein Verbot gegen Frauen ist nicht zu finden.«

»Das kann nicht sein«, widersprach der Adlige.

»Wollt Ihr etwa damit sagen, ich, Gouverneur und Königlicher Beamter, Stellvertreter des Kabcar, wäre ein Lügner?« Die Augen blitzten auf. »Oder habe ich Euch falsch verstanden?«

»Ich wollte damit sagen, dass Ihr bestimmt nicht genau gesucht habt.« Die Flügel der Raubvogelnase blähten sich. »Oder etwas übersehen habt, Gouverneur. Ihr wollt so große Ländereien allen Ernstes auf immer einem unerfahrenen Mädchen in die Hand geben? Die Bauern werden ihr auf der Nase herumtanzen.«

»Ich verwalte bereits seit langem große Teile des Besitzes meines Vaters«, sagte Norina. Wieder lächelte sie nett, eine Hand auf das Amulett gelegt. »Ich weiß, auf was es zu achten gilt.«

»Gar nichts wisst Ihr«, bemerkte Kolskoi abfällig.

»Haltet Euch im Zaum, Hara¢«, sagte Miklanowo. »Ihr redet mit meiner Tochter, nicht mit Euren Leibeigenen.«

»Und Ihr seid ein Brojak, kein Adliger, also denkt daran, mit wem Ihr redet, Miklanowo. Ihr habt das Glück, einflussreiche Freunde zu haben, sonst würdet Ihr es gar nicht wagen, einen solchen Ton mir gegenüber anzuschlagen.«

»Und Euer Einfluss ist seit einer Exekution, die noch nicht allzu lange her ist, im wahrsten Sinne des Wortes gestorben«, erwiderte der Brojak.

»Meine Herren«, Lodrik hob die Arme, »mäßigt Euch. Lasst uns das weniger laut bereden.«

»Ich habe nur eine Frage an Euch, Gouverneur«, sagte Kolskoi, die Augen wurden schmal. »Ihr wollt das Mädchen wirklich in unsere Reihen einordnen?«

Der Gouverneur hielt dem Blick stand und nickte. »Das habe ich gerade eben. Trotz Eures Protestes.«

»Das wird Konsequenzen haben, die Euch das Amt kosten«, versprach der Hara¢ leise und setzte sich. Mit einem Mal wirkte er völlig ruhig und gelassen, als habe der Streit eben gar nicht stattgefunden.

Lodrik war irritiert, Stoikos Gesicht verriet Überraschung und Sorge.

Im Raum war es still. Keiner der Männer wagte es, sich zu bewegen, zu trinken oder einen Ton zu sagen.

»Gut.« Der junge Mann fasste sich wieder. »Kommen wir zu einer weiteren Überraschung. Wie ich bereits gesagt habe, werde ich die Provinz verlassen, um mich mit dem angehenden Kabcar zu treffen, der einen ausführlichen Bericht über die Aufstände und die Verschwörung wünscht. Und damit die Provinz nicht ohne Aufsicht bleibt, setze ich einen Vertreter ein.«

Kolskoi legte die Fingerspitzen zusammen, beugte sich zu seinem Nachbarn hinüber und begann eine leise Unterhaltung.

»Ich werde einen fähigen Mann an meiner statt die Geschäfte verwalten lassen, der mir viel geholfen hat.« Lodrik stand auf und legte seine Hand auf die Schulter Miklanowos. »Ijuscha wird stellvertretender Gouverneur Granburgs für die Dauer meiner Abwesenheit sein.«

Wortlos und als habe er nur darauf gewartet, stand Kolskoi auf, löste einen Beutel von seinem Gürtel und warf ihn auf den Tisch. Dann drehte er sich auf dem Absatz herum und verließ das Audienzzimmer. Der andere Adlige stellte ebenfalls einen Beutel auf dem polierten Holz ab und folgte dem Hara¢.

»Das hat nichts Gutes zu bedeuten«, murmelte Stoiko und sah den beiden Männern hinterher.

»Immerhin wissen wir nun, wie klar die Fronten sind.« Lodrik wechselte einen schnellen Blick mit Norina und hob seinen Becher. »Auf den neuen Stellvertreter und den neuen Kabcar. Möge Ulldrael ihnen ein langes Leben geben!«

Die Brojaken stießen an und leerten die Gefäße, während der Vertraute Kolskois Säckel öffnete und umstülpte. Waslecmünzen verteilten sich klingelnd auf dem Tisch.

»Hundert Stück, vermute ich?«, fragte Lodrik und wischte sich den Mund ab.

Stoiko nickte.

Ulldart, Königreich Tarpol, Provinz Granburg, dreißig Warst vor der Stadt Granburg, Winter 442/443 n.S.

Der Tross näherte sich Warst für Warst seinem Ziel.

An der Spitze ritt eine breite Gestalt auf einem mächtigen Apfelschimmel, Kopf und Körper waren mit dicken, kostbaren Pelzen behangen. Dahinter folgten fünf weitere Männer, die sich in ähnlicher Weise gegen die beißende Kälte schützten. Auch ihre Körper wirkten von ihren Ausmaßen her fast mehr als doppelt so kräftig wie die durchschnittlicher Menschen.

In kurzem Abstand dahinter rauschten zwei Schlitten, in dem einen saßen zwei weitere Reisende, der andere schien Proviant und Ausrüstung unter dem Segeltuch zu transportieren. Den Schluss bildeten fünfzehn weitere Reiter. Wimpel, Fahnen oder Ähnliches suchte man vergebens, ein zufälliger Beobachter erhielt keinerlei Hinweise, mit wem er es zu tun hatte. Eines war jedoch sicher: Die Reisenden gehörten nicht zu den Armen des Landes.

Auf einen knappen Befehl hin verschärfte die Spitze das Tempo, und die Schlitten legten an Geschwindigkeit zu. Hoch flog der Schnee unter den Hufen empor, die Kufen zischten über das Weiß. Der Himmel färbte sich dunkelgrau, die Nacht senkte sich allmählich auf das Land nieder.

Matuc zog den Schal weiter in sein Gesicht, dann rückte er die Fellkapuze zurecht, bis nur noch die braunen Augen zu sehen waren. Die Mühe war vergeblich. Die tarpolische Kälte schien sich immer irgendwo einen Weg durch die Kleidung zu suchen. Selbst die vier Lagen Decken und Pelze, in die er sich eingewickelt hatte, brachten nur bedingt eine Verbesserung der Lage. Der schon etwas ältere, ehemalige Vorsteher eines Ulldrael-Klosters presste die Zähne aufeinander und fragte sich, ob die Pferde das Tempo lange mitmachen würden.

Sie lagen weit hinter ihrem Zeitplan zurück, aber es war auf der Reise auch wirklich alles daneben gegangen, was hätte daneben gehen können.

Hatte Matuc zuerst tapfer versucht, die Strecke von Kuraschka bis nach Granburg auf dem Rücken eines Pferdes hinter sich zu bringen, fiel er am dritten Tag aus dem Sattel und brach sich bei seinem Sturz den Arm. Eine Woche war er ohne Besinnung gewesen.

Als er wieder im Stande war, sich auf den Weg zu machen, kam der Tross in den tarpolischen Herbst mit den reichhaltigen Regengüssen, die alle Straßen in Schlammstrecken verwandelten. Verdorbenes Futter ließ vier Pferde elend zu Grunde gehen. Belkala, die junge Priesterin des Gottes Lakastra aus Kensustria, wurde auf Grund des ungewohnt kalten Klimas krank und litt mehrere Wochen an einer furchtbaren Erkältung. Während dieser Zeit wich der Mönch nicht von ihrer Seite.

Der einzige, der allem Unbill wie ein Fels trotzte, war Nerestro von Kuraschka, Mitglied des Ordens der Hohen Schwerter. Der muskulöse Krieger in der schwersten Rüstung, die Matuc jemals in seinem Leben gesehen hatte, schien eine unerschütterliche Natur zu haben. Ohne sein Durchhaltevermögen und die eiserne Disziplin seiner Leute wäre die ganze Reise schon lange zum Erliegen gekommen.

Dank der vielen Unterbrechungen würden sie Granburg spät erreichen. Viel zu spät, wie Matuc fand.

Der Tross absolvierte einen abrupten Schwenk und steuerte ein einzelnes Gehöft an. Durch den Richtungswechsel erwachte Belkala aus ihrem leichten Schlaf.

»Was ist denn?«, fragte sie leise. »Warum haben wir den Hauptweg verlassen?«

Matuc versuchte mit den Schultern zu zucken, was ihm aber wegen der vielen Pelze nicht gelang. »Ich habe keine Ahnung, aber vermutlich wird es dem Ritter zu dunkel.«

Die Reiter und Schlitten kamen näher und verlangsamten ihre Geschwindigkeit. Aufmerksame Hunde bellten und warnten die Bewohner des Hauses vor den Ankömmlingen.

Ein besorgter Bauer trat aus dem Haus, hinter sich mehrere junge Männer versammelt, die Stöcke in den Händen hielten und den Besuchern feindselig entgegenblickten.

Nerestro hielt an und schlug die Kapuze zurück.

»Ich grüße dich, Bauer. Ich bin Nerestro von Kuraschka, Ritter des Ordens der Hohen Schwerter des Gottes Angor. Wir brauchen eine Unterkunft für die Nacht. Also stell uns deine Behausung zur Verfügung, und du sollst eine Belohnung für deine Freundlichkeit erhalten.«

Der Mönch seufzte leise. Wie immer klang der Ritter herrisch und selbstverständlich, wenn er etwas sagte, als akzeptiere er eine Weigerung nicht.

»Irgendwann wird er lernen, dass er nicht der Kabcar von Tarpol ist«, raunte Belkala Matuc zu, die seine Gedanken erraten hatte.

Der Bauer kniff die Augen zusammen. »Und wenn ich nun keinen Platz hätte, Herr?«

Nerestro stellte sich in die Steigbügel. Das Schwert an seiner Seite war nun deutlich zu sehen. »Dann würden wir uns eben welchen schaffen, Bauer. Ich bin weit geritten, meine Männer und die Tiere sind erschöpft. Ich habe keine Lust, mich mit dir auf ein langes Wortgefecht einzulassen.«

Diesen Hinweis konnte man nun verstehen wie man wollte, fand der Mönch.

Die jungen Männer fassten die Knüppel fester, aber der Bauer nickte. »Wir wären Euch ohnehin unterlegen, wenn Ihr uns übel wolltet. Tretet also ein. Bringt die Pferde in die Scheune.«

»Danke. Deine Mühe und deine Weisheit sollen am Tag unserer Abreise belohnt werden«, versprach der Ritter und schwang sich aus dem Sattel.

Jetzt erst stiegen auch die anderen fünf Begleiter ab, leichtes, metallisches Klappern war bei ihren Bewegungen zu hören. Belkala und Matuc standen mit steifen, durchgefrorenen Gliedern auf und staksten aus dem Schlitten.

Der Innenraum des Gehöfts füllte sich mit Menschen.

Ein paar Scheite Holz wurden auf das Feuer gelegt, die große Wohn- und Schlafstube erwärmte sich zusehends und ließ die Müdigkeit der Reisenden stärker werden.

In einer Mischung aus Neugier und Misstrauen beobachteten die Bauernsöhne die Fremden, die sich in ihrem Zuhause breit machten, Kälte und Schnee von draußen mit herein brachten und sich selbst das Gastrecht erteilt hatten.

Die Pelze der Neuankömmlinge fielen zu Boden, und zum Vorschein kamen sechs sorgfältig gearbeitete Metallrüstungen mit aufwändigen Gravuren. Für eine einzige dieser Rüstungen könnte man zehn solcher Bauernhäuser mit Vieh und Bediensteten kaufen.

»Was hast du zu essen, Bauer? Wir sind hungrig. Eine heiße Suppe sollte uns völlig genügen, um die Wärme in den Körper zurückzubringen«, sagte Nerestro, der sich zu Belkala und Matuc vor den Kamin gestellt hatte und die Hände gegen das Feuer hielt, um die Finger auf eine normale Temperatur zu bringen.

»Ich werde sehen, was ich tun kann, Herr«, antwortete der Mann. »Eine Suppe müsste zu beschaffen sein, trotz unserer geringen Vorräte.«

Die Tür öffnete sich, und einige Knappen kamen in den Raum, die auf einen Wink des Ritters begannen, die Kämpfer von ihrem Metallpanzer zu befreien. Schnallen und Riemen wurden geöffnet, Bänder durch Ösen gezogen und Nieten entfernt. Die Prozedur nahm eine gewisse Zeit in Anspruch. Die Bauernsöhne verfolgten die Bewegungen und Vorgänge mit wachsendem Erstaunen.

Schließlich stand Nerestro, nur noch mit einem wattierten Waffenrock bekleidet, vor den Flammen. Leicht bewegte er die mächtigen Schultern, ließ den kurzgeschorenen Kopf kreisen und dehnte die muskelbepackten Arme.

Belkala hatte sich in der Zwischenzeit einen Stuhl an den Kamin gestellt und sich ganz nahe an die Wärme gesetzt. Ihre dunkelgrünen Haare erregten das Interesse der Bauernsöhne, die tuschelnd in einer Ecke verharrten. Matuc lehnte mit dem Kopf an der Wand und schien im Stehen zu schlafen.

»Wir werden morgen in Granburg sein«, versprach der Ritter der Frau und strich sich über den langen, blonden Bart, der wie ein dünnes Goldseil von seinem Kinn auf die Brust baumelte. »Dann wird Bruder Rotwein seine Mission zu Ende führen können.«

»Um anschließend in Eurer Burg ein Jahr Haft abzusitzen«, fügte die Kensustrianerin hinzu. »Keine sehr schönen Aussichten für ihn.«

»Die hat er sich selbst zuzuschreiben, würde ich meinen. Und ich denke nicht im Traum daran, dem Mönch auch nur einen einzigen Tag Erlass zu gewähren.« Er sah sie an, die Flammen des Kamins spiegelten sich in seinen Augen. »Überlegt Euch, Ihr wärt wegen seiner Sauferei gestorben. Nicht auszudenken. Welche Verschwendung an Schönheit.«

»Vielen Dank.« Sie neigte leicht den Kopf.

»Und so hat mir Angor befohlen, Bruder Rotwein zu begleiten, und wenn mein Gott diese Pflicht verlangt, dann werde ich sie ausführen.« Er versetzte Matuc einen leichten Tritt, dass der Ulldraelmönch erschrocken hochfuhr. »Und? Wann erzählst du uns von deiner wichtigen Aufgabe, die so bedeutend ist, dass Angor persönlich dir einen seiner besten Kämpfer an die Seite stellt?«

Der einstige Klostervorsteher rieb sich die Augen, nahm am Tisch Platz und seufzte tief. »Ich habe es Euch schon mehrmals gesagt, und ich tue es nun wieder: Wenn wir in Granburg sind, werdet Ihr es erfahren.« Er sah auf den Holzteller, den ihm die Bäuerin hingestellt hatte. »Und benehmt Euch mir gegenüber etwas anständiger, wie es sich für einen Ritter gehört.«

Nerestro lachte laut. »Ich benehme mich, wie es sich für ein Mitglied des Ordens der Hohen Schwerter gebührt, wenn er einem verurteilten Gefangenen gegenüber steht.« Seine Stimme troff vor Hohn und Abscheu. »Angor hat mir nicht befohlen, dich zu mögen, sondern dich dorthin zu bringen, wohin du möchtest, Bruder Rotwein. Ich werde diese Aufgabe erfüllen, nicht mehr.«

Die Kensustrianerin legte ein Scheit Holz ins Feuer. Seit sie unterwegs waren, kamen diese Reibereien der beiden Männer ständig vor. Insgeheim bewunderte sie die Ruhe und Gelassenheit, mit der Matuc die ständigen Anfeindungen des Kriegers ertrug. Er schien es als Teil seiner Strafe zu sehen.

Nerestro machte keinen Hehl aus seiner Abneigung, die zuweilen an die Grenzen der Feindschaft stieß. Ganz im Gegensatz dazu stand sein zuvorkommendes Verhalten, wenn er sich mit ihr beschäftigte. Kein lautes Wort, keine Zurechtweisungen und keine doppeldeutigen Anspielungen auf ihren Gott Lakastra.

Sie hoffte nur, dass Matuc irgendwann nicht der Geduldsfaden riss und er dem Ritter die Meinung sagen würde. Geschähe das, würde der Mönch vermutlich in einzelnen Stücken nach Granburg gebracht werden müssen.

Bevor es zum nächsten giftigen Wortwechsel kommen konnte, brachten die Töchter des Bauern einen dampfenden Kessel in die Stube und verteilten den Inhalt in die bereitgestellten Teller. Nachdem die Herrschaften sich wortlos gestärkt hatten, wurde der bauchige Behälter in die Scheune getragen, wo sich die Knappen über ihren Anteil des Essens hermachten.

»Ulldrael, der Weise und Gerechte, möge dir für deine Großzügigkeit danken und dich für deine Mühe entlohnen«, bedankte sich Matuc. »Der Segen Ulldraels sei mit dir.«

Die ältere Frau lächelte schüchtern.

»Lakastra, der Gott des Südwindes und des Wissens, sei mit dir und deinem Haus. Er gebe dir eine reiche Ernte«, sagte Belkala freundlich, legte die rechte Hand aufs Herz und reichte ihr die andere.

Etwas verwirrt schaute die Bäuerin nun zu der Kensustrianerin, nahm aber die Hand und schüttelte sie vorsichtig, ohne die Fremde aus den Augen zu lassen. Offenbar fürchtete sie einen Angriff.

»Angor, der Gott des Krieges und Kampfes, der Jagd, der Ehrenhaftigkeit und der Anständigkeit, hat dein Haus auserwählt, um dich mit der bloßen Anwesenheit eines seiner Diener zu beglücken. Fühle dich geehrt.« Nerestro nickte huldvoll mit dem Kopf, während er sich über die Bartsträhne strich und die Füße unter den Tisch streckte.

Die Bäuerin verneigte sich und verschwand in der Küche nebenan.

»Genau das ist der Unterschied zwischen unseren Göttern«, sagte der Mönch unvermittelt in Richtung des Ritters. »Ihr glaubt, über alles und jeden bestimmen zu können, nur weil Ihr Angor auf Eurer Seite wisst. Das macht Euch überheblich und nicht gerne gesehen beim einfachen Volk.«

»Hast du wieder getrunken, Bruder Rotwein?«, meinte der Kämpfer spöttisch. »Meine Landpächter sind sehr zufrieden mit der Art, wie ich mit ihnen umgehe.«

»Die vielleicht schon. Aber was ist mit den Leuten hier?« Matuc schaute sich in der verrauchten Stube um. »Wir haben uns einquartiert, weil wir sie dazu gezwungen haben, nicht weil wir eingeladen wurden. Ihr habt der Familie sogar gedroht. Was hättet Ihr gemacht, wenn sie uns die Scheune verweigert hätten?«

Belkala stützte den Kopf auf die Hände und wartete die Antwort des Ritters ab.

Nerestro umfasste den Schwertknauf. »Sie hätten uns aber nicht das Nachtlager verwehrt.«

»Das war nicht die Frage, Nerestro von Kuraschka«, schaltete sich die Priesterin ein. »Was wäre geschehen, wenn der Bauer den Mut besessen und sich geweigert hätte?«

»Ich bin ein Ordenskrieger und höheren Zielen verpflichtet.« Das Gesicht des Mannes verfinsterte sich. »Wenn ich dich in der Kälte erfrieren ließ, hätte ich versagt und meinen Gott enttäuscht, der mir persönlich diese Aufgabe übertragen hat. Und das käme niemals in Frage.« Das Ende der Schwertscheide wurde auf den Boden geschlagen. »Wir wären heute Nacht in diesem Haus untergekommen, auf die eine oder andere Weise. Mehr sage ich nicht dazu. So, wie es sich entwickelt hat, ist es aber für alle besser.«

»Ihr seid anmaßend«, spie Matuc aus. »Ihr hättet ihnen tatsächlich Leid angetan.«

Nerestro lächelte böse. »Und du bist der Grund, weshalb wir hier sind. Müsste ich jemanden töten, hättest du Mitschuld, vergiss das nicht, Mönch. Dein Gott und der meinige scheinen sich, aus welchem Grund auch immer, abgesprochen zu haben. Ich hoffe, ich erfahre es irgendwann.« Er stand auf, kehrte den beiden den Rücken zu und stellte sich vor den Kamin.

»Es tut mir Leid«, sagte Belkala leise.

Matuc wandte ihr erstaunt das Gesicht zu. »Was tut Euch Leid?«

»Wie er Euch behandelt. Es ist so herabwürdigend.« Sie brach sich ein Stück Brot ab und kaute langsam darauf herum. Sanft ruhten ihre Augen auf dem Mönch.

»Ich bin sein Gefangener und habe mich eines üblen, widerlichen Verbrechens schuldig gemacht«, sagte er nach einer Weile. »Ich verstehe ihn schon und mich immer noch nicht, wie mir das damals passieren konnte. Ich denke, ich habe seine Behandlung verdient.«

»Verdient habt Ihr, dass man Euch nicht zu gut behandelt. Aber ein freundlicherer Umgangston würde die Stimmung auf der Reise wesentlich verbessern. Es ist ohnehin schon so viel schief gegangen, dass auch ich allmählich Bedenken bekomme. Entweder, Ulldrael, Lakastra oder Angor sehen es nicht ein, uns auch nur einen Hauch Unterstützung zu gewähren, oder etwas sehr Mächtiges legt uns auf die ein oder andere Weise Steine in den Weg.«

Die Augen des Mönchs wurden schmal. »Was könnte mächtiger sein als Ulldrael? Oder drei Götter zusammen?« Er fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »So etwas gibt es nicht.«

»Ich weiß nicht«, entgegnete die Priesterin vorsichtig. »Nachdem, was ich von Euch gehört habe, ist diese Bedrohung, die den ganzen Kontinent ins Verderben stürzen wird, auf dem Weg, oder? Wenn es nun Vorboten sind? Wenn, was auch immer dabei ist, seine Kraft zu sammeln, uns zu bremsen versucht?« Sie umfasste die Hände des erstaunten Matuc. »Wir müssen uns beeilen. Und wir dürfen uns durch nichts aufhalten lassen.«

»Ihr meint also wirklich, unsere ganzen Schwierigkeiten, die Krankheiten, der Sturz vom Pferd, die über alle Maßen schlammigen Wege, das soll das Werk einer bösen Macht gewesen sein?« Noch immer klang er nicht überzeugt. Ihre Berührung verwirrte ihn zusätzlich. Wie kühler Samt fühlte sich ihre Haut an, das Bernstein ihrer Augen drang tief in sein Bewusstsein, wie damals im Kerker der Burg. Sein Herz schlug schneller.

»Ich weiß es nicht.« Sie ließ ihn los. »Wenn es so ist, dann müssen wir verhindern, dass es noch stärker wird.«

»Ich muss mich hinlegen, ich bin müde«, stammelte der Mönch und ging zur Tür. »Gute Nacht.«

Belkala hob grüßend die Hand, Nerestro starrte weiter in die Flammen.

Die beiden waren nun die Einzigen im Raum. Eine seltsam unruhige Stille breitete sich aus. Leise knackte das Holz im Feuer, aus den Stallungen klangen das Gemurmel der Männer und die Laute des aufgeweckten Viehs.

Die Kensustrianerin beobachtete den Ritter. »Ich wünschte, Ihr wärt ein wenig netter zu Matuc.«

»Und ich wünschte, mein Gott hätte mir diesen Auftrag nicht erteilt«, entgegnete Nerestro, ohne sich umzudrehen. »Ich ziehe mit wehenden Fahnen in den Kampf, ich stürze mich kopfüber ins Gefecht, aber den Lebensretter für den zu spielen, der eigentlich in den Kerker gehört, das ist mir zuwider. Der Mönch hat sogar darauf bestanden, dass wir ohne Standarten durch das Land ziehen. Wie arme Bettler. Wenn ich einem meiner Ordensbrüder begegnen sollte, wird er mich auslachen.«

»Vielleicht hat sich Angor deshalb diese Prüfung für Euch ausgedacht?«, meinte sie freundlich. »Eine Aufgabe, die nicht jeder Eures Ordens besteht.«

Der Ritter wandte sich nun doch um. »Sehr geschickt von Euch, Belkala. Und nun sagt mir, was Ihr über die geheimnisvolle Sache von Bruder Rotwein wisst. Ich denke, er hat Euch eingeweiht.« Er kreuzte die Arme vor der breiten Brust. Als er versuchte, sie zu fixieren, wich sie seinem forschenden Blick aus.

»Er hat mir nichts Konkretes gesagt«, antwortete sie zögerlich. »Er sucht wohl jemanden in Granburg.«

Triumph zeigte sich in dem kantigen Gesicht des Kämpfers. »Ich wusste es!« Seine Hände wanderten an den breiten Gürtel und umfassten die silberne Schnalle. Wie ein Berg stand er vor der zierlich wirkenden Kensustrianerin und schaute auf sie herab. Dann lächelte er. »Er sucht also jemanden. Um was zu tun?«

Sie zuckte langsam mit den Achseln. »Das wollte er mir nicht sagen. Er hält sich sehr zurück.«

Nerestro machte einen Schritt nach vorne und ging in die Hocke, um sich auf die gleiche Augenhöhe mit Belkala zu bringen. »Sagt Ihr mir auch bestimmt die Wahrheit, Priesterin aus einem märchenhaften Land? Ich werde das Gefühl nicht los, dass Ihr mir etwas verheimlicht.«

Sie schaffte es, einen verwunderten Ausdruck in ihr Gesicht zu zaubern. »Das würde ich niemals wagen. Dazu habe ich viel zu viel Angst vor Eurer … großen Milde, sollte mein Schwindel entdeckt werden.«

»Ich Euch bestrafen? Wie kommt Ihr denn darauf?« Er fuhr mit einer Hand über ihre Wange. »Das könnte ich niemals tun. Dafür seid Ihr mir zu sehr ans Herz gewachsen. Ich wünschte, ich müsste Euch an Stelle seiner beschützen.« Er stand auf, setzte sich an den Tisch und zog die aldoreelische Klinge.

Die Schneide schimmerte im Schein des Feuers, die Edelsteine funkelten und glänzten überirdisch. Vorsichtig führte Nerestro die flache Seite an den Mund, küsste die Blutrinne und sprach ein leises Gebet. Bedächtig verstaute er die Waffe wieder.

Belkala hatte den Mann bei seinem Tun nicht aus den Augen gelassen. Sie studierte das religiöse Verhalten ganz exakt, um einen Eindruck von den Gewohnheiten anderer Glaubensangehöriger zu bekommen.

Seit ihrer Abreise wiederholte der Ordensritter dieses Ritual vor dem Schlafengehen. Die Worte waren stets die gleichen, auch der Tonfall änderte sich nie. Theoretisch hätte sie mit ihm beten können, so gut kannte sie inzwischen den Ablauf.

Matuc dagegen, als Anhänger von Ulldrael, sprach über den Tag verteilt zu seinem Gott, bedankte sich bei ihm für dieses und jenes, erteilte Tarpolern den Segen oder versprach den Beistand seines göttlichen Schutzherrn.

Die Kensustrianerin beschränkte sich auf die Übermittlung der guten Wünsche Lakastras, was schon ausreichte, um in Tarpol Verwunderung auszulösen.

Die meisten Menschen hielten das Land am südlichen Ende von Ulldart immer noch für eine Märchenerzählung großspuriger Händler und Aufschneider, die angeben wollten. Dass nun aber plötzlich eine Unbekannte vor ihnen stand, die dazu noch den Segen eines unbekannten Gottes erteilen wollte, war manchen mehr als unheimlich. Sie wusste nicht genau, ob Übergriffe von Dörflern nur deshalb ausblieben, weil sie eine Frau oder in Begleitung eines waffenstarrenden Trosses war.

»In Gedanken seid Ihr wohl zu Hause?«, sagte Nerestro hinter ihr. »Ich könnte das verstehen. Man sagt, Kensustria sei ein mildes, warmes und sehr schönes Land.«

»Wer sagt das?« Die Priesterin wandte sich um, lächelte und zeigte ihre spitzen Eckzähne. »Ich kann mich nicht erinnern, dort viele Fremde gesehen zu haben.«

»Euer Land war auch in der Vergangenheit nicht das freundlichste, wenn Ihr Euch zurückbesinnt.« Der Ritter hatte in ihrem Rücken Platz genommen und schenkte dampfenden Tee in ihre Becher. »Die Kriegerkaste hatte die Grenzen vollkommen abgeriegelt, Fremde vertrieben oder getötet, wenn es stimmt, was man sich in Tarpol erzählt hat.«

Sie nahm den Becher und nippte daran. »Ja. Das war eine sehr schlimme Zeit für Kensustria. Ihre Kaste ist zwar immer noch an der Spitze, aber sie haben sich beruhigt. Kensustria darf wieder von anderen betreten werden. Wir haben sogar schon Handwerker aus Aldoreel angesiedelt.«

»Und trotzdem bleibt Euer Land geheimnisumwittert bei den Völkern von Ulldart. Ihr wisst, was man sich in Tarpol über die Kensustrianer erzählt?« Er lehnte sich etwas vor. »Deshalb wundert es mich eigentlich, dass Ihr hier allein unterwegs seid.«

Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. »Matuc hat einmal etwas angedeutet, aber richtig erfahren habe ich es nie.«

»Oh, dann haltet Euch fest. Die Menschen in den nördlichen Gebieten stehen den Kensustrianern normalerweise misstrauisch, wenn nicht sogar feindselig gegenüber. Habt Ihr das nicht auf Eurem Weg bemerkt?«

»Doch, schon. Aber ich dachte, es hinge mit der Gottheit zusammen.« Sie strich sich durch ihre dunkelgrünen Haare und blies über die heiße Flüssigkeit.

»Nein, da habt Ihr Euch getäuscht. Ihre Legende vom Aufstieg der Kensustrianer besagt, dass sie frühe Mischungen aus Vampiren und Menschen sind. Ihr großes Wissen hätten sie von den Opfern aus anderen Kontinenten, die sie ausgesaugt und vernichtet haben. Deshalb ist Kensustria fortschrittlicher als alle anderen.«

»Wie abscheulich!« Belkala schüttelte sich. »Das erklärt die Blicke der Bäuerin. Lakastra hat mich vermutlich öfter beschützt als ich annahm.«

»Es scheint so, ja. Und wenn ich Eure spitzen Eckzähne in Eurem bezaubernden Mund sehe, könnte das mit den Vampiren vielleicht nicht so ganz abwegig sein, oder? Aber Märchen interessieren mich nicht. Ihr versteht, dass ich mich mehr für das Kriegshandwerk interessiere. Ich habe schon viel über Eure Kämpfer und ihre merkwürdigen Waffen gehört.« Er nahm einen Schluck, die andere Hand legte er auf den Tisch. »Wie kämpft man bei Euch? Ich würde mich gerne mit einem der Euren messen.«

Sie lachte freundlich. »Das kann ich mir sehr gut vorstellen, Nerestro von Kuraschka. Ihr würdet einen hervorragenden Zweikampf erleben. Aber im Allgemeinen habe ich die Nähe zu den Kriegern vermieden. Sie sind eine seltsame Gruppe, voller Überheblichkeit und Arroganz gegenüber allen anderen.« Die Kensustrianerin sah den Ritter an.

»So wie ich, wollt Ihr mir sagen, oder?« Nerestro grinste. »Ihr werdet wenig Glück haben, wenn Ihr auf eine Diskussion gehofft habt. Ich bin nicht Matuc.«

»Ich weiß«, seufzte sie, »ich weiß es nur zu gut.«

»Er könnte Euch auch nicht so beschützen, wie ich es tue.« Er legte seine Hand auf ihre. »Ich glaube, Ihr wärt der einzige Grund, weshalb ich noch in den Tod gehen würde, außer für Angor.«

Belkala zog ihre Hand vorsichtig zurück. »Ich hoffe für uns alle, dass Angor das nicht gehört hat.«

»Vielleicht hat er sich gerade mit Lakastra unterhalten und nichts von unserem Gespräch mitbekommen? Und wenn sich die Götter schon so gut verstehen, dann sollten sich die beiden Gläubigen auch näher kommen, finde ich«, meinte der Ritter und griff erneut nach ihrer Hand. »Wir sollten die Gelegenheit nutzen.«

»Ihr meintet, Ihr wollt die Gelegenheit nutzen«, verbesserte sie. »Matuc hatte Recht: Ihr seid anmaßend.« Ihre bernsteinfarbenen Augen glühten empört. Sie sprang auf und verließ den Raum.

»Nehmt einen Mantel mit. Draußen ist es kalt«, rief Nerestro hinterher. Er stützte beide Hände auf den Schwertknauf und richtete den Oberkörper auf. »Ich werde sie schon noch zähmen«, versprach er sich leise. »Früher oder später gehört sie mir.«

In aller Frühe brach der Tross nach einem kurzen Frühstück auf. Der Ordensritter überließ dem Bauer einen Beutel mit fünfzig Waslec als Bezahlung für die erzwungene Unterkunft.

Natürlich spendeten Matuc und Belkala den Segen ihrer Gottheit, während Nerestro wie üblich die große Güte Angors für denjenigen unterstrich, der einen seiner Krieger hier übernachten ließ. Dann ging es mit verschärftem Tempo in Richtung der Provinzhauptstadt.

Der Himmel war eisblau, die klirrende Kälte ließ den Atem fast gefrieren. Ohne Wolkendecke sanken die Temperaturen noch tiefer als das bisher der Fall gewesen war. Unwillkürlich rückten die Priesterin und der Mönch enger im Schlitten zusammen, um so viel gegenseitige Wärme wie möglich voneinander zu erhalten.

Matuc war die ungewohnte Nähe sichtlich unangenehm.

»Ich mache das nur, damit wir nicht erfrieren«, sagte er nach einer Weile. »Nicht, dass Ihr das falsch versteht.«

»Habe ich mich etwa darüber beschwert?«, fragte sie sanft. »Ich bin für jede Wärme dankbar.« Die Frau rückte noch näher heran. »Versteht das nicht falsch. Ich mache das nur, damit wir nicht erfrieren.«

Ihr dunkelgrünes Haar, das unter der Kapuze durch den Fahrtwind herauswehte, kitzelte an Matucs Nasenspitze. Mit großer Überwindung schaffte er es, seinen rechten Arm um sie zu legen.

Insgeheim überlegte er, ob die Priesterin ein Teil seiner Prüfung war, die ihm Ulldrael aus irgendeinem Grund auferlegt hatte. Vom Alter her könnte er der Vater der Kensustrianerin sein, trotzdem fühlte er sich auf seltsame Weise zu ihr hingezogen. Er schob es auf die Dankbarkeit, weil sie ihn aus dem Kerker des Ritters befreit hatte, indem sie ihren Gott um Beistand bat. Sollte es allerdings mehr sein als Dankbarkeit, wusste er nicht, wie er damit umzugehen hatte.

Matuc spürte, wie sein Kopf rot wurde. Schnell zog er den Schal weiter ins Gesicht und die Fellkappe tiefer. Seine Verlegenheit ging niemanden etwas an. Und er fürchtete den beißenden Spott des Ordenskriegers.

Das Gefährt verlangsamte seine Geschwindigkeit. Vor ihnen tauchte ein breiter Fluss auf, der nur zur Hälfte zugefroren war. Glitzernd schoss das Wasser auf einer Breite von zehn Pferdelängen in der Mitte entlang, rechts und links davon wuchs immer dicker werdendes Eis. In ein paar Wochen würde der Fluss ohne Gefahr selbst für schwere Schlitten überquerbar sein. Jetzt stellte er ein Hindernis dar.

An beiden Ufern waren Stege vorhanden, ein armdickes Tau spannte sich mittels Pfosten über das Wasser. An diesem breiten Seil lief normalerweise ein Fährfloß entlang, das nun aber vereist am anderen Ufer lag und von hier aus nicht loszubekommen war. Der Ritter ließ absitzen und stapfte zum Schlitten.

»Es hat keinen Sinn, einen anderen Übergang zu suchen, wir kennen uns zu wenig in der Gegend aus«, berichtete er. »Ich werde Knappen am Tau entlang hangeln und das Floß losschlagen lassen. Danach brechen wir uns eine Fahrrinne und setzen über. Eine zeitaufwändige Vorgehensweise, aber es geht nicht anders.«