Der Pakt – Zwei Frauen. Eine Flucht. Und ein dunkles Geheimnis. - Benedikt Gollhardt - E-Book
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Der Pakt – Zwei Frauen. Eine Flucht. Und ein dunkles Geheimnis. E-Book

Benedikt Gollhardt

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Beschreibung

Es gibt ein Geheimnis, das du verbergen musst. Doch es will mit aller Macht ans Licht …

Caroline hat geschworen, das Gesetz zu schützen. Dabei ahnt niemand, dass sie es schon längst gebrochen hat. Als sie mitten in der Nacht zu einer Lagebesprechung ins Präsidium gerufen wird, scheint ihre größte Sorge wahr zu werden: In einem abgelegenen Forsthaus gab es eine Explosion, die mehrere Menschen das Leben gekostet hat, und zwei Teenager sind auf der Flucht. Caroline soll die Tatverdächtigen aufspüren. Dabei ist es das Letzte, das sie will. Denn mit einer der flüchtigen Personen verbindet Caroline ein düsteres Geheimnis aus ihrer Vergangenheit … Je näher sie den Flüchtigen kommt, desto größer wird die Gefahr für sie selbst.

Drehbuch- und Bestsellerautor Benedikt Gollhardt zeigt, dass Cliffhanger nicht nur ins Kino gehören!

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Seitenzahl: 463

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BENEDIKT GOLLHARDT, Jahrgang 1966, ist Drehbuchautor. Bekannt wurde er unter anderem durch preisgekrönte Serien wie »Türkisch für Anfänger« und »Danni Lowinski«. Sein hochgelobtes Thrillerdebüt »Westwall« schaffte es auf Anhieb auf die SPIEGEL-Bestsellerliste. Der Thriller wurde vom ZDF als sechsteilige Serie verfilmt, für die Benedikt Gollhardt auch das Drehbuch verfasste.

Außerdem von Benedikt Gollhardt lieferbar:

Westwall. Thriller.

Benedikt Gollhardt

DER PAKT

Zwei Frauen. Eine Flucht. Und ein dunkles Geheimnis.

Thriller

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Copyright © 2023 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Kristina Lake-Zapp

Umschlaggestaltung: bürosüd

Covermotiv: Getty Images / Moment

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26659-2V002

www.penguin-verlag.de

Für Fili

1

Alle waren ihr auf den Leim gegangen. Niemand hatte das Ungeheuerliche bemerkt, und sie war durchgekommen. Fast. Da war immer noch dieses juckende Gefühl, ein kleiner Rest Unsicherheit, der einfach nicht verschwinden wollte. Es gab keinen Zweifel, sie war noch irgendwo da draußen. Was, wenn sie zurückkommen würde? Wenn sie ihr neues Zuhause finden würde? Um abzurechnen.

Caroline hatte vorgesorgt. Das alte Backsteinhaus war ideal, um unterzutauchen, es lag am anderen Ende der Stadt, wo niemand sie kannte und niemand Fragen stellte. Es sollte ihre Trutzburg werden. Und dennoch war die Angst mit umgezogen. Etwas in ihr ahnte, dass sie auch hier nicht sicher sein würde, nicht heute, nicht morgen, nicht bis an ihr Lebensende.

Nach dem Einzug hatte Caroline versucht, sich mit Renovierungen abzulenken, und sie war selbst überrascht gewesen, wie sehr sie darin aufging. Sie hatte ihre Leidenschaft für Baumärkte entdeckt, sich nächtelang durch Tutorials gearbeitet und nach und nach den heruntergekommenen ersten Stock mit neuen Holzdielen, neuen Fußleisten und gestreiften Tapeten in eine gemütliche Wohnung verwandelt. Hilfe hatte sie nicht gewollt, weder vom Vermieter im Erdgeschoss noch von den Kollegen und schon gar nicht von unbezahlbar teuren Handwerkern. Caroline wollte ungestört sein, allein mit ihrem Baby, das während der Bauarbeiten auf einer kleinen Matratze neben der provisorischen Werkbank lag, ihr beim Spachteln, Schrauben und Streichen zuschaute und ab und zu mit seinen wedelnden Armen die Glöckchen erklingen ließ, die über ihm von einem Gestell herabbaumelten.

Als der Sommer gekommen war, nahm sie sich das dunkle Dachgeschoss vor. Sie warf das alte Gerümpel auf den Sperrmüll, schliff die wurmstichigen Holzdielen ab und versiegelte sie mit Leinöl, sie riss die schimmelige Holzvertäfelung von der Dachschräge und nagelte Gipskartonplatten vor die neue Dämmung.

Jetzt, nach mehr als einem halben Jahr Arbeit, legte Caroline die Malerrolle beiseite und beobachtete zufrieden, wie das Licht der Nachmittagssonne durch das weiß gestrichene Dachgeschoss strahlte. Sie drehte die Musik aus dem Kofferradio lauter, nahm ihr Baby von seiner Matratze hoch und tanzte mit ihm durch den Duft der frischen Farbe, bis der Kleine vor lauter Glucksen einen Schluckauf bekam. Die Musik erstarb, es folgten die Nachrichten. Caroline legte ihr Kind zurück und drückte den Deckel auf den Farbeimer. Im Hintergrund hörte sie die Stimme der Nachrichtensprecherin: »Am Mittag kam es im deutsch-belgischen Grenzgebiet zu einer schweren Explosion. Nach noch unbestätigten Berichten ereignete sich die Detonation in einem abgelegenen Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg, der einer mutmaßlichen Terrorgruppe als Sprengstoffversteck diente. In dem unwegsamen Waldgebiet findet zurzeit ein Großeinsatz von Polizei und Feuerwehr statt, das Gebiet ist weiträumig abgeriegelt. Die Behörden bitten darum, die umliegenden Landstraßen …«

Die Worte der Sprecherin verschwammen in Carolines Ohren, Bilder schwirrten durch ihren Kopf: Kolonnen mit Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei. Hubschrauber. Hundertschaften, die in schweren Stiefeln durch den Wald stapften, in voller Montur, mit schuss- und stichsicheren Westen, Maschinenpistolen, Hunden. Keiner der Kollegen würde wissen, was ihn erwartete. Jederzeit konnte einer von ihnen zur Zielscheibe werden. Ein Job ohne Gewähr, dachte sich Caroline im Stillen und wickelte die Malerrolle in Frischhaltefolie.

Auch sie hatte auf ihren Streifengängen immer eine Waffe und die Weste getragen. Rund um den Bahnhof gab es genug Durchgeknallte, die urplötzlich auf sie losgehen konnten, mit einem Messer, einer Spritze oder den blanken Fäusten. Sie hatte stets mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Aber diese Welt war weit weg. Mit der Geburt des Babys war Caroline eine andere geworden. Sie hatte die Uniform eingemottet, eine achtmonatige Elternzeit angetreten und begonnen, um sich und ihren Sohn einen Kokon zu spinnen. Sie präsentierte ihr Kind nicht auf der Wache, wie es andere stolze Beamtinnen taten, und sie lud nach dem Umzug niemanden zu einer Wohnungseinweihung ein. Stattdessen kochte sie ihr soziales Leben herunter und widmete es einzig ihren ganz privaten Routinen: Am Morgen ließ sie sich von den strampelnden Kinderbeinchen aus dem Bett treiben, sie wechselte Windeln und wärmte das Milchfläschchen auf, während die Kaffeemaschine durchlief und der Toaster glühte. Gegen neun Uhr ging es regelmäßig raus in den Park, immer im großen Bogen um den Spielplatz, wo die Mütter des Viertels zusammengluckten, die sich schon von den Geburtsvorbereitungskursen kannten und ihre Kinder in Herden großzogen. Caroline mied die Frauen, zu viele Fragen, zu viel Neugier. Sie hatte sich und ihr Baby unsichtbar gemacht.

Nun schaltete sie das Radio aus, nahm ihren Sohn in den Arm und ging hinunter in ihre Wohnung im ersten Stock. Während der Arbeiten im Dachgeschoss hatte sie sich mit einer dauerhaften Unordnung arrangiert, es kam ja auch kein Besuch. In der Spüle der offenen Küche stapelte sich das Geschirr, der volle Wäscheständer stand mitten im Zimmer, und die Wickelmatte war zum festen Bestandteil des Esstischs geworden, genau wie die Steppdecke zu dem großen Sofa gehörte, auf dem Rasseln, Beißringe und Plüschtiere lagen. Sie ging wie ferngesteuert zum Laptop, der geschlossen auf dem flachen Couchtisch stand. Sollte sie die Überwachungsbilder jetzt schon kontrollieren? Es ist noch nicht Abend!, protestierte eine Stimme in ihrem Kopf. In den ersten Wochen im neuen Haus hatte sie tagsüber fast stündlich die Aufnahmen von der Straße vor dem Haus überprüft, mit flachem Atem und feuchten Händen. Irgendwann hatte sie sich dabei erwischt, dass sie auch nachts, während sie dem Kleinen das Fläschchen gab, auf die Aufnahmen der Überwachungskamera starrte. Am Morgen danach hatte sie sich geschworen, die Bilder nicht öfter als zweimal pro Tag aufzurufen. Die verdammte Angst sollte sie nicht länger beherrschen! Zwei Kontrollen täglich würden reichen, mussten reichen, um rechtzeitig gewarnt zu sein. Wenn sie vor der Tür stehen würde, um in Carolines Kokon einzudringen und ihn in Stücke zu zerreißen!

Durch die offenen Fenster drang das Rauschen des ununterbrochenen Autostroms, mit dem die Berufstätigen an jedem Werktag aus der Stadt gespült wurden.

Caroline verharrte vor dem zugeklappten Laptop wie ein Alkoholiker vor seiner Hausbar. Erst als das Baby an ihren Haaren zog, löste sie sich aus ihrer Lähmung und ging zum Kühlschrank, um sich mit einem Eis abzulenken.

*

Es war kühl in der kleinen Höhle. Karl hatte wie ein Kamel aus dem Bach gesoffen, aber der Geschmack von Erde und Benzin lag noch immer auf seiner Zunge. Sein linkes Ohr war nur noch ein pochender Stumpf, und auf seinen brennenden Oberarmen klebten die Blumenmuster des versengten Hawaiihemdes wie Abziehbilder.

Die Explosion hatte ihn im hintersten Teil des Bunkers erwischt. Er hatte gehofft, das Feuer im Bombenlager noch löschen zu können, hatte Asche und Ruß eingeatmet, mit einem Tuch in die Flammen geschlagen und seine Hände verbrannt. Aber es war zu spät gewesen. Er war in den Tunnel gehastet, tiefer in den Untergrund. Dann hatte ihn die erste Explosion wie eine Dampfwalze getroffen. Die glühend heiße Druckwelle hatte ihn in den Maschinenraum geschleudert, wo er sich auf dem Zementboden zusammenrollte und seine Ellbogen an den Kopf presste, während die Kaskade der explodierenden Gasflaschenbomben ihn wie Faustschläge im Bauch traf. Als die zwei Meter dicke Betondecke über ihm mit einem gewaltigen Knacken riss, regnete es Erde auf ihn herab, bis er fast vollständig darunter begraben war. Nach oben! An die Oberfläche!, hatte es in ihm geschrien, und er hatte sich hinaufgegraben wie ein verschütteter Käfer, der ans Licht gelangen will. An die Luft. Zwischen seinen Zähnen hatte er Sand und Wurzeln gespürt, auf der Zunge den Geschmack von Pilzen und Moder, seine Augen und Ohren waren voller Erde, er wühlte sich durch die Finsternis – bis er endlich spürte, wie seine Hände durch eine nasse Laubschicht ins Freie reichten. Er lebte. Und er rannte los, rannte, so weit er konnte.

Jetzt lauschte Karl den Geräuschen des Waldes, die wie durch Watte in seinen verstopften Gehörgang drangen. Sie waren so vertraut. Der Blutstrom, der sich warm an seinem Hals hinab auf die Schulter ergossen hatte, war zu einer dreckigen Kruste erstarrt. Er schaltete die Grablampe an und sah sich in der kleinen Höhle um. Eine mächtige Eiche hatte sie am Rande des Baches mit ihren Wurzeln geformt. Seine Zuflucht. Gewachsen nur für ihn, dachte Karl, schloss die Augen und atmete tief. Die Moosfäden, die er aus dem Wasser gefischt hatte, klebten kühl auf seiner verbrannten Haut. Erst hatte er im Feuer gestanden, dann hatte er seine rußschwarzen Lungen mit Luft gefüllt, dann im Wasser des Baches gelegen, jetzt war er bei ihr, Mutter Erde. Ihr Atem roch nach verdauten Laubblättern. Er war ein Samen, verborgen im dunklen Untergrund, wo er Kraft tankte, um zu wachsen, um zu überleben. Um hinauszugehen und abzurechnen.

Karl öffnete die Augen. Vor der Höhle hatte eine Spinne zwischen den Wurzeln ihr Netz gespannt, in den silbrigen Fäden hingen schwere Wassertropfen. Karl konnte darin sein Gesicht erkennen, eine winzige schwarze Scheibe mit zwei gleißend weißen Augen, hinter denen jetzt ein Gedanke aufflammte: Wer war es? Wer hatte das Bombenlager im Bunker angezündet?

Plötzlich schreckte er hoch, sein rechtes Ohr lauschte in den Wald. Hunde! In der Ferne knackten Zweige, Stiefel stapften durch das Laub. Vielleicht ein Dutzend. Sie sind da.In meinem Wald. Minuten später erspähte er durch das Spinnennetz die ersten Gestalten oberhalb der Senke, eine löchrige Kette von Männern und Frauen in Kampfanzügen und schusssicheren Westen. Um ihre Schultern hingen Maschinenpistolen. Manche hielten Hunde an langen Leinen. Die Tiere schnüffelten mit aufgestellten Ruten im Laub.

Sie würden ihn nicht riechen, dachte Karl, der Bach war die Grenze für alle Gerüche. Er sah, wie der Suchtrupp auf einige umgestürzte Bäume traf und seitlich abdrehte. Einer der Polizisten blieb stehen und blickte in Karls Richtung, ein gedrungener Mann mit hellen Haaren, nicht mehr ganz jung. Er kletterte umständlich über die Stämme und kam mit schleppenden Schritten näher, direkt auf die Wurzelhöhle zu. Karl konnte die Nummer auf seiner Uniform lesen. 31421. Er kauerte sich zusammen, ohne einen Atemzug, ohne eine Regung, ein Lauerjäger in seinem Nest. Seine verengten Augen fixierten den Polizisten.

Der Beamte erreichte den Eingang der Wurzelhöhle, ging vor dem Bach in die Knie und schaufelte sich schnaufend Wasser ins Gesicht. Karl sah die verschwitzten Haare, die an den Schläfen des Polizisten klebten, er konnte die Hitze unter dessen Overall spüren, das Gewicht der schusssicheren Weste und der Maschinenpistole. 31421 beugte sich schließlich tief mit dem Kopf hinunter und trank gierig. Nach wenigen Zügen hielt er abrupt inne und schaute auf. In seinem Blick lag die Unruhe eines aufgeschreckten Rehs. Die Hand ging zum Pistolenholster, und sein nasses Gesicht richtete sich direkt auf den Höhleneingang. An seiner Nasenspitze hing ein schwerer Wassertropfen. Ein Sonnenstrahl blitzte darin auf. Langsam dehnte sich der Tropfen nach unten, zog sich weiter in die Länge, löste sich schließlich von der Nase und fiel als schillernde Kugel hinab. Noch bevor sie auf dem Boden zerplatzen konnte, schossen Karls Arme wie die einer Gottesanbeterin aus der Höhle hervor, packten den Polizisten am Hals und zogen ihn ins Dunkel hinein.

Der Schrei erstickte, bevor er die Kehle verließ. Im schwachen Schein der Grablampe warf sich Karl auf sein Opfer und drückte dessen Kopf in den modrigen Untergrund. Die schmutzigen Hände umklammerten den Hals wie eine fest verschweißte Zwinge. Das Gesicht des Polizisten schwoll an, in seinen aufgerissenen Augen standen Fragezeichen.

Was glaubte der Bulle wohl zu sehen?, überlegte Karl. Einen erdverkrusteten Waldgeist? Ein Fabelwesen aus der Unterwelt? Der Cop hatte recht: Hier unter dem Baumriesen war Karl ein Wesen aus einer anderen Zeit, als Mensch und Tier und Pflanzen noch gleich waren. Aber bald würde er wieder ein Mensch werden, schwor er sich, durch die Kraft der Kräuter und Moose des Waldes. Er würde wieder der kleine Junge sein, der zusammen mit seinem Großvater zwischen riesigen Stämmen umhergestapft war, mit ihm an Sträuchern, Stauden und kleinen Blumen stehen blieb, ihre Blätter zerrieb, unter die Nase hielt und daran leckte. Er hatte sich die Namen der Pflanzen nicht merken können, aber er hatte sich die Form und die Kraft jedes einzelnen Blattes eingeprägt, das die von Tausenden Zigarren vergilbten Hände seines Großvaters behutsam befühlten.

Ein Stöhnen. Der Körper des Polizisten wollte sich aufbäumen, seine Beine strampelten.

Karl drückte fester zu. Seine Stimme war noch rau vom Qualm im Bunker: »Schschsch … gleich ist es vorbei …«

Bald bettelten die Augen des Polizisten nicht mehr, sie begannen, durch ihn hindurchzublicken, und verloren sich langsam in einer unendlichen Ferne, in der Menschen, Tiere, Bäume, Wurzeln, Wasser und Luft keine Rolle mehr spielten.

*

14:32 Uhr – eine Frau mit einem Dackel.

15:02 Uhr – ein junges Pärchen, Arm in Arm.

15:24 Uhr – ein Paketbote.

17:45 Uhr – Regen, der den Bürgersteig Tropfen für Tropfen dunkel einfärbt. Dazwischen Tauben.

Caroline stoppte den Schnelldurchlauf und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Die winzige Kamera, die sie am Fensterrahmen verschraubt hatte, war auf den Bürgersteig und die Straße vor dem alten Haus ausgerichtet. Jetzt stand die Uhrzeit in der Kontrollleiste bei 21:07 Uhr. Am Rand der aktuellen Bilder fuhren vereinzelt Autos vorbei, der Berufsverkehr hatte sich gelegt.

Keine Menschen.

Kein Zeichen von ihr.

Caroline nahm einen Schluck aus ihrer Bierflasche und wunderte sich. Warum nur spürte sie immer diesen seltsam wohligen Schauer, wenn sie die Welt beobachtete, ohne von anderen bemerkt zu werden? Sie machte das alles nicht zum Spaß, sie musste es tun, aber sie fragte sich, was ihr diese kitzelnde Befriedigung verschaffte. War es das stille Vergnügen, aus der sicheren Burg hinaus in die bedrohliche Welt zu blicken? War sie eine Voyeurin?

Nein, beschloss Caroline kopfschüttelnd, es war die Erleichterung danach, die kurze Pause von der hartnäckigen Gewissheit, dass es keine Sicherheit gab, dass sie ihr Schicksal war und blieb. Caroline würde nie mit der Überwachung aufhören. Die kleine Kamera würde bis an ihr Lebensende ihr drittes Auge sein, und es dürfte niemals schlafen.

Der Bürgersteig vor dem Haus war gut beleuchtet und die Eingangstür von allen Seiten einsehbar, darauf hatte sie genau geachtet, als sie die Angebote der Immobilienmakler durchgegangen war. Über Wochen hinweg hatte sie sich Dutzende Wohnungen angeschaut, die entweder zu teuer oder nicht ausreichend sicher waren. Das alte Backsteingebäude an der Ausfallstraße war schmeichelhaft als »Gründerzeithaus für Handwerker und Visionäre« angepriesen worden, es hatte einen zerfledderten Grundriss, und die Wohnung im ersten Stock und das dazugehörige Dachgeschoss mussten von Grund auf renoviert werden. Aber die Wohnung war spottbillig, und der Vermieter, ein alleinstehender Rentner mit zotteligem Vollbart, der im Erdgeschoss wohnte und ihr gleich anbot, ihn Heiner zu nennen, machte einen aufgeräumten Eindruck. Er stellte nicht viele Fragen, nicht einmal die übliche nach dem Vater des Babys. Er wollte nur keine Katzen im Haus haben, weil die ihm die Singvögel im Garten wegfressen würden.

Caroline hatte sofort unterschrieben und war wenige Tage später mit ihrem Kind eingezogen – ans andere Ende der Stadt, auf die falsche Seite des Flusses, wo Industriehallen, Tankstellen und Discounter-Giganten eine seelenlose Kruste um den Stadtkern bildeten. Kein Geschäft, keine Bar und kein Club lockten hier Besucher an, hier ging man nicht zu Fuß, man fuhr Auto und ließ sich gegenseitig in Ruhe.

Gleich am ersten Tag hatte Caroline die WLAN-taugliche Kamera eingerichtet. Sie wusste, dass sie keinen öffentlichen Raum filmen durfte – wer sollte es besser wissen? –, aber das Gerät war unauffällig und das Viertel keines, in dem Querulanten und Anwälte herumschnüffelten, um Nachbarn anzuschwärzen. Im Gegenteil. In den ersten Nächten, als sie und das Baby nicht in den Schlaf fanden, hatte sie mit dem Kinderwagen die Seitenstraßen erkundet und dabei ähnliche Kameras an privaten Häusern entdeckt. Inzwischen hatte sie ein Auge für Überwachung. Heiner hatte nichts gegen die Kamera, er war ein Mann des letzten Jahrhunderts, scherte sich nicht um digitale Technik und war froh, in Caroline eine umgängliche Mieterin gefunden zu haben.

Nach dem ersten Kennenlernen dauerte es nicht lange, bis er ihr anbot, als Babysitter für den Kleinen einzuspringen, wenn sie größere Besorgungen im Baumarkt machen musste oder nach einer durchwachten Nacht etwas Schlaf brauchte. Heiner entführte dann ihren Sohn in seine kleine grüne Welt hinter dem Backsteinhaus, wo er ihn die Schnecken im Salat befühlen, mit den Händchen in der Regentonne planschen und an seinem grauen Bart zupfen ließ. Einmal hatte Caroline den alten Mann dabei ertappt, wie er dem Jungen Johannisbeeren in den Mund steckte und über dessen zusammengezogenes Kindergesicht lachte. Kurz wollte sie ihm ihr Baby wegnehmen, doch dann spürte sie, dass Heiner etwas besaß, was sie ihrem Kind nur schwer geben konnte: Gelassenheit.

Der Garten war eine wuchernde Oase, die von der gefräßigen Stadt übersehen worden war. Das Rauschen der Ausfallstraße und des Autobahnzubringers war auch hier stets zu hören, aber es störte Caroline nicht. Im Gegenteil, es versprach ihrer unruhigen Seele, jederzeit fliehen zu können, und zwar gleich auf mehreren Wegen. Für diese Sicherheit nahm sie in Kauf, dass sie bald jeden Tag zehneinhalb Kilometer mit dem Fahrrad zu ihrer Wache in der Innenstadt würde zurücklegen müssen. In den Tagen vor dem Einzug hatte sie die Tour mehrmals abgefahren. Nachdem sie bei Wind und Regen die Rheinbrücke überquert hatte und im Dunkeln fast überfahren worden war, deckte sie sich in einem Outdoor-Laden mit Funktionskleidung ein und ließ ihr Fahrrad mit Reflektoren nachrüsten. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, gleich in eine andere Stadt zu ziehen, aber was wäre aus ihren Leuten am Bahnhof geworden, den Junkies, Obdachlosen, Geschäftsleuten und Anwohnern? Sie mochte ihren Job und konnte sich nicht vorstellen, etwas anderes zu sein als eine Bezirkspolizistin in genau dieser Stadt. Ein Umzug auf die andere Seite des Flusses musste ausreichen, um ihre Spuren zu verwischen.

Jetzt nahm Caroline aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Auf dem Monitor ihres Laptops erschien eine Frau mit einer Plastiktüte in der Hand und verschwand gleich wieder. Caroline stoppte die Aufnahme, spulte zurück, vergrößerte sie gerade so weit, dass sie nicht zu unscharf wurde, und starrte konzentriert auf den Bildschirm. Zu alt. Langsam klappte sie den Laptop zu, griff tief in die Salatschüssel voller Erdnüsse, pulte gedankenverloren die Schale von den Kernen und starrte kauend ins Leere. Die schon hundertmal gestellten und hundertmal unbeantworteten Fragen kreisten wieder in ihrem Kopf.

Wie sah sie jetzt wohl aus? Trug sie die Haare kürzer? Hatte sie zugenommen? War sie clean? Würde sie sich verkleiden, wenn sie käme? Würde sie Verstärkung mitbringen?

Das Klingeln des Handys riss Caroline aus ihren Gedanken. Sie knackte eine Erdnuss und ließ sich Zeit. Es konnte nur ihre Mutter sein. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, einfach nicht dranzugehen, doch dann würde am nächsten Morgen ein entrüsteter Anruf folgen, bei dem sich ein Strom von Selbstmitleid über sie ergießen würde.

Noch eine Nuss.

Das Telefon klingelte weiter.

Sie schaute auf das Display. Eine fremde Nummer.

»Hallo?«

»Guten Abend. Spreche ich mit Caroline Hajuk?«

»Ja.«

»Kriminaldirektor Lippock. Ich weiß, Sie sind in Elternzeit, aber wir brauchen Sie im Präsidium. Noch heute.«

Caroline richtete sich auf. Sie spürte Magensäure in ihrem Hals aufsteigen. In ihrem Bauch machte sich ein Gefühl breit, das sie nur zu gut kannte, aus ihrer Schulzeit, aus dem Studium und den ersten Wochen, nachdem sie ihren Streifendienst begonnen hatte. Jeden Morgen war sie damit aufgestanden und hatte es auch mit Marmeladenbrötchen und Kaffee nicht vertreiben können. Es war das Gefühl, aus einem warmen Bett gerissen und in eine kalte Welt geworfen zu werden, in der sie funktionieren musste, das Gefühl, die Decke wieder über den Kopf ziehen zu wollen und sich eng zusammenzurollen. Vielleicht, erklang es mit vorwurfsvollem Unterton in ihrem Inneren, bist du nie erwachsen geworden. Nicht wie all die anderen …

»Haben Sie von dem Bunker gehört, der heute in der Eifel explodiert ist?«, fragte Lippock am anderen Ende der Leitung. Er wirkte geschäftsmäßig kurz angebunden. Im Hintergrund waren Stimmengewirr und Telefonklingeln zu vernehmen.

»Ja, im Radio …«

»Wir haben eine Fahndungslage. Kommen Sie bitte unverzüglich, Sie finden den Einsatzabschnitt Ermittlungen im dritten Stock.«

»Verstanden. Aber was soll ich …?«

Der Kriminaldirektor hatte schon aufgelegt.

Caroline stand wie betäubt auf und schaute aus dem Küchenfenster. Unter ihr flackerte Licht aus dem Erdgeschossfenster in den abendlichen Garten, Heiner saß vor dem Fernseher. Vielleicht sah er dort die ersten Bilder vom Polizeieinsatz? Gleich würde sie zu ihm hinuntergehen und ihm das Babyfon geben müssen. Er hatte ihr schon mehrmals spontan ausgeholfen, meist wenn sie im Süden der Stadt bei ihrer Mutter vorbeischauen musste, weil die nicht ans Telefon ging. Jedes Mal war Caroline wütend nach Hause zurückgekehrt, da Monika Hajuk weder verletzt noch tot in der Wohnung gelegen, sondern nur das Telefonklingeln nicht gehört hatte – oder nicht hatte hören wollen. Oft hatte Caroline dann noch mit Heiner ein Bier getrunken, denn der Vermieter war das Gegenteil ihrer Mutter: unkompliziert, belastbar und absolut vertrauenswürdig. Und wäre er nicht auch ein besserer Vater als ihr eigener gewesen?

Natürlich wäre er das, dachte Caroline, ging in ihr Schlafzimmer und schaute nach dem schlummernden Baby in seinem neuen Bettchen. Aber wie sollte sie Heiner mit jemandem vergleichen, der unsichtbar gewesen war? Im Grunde war der Vermieter ihr einziger Freund, fiel ihr plötzlich auf. Die alten Jugendfreunde hatte sie nach ihrem Wegzug aus der kleinen Geburtsstadt aus den Augen verloren, und auch die Kollegen und Kolleginnen, mit denen sie gelegentlich ein Feierabendbier trank oder ins Kino ging, waren nicht mehr Teil ihres Lebens. Genauso wenig wie der Mann, mit dem sie anderthalb Jahre zuvor eine Fastbeziehung geführt hatte. Diese fand bei einem Urlaub an der dänischen Küste ein jähes Ende, denn Caroline hatte bald festgestellt, dass sie lieber mit einem Buch auf dem Sofa lag, anstatt bei Sturm und Regen ausgiebige Wanderungen durch die Dünen zu unternehmen. Als der Freund nach der Trennung von Carolines Schwangerschaft erfuhr, hatte er erschrocken angerufen und gefragt, ob das Kind von ihm sei. Sie verneinte und konnte seine Erleichterung spüren genau wie seine Enttäuschung, als sie ihm nicht beantworten wollte, wer dann der Kindsvater war.

Nun stand Caroline wie gelähmt vor ihrem Kleiderschrank. War es wirklich wahr? Hatte gerade ein einziger kurzer Telefonanruf sie in ihr altes Leben zurückgeworfen? In wenigen Minuten würde sie ins Präsidium fahren, ins Herz der Polizei. Sie musste in einen Apparat zurückkehren, der ihr fremd geworden war. Sie musste ihren Kokon verlassen.

Caroline holte den Bügel mit dem großen Plastiksack aus dem Schrank und öffnete den Reißverschluss. Ihre Uniform war faltenfrei. Vielleicht würde der blaue Stoff ihr helfen, sich von einer alleinerziehenden Mutter in eine Polizistin zurückzuverwandeln, zwar rangniedrig, aber ausgestattet mit allen Befugnissen. Es fühlte sich plötzlich unwirklich an: Wenn es erforderlich war, durfte sie andere Menschen kontrollieren, durfte sie festnehmen, sie in Handschellen legen, ihnen Tränengas ins Gesicht sprühen oder eine Pistole auf sie richten. Vielleicht sogar schießen. Sie war eine Autoritätsperson. War das noch sie?

Caroline streifte die blaue Jacke über. Dann hielt sie die Luft an und zog den Bauch ein, aber die Hose, die schon vorher etwas über der Normgröße gewesen war, ließ sich nur mit Mühe zuknöpfen. Sieben Monate waren vergangen, seit sie die Uniform in den Schrank gehängt hatte. Sie hatte sie nicht einen Moment lang vermisst.

*

Wie lange waren sie gerannt? Zwei Stunden? Drei? Jonas blieb einige Meter hinter Anni stehen und stützte keuchend die Hände auf die Knie. Durchatmen, nur eine Minute. Er konnte seine Beine nicht mehr spüren. Sein Kopf pochte, der Dreck juckte unter dem schweißnassen Hoodie, und die Striemen an den Armen und im Gesicht brannten wie Feuer. Die Pistole, die er im Bunker mitgenommen und in die Jackentasche gesteckt hatte, war im Takt seiner Schritte gegen die Rippen geschlagen wie die Trommel einer Galeere. Jeder Atemzug hatte gestochen, aber er war weitergerannt, weg vom Bunker mit dem brennenden Bombenlager, weg von der Gruppe, weg von Ira.

Die Explosion war gewaltig gewesen. Als sie das Donnergrollen gehört hatten, waren sie atemlos stehen geblieben, hatten sich mit bangem Blick umgedreht und dann auf den Boden geworfen. Eine Druckwelle fraß sich durch den Wald zu ihnen heran, verfing sich in ihrem Haar und umschloss sie mit Staub. Wenige Sekunden später regneten kleine Betonbrocken durch das Blätterdach auf sie herab, wie ein letzter Abschiedsgruß aus der Hölle. Anni und er hielten die Arme über den Kopf, schauten sich an und mussten plötzlich lachen. Es ist vorbei, wir sind frei! Jonas wollte lostanzen und laut in den Wald hineinschreien, aber schon erklang in der Ferne das anschwellende Wummern von Rotoren.

»Bullen!« Anni zog ihn unter einen umgestürzten Stamm. Im Laub konnten sie die schwankenden Baumkronen sehen, die für einen Moment den Blick auf den Himmel freigaben. Ein Polizeihubschrauber donnerte über sie hinweg. Anni zog Jonas hoch, und sie rannten los, ohne Pause, wie gehetztes Wild. Sie übersprangen umgestürzte Baumstämme und schlugen Zweige weg. Sie krabbelten auf allen vieren Anhöhen hinauf, wateten durch Mulden aus tiefem Laub, sie rutschten auf dem Hosenboden in Täler hinab, rappelten sich auf und rannten weiter. Sie kamen an der Höckerlinie vorbei, die ihnen als Schießplatz gedient hatte, sie ließen den Felsen hinter sich, auf dem sie das große Holzkreuz gesprengt hatten, und die Wildfallen, in denen die toten Füchse lagen.

Jonas’ Blick klebte immer fest auf Annis Rücken. Ihre Jacke hatte sie um die Hüfte gebunden, aus ihrem Hosenbund ragte die Pistole, ihr Tanktop war durchgeschwitzt, die Tattoos auf dem Nacken und den Oberarmen glänzten bunt.

Anni kennt den Weg, betete sich Jonas immer wieder vor. Sie weiß, wie wir hier rauskommen. Sie weiß, wo wir hinmüssen.

Die Explosion hatte den riesigen Wald, das stille Reich, das nur den Bäumen, den Tieren, dem Wind und der Gruppe gehört hatte, in einen Hexenkessel verwandelt. Während sie liefen, wurden die Baumkronen über ihnen zweimal von Hubschrauberrotoren durchgeprügelt, und sie mussten dicht an Baumstämme gepresst in Deckung gehen. Als von weit her Hundegebell durchs Unterholz drang, änderten sie ihre Richtung, fanden einen Bach und stapften darin weiter, bis sie nichts mehr hörten. Jonas spürte Bisse in seinem leeren Magen, seine Seite stach, und sein Schädel schien zu platzen, aber er ließ Anni nie weiter als ein paar Schritte vorauslaufen. Er wäre ihr bis in die Hölle gefolgt, aber der waren sie gerade entkommen. Jonas lächelte.

*

Caroline starrte auf die weiße Tür und drehte die Schirmmütze in ihrer Hand. Sie schwitzte, ihr Atem ging schnell, zu schnell, um sich bei einem Kriminaldirektor zum Dienst zu melden. Die Strecke von ihrer Wohnung ins Präsidium war ihr heute länger erschienen. Ganz anders als bei den Probefahrten, die sie in den vorangegangenen Monaten absolviert hatte. Egal, ob ihr an dunklen Wintermorgen auf der Zoobrücke der Regen entgegenpeitschte oder im Sommer der Asphalt flimmerte, sie hatte sich ungeachtet ihrer alten Gewohnheiten diszipliniert auf dem Fahrradsattel abgehärtet.

Heute hatte die Uniform ihren Bauch abgeschnürt, und Caroline ärgerte sich, dass sie sie nicht eingepackt und sich auf der Toilette des Präsidiums umgezogen hatte. Sie lockerte den Gürtel, öffnete den Hosenknopf, den sie gerade erst beim Eintreten in die riesige gläserne Eingangshalle geschlossen hatte, und ließ ihrem Bauch etwas Platz über dem Bund. Durchatmen.

Die Tür öffnete sich, und ein kleiner Mann Mitte vierzig mit grauen Locken und einer Boxernase blickte sie an.

»Frau Hajuk?«

»Ja …« Hastig zog sie die Jacke über den offenen Gürtel und nahm seine ausgestreckte Hand.

»Lippock mein Name, wir haben telefoniert.« Er deutete auf die Uniform. »Die brauchen Sie hier nicht.«

Caroline folgte ihm durch die Tür und meinte, eine Schleuse in eine fremde Welt zu durchschreiten. Die Luft vibrierte wie in einem Bienenstock. Der große Raum war zugestellt mit langen Tischen, auf denen Monitore flimmerten und Telefone klingelten. Vielleicht zwanzig Personen tippten eifrig in die Tastaturen oder sprachen in die Hörer. An der Seitenwand sah Caroline mehrere riesige Whiteboards, daran mit Magneten befestigte Papiere und Notizen. Unter der Decke hingen zwei große Digitaluhren mit roten Ziffern, eine zeigte die aktuelle Zeit an, die andere war eine Stoppuhr. Sie lief seit sechs Stunden und dreiundzwanzig Minuten, so lange dauerte die Fahndung bereits. An der Stirn des Raumes war eine Leinwand heruntergefahren, auf die mehrere Landkarten projiziert waren. Caroline erkannte den Aachener Raum.

»Willkommen in der Ermittlungsgruppe Westwall«, sagte Lippock. »Das ist unsere Einsatzzentrale. Von hier aus koordinieren wir die Großfahndung, rund um die Uhr, in drei Schichten.«

Caroline stand wie angewurzelt an der Tür. Zwei Beamte gingen mit Kaffeebechern in der Hand vorbei und musterten die uniformierte Kollegin grinsend.

»Die Trachtengruppe ist auch da …«

»Klappe, Gehrke.« Lippock schob Caroline durch das Gedränge in einen kleinen mit einer Glasscheibe abgetrennten Raum, offensichtlich reserviert für das Führungspersonal. Sofort war es stiller. Vier Beamte grüßten mit einem kurzen Nicken und wendeten sich dann wieder ihren Rechnern zu.

»Setzen Sie sich.«

Caroline nahm auf einem Drehstuhl Platz und kontrollierte vorsichtig mit einer Hand, ob der offene Hosenbund unter dem Gürtel hervorlugte. Lippock setzte sich neben sie und erweckte mit einem Mausklick einen Rechner aus dem Ruhezustand. Auf dem Monitor erschien das Bild eines alten Hauses mit spitzen Giebeln und Fachwerkelementen. Es stand in einem Wald und sah aus wie nach einem Bombenangriff. Die Fenster waren zerborsten, die Läden zerfetzt und hingen schief in den Angeln. Ein Teil des schiefergedeckten Daches und eine Seite des Hauses waren aufgerissen. Spurensucher in weißen Overalls gingen in den Trümmern umher. Am Bildrand stand ein schwarzer Van, beim genauen Hinsehen erkannte sie einen Leichenwagen.

»Sie haben heute noch keine Nachrichten gehört?«, erkundigte sich der Kriminaldirektor.

»Nur mit einem halben Ohr«, stotterte Caroline. »Ich war beschäftigt … Ich renoviere gerade meine Wohnung, und mein Kind …«

»Schon gut«, unterbrach Lippock. »Heute Nachmittag hat ein SEK eine rechtsextremistische Terrorgruppe in der Nordeifel ausgehoben. Sie hatte in diesem Haus ihren Unterschlupf mit einem riesigen Sprengstofflager, nicht weit entfernt in einem alten Bunker des Westwalls.«

Er bemerkte Carolines fragenden Blick. »Wie alt sind Sie?«

»Einunddreißig.«

»Dann wissen Sie wahrscheinlich nicht, was der Westwall ist.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Das war eine gigantische Verteidigungsanlage entlang der Westgrenze von Nazideutschland. Hunderte Kilometer Panzersperren, Bunker und Tunnel.« Er tippte auf die Maus, und auf dem Monitor erschien ein Foto, auf dem mehrere lange Reihen aus pyramidenartigen Betonhöckern in einem Wald erkennbar waren. »Heute gibt es nur noch wenige Überbleibsel von dem Monstrum. Der alte Bunker mit dem Bombenlager der Gruppe war noch intakt. Kurz vor der Ankunft des SEK ist er in die Luft geflogen, wir kennen noch nicht die genauen Hintergründe. Aber mit der Menge an Sprengstoff hätte man das Präsidium hier in Schutt und Asche legen können.«

Caroline schaute auf den Monitor und sah Bilder von einem rauchenden Krater, aus dem riesige Betonbrocken und verbogene Stahlträger ragten. Rund um den zerstörten Bunker war eine Lichtung aus umgeknickten, qualmenden Bäumen entstanden. Es sah aus wie im Krieg.

Lippock warf Caroline einen Blick zu. »Sie fragen sich sicher, was Sie mit der Sache zu tun haben.«

Caroline nickte.

»Nach unserem jetzigen Kenntnisstand sind drei Personen flüchtig.« Wieder ein Klick mit der Maus, und auf dem Monitor erschienen zwei erkennungsdienstliche Fotos eines gedrungenen Mannes mit geblümtem Hemd, der ausdruckslos in die Kamera starrte.

»Karl Opitz, fünfunddreißig Jahre alt«, erklärte Lippock. »Er hat als Fünfzehnjähriger seine Eltern umgebracht. Dafür bekam er sechs Jahre Jugendhaft. Nach seiner Entlassung wurde er in der rechtsextremen Szene aktiv, arbeitete als Ordner für Rechtsrockbands und verdiente sich als berufsmäßiger Schläger und Bodyguard von Neonazigrößen was nebenbei. Wegen wiederholter Körperverletzung und Waffenbesitz fuhr er noch einmal für vier Jahre ein. Danach war er eine Weile unauffällig. Jetzt steht er im Verdacht, einen Jugendlichen der Gruppe umgebracht und einen Anschlag mit einer selbst gebauten Granate verübt zu haben. In einem Wohnhaus hier in der Stadt.«

»Davon hab ich gehört«, murmelte Caroline.

Lippocks Gesicht schien sich plötzlich noch mehr in Falten zu legen. »Opitz hat heute mutmaßlich einen Beamten unserer Suchtrupps getötet. Wir haben den Kollegen nackt und erdrosselt in einer Erdhöhle gefunden, ungefähr vier Kilometer von dem Bunker entfernt. Im Innern der Höhle lag die Kleidung von Opitz. Er trägt jetzt vermutlich eine Polizeiuniform mitsamt Ausrüstung, P99, MP 5, Pfefferspray, schusssichere Weste, Handfesseln, alles. Wir haben also eine LEBEL, keine Frage.«

»Eine was?«

»Eine lebensbedrohliche Einsatzlage.«

Caroline schwieg, sie hatte dem Beamtendeutsch mit seinem Wirrwarr aus Kürzeln und Bandwurmwörtern nie etwas abgewinnen können.

»Der Kollege hinterlässt seine Frau und zwei kleine Kinder.«

Caroline wusste, was ein Mord an einem Polizisten auslöste. Plötzlich konnte sie die Wut spüren, die an jedem einzelnen Beamten im Raum nagte. Jeder von ihnen würde alles geben, um Opitz zur Strecke zu bringen. Am liebsten persönlich.

Lippock zeigte ein neues Foto auf dem Rechner. Zunächst verstand Caroline nicht, was sie da sah: Auf einem dunkelgrünen Moosteppich lag ein hautfarbenes Ding mit einer blutigen Kante, aus dem einige dicke schwarze Fäden herausragten.

»Nicht weit von dem zerstörten Bunker haben unsere Hunde ein halbes Ohr gefunden«, klärte Lippock sie auf. »Offensichtlich war es schon einmal angenäht. Wir wissen nicht, wie es dahingekommen ist, aber es stammt mutmaßlich von Opitz. Es wurde ihm nach ersten Zeugenaussagen bei dem Granatenanschlag abgeschossen und später wieder angenäht. Die Verletzung wird ihm zu schaffen machen genau wie die Brandwunden, auf die seine versengte Kleidung hinweist. Zusammengefasst: Wir haben einen verwundeten, schwer bewaffneten und völlig unberechenbaren Kriminellen auf der Flucht. Daher der ganze Zauber hier.« Der Kriminaldirektor lehnte sich zurück und nahm einen Schluck aus seinem Kaffeebecher.

»Okay …«, sagte Caroline. »Und welche Rolle spiele ich in dem Zauber?«

Lippock drehte sich mit seinem Stuhl zu ihr. »Wir brauchen Sie als Spezialistin.«

»Mich?« Caroline musste lächeln.

»Das hat mit der Terrorgruppe zu tun. Opitz war ein führendes Mitglied, der Kopf war Ira Tetzel, eine polizeibekannte Rechtsextremistin. Sie wurde kurz vor dem Zugriff verletzt und liegt nun in einem JVA-Krankenhaus. Vor anderthalb Jahren hatte sie einen Bauernhof gekauft und dort obdachlose Jugendliche und junge Erwachsene beherbergt.«

Caroline horchte auf.

»Die Wohngemeinschaft sollte angeblich ein soziales Projekt zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft sein, doch es deutet alles darauf hin, dass sie die jungen Leute radikalisieren und für terroristische Anschläge missbrauchen wollte«, fuhr Lippock fort. »Opitz war in dem Projekt Tetzels rechte Hand, ihr Mann für alles: Aufpasser, Bombenbauer und Kettenhund.«

Caroline spürte, wie unter der Uniformjacke eine heiße Welle ihren Rücken hochkroch. »Was sind das für Jugendliche?«

»Nach unseren Informationen bestand die Gruppe zeitweilig aus mindestens neun ehemals obdachlosen Mitgliedern, rekrutiert im ganzen Land.«

»Obdachlose Kids schmeißen keine Bomben«, entgegnete Caroline. »Schon gar nicht für Nazis.«

»Ira Tetzel ist eine charismatische Person, sie wird sich sicher nicht als Rechtsextremistin verkauft haben. Außerdem gibt es Hinweise, dass die Mitglieder der Gruppe gar nicht genau wussten, worauf sie sich da eingelassen hatten.«

Carolines Mund wurde trocken. »Sind die Kids namentlich bekannt?«

Lippock nahm einen Zettel von seinem Schreibtisch und reichte ihn ihr. »Wir haben im Wald vier von ihnen festgenommen. Drei weitere sind durch die Explosion ums Leben gekommen. Zwei sind flüchtig, mutmaßlich bewaffnet. Wir wissen nicht, ob sie zu zweit, alleine oder mit Opitz unterwegs sind.«

Auf dem Papier stand eine kurze Liste. Caroline überflog die Namen, zuerst die der drei Getöteten, hinter die jemand kleine Kreuze gemalt hatte: Nina Jeschek, Mats Dilling, Lynn Radić.

Sie ist nicht dabei … Carolines Augen wanderten die Namen der festgenommenen Kids entlang: Benjamin Arnold, Kiriaki Basdeki, Lennart Dietsch und Jan Schommer.

»Ich kenne die meisten Kids vom Bahnhof nur mit ihrem Spitznamen«, murmelte sie, dann wanderte ihr Blick eine Zeile tiefer und verschwamm für einen Moment.

Lippock schien es zu bemerken. »Unten stehen die beiden Flüchtigen. Anna Wenzel und Jonas Bauhoff. Kennen Sie die?«

Caroline versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. »Einen Jonas habe ich noch nicht getroffen. Eine Anna kenne ich, aber ich weiß nicht ihren Nachnamen.« Ihr Kopf glühte. Hatte Anni ihn ihr einmal genannt? Erinnere dich! Bitte, lass es eine andere sein!

»Gibt es Fotos von den beiden?«, fragte sie.

»Wir haben ein paar ältere Observierungsaufnahmen. Sie wurden vor einem halben Jahr vom Verfassungsschutz bei dem Bauernhof der Gruppe im Bergischen Land gemacht.« Lippock klickte eine Datei an. Auf dem Monitor erschienen einige grobkörnige, teilweise unscharfe Fotos. Sie zeigten mehrere Jugendliche in abgetragenen Klamotten, die Kartons und Tüten mit Einkäufen von einem Pritschenwagen luden. Einige lachten. »Unsere Kollegen vermuten, dass ein paar von ihnen zeitweise hier am Hauptbahnhof gelebt haben könnten«, sagte Lippock mit Blick auf die Bilder. »Das war doch Ihr Bezirk, oder?«

Caroline nickte. Ihre Uniform war von den Achseln bis zur Hüfte schweißnass.

Der Kriminaldirektor musterte sie. »Es heißt, Sie wären so was wie eine Straßenkinderflüsterin gewesen.«

»Die Kids lassen sich wenig sagen«, entgegnete Caroline, ohne die Augen vom Monitor zu nehmen. »Aber als Bezirksbeamtin in der Innenstadt lernt man ein paar von ihnen näher kennen.«

Lippock schmunzelte. »Die gute alte Schutzpolizei …« Als er sah, dass Caroline die Nase rümpfte, schob er eilig nach: »Tut mir leid, war nicht böse gemeint. Ich habe früher selbst Dienst auf der Straße gemacht. Es sollte mehr wie Sie geben. Würde der Stadt guttun. Können Sie welche von den Jugendlichen identifizieren?«

Caroline starrte auf den Monitor. »Zwei, drei Gesichter kenne ich …« Sie deutete auf einen dicklichen Jugendlichen. »Der hier ist Ben. Er ist aus dem Heim abgehauen und hat sich ein paar Monate am Bahnhof rumgetrieben. Ein lieber Kerl, eigentlich noch ein Kind, viel zu weich für die Platte. Und die hier mit den blauen Haaren, das ist Kiki, die hatte einen Stammplatz am Bahnhof.«

Caroline versuchte, ihre Erleichterung zu verbergen. Keine Anni. Wahrscheinlich war sie nicht in der Gruppe. Sie ist weit weg, irgendwo angekommen, um nie mehr zurückzukehren.

»Ich hab noch mehr.« Lippock klickte ein weiteres Observierungsfoto an, auf dem vier Jugendliche auf Plastikstühlen um ein Feuer hockten und rauchten. Er deutete auf einen dünnen Jungen mit ernstem Gesicht. »Das ist Jonas Bauhoff.«

»Kenne ich nicht«, murmelte Caroline abwesend. Ihre Augen saugten sich an dem Bild auf dem Monitor fest und fixierten eine kräftige junge Frau mit bunt tätowierten Oberarmen und einer Zigarette zwischen den Zähnen. Sie hielt einen dicken Ast ins Feuer.

»Und das ist Anna Wenzel«, hörte sie Lippock wie aus weiter Ferne sagen. »Die zweite Flüchtige.«

Caroline spürte, wie ein heißer Stein in ihren Magen rollte. Anni! Sie ist wieder da! Die Welt war plötzlich in kaltes Licht getaucht. Ein Gedanke schoss in Carolines Kopf: Schon wieder. Der Moment, der alles ändert. So wie damals, als ihr Leben mit einem Klingeln an der Haustür auf den Kopf gestellt wurde. Davor war ihr Dasein ein ruhiger Fluss gewesen, eine nicht enden wollende Abfolge kindlicher Abenteuer und Wunder. Danach Starre, gefrorene Zeit. Es hatte Jahre gedauert, bis es ihr gelungen war, die Zeit wieder aufzutauen und zum Fließen zu bringen. Es hatte zwar keine Wunder mehr gegeben, aber sie hatte es geschafft, sich selbst Stück für Stück wieder zusammenzusetzen wie eine aus tausend Scherben zusammengekittete Porzellanvase. Nun begann das Podest darunter bedrohlich zu schwanken.

Der Kriminaldirektor stand auf: »Haben Sie eine Idee, wo Jonas und Anna stecken könnten?«

Caroline starrte wie in Trance auf das Foto vom Lagerfeuer, ihre Stimme klang tonlos. »Das kann überall sein. Die Kids wissen sehr gut, wie man sich unsichtbar macht.«

»Gibt es einen Ort, wo die beiden untertauchen könnten? Ein Abrisshaus, ein leeres Gebäude, das man in der Szene kennt?«

Caroline schüttelte den Kopf. »Sie haben überall Orte, und sie finden immer neue. Viele kommen eine Weile bei Freunden unter. Wer gar kein Zuhause hat, passt sich an. Sie wissen, wo man Essen auftreibt, wo man einen Schlafplatz findet, wie man an etwas Geld kommt. Einige helfen sich gegenseitig. Ein Junge hat sich selbst mal als Kakerlake bezeichnet.«

»Weil er auf der Straße lebt?«

»Weil er überlebt. Er hat gemeint, wenn alles zusammenbricht, wenn es keinen Staat mehr gibt, keine Polizei, keine Ordnung, keinen Strom und kein Wasser, wenn die Menschen nichts mehr zu essen und keine Medizin mehr kaufen können, dann kommt die Stunde der Kakerlaken.«

»Jeder glaubt an seine Zukunft.« Lippocks Stimme klang nicht einmal sarkastisch.

Caroline zwang sich, den Blick vom Monitor abzuwenden. »Was passiert jetzt?«

»Wir müssen herausfinden, ob die drei Flüchtigen zusammen oder getrennt unterwegs sind, wo sie sich verstecken, ob sie alle bewaffnet sind, wen sie kennen, wie ihre Pläne aussehen, kurz: Ich will wissen, wie die beiden Jugendlichen ticken. Und dafür sind Sie da. Dieser Raum wird für die Dauer der Fahndung Ihr neues Zuhause. Es kann sehr schnell vorbei sein, es kann aber auch sehr lange dauern.«

Caroline blickte sich wie hypnotisiert um. Fast meinte sie, die Elektrizität der Rechner zu spüren, doch das Summen in ihrem Kopf kam von keinem Gerät, sondern von einem einzigen, alles verschlingenden Gedanken: Anni. Ich soll sie finden! Ausgerechnet ich!

Lippock rief auf dem Monitor noch einmal die Bilder von Karl Opitz auf. Seine Stimme drang aus der Ferne in Carolines betäubten Schädel: »Und vor allem müssen wir diesen Irren schnappen, bevor der mit der MP um sich schießt.«

*

Himmel. Wolken. Ein Horizont! Der Wald, der den ganzen Planeten zu bedecken schien, hatte also doch eine Grenze, dachte Jonas und ließ sich ins Gras fallen. Die Sonne stand tief, und sein Blick schweifte über die ausgedörrten Wiesen. In der Ferne lugte eine Kirchturmspitze hinter einem Hügel hervor wie eine Nadel in einer Landkarte, die anzeigte, dass es dort noch das alte Leben gab, das Jonas in Iras Parallelwelt fast vergessen hätte.

Im Wald hatte die Zeit nie eine Rolle gespielt, erinnerte er sich. Es hing nicht einmal eine Uhr im Haus. Wie viele Monate hatte er bei der Gruppe verbracht? Wann hatte es begonnen? Nur vage kamen die Bilder zurück: die eisklirrende Januarnacht, in der Ira ihn unter einer Bahnunterführung halb tot aus einem Haufen alter Klamotten, Plastiktüten und Essensresten gezogen und zu ihrem Bauernhof gebracht hatte. Kiki, Ben, Lynn und Chris waren schon seit ein paar Wochen dort, sie waren wie er und nahmen ihn freundlich in die Gruppe auf. Jonas hatte sich wie ein Tierheimhund gefühlt, der erst begreifen musste, dass er ein neues Zuhause hatte.

In Iras Bauernhaus teilten sie sich jeweils zu zweit ein Zimmer, die Betten hatten richtige Matratzen, und im Bad gab es eine Dusche mit warmem Wasser. Sie bekamen Frühstück, Mittag- und Abendessen, und sie durften an den Kühlschrank, wenn sie zwischendurch Hunger hatten. Auf dem Hof war es grün und ruhig, er wurde seine Heimat, die erste in seinem Leben, die den Namen verdiente, und die Gruppe war seine erste richtige Familie. Er war runter von der Straße, er war angekommen!

In den nächsten Monaten kümmerte sich Jonas mit Ben und Chris um die beiden Schafe, die Ziege und ein paar Hühner, die anderen pflanzten Gemüse im Garten an. Karl half, das Haus in Schuss zu halten, und besorgte das Holz und Baumaterialien. Abends brannte fast immer ein Feuer, und niemand dachte mehr an die verdammten Pillen, das Meth, das Heroin oder den Alk. Sie alle waren dem Nebel aus Dreck, Lärm und Kälte entronnen.

Dann hatte Chris die Sache mit den Bomben rausgefunden und Jonas heimlich eingeweiht. Plötzlich war alles grau, der Bauernhof war kein Zuhause mehr, er war eine Falle. Chris plante die Flucht, und Jonas schloss sich ihm an. Doch sie hatten nicht mit Karl gerechnet. Er schnappte sie, brachte sie zurück und bestrafte sie. Einige Tage später floh Chris ein zweites Mal, dieses Mal war er alleine, und er schaffte es. Die Gruppe packte ihr ganzes Hab und Gut auf den Unimog und verließ fluchtartig den Hof in eine geheimnisvolle, dunkle Welt. Inmitten eines riesigen Waldes tauchten sie unter und erweckten ein altes, verfallenes Jagdhaus wieder zum Leben. Jonas, der Verräter, erlebte wie in Trance, wie die anderen abends um das Lagerfeuer tanzten, tagsüber auf den Höckern des Westwalls herumturnten und die alten Bunker erforschten. Dann brachte Karl die Pistolen. Sie stopften sich Klopapier in die Ohren, schossen auf Flaschen und Büchsen und feierten jeden Treffer mit Jubelschreien. Das kalte, schwere Metall in den Händen, der betäubende Knall, der Feuerstrahl aus dem Lauf und die explodierenden Flaschen, das alles fühlte sich gut an. Sie waren stark. Einige Tage später holte Karl die Hühner aus dem Stall und scheuchte sie auf die Lichtung. Die anderen feuerten aus sämtlichen Rohren, und die Vögel verwandelten sich in Wolken aus Federn und Blut. Alle lachten, aber abends am Esstisch konnte Jonas die feuchten Augen von Ben sehen. Sie beide hatten den Hühnern Namen gegeben, als sie noch winzige gelbe Flaumbälle gewesen und in ihre Hände gehüpft waren, um die Körner darin aufzupicken. Es hatte gekitzelt.

Einige Tage später bekamen sie Granaten. Sie zogen die Zünder, warfen die kleinen Sprengsätze in den Dachsbau, gingen in Deckung und sahen zu, wie eine Feuerfontäne aus der explodierenden Erde schoss. Karl legte den toten Dachs drei Tage lang in Rotwein ein und servierte ihn der Gruppe als dunklen Braten zum Abendessen. Nur Anni probierte davon, sie hatte vor gar nichts Angst.

Ira erzählte viel am Tisch und am Lagerfeuer. Sie sprach vom System, das sie alle verraten und vergessen hatte, das sich einen Scheiß um sie kümmerte und das Geld lieber an die Parasiten verteilte, die aus der ganzen Welt ins Land einfielen. Von der alten Ordnung sprach sie, als alles an seinem Platz war, als die Menschen noch normal waren und so lebten wie die Gruppe im Wald, alle für einen, einer für alle. »Wir holen uns unser Land zurück«, versprach sie, und ihre grauen Augen strahlten voller Verheißung. Von den Bomben im Bunker erzählte Ira erst ganz zum Schluss, als ein paar von den Kids noch mehr wollten, mehr schießen, mehr Granaten, mehr Spaß. Spätestens da wusste Jonas, dass Chris recht gehabt hatte. Sie waren keine Familie, sie waren Soldaten. Sie sollten das Töten lernen und in den Krieg ziehen.

Was, fragte sich Jonas, als er jetzt über das weite Land schaute, wenn ihm damals die Flucht gelungen wäre? Vielleicht hätte er ein neues Leben begonnen, sich eine Arbeit gesucht, Geld verdient und eine Wohnung gefunden. Auf jeden Fall hätte er Ira und die Gruppe verraten.

Aber die Flucht war gescheitert, und er und Chris waren zum Lagerfeuer geführt worden, wo Karl schon am Hackklotz mit dem Messer gewartet hatte …

Jonas atmete tief durch, schüttelte den Gedanken ab und murmelte fast ungläubig: »Wir sind frei.«

Neben ihm saß Anni im Gras, wischte sich den staubigen Schweiß von den Armen und klopfte die Tannennadeln aus ihrer Jacke. Sie deutete zur Kirchturmspitze.

»Dahinten ist ein Bahnhof. Wir nehmen den Zug.«

»Wohin?«

»Hilfe holen.«

»Wo? Von wem?« In Jonas stieg plötzlich Unruhe auf.

»Duisburg. Da wohnt eine Tante von mir.«

»Wozu? Wir brauchen niemanden!«

Annis Augen trafen ihn wie ein Messer. »Bist du bescheuert? Ohne Geld? Ohne Handy? Die Bullen sind hinter uns her!«

»Die haben uns gar nicht auf dem Schirm! Wir tauchen ab, irgendwo! Nur du und ich!«

Anni packte Jonas’ linke Hand und hielt sie hoch. Vom kleinen Finger war nur noch ein kurzer Stummel mit einer knotigen Narbe übrig.

»Damit? Die Bullen sind überall. Die haben uns so was von auf dem Schirm!«

Jonas zog seine Hand zurück und verbarg sie tief in der Tasche seines Hoodies. Der Stumpf pulsierte. Die Wunde war gerade erst verheilt, obwohl Ira sie schon vor Wochen grob vernäht hatte. Es hatte fast genauso wehgetan wie der Schnitt, und er hatte in den folgenden Tagen fast alle Vorräte an Schmerzmitteln aufgebraucht, die Karl in einer Apotheke geklaut hatte.

»Los, weiter«, sagte Anni und rappelte sich hoch. Jonas zwang seinen müden Körper, aufzustehen und ihr über die Wiese Richtung Kirche zu folgen. In seinem Kopf arbeiteten die dunklen Gedanken weiter. Karl hatte ihn in den Jungen mit den neuneinhalb Fingern verwandelt, und nun konnte alle Welt endlich den sehen, für den er sich immer schon gehalten hatte: einen Aussätzigen. Einen Freak ohne Zuhause.

Vom fernen Kirchturm wehte leises Geläut zu ihnen herüber. Für Jonas hörte es sich an, als würden die Glocken zur Jagd auf sie läuten.

*

»Jeder hier hat seine Aufgabe.« Lippock deutete auf die Beamten an den Rechnern. »Telefonisten, Aktenführer, technischer Leiter, Verbindungsbeamte für Verkehr und für den rechtlichen Kram.« Seine Augen musterten Caroline, als wolle er sich vergewissern, dass sie ihm auch zuhörte. »Ihre Aufgabe ist es, die festgenommenen Jugendlichen zu befragen«, fuhr er fort. »Die Staatsanwaltschaft hat die zügige Vernehmung angeordnet. Ich werde mir Ira Tetzel vorknöpfen, sie ist noch im Krankenhaus und erst in ein, zwei Tagen so weit. Die Jugendlichen kommen morgen Vormittag vor den Untersuchungsrichter. Sie sind heute Nacht noch hier in Gewahrsam.«

Ein Schauer lief über Carolines Rücken. Die Kids. Hier im Präsidium, nur vier Stock tiefer. Sie kannte den langen Flur mit seinen sechsundsechzig Stahltüren, hinter denen sich kleine kahle Zellen mit einer Toilette und einem Waschbecken verbargen. Die Schuhe mussten draußen bleiben, die Kids würden in Socken auf den niedrigen Pritschen mit Gummimatratze hocken oder auf und ab tigern. Vielleicht würden sie sich wehtun. Sie hassten die Leere, die ihnen nichts entgegensetzte und nichts anbot, um sie von sich selbst abzulenken. Die einzige Unterbrechung waren die stündlichen Kontrollen, bei denen die Wärter nachsahen, ob die Zelleninsassen noch am Leben waren.

Vielleicht hallte gerade in diesem Moment das wütende Gebrüll anderer Festgenommener durch den Trakt, dachte Caroline. Sie hatte es oft gehört, wenn sie dort unten randalierende Junkies oder Schläger vom Bahnhof in Handfesseln ablieferte. Einige von ihnen hatten sie unterwegs im Streifenwagen bespuckt und beschimpft, aber sie hatte keine Angst gehabt. Die schusssichere Weste an ihrem Oberkörper war ihr Panzer, auch für die Seele, die Pistole und das Reizgas an ihrem Gürtel gaben ihr zusätzliche Kraft. Zu Hause jedoch, wenn sie alleine im Bett lag, hallten die hässlichen Worte wieder und wieder in ihren Ohren nach, und sie wunderte sich, wie sie es geschafft hatte, den rasenden Männern nicht mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. Oder einfach loszuheulen.

Die Kids waren meistens anders. Sieben Monate waren vergangen seit ihrem letzten Rundgang am Bahnhof. Sieben Monate war Caroline in ihre heile Welt abgetaucht. Wie mochte es den Jugendlichen in der Zwischenzeit ergangen sein? Sie waren sicher auch ohne sie ausgekommen, so wie immer. Aber es waren ihre Kids. Sie war ihre Bedarfsmutter. In den letzten Monaten hatte sie sie fast vergessen, dachte Caroline jetzt schuldbewusst. Sie hatte ihr eigenes Kind bekommen und keinen Platz mehr für die anderen gehabt. In den ersten Wochen war ihr Baby schwächlich gewesen und seine Katzenschreie so herzzerreißend, dass sie sich Stöpsel in die Ohren stecken musste, um nicht verrückt zu werden. Sie wollte so sehr eine gute Mutter sein, aber oft stand sie mit verweinten Augen vor Heiners Tür, voller Selbstzweifel und überzeugt, das Baby nicht verdient zu haben. Der alte Mann, der nie Kinder gehabt hatte, brachte den Kleinen dann mit freundlichen Ablenkungsmanövern zur Ruhe und Caroline mit Tee und Kuchen wieder ins Lot.

Der Winzling wuchs im Eiltempo heran, wurde ruhiger und überraschte jeden Tag mit etwas Neuem. Caroline dachte an das erste Lächeln zurück, bei dem sie in Tränen ausgebrochen war. Die ersten Laute, als wollte er ihr etwas Wichtiges mitteilen. Seine erste Drehung, bei der er fast aus dem Bett gefallen war. Es gab Tage, da wich sie nicht von seiner Seite und schaute nur zu, wie er Stück für Stück die Welt in sich aufsaugte, wie er seine Hände in das Fell von Heiners altem Kaninchen grub, wie er im Gemüsebeet Erde in seinen Mund schaufelte oder mit großen Augen Carolines Mund musterte, der ihm leise Lieder vorsang. Es waren Nestwochen, in denen sie weder zurück noch nach vorne dachte, Tage der Verzweiflung und Tage des erfüllten Vergessens, nur sie und ihr Kind.

Jetzt, einige Monate und einen Anruf später, musste sie wieder lernen, wer sie vorher gewesen war: eine Bezirksbeamtin, die uniformiert durch die Innenstadt ging, dort nach dem Rechten sah, mit Geschäftsleuten plauderte, illegale Straßenmusiker verscheuchte, Senioren über die Straße half – und nach den Junkies und Obdachlosen schaute, die tagsüber am Bahnhofsvorplatz an der Suppenküche standen und nachts in die Schlupfwinkel in den Tunneln und Torbogen unter den Gleisen verschwanden, manche in Zelten, andere in Schlafsäcken auf Lüftungsschächten oder Nottreppen, wo sonst nur Tauben nisteten. Die Kids tauchten nur selten auf, manche hatten schon Erwachsenengesichter. Von vielen waren weder Identität noch Herkunft bekannt. Das, was die meisten von ihnen hinter sich gelassen hatten, war es kaum wert, Familie genannt zu werden. Niemand suchte sie, niemand sprach sie an, niemand sah sie. Sie waren Geister, die auf der Platte auftauchten und irgendwann wieder im Nirgendwo verschwanden. Eine von ihnen war Anni. Sie hatte zusammen mit drei anderen Jugendlichen ihr Lager unter dem Bahnhof aufgeschlagen, nahe beim Wurststand, wo immer etwas zu essen abfiel und gelegentlich ein Passant eine Münze in den Joghurtbecher warf. Bullen hassten sie alle, aber Caroline hielt den richtigen Abstand zu den Unsichtbaren, begrüßte jedes neue Gesicht und merkte sich all ihre Namen. So kam sie auch mit Anni ins Gespräch.

»Die festgenommenen Jugendlichen sind bockig, die werden es Ihnen nicht leicht machen bei der Vernehmung«, riss Lippock sie aus ihren Gedanken.

»Ich weiß.« Caroline erinnerte sich an die Stunden im Studium, als Vernehmungstechniken auf dem Lehrplan standen. Alle Polizeianwärter hatten davon geträumt, irgendwann einmal in einem verspiegelten Raum einen Straftäter mit einem raffinierten Frage-und-Antwort-Spiel zu einem Geständnis zu zwingen. Die wenigsten bekamen später die Gelegenheit dazu. Und nun sie. Caroline musste innerlich lächeln. Ausgerechnet ich muss die Kids vernehmen! Aber war das nicht eine Chance? Vielleicht würde sie von den Festgenommenen erfahren, was Anni in den letzten Monaten getrieben hatte, was sie erzählt hatte. Und noch wichtiger: was sie vorhatte.

»Ich schätze, Sie haben noch nie eine Vernehmung durchgeführt«, sagte der Kriminaldirektor.

»Richtig.«

»Ich habe leider keine Zeit, Sie besser vorzubereiten. Ihre Aufgabe besteht darin, so viel wie möglich aus den Jugendlichen rauszukriegen, was uns auf die Fährte der Flüchtigen führt«, sagte Lippock. »Wo könnten die beiden stecken? Gibt es einen Plan B, gibt es Verstecke? Wir müssen außerdem herausfinden, was sie über Tetzels Pläne wissen, welche Anschläge geplant waren und ob die Gruppe zu einem Netzwerk gehört. Trauen Sie sich das zu?«