Der Paradiesgarten - Karl Sewart - E-Book

Der Paradiesgarten E-Book

Karl Sewart

4,8

Beschreibung

Das Paradies der Kindheit ist vorüber. Das Erwachsenwerden muss mit schwierig-schönen Erfahrungen bestanden werden. Ein altes Thema der Literatur, das hier auf überraschend originelle und poetische Weise ausgeschritten wird. Karl Sewart erzählt in seinem Roman von dem Erwachsenwerden eines Jungen. Im Verlauf eines Jahres und dem Wechsel der Jahreszeiten löst sich der Junge, der in einer kleinen dörflichen Welt lebt, aus seinen Kindheitsträumen. Er entdeckt seine Gefühle und mit ihnen eine andere Lebensphase. Sewarts Prosa lebt dabei aus einer Tradition, die Natur und Landschaft zu Bildern für die seelischen Vorgänge werden lässt. In einer beziehungsreichen, genauen Sprache entstehen dabei Geschichten von poetischem Reichtum. Das erstmals 1987 beim Mitteldeutschen Verlag erschienene Buch ist ein Roman, der die Ruhe des Lesens braucht, aber der den Leser auch zur Begegnung mit der eigenen Kindheit und ihrer Unvergesslichkeit führt und damit zum Nachdenken über sich selbst. INHALT: Der Zug Der Apfel Die Krähe Der Paradiesgarten

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Seitenzahl: 552

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Impressum

Karl Sewart

Der Paradiesgarten

Roman

ISBN 978-3-86394-437-7 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien 1987 bei Mitteldeutscher Verlag, Halle - Leipzig

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Der Zug

Die Uhr an der Wand schlug ihren Takt, das Feuer im Ofen knisterte und knackte, das Wasser im Ofentopf summte und sang; auf den Knien rutschend, ließ der kleine Bruder sein Holzpferdegeschirr über die gewellten Dielenbretter rattern; kaum hörbar blätterte der Vater in seiner Sofaecke die Seiten des Buches um, in dem er las ...

Dem Jungen selbst drangen diese nahen und wirklichen Geräusche kaum noch ins Bewusstsein; wieder einmal hatten sie sich mühelos, wie von selbst, in die der fantastischen Ferne verwandelt, von der sein Buch erzählte. Wieder einmal war unversehens alles, was ihn umgab, weit hinter ihm versunken; und ohne dass er hätte sagen können, wie es eigentlich geschah, war er in die Haut des Helden und Erzählers geschlüpft ...

So wartete er in seiner Einbildung, inmitten eines bunt zusammengewürfelten Haufens anderer Tramps, in der Nähe der Stadt Ottawa auf den nächsten Fernzug der Canadian-Pazific-Line, um über Manitoba und das Felsengebirge der Rocky Mountains in den ihm noch unbekannten fernen Westen zu gelangen, nachdem er, ohne einen einzigen Cent für eine Fahrkarte ausgegeben zu haben, bereits einige Hundert Meilen kreuz und quer durch den mittleren Westen hinter sich gebracht hatte. Er hörte den von der offenen Prärie herüberwehenden Wind in den sich den Bahndamm entlangziehenden Telegrafendrähten sirren und surren, mit an die Schiene gelegtem Ohr vernahm er das rhythmische Stampfen und dumpfe Rattern des herandonnernden Trains. Er sah den im Sternenlicht schimmernden, von ungezählten stählernen Rädern glatt geschliffenen Schienenstrang sich durch das geheimnisvolle nächtliche Dunkel in die Fremde ziehen. Bis ins Innerste erfüllt von Abenteuerlust und Entdeckerdrang, den Körper bis in den letzten Muskel, die letzte Faser gespannt, war er bereit, setzte er schon an zu dem tollkühnen Sprung auf einen der heranrollenden Pullmanwagen - da drangen plötzlich ganz andere Geräusche an sein Ohr. Und ganz andere Bilder und Gestalten tauchten vor ihm auf.

Die Mutter war es, die von draußen, vom Hof, wo sie den Aschkasten ausgeleert hatte, wieder herein in die Stube kam, die Tür laut hinter sich zumachte, den Kasten in den Ofen zurückstieß, dass es blechern kratzte und schrillte, und die mit ihrer lauten Stimme davon zu reden anfing, wie hoch die Sonne draußen schon am Himmel stehe und wie lau und wie mild die Luft schon wehe, und auf den Feldern ringsum, da sei nun auch das letzte Fünkchen Schnee hinweggeschmolzen, nur ganz draußen, auf der Höhe vorm Wald, sei noch ein trauriger schmutziger Rest liegen geblieben, und der Weg, der wäre auch schon so gut wie ausgetrocknet, und unten, in der Wiese, am Bach, komme schon das erste Grün herausgeguckt, und gar die Vögel, die zwitscherten und sängen schon von den Bäumen und Sträuchern, dass es nur so seine Art habe, und da wäre es doch wahrhaftig an der Zeit, dass auch hier drinnen, in den vier Wänden, für die nötige Ordnung gesorgt und der ganze Unrat und all der Kehricht, der sich den langen Winter über angesammelt habe, hinausgeschafft werde ...

Zuerst begriff er gar nicht, was die Mutter meinte. Sie war irgendein Farmerweib, aus irgendeinem abgelegenen Nest in der Prärie, das zum ersten Mal mit der Eisenbahn fahren sollte und vor lauter Aufregung darüber irgendwelches dummes Zeug von sich gab. Und das Krachen der Tür, das Klirren des Aschkastens, das kam wohl von einer Karambolage, die auf dem nahen Bahnhof auf einem Nebengleis beim Rangieren passiert sein mochte ...

Doch die Worte der Mutter drangen immer lauter, immer deutlicher, immer unverwandelbarer an sein Ohr. Und schließlich ließ sie es nicht bei den bloßen Worten bewenden. In ihrer Küchenecke vorn rückte sie den Zinkeimer unter den Wasserhahn, dass es laut klirrte und schepperte, ließ sie den Eimer voll laufen, dass es durch die ganze Stube trommelte und dröhnte. Sie machte sich daran, Tisch und Stühle in der Mitte der Stube zusammenzurücken, dass es rumpelte und polterte. Scharrend und rumorend fing sie an, den Hundofen abzubauen und die Doppelfenster abzunehmen, kehrend und keuchend und scheuernd kam sie immer näher und näher in seine Ecke herüber.

Freilich gab er sich alle Mühe, aus diesen Geräuschen eine handfeste Schlägerei herauszuhören, die zwischen den Landstreichern am Bahndamm ausgebrochen war oder die zwischen den den Zug enternden Tramps und dem Zugpersonal entbrannte. Und noch, als der Scheuerhader schon gegen das Bein seines Stuhls flederte, als der Besen schon an seinen Tisch stieß, beugte er sich schützend über das Buch, klammerte er sich daran, als ob es ihm ans Leben gehen sollte ...

Als die feuchte, rot angelaufene Hand der Mutter dicht vor seinen Augen auftauchte, sich zwischen ihn und die Buchseiten schob, um ihm das Buch zuzuschlagen und wegzunehmen, fuhr er in plötzlichem Hass und Zorn auf. Schrie er die Mutter an. Schrie er sie mit sich überschlagender Stimme an: Sie habe keine Ahnung! Keine Ahnung, wie es in der Welt zugehe! Sie habe immer nur ihre vier Wände im Kopf!

Da höre doch alles auf, sagte die Mutter. Die eigene Mutter derart anzuschreien! Das werde doch Jahr um Jahr schlimmer mit ihm. So also habe die dauernde Leserei ihm schon den Kopf verdreht. Er könne das Erfundene nicht mehr vom wirklichen Leben und seinen Erfordernissen unterscheiden, soweit sei es schon gekommen mit ihm!

Aber was in dem Buch stehe, das sei nicht erfunden, rief er empört. Das habe der Schriftsteller alles selber erlebt! Und er sei gerade dabei, auf einen fahrenden Eisenbahnzug aufzuspringen, um in den amerikanischen fernen Westen zu gelangen! Wenigstens das Kapitel, den Absatz, den Abschnitt möge sie ihn zu Ende lesen lassen! Und dann, ja, und dann habe er heute auch noch mit dem Vater am Paradiesgarten weiterbasteln wollen! Die Tiere wären alle schon fertig vorgezeichnet und auch schon aufs Sperrholz übertragen, nun werde es Zeit, endlich ans Aussägen und Anmalen zu gehen, damit sie den Garten bis zum kommenden Weihnachtsfest fertig hätten und aufbauen könnten! Und dann sei der Vater ihm auch noch die Revanche für das Schachspiel vom vorigen Sonntag schuldig! Die ganze Woche über seien sie wieder nicht dazugekommen!

Unversehens hatte seine Stimme einen bittenden, fast flehenden Ton angenommen. Er spürte, wie ihm die Tränen aufstiegen.

Doch die Mutter kannte keinen Pardon.

Schachspielen! rief sie. Paradiesgarten basteln! Bücher lesen! Er wisse wohl überhaupt nicht mehr, wie er in der Zeit lebe! Seinetwegen könne es wohl das ganze Jahr über Winter bleiben. Seinetwegen brauche es wohl niemals Frühling zu werden! Anstatt von amerikanischen »Helden« zu lesen, die auf fahrende Eisenbahnzüge aufsprängen, solle er lieber wieder seine eigenen Beine gebrauchen lernen, damit sie ihm nicht noch vollends einrosteten! Ob er ihr mal sagen könne, wann er mit dem Vater zur diesjährigen Frühjahrstour aufbrechen wolle? Etwa, wenn es aufs Neue anfange zu schneien?!

Er hörte es, er sah es ihr an: Eher würde sich der erbarmungsloseste Heizer, würde sich der grausamste Bremser, der jemals zwischen Atlantik und Pazifik Jagd auf blinde Passagiere gemacht hatte, erweichen lassen, als diese Mutter, die ihn vom Zug in die Ferne feuerte, die ihn »schmiss«, noch bevor er überhaupt zum Aufspringen gekommen war ... Wie der rächende Engel in Großmutters Bilderbibel, der Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben hatte, stand sie da - statt des himmlischen Gewands ihren Scheuerkittel umgebunden und statt des Schwertes den Scheuerbesen in der erhobenen Hand. - Nur dass er nicht von einer verbotenen Frucht gegessen hatte ... Das Buch, in dem er eben noch so friedlich und so glücklich, so harmlos und so unschuldig gelesen hatte, dieses Buch hatte die Mutter ihm eigenhändig, mit denselben Händen, mit denen sie es ihm nun vor der Nase zuschlagen und wegnehmen wollte, zum letzten Weihnachtsfest auf den Gabentisch gelegt. Und sein eigener Vater hatte es in der Buchhandlung für ihn ausgesucht und gekauft ...

In einer letzten Hoffnung blickte er hinüber in die Sofaecke. Doch er, der Vater, hatte seinen Adalbert Stifter oder seinen Eichendorff oder seinen »Leberecht Hühnchen« schon treu und brav zugeklappt. Und er war schon dabei, sich folgsam zu erheben und das Buch artig ins Regal zu stellen. Und anstatt der Mutter ihre Anmaßung zu verbieten, anstatt ihr auch nur mit einem Wort zu widersprechen, schmunzelte er noch in seiner unbeschreiblichen nachgiebigen Art über sie ...

Ihm war, als ob es ihm die Brust zusammendrücken wolle. Ein Gefühl der Enttäuschung, des Beleidigtseins, des Verraten- und Verkauftseins stieg in ihm auf, breitete sich in ihm aus, schlug in Hass, in Empörung, in Verachtung um. Er wünschte sich, der Boden unter ihm beginne zu wanken, die alten Dielenbretter gerieten aus ihren Fugen. Er wünschte, die Decke über ihm risse auseinander, die engen Wände um ihn her erzitterten und erbebten, zerbrächen, fielen in sich zusammen, die alte Uhr an der Wand drehe sich um sich selbst, das ewig hin und her schwingende Messingpendel gerate aus dem Takt und fiele herab, der gusseiserne Etagenofen beginne auf seinen ewigen Löwenfüßen zu schwanken, falle, stürze um, seine letzten Funken und seine Asche um sich her verstiebend, Tisch und Stühle und Sofa und Schrank fingen Feuer, lösten sich in Schutt und Asche auf - alles, was ihn nah und wirklich umgab, zerfiele, vergehe, versinke zu nichts ... Und er befände sich mit einem Schlag wirklich und wahrhaftig dort, wo er eben noch in seiner Einbildung gewesen war ...

Doch es geschah nichts. Die Wände um ihn her erbebten nicht. Sie standen fest, unerschütterlich da, als ob sie für alle Zeit so da stehen blieben. Und die Möbel standen an ihrem Platz, als ob sie niemals auch nur um Haaresbreite von der Stelle gerückt werden könnten. Und das Uhrpendel ging hin und her und her und hin, als ob es niemals aufhören würde, in dem ewigen Gleichmaß hin und her zu schwingen. Und im Ofen knisterte und knackte und sang und summte es, als ob Feuer und Wasser darin niemals ausgehen würden. Und die Menschen in den Wänden, zwischen den Möbeln bewegten sich, atmeten, dachten und sprachen, lebten, wie sie immer geatmet und geredet und gelebt hatten und wie sie immer und ewig leben würden ...

Und plötzlich wusste er, dass er gehen musste. Dass er nicht länger hierbleiben konnte. Dass er nicht in diese Stube, zu diesen Menschen gehörte ..: Dass er hinaus gehörte, in die große, freie, abenteuerliche Welt ... Und er nahm sich vor, er schwor es sich, die nächste Gelegenheit wahrzunehmen, um seinen Entschluss in die Tat umzusetzen ...

Er erhob sich aus dem alten, durchgesessenen Lehnstuhl, der noch von der Großmutter stammte. Er schlug das Buch zu - als ob schon in diesem Augenblick sein großer, endgültiger Aufbruch gekommen sei.

In ihrer Ungeduld brachte die Mutter schon die Kleidung für den Vater und ihn herbei. Im Handumdrehen hatte sie ihnen auch ein paar Brote für unterwegs zurechtgemacht. Er nahm Joppe und Mütze und Wegzehrung entgegen, als ob er sich bereits Hunderte von Meilen entfernt befinde. Und als ob er diese Frau niemals vorher zu Gesicht bekommen hätte, als ob sie irgendein Farmer- oder Bürgersweib wäre, von der er, der erfahrene Tramp, sich gerade die nötigen Klamotten und den Proviant für seinen nächsten Trip erfochten habe.

Und der Vater, der war irgendein ganz treuherziger, doch hinterwäldlerischer Bursche, der ihn aus purer Neugier und primitiver Hilfsbereitschaft ein Stück begleiten wollte, um ihm den Weg zur Eisenbahnstrecke zu zeigen, und von dem er seinerseits aus lauter Freundlichkeit den kleinen Gefallen annahm. Denn er hatte es gar nicht nötig, sich von irgendjemandem den Weg zum Schienenstrang zeigen zu lassen, schon gar nicht von einem, der selber noch nie aus seinem weltabgeschiedenen Nest herausgekommen war. Oder er war der Hilfssheriff des Ortes, dem er vom Zugpersonal, das ihn in einem Augenblick der Unaufmerksamkeit überrumpelt und gefeuert hatte, übergeben worden war und der ihn nun in die nächste Stadt ins Gefängnis abführen sollte ... Doch er würde ihm unterwegs entwischen. Er würde ihm ein Schnippchen schlagen, ihn überrumpeln, sich zurück zur Bahnstrecke durchschlagen und den nächsten Fernzug entern. Und wenn er dann das Stampfen der Lokomotive und das Rattern der Pullmanwagen und das Stoßen der Schienen unter sich hörte, hätte er diesen Zwischenfall, dieses kleine Missgeschick, durch das er für wenige Stunden in das verlorene Dorf dahinten gekommen war, vergessen ...

Der Vater und er hatten sich angezogen und den Proviant verstaut. Als sie sich zum Gehen wenden wollten, rührte sich plötzlich der Kleine. Er wolle auch mitgehen, rief er. Er wolle nicht in der langweiligen Stube bleiben. Er wolle mit dem Vater und dem Großen wandern gehen.

Die Mutter erklärte ihm, dazu sei er noch zu klein. So eine Tour sei noch zu anstrengend für ihn, da mache er unterwegs schlapp.

Auch der Vater versuchte, ihn zu beruhigen.

Da warf der Kleine seine Holzpferde um und heulte und schrie los, dass er mitgehen wolle, sodass sich die Eltern gar keinen Rat mehr wussten.

Ohne dass er sich dessen recht bewusst wurde, ohne es eigentlich zu wollen, wandte er sich da zu dem Kleinen. Und er hörte sich selbst zu dem Kleinen sagen, hörte sich das sagen, als ob es ein anderer sagte: Dass er, der Kleine, nächstes Jahr bestimmt groß genug sei. Dass er nächstes Jahr mit dem Vater mitgehen könne ...

Und es war merkwürdig: Der Kleine war sofort still. Und er sah auf und blickte den großen Bruder an, als ob er ihn begriffen hätte ...

Und auch die Eltern sahen ihren Großen erstaunt, verwundert an ...

Er hatte sich indessen endgültig zum Gehen gewandt, die Hand schon auf die Türklinke gelegt, den Fuß schon auf die Schwelle gesetzt. Da fing es plötzlich an, in seinen Ohren zu rauschen und zu brausen, zu stampfen und zu rattern, zu stoßen und zu dröhnen ... Die Tür vor seinen Augen begann zu verschwimmen, sich aufzulösen ... Es war, als ob er durch die Holzfüllung hindurchblicken könne. Und er sah einen Schienenstrang sich in die Ferne ziehen. Und ihm war, als befände er sich auf einem mit unglaublicher Geschwindigkeit davonrasenden Zug, von dem es kein Abspringen gäbe, der mit ihm auf Nimmerwiedersehen irgendwo im Dunst der Ferne verschwinde. Endlose Ebenen tauchten vor ihm auf, nackte Felswände ragten steil vor ihm empor, bodenlose Abgründe gähnten unter ihm. Und er sah sich in riesigen Städten, inmitten unbekannter Menschen, die ihn mit kalten, abweisenden, verständnislosen, spöttischen, feindseligen Gesichtern anblickten. Er glaubte fremde Stimmen zu hören, unbekannte Worte, Spottreden, Hohnlachen, Schweigen ... Er sah sich in einer einsamen Dachkammer, allein, verlassen, sah sich in Wind und Regen, in Kälte und Sturm in einem Hinterhof, unter einer Brücke liegen, und kein Mensch fragte nach ihm, kümmerte sich um ihn, gab ihm Obdach, ein Stück Brot, einen Schluck Wasser, kein Mensch weit und breit verstand seine Sprache, begriff seine Art, achtete seine Wünsche, seine Gedanken ...

Ihm war, als ob ihm ein eisiger Wind ins Gesicht wehe, ihn durchdringe, ihn erstarren, erfrieren lasse. Er fühlte sich wie ausgehöhlt, wie ausgedörrt, als ob er seit undenklichen Zeiten keinen Bissen gegessen, keinen Tropfen getrunken habe, als habe er seit einer Ewigkeit kein freundliches Wort mehr gehört, kein Wort mehr gesprochen ... Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimmen des Vaters, der Mutter näherkommen, ihre besorgten Fragen, Worte, bis er sie endlich verstand, bis er begriff, wo er sich befand. Er war versucht zu antworten, es gehe ihm nicht gut. Ihm sei schwindlig, er fühle sich schwach ... Es wäre keine Lüge gewesen ...

Und er sah auch schon vor sich, wie die Mutter den Besen in die Ecke stellte und Bettdecke und Kopfkissen aus der Schlafkammer holte und ihm das Sofa zurechtmachte, wie sie Haferflockensuppe und Lindenblütentee für ihn kochte und ihm Bienenhonig heiß machte und Aloeblätter einschnitt. Und der Vater nahm den Hut wieder ab, zog seinen Lodenmantel und die Schuhe wieder aus und setzte sich mit dem Schachspiel und einem Buch zu ihm und stellte die Figuren auf und las ihm vor wie in alten Zeiten ...

Doch da sah er den Vater wirklich neben sich stehen, bereit zum Losgehen, voller Wanderlust und Wanderfreude, die nun von der Sorge um ihn überschattet war. Und dahinter stand die Mutter, in ihrem Reinemachkittel, mit Eimer und Besen, voller Eifer und Elan, in den vier Wänden endlich für die nötige Ordnung zu sorgen. Und dazwischen der Kleine, der von seinen Holzpferdchen, die er wieder aufgerichtet und angespannt hatte, nun erneut zu ihm, dem Großen, aufsah, als ob er ahne, was in ihm vorsichging ...

Und er sah nun wieder die Tür vor sich, deutlich, nah, wirklich, er sah jede ihrer Fasern und Ritzen, deren jede ihm bekannt und vertraut war, wie oft hatte er sich in die Maserung alle möglichen Figuren hineingedacht, oder er hatte sie herausgesehen ... Es war die Tür, durch die er die Stube ungezählte Male verlassen hatte. Und es war die Tür, durch die er immer wieder zurückgekehrt war in die Stube ... Und er sagte sich, warum er denn nicht wieder heimkehren können sollte, wenn er jetzt ginge. Er ginge doch nicht auf eine unbestimmte Zeit oder gar für immer. Er ginge doch nicht irgendwohin, in eine unbestimmte Ferne, aus der es kein Zurück mehr gäbe. Er ginge doch nicht allein. Oder mit irgendwem ... Er ginge doch mit dem Vater. Und wie er mit dem Vater ginge, so kehrte er mit dem Vater wieder zurück. Und wenn sie, in drei, höchstens vier Stunden, miteinander zurückkehrten, dann wartete die Mutter schon auf sie, hier, in ihren vier Wänden, in der sauber gemachten Stube, mit dem Abendbrot. Und der Kleine würde sich wieder nicht genugtun können mit seinen Fragen, nach allem, was der Vater und er unterwegs gesehen und erlebt hatten. Und das Feuer im Ofen knisterte und knackte, und das Wasser im Ofentopf sang und summte wie sonst, und die Uhr an der Wand schlug ihren Takt, wie sie ihn seit jeher geschlagen hatte und wie sie ihn immer schlagen würde, so lange, wie man nur vorausdenken konnte oder wollte. Und die Bastelsachen und das Schachspiel und die Bücher warteten, bis der Herbst und der Winter wieder herangekommen waren. Doch auch im Frühjahr und im Sommer gab es kühle und regnerische Tage, und es gab die Abende, an denen man, wenn man es wollte, lesen und basteln und Schach spielen konnte ... Jetzt aber, jetzt war die Zeit gekommen, um hinauszugehen. Um loszuwandern. Der blaue Himmel leuchtete, die Sonne schien durch die Fenster in die Stube herein. Die Mutter hatte recht. Sie hatte recht, wenn sie ihm hatte das Buch vor der Nase zuschlagen wollen. Wenn sie nicht klein beigegeben hatte, als er sie zuerst angeschrien und dann angebettelt hatte, ihn weiterlesen zu lassen ... Sie hatte recht. Der Winter war nun einmal vorbei für dieses Jahr, so wie er in jedem Jahr einmal vorbeigewesen war ... Dass es ihm eben schwindlig und schwarz vor Augen geworden war, das kam doch nur von der ewigen Stubenhockerei den langen Winter über, das kam davon, dass seine Glieder schon fast eingerostet waren und dass das viele Lesen ihn ganz verdreht im Kopf gemacht hatte ... Und dass ihn soeben diese unsinnige Angst überfallen hatte, das lag daran, dass ihn die Leserei schon so durcheinandergebracht hatte, dass er nicht mehr zwischen dem, was er gelesen hatte, und dem wirklichen Leben zu unterscheiden vermochte, dass er Einbildung und Wirklichkeit vermengte, dass es ihm schon fast so erging wie jenem Don Quichotte, diesem Ritter von der traurigen Gestalt, der zu viele Heldenromane gelesen hatte und der am Ende eine gewöhnliche Schafherde für ein Ritterheer hielt, der ernsthaft gegen Windmühlenflügel kämpfte, der in einer einfachen Dienstmagd ein Edelfräulein sah ... Nein, er war kein Tramp, wie Jack London einer gewesen war, den es von zu Hause fort, in eine ungewisse Ferne gezogen hatte. Er lebte nicht in jenem fremden, riesigen Amerika. Und er hatte keinen Vater, der die Familie verantwortungslos verlassen hatte, wie es Jack Londons Vater getan hatte. Und seine Mutter sorgte und kümmerte sich von früh bis abends, jahrein, jahraus um den Haushalt und die Familie und überließ die Kinder nicht sich selbst, wie es Jack Londons Mutter getan hatte ... Er hatte ein geordnetes, gesichertes Zuhause, in dem er sich wohlfühlen konnte, das ihm alles bot, was er brauchte. Er hatte es gar nicht nötig, auch nur daran zu denken, davonzulaufen ... Er las nur ab und zu gern etwas von anderen Ländern und Menschen, von Abenteuern und Schienensträngen, ihm genügte es, sie in seiner Einbildung nachzuerleben ... Jetzt aber, jetzt war es Zeit, das Buch wegzustellen und mit dem Vater auf Wanderung zu gehen ...

Nein, sagte er, ihm fehle nichts. Ihm gehe es ganz gut. Er habe nur vergessen, seine Sachen wegzuräumen.

Und er ging noch einmal in seine Ecke zurück. Und so sorgfältig wie immer, wenn er gelesen hatte und die Stube verließ, stellte er das Buch an seinen festen Platz im selbst gebastelten Wandregal. Und er wunderte sich.

Er wunderte sich darüber, wie er sich hatte von diesem kaum zwei Finger dicken Band, dieser Handvoll bedruckten Papiers derart hatte gefangen nehmen lassen. Und er bewunderte den Vater, der sein Buch sofort zugeklappt und weggestellt hatte, der damit alle Bilder und Gestalten, alle Gedanken und Wünsche, die das Lesen in ihm wachgerufen haben mochte, abgestellt, zwischen Buchdeckel und Buchrücken und in den Schrank gebannt hatte, nachdem die Mutter hereingekommen war und den Beginn des Frühlings verkündet hatte ... Von einem Augenblick zum andern war der Vater aus der fantastischen Lesewelt in die alltägliche Wirklichkeit zurückgekehrt, in der er nun einmal lebte, hatte er sich sogleich dort heraus- und hier hereingefunden und damit abgefunden. Ja, er hatte sich nicht einfach nur damit abgefunden. Er hatte sich sogleich auf die neue Lage eingestellt und sie freudig und froh begrüßt, er hatte sofort erkannt, dass auch der Frühling sein Gutes hatte, dass auch diese Jahreszeit ihre Vorteile, ihre besonderen Freuden und Schönheiten bereithielt ... Während er selbst sich an dem Buch festgeklammert hatte, als ob es zeitlebens nur das eine Vergnügen für ihn geben würde: im Großmutterstuhl zu hocken und auf die kleinen schwarzen Buchstaben zu starren und sich selber vorzumachen, dass er erlebe, was da geschrieben stand ... Der Vater aber hatte sogleich gewusst, dass es gar keinen Sinn hatte, sich der Mutter zu widersetzen. Er hatte sogleich gewusst, dass sich der Mutter widersetzen hieß, sich dem Wechsel der Jahreszeiten, sich dem Gang der Natur, sich dem Lauf des Lebens selbst zu widersetzen ... Der Vater hatte sogleich gewusst, dass es nun einmal Frühjahr geworden war, dass die vier Wände nun einmal vom Unrat, der sich den Winter über hier drinnen angesammelt hatte, gereinigt werden mussten, dass die Doppelfenster abgenommen und der Hundofen abgebaut werden mussten, der Vater hatte sofort gewusst, dass die Zeit des Lesens und Bastelns und Schachspielens nun einmal vorbei war für dieses Jahr und dass die Zeit des Hinausgehens und des Wanderns wieder angefangen hatte ... Und die Mutter, sie tat es doch nicht für sich oder gar, um ihnen etwas zu missgönnen. Sie tat es für sie alle, wenn sie hier mit dem Eimer und dem Besen hantierte, sie sorgte doch nur für die nötige Ordnung in der Stube und im Leben, auch in seinem Leben ... Und er hatte sie und den Vater verachtet und gehasst, er hatte sie gar für immer verlassen wollen, nur weil sie ihn hatten von dem ewigen Dahocken erlösen wollen ... Er begriff sich selber nicht, wie ihn hatten diese Gedanken und Gefühle überkommen können ... Es war, als sei er gar nicht recht er selber gewesen ... Als habe ein ganz anderer, ihm selber Fremder, ihm selber feindlich Gesinnter aus ihm gesprochen ...

Er räumte auch die bereitgelegten Bastelsachen, das Sperrholz, die Laubsäge, die vorgezeichneten Tiere für den Paradiesgarten, in die selbst gezimmerte Lade, er tat es wie immer äußerst sorgfältig und gewissenhaft, nichts durfte beschädigt werden, es war alles wertvoll, kostbar, unersetzlich, mit Mühe hatten Vater und Mutter ihm die Sachen besorgt, nach dem Krieg, nachdem sie ausgebombt worden waren und alles verloren hatten. Er hing an jedem Stückchen Papier, an jedem Laubsägeblättchen wie an etwas Lebendigem. Und war es nicht auch so, dass diese Dinge ein Teil seines Lebens waren, dass sie ihm unersetzliche und unbeschreibliche Freude bereiteten? Ja, diese Dinge machten den Winter über einen wesentlichen, den schönsten Teil seines Lebens aus, sie gehörten in der kalten Jahreszeit zu seinem Leben, zu ihm, wie in der warmen Zeit der Aufenthalt in der Natur, das Draußensein zu ihm gehörten ... Es war, als lege er nun auch die Schachfiguren, die er mit dem Vater ebenfalls selbst entworfen, gezeichnet und aus Sperrholz ausgesägt hatte, zu einer Art Sommerschlaf in das Kästchen, er nickte jeder einzelnen Figur im Stillen zu, dankbar, froh, hoffnungsvoll, freudig gewiss Abschied von ihnen nehmend bis zum Herbst und Winter, wo er sie zu neuem Spiel herausnehmen, zu neuem Leben erwecken würde ...

Nachdem er alles gewissenhaft an seinem Platz untergebracht und verwahrt hatte, ermahnte er, wie immer, bevor er die Stube verließ, den Kleinen, ja nicht an seine Sachen zu kommen. Und auch die Mutter erinnerte er daran, auf den Kleinen achtzugeben und in ihrem Reinemacheifer selbst nichts an seinen Sachen zu verrücken oder gar zu beschädigen, er werde, wenn er zurückgekehrt sei, genau nachprüfen, ob sich alles noch unberührt am rechten Fleck befinde ...

Die Eltern und der Kleine lächelten einander verständnisinnig und endgültig erleichtert zu: nun ganz sicher, dass ihm nichts fehlte, dass er ganz der alte war ... Damit war der letzte Rest der Besorgtheit auf ihren Gesichtern verschwunden, mit der sie ihren Großen hatten an der Tür schwanken und erblassen sehen ...

Und er selbst verließ nun ohne Zögern, ja fast ungeduldig, mit dem Vater die Stube, voller gespannter Lust, hinauszukommen. Als ob er nie im Leben von jener Angst heimgesucht worden sei, überschritt er die Schwelle, ging er mit dem Vater den Flur entlang, die Treppe hinunter, aus dem Haus, die Gasse hinunter.

Bevor sie in die Dorfstraße einbogen, drehten sie sich, so wie sie es jedes Jahr, wenn sie zu ihrer Frühjahrstour aufbrachen, taten, noch einmal um, um der Mutter und dem Kleinen zurückzuwinken. Das Haus stand da, wie es immer dagestanden hatte. Es stand unter dem blauen, von keinem Wölkchen getrübten Frühlingshimmel, vor den nahen Feldern und Büschen, die sich den Hang hinanzogen und ihn krönten, vor den ferneren, im bläulichen Dunst sanft verschwimmenden Höhen. Es stand da mit seinen in der Sonne leuchtenden, festen und sicheren Wänden, die den Bewohnern in der kalten Jahreszeit Wärme und Geborgenheit gegeben hatten, mit seinem bläulich schimmernden Schieferdach, das die Bewohner jahraus, jahrein vor Regen und Kälte, vor Schnee und Frost, vor Wind und Sommerhitze schützte, mit seinen Fenstern, die dem Beschauer wie freundliche Augen zublinkten, mit seiner Tür, deren glänzende Messingklinke man nur niederzudrücken brauchte, die man nur um ein weniges in ihren zuverlässigen, beweglichen Angeln zu drehen brauchte, um wieder darinnen, um gut und sicher aufgehoben und sicher vor all dem Ungewissen und Unbekannten, vor all dem Beängstigenden und Drohenden zu sein, das es draußen geben mochte ...

Das Haus stand da, wie es immer dagestanden hatte - und doch hatte er einen Augenblick lang das Gefühl, er sähe es zum ersten Mal. Als käme er hier ganz zufällig vorbei und wüsste nicht, wer hinter diesen Mauern und Fenstern wohnte, wie es darinnen aussähe, welche Möbel da stünden und was für Bilder an der Wand hingen ... Er wunderte sich, er konnte kaum glauben, dass er den ganzen Winter lang, dass er all die Tage und Wochen und Jahre in diesem Haus gelebt haben sollte. Und dass er das sein sollte, der hier stand und auf das Haus zurückblickte ... Und auch die winkende Mutter und der Kleine im Fenster erschienen ihm fremd. Es war, als wisse er nichts über sie, als habe er sie noch nie gesehen ...

Und ihm kam das Haus so klein vor, unter dem weiten Himmel, vor dem fernen Horizont. Und er wunderte sich, dass er darin die ganze Zeit sollte gelebt, geatmet, gedacht und gefühlt haben ...

Und es war ihm, als ob das Haus immer kleiner werde, als ob es in sich zusammenschrumpfe, als ob es vor seinen Augen verblasse und verschwinde ...

Und plötzlich war es ihm, als ob er das Haus zum letzten Mal sähe. Er hatte das Gefühl, er werde das Haus, in dem er einen großen Teil seines bisherigen Lebens verbracht hatte, nicht wieder sehen, wenn er sich noch einen Schritt weiter von ihm entferne. Wenn er nicht sogleich wieder in die Stube zurückkehre ...

Das Haus, der Himmel, die Erde begannen sich um ihn zu drehen, ineinander zu verschwimmen, er hörte ein fernes Rauschen in den Ohren, ein Knacken und Knistern und Summen und Singen und zugleich ein Stampfen und Rattern und Dröhnen und Pfeifen, und er fühlte wieder die Weichheit in den Knien, die Trockenheit und Hohlheit in Eingeweiden und Kehle ... Ihm fiel ein, was er sich in der Stube gewünscht hatte: Dass dieses friedlich in der Sonne schimmernde Dach auseinanderbersten, dass die hellen, sicheren Wände einstürzen möchten ... Und ihm war, als begänne das Haus wirklich zu schwanken und einzufallen und im Erdboden zu versinken. Und als wäre das darum so, weil er diesen frevelhaften Wunsch gehabt hatte ...

Er wandte sich ab und blickte hinüber zur Kirche, deren Turm mit dem Glockenstuhl und dem leuchtend weißen Zifferblatt und dem zwiebelförmigen Dach über die Häuser des Mitteldorfs heraus in den Himmel ragte, wie ein Finger, der nach oben zeigte. Er richtete ein stummes Gebet an Gott und bat ihn um Vergebung für diese sündhaften Gedanken, zu denen er sich hatte durch das Buch verleiten lassen ... Und er flehte ihn an, ihn heil und unbeschadet in dieses Haus, in sein Elternhaus, zurückkehren zu lassen, heute, von der Wanderung mit dem Vater. Morgen, aus der Schule. Den ganzen Frühling und Sommer über. Das ganze Jahr. Immer ...

Und er leistete für sich Abbitte bei seinen Eltern, dass er sie hatte verlassen wollen. Dass er verächtlich von ihnen gedacht, dass er auf sie herabgeblickt hatte. Und voller Reue und Scham und Dankbarkeit winkte er nun der Mutter zurück und dem kleinen Bruder, für den er ein manches Mal kein Verständnis aufgebracht hatte und um den er sich als der Ältere in Zukunft mehr kümmern würde ... Und wandte sich endlich und endgültig mit dem Vater zum Gehen.

Sie wandten sich dorfabwärts. Durchs obere Dorf hinauf wären sie hinaus auf die immer zugige Höhe und weiter in den großen Forst gelangt. Dort aber war es noch kalt, die Wege waren sicher noch vereist, die Bäume und Sträucher noch starr und kahl, noch keine grüne Spitze schaute irgendwo heraus, noch kein Vogel sang, die ganze Natur war noch weit zurück. Sie aber wollten nicht dem Winter hinterherlaufen. Sie wollten dem Frühling entgegengehen.

Und da kam er ihnen auch schon entgegen, der Frühling, Schritt für Schritt, mit seiner Frische und Milde, mit seiner Helligkeit und seiner Wärme, mit seinen freundlichen und bunten Farben und Tönen und Gerüchen und Düften ... Die Mutter hatte recht, die Sonne stand schon hoch am blauen und klaren Himmel, auf den Feldern war das letzte Fünkchen Schnee dahingeschmolzen, und in der Wiese am Bach kam unter dem winterwelken Vorjahrsgras schon das neue leuchtend grün und zart hervorgeguckt. Die Wintersaat überzog den Boden wie ein feiner grüner Flaum, und die noch schmelzwasserfeuchten Ackerkrumen glänzten speckig. In den Bäumen und Sträuchern zwitscherten und zirpten und schilpten und sangen die Finken und Meisen und Amseln und Sperlinge - dass es nur so seine Art hatte. Ihm schien, besser als dieser Ausdruck der Mutter könne es kein anderes Wort sonst sagen, wie die Vögel im Frühling sangen ...

Sie kamen an den einzelnen Grundstücken links und rechts der Straße vorbei. Aus ihren Ställen kamen nun auch die Hühner heraus und scharrten in der endlich vom Schnee befreiten Erde nach den ersten Würmern und Larven. Die Tauben gurrten vergnügt vor ihrem Schlag, flatterten in den Hof herab, zogen immer weitere Kreise, über das Haus hinweg und über die nahen Felder, mit noch ungelenken, winterstarren Flügeln. Aus den von den Winterabdichtungen befreiten und geöffneten Fenstern der Ställe klang das lang gezogene Brummen der Kühe und leises Kettengeklirr heraus, das ungestüme Scharren und Stampfen der Pferde, das Quieken eines Schweins, das erwachende Meckern einer Ziege. Der warme und süß-würzige Stallgeruch drang bis auf die Straße herunter.

Aus ihren Häusern und Wohnungen kamen nun auch die Menschen heraus. Die Frauen machten die Fenster auf, nahmen die Doppelfenster ab, lüfteten die Stuben, hingen das Bettzeug heraus und stellten die Hundöfen zum Ausputzen in den Hof. Die Männer sahen nach, ob der Winter, der so lang gewesen war und so streng, am Haus oder im Garten nicht irgendwelchen Schaden angerichtet hatte. Sie richteten die von den Schneemassen schief gedrückten Gartenzäune auf, hackten die in den schattigen und zugigen Winkeln und Ecken liegen gebliebenen Eis- und Schneereste los und schaufelten sie in den Bach oder warfen sie auf den Rasen in die Sonne. Sie nahmen den Obstbäumen die ihnen zum Schutz gegen den Wildfraß umgelegten Stroh- oder Reisigmäntel ab. Sie besserten beschädigte Dachrinnen aus und sahen nach, wie die Johannis- und Stachelbeersträucher die Kälte überstanden und wie sie die Knospen angesetzt hatten. Die älteren Jungen halfen den Vätern bei diesen Arbeiten, andere probierten mit noch wintersteifen Beinen ihr erstes Fußballspiel. Oder sie holten ihr Fahrrad aus dem Schuppen und starteten, unsicher schwankend, zur ersten Runde durchs Dorf. Die Kleineren suchten ihre Katapulte hervor oder bastelten sich neue, schossen den ersten Pfeil dieses Jahres vom Bogen oder ließen selbst gebastelte Schiffchen im Bach schwimmen. Die Mädchen ritzten ihr erstes Hüpfkästchen in den frischen Erdboden, warfen sich den ersten Ball zu, fuhren die kleinen Geschwister im Kinderwagen aus, halfen den Müttern oder stolzierten im Sonntagskleid, miteinander eingehakt, die Straße entlang. Für die Kleineren wurde der Sandkasten aufgedeckt, neuer Sand aufgeschüttet, und sie machten sich daran, den ersten Kuchen zu backen oder die erste Burg des Jahres zu bauen. Selbst die alten Leute sahen einmal zur Haustür heraus, blinzelten in die starke Sonne, probierten fast ängstlich die ersten Schritte auf dem befreiten Erdboden, als ob sie noch gar nicht glauben könnten, dass es wieder einmal Frühling geworden war und sie noch am Leben waren. Sogar die ganz Greisen und Gebrechlichen kamen ans Fenster und schauten heraus oder wurden im Stuhl oder im Bett herangerückt, damit sie ein paar Strahlen von der so lange entbehrten Sonne auf die bleichen und welken Wangen abbekamen ...

So gab es weit und breit niemanden, für den der Frühling nicht irgendeine, wenn auch noch so geringe Erleichterung brachte. Für jung und alt, für groß und klein und Mann und Frau, für Mensch und Tier und für Baum und Strauch und für Gras und Kraut, für alles und jedes brachte der Frühling neue Hoffnung und neue Freude und neues Leben, für alles und jeden hielt er etwas Schönes bereit ...

Auch für sie beide, den Vater und ihn, war es wie ein Erwachen in ein neues Leben, war es nun wie eine Erlösung, nach den langen Wochen und Monaten, die sie in den engen und dunklen vier Wänden gehockt hatten, durch das aus dem Winterschlaf erwachende Dorf zu wandern. Ja, eigentlich waren sie beide diejenigen, die es am deutlichsten und am tiefsten empfanden, dass es Frühling geworden war. Denn während die anderen Menschen alle, bei all ihrer Bewegung und ihrem Tun, in ihrem Garten und in ihrem Hof und bei ihrem Haus blieben, bei ihrem Besitztum verharrten, daran gefesselt blieben, nahmen sie beide all das Ergrünen und Sichregen am Wege in sich auf, atmeten sie mit allem und jedem, an dem sie vorbeikamen, auf, freuten sie sich an allem und mit allen, genossen sie all das Erwachen rings um sie her mit den Sinnen der anderen und mit dem eigenen Sinn, auf die mannigfaltigste und vielfachste Weise - wie echte Wanderer eben, die nicht an Haus und Hof und irgendwelchen Besitz gebunden waren, die aber an der Freude und Erlösung der anderen Anteil nahmen, die all die Empfindungen und Gefühle derer, an denen sie vorüberkamen, in sich aufnahmen, die alles erschauten und erkannten, die sich in alle hineinversetzten und alles miterlebten, wie in einem Film, der an ihnen vorüberzog, in dem sie aber selbst von einer Rolle in die andere schlüpften, in dem sie selbst mitspielten und mitgenossen, indem sie sich daran vorbeibewegten, mit offenen Augen und offenen Herzen daran vorbeiwanderten ...

Freilich war das für ihn nicht immer so gewesen ... Nicht immer war er so gern und so froh mit dem Vater durchs Dorf gewandert, wie er es heute tat ... Und selbst heute stockte ihm der Atem, stockte ihm der Schritt noch zuweilen, wenn sie sich anderen Menschen näherten ... Ja, ein manches Mal überkam ihn der plötzliche Wunsch, auszuweichen, umzukehren ... Das kam noch wie ein spätes Echo von der alten Angst ... Von der Angst, ihm könnten Verachtung und Hohn und Spott aus den Häusern und Höfen, an denen sie vorüberkamen, entgegenschlagen ... Hinter Zäunen und Sträuchern hervor könnten ihm abfällige Reden, aus Schuppenritzen und Astlöchern heraus könnten ihm Schimpf- und Spottworte zugerufen werden, hinter den Gardinen der Fenster könnten höhnische Gesichter erscheinen, könnten ihm hämische Grimassen geschnitten, könnten aus Haustürspalten ihm dumme Vögel gezeigt werden ... Und es hatte eine Zeit gegeben, da das wirklich geschehen war ... Und an den Tagen darauf, nachdem er mit dem Vater durchs Dorf gegangen war, da war er in der Schule, in den Pausen, auf dem Schulweg, auf der Straße und auf dem Dorfplatz von den anderen Jungen gefoppt und gehänselt und herumgeschubst und in den »Schwitzkasten« genommen worden, weil er mit seinem »Papa«, dem »Schulmeister«, so »artig« »spazieren ging«, weil er ein verwöhntes und verweichlichtes »Lehrersöhnchen« war, so ein braves »Papahätschel«, weil er gar kein richtiger Junge war ... Sie hatten ihn von ihren Räuber-und-Gendarm-Spielen ausgeschlossen, hatten ihn verlacht, wenn er sich beim Fußballspielen unwissend und ungeschickt angestellt hatte, sie hatten ihm Beine und Fallen gestellt, ihn veralbert und ihn zum Narren gemacht ... Von den Jungen der Niederdorfer »Bande« war er geschnappt und bis zum späten Abend in einer Scheune eingesperrt gehalten worden, aus Rache an seinem Vater, weil sie hatten die vergessenen Hausaufgaben nachholen und wegen sonstiger Faul- oder Frechheiten hatten »nachbrummen« müssen. Er war von älteren Pimpfen und Hitlerjungen »geschnickt« worden, weil sein Vater sie durch seine Hausaufgaben von ihrem kriegswichtigen Dienst abhielt, er hatte müssen Kniebeugen und Strafexerzieren machen. Er war als Feigling, als Drückeberger, als Verräter verachtet und zu dauerndem Strafdienst verurteilt worden, weil sein »defätistischer Papa« ihn nicht mit in ein Ertüchtigungslager und nicht auf die Hitlerschule gehen lassen hatte, wozu er vom Jungzugführer ausersehen worden war ... Schließlich war er von den gleichen Pimpfen und Hitlerjungen, die ihn am meisten drangsaliert hatten, als Sohn eines »Nazischweins« und »Kriegsverbrechers« verachtet und behandelt worden, nachdem der Krieg und damit die Nazizeit zu Ende gewesen war ... Und aus manchem Versteck links und rechts der Straße war dem Vater und ihm, wenn sie durchs Dorf gegangen waren, der Hitlergruß zugerufen worden, nachdem das längst vorbei gewesen war ... Das alles war nicht ohne Wirkung und Folgen auf sein eigenes Verhältnis zum Vater geblieben. Während er mit ihm durchs Dorf gegangen war und gesehen hatte, wie die anderen Jungen in den elterlichen Höfen und Gärten ihren Vätern bei der Arbeit halfen oder Fußball spielten und Fahrrad fuhren, da hatte er sich ein manches Mal an ihre Stelle gewünscht, und seinen eigenen Vater hatte er verwünscht ... Er hätte auf der Stelle mit jedem anderen Jungen getauscht, und er hatte seinem Vater insgeheim die bittersten Vorwürfe gemacht, dass er weder ein Bauer noch ein Handwerker war, dass er weder ein eigenes Haus noch auch nur das kleinste Stück Land besaß, auf dem er hätte ein Beet anlegen und Gemüse und Blumen anbauen und züchten können, dass er keinen Stall und keinen Schuppen, dass er kein Pferd und keine Kuh, dass er nicht einmal eine lappige Ziege oder ein schäbiges Kaninchen besaß ... Dass alles, was er sein eigen nannte, ein Schrank voller Bücher und ein Regal voller Zeichen- und Bastelsachen war. Dass alles, was er konnte, das Einmaleins und das ABC waren, das er den Kindern in den langweiligen und öden vier Wänden des Klassenzimmers beibrachte. Dass alles, was er sonst tat, in Bücherlesen und Schachspielen und Basteln und ein bisschen Spazierengehen bestand, wodurch er seinen Sohn und sich selbst zu all dem Schaden auch noch vor allen Leuten lächerlich machte ... Geradezu gehasst hatte er den Vater, nachdem der Krieg ausgebrochen war und der Vater nicht, wie die meisten Väter seiner Mitschüler, zur Wehrmacht eingezogen worden war ... Die anderen Jungen bekamen und schrieben Feldpostbriefe, empfingen Beutepäckchen, sie konnten sich darauf freuen, dass ihr Vater auf Fronturlaub nach Hause kam, dass er von Abenteuern und Heldentaten erzählte, dass er Dolche aus Finnland und französische Uhren und Skipullover mit Rentiermuster aus Norwegen mitbrachte. Als einer der älteren Lehrer im Ort war der Vater »unabkömmlich«, damit der Unterricht aufrechterhalten würde. Wie die anderen Jungen ihn hassten und verachteten, dass er nicht für Volk und Vaterland im Schützengraben stand, wie er ihn selbst hasste, wie er schon das Wort »unabkömmlich« hasste ... Während die Väter der anderen Jungen ihr Leben einsetzten und Heldentaten vollbrachten, stand sein »Papa« nach wie vor in seinem Klassenzimmer, um mit der gleichen Kreide die gleichen Buchstaben und Ziffern auf immer die gleiche schäbige Wandtafel zu kritzeln ...

Den Gipfel hatten seine Verachtung, sein Hass erreicht, als der Vater sich weigerte, ihn auf die Adolf-Hitler-Schule gehen zu lassen. Er hatte dorthin gewollt. Er hatte dorthin gewollt, um zu einem echten deutschen Jungen zu werden, um hart wie Kruppstahl und schnell wie ein Windhund und zäh wie Leder zu werden. Und um, wenn er das geworden wäre, ins Dorf zurückzukehren und es seinem Jungzugführer und den anderen Schindern und Schnickern zu zeigen, um ihnen zu beweisen, dass er kein verweichlichtes Lehrersöhnchen war. Und später würde er ein hoher Offizier des Führers werden, der ihm half, Großdeutschland gegen seine Feinde zu verteidigen und die Welt zu erobern ... Durch seine guten Leistungen im Jungvolk und in der Schule hatte er sich auch schon bei seinen Schnickern einen guten Stand erobert, und er war schon als Anwärter auf einen Platz an der Schule dem Rektor der Schule und dem Kreisbannführer gemeldet worden - als der eigene Vater seine Zustimmung verweigert hatte. Mit der Begründung, er solle einmal auf die Oberschule gehen und später studieren und sich auf eine wissenschaftliche oder künstlerische Laufbahn, die seiner Begabung entspräche, vorbereiten ... Er wollte, er solle einmal so ein Schulmeister, so ein Stubenhocker, so ein ewiger Bastler und Wanderer werden, wie er selber einer war ... So einer, der sich vor dem Krieg, vor den eigentlichen Aufgaben und Kämpfen seiner Zeit in irgendeiner abgelegenen Schulmansarde verkroch ... Er wäre am liebsten ohne die Erlaubnis des Vaters auf die Hitlerschule gegangen, er malte sich am Abend im Bett aus, wie er das Haus verließe und sich in die entfernte Stadt durchschlüge, und er sprach am Tage nicht mehr mit dem Vater ...

Doch dann war der Krieg zu Ende gegangen, sie waren ausgebombt worden, das Schulgebäude war abgebrannt, in dessen Mansarde sie gewohnt hatten, sie waren ins Haus der Großmutter gezogen, das in einem abgelegenen Teil des Dorfes stand, der Vater war als Angehöriger der Nazipartei aus seinem geliebten Beruf entlassen worden. Soldaten der Roten Armee waren ins Dorf gekommen, und nach und nach waren die grausamen Verbrechen bekannt geworden, die Hitler und seine Helfershelfer im Namen des deutschen Volkes begangen hatten ... Nun hatte er nicht begriffen, wie der Vater hatte jemals dieser Nazipartei beitreten können. Doch der neue Bürgermeister des Dorfes und der neue Gemeinderat und viele Leute im Dorf hatten sich dafür eingesetzt, dass der Vater weiterhin Lehrer bleiben konnte. Der Vater aber hatte abgelehnt. Erst nach und nach begriff er seine Beweggründe. Der Vater war aus politischer Ahnungslosigkeit und menschlicher Arglosigkeit, aus hergebrachtem Vertrauen in jede Obrigkeit, aus anerzogenem Pflichtbewusstsein, aus persönlicher Gutgläubigkeit und Gutmütigkeit Mitglied der NSDAP geworden, so stand es in seiner Entnazifizierungsurkunde. Und es stand da und wurde anerkannt vom antifaschistischen Block des Ortes, dass ihm während der Nazidiktatur niemals die einfachen und ständigen menschlichen Werte verloren gegangen waren. Er hatte sich nicht so weit verblenden und verführen lassen, dass er sich irgendwie persönlich mitschuldig gemacht hatte. Er war nie ein »scharfer«, ein »fanatischer« Nazi gewesen. Er war nie über Leichen gegangen. Er hatte seine Parteizugehörigkeit nicht ausgenutzt, um sich persönliche Vorteile zu verschaffen. Er hatte nicht nach höheren Ämtern und nach der Gunst der Parteibonzen gestrebt. Er hatte es sogar abgelehnt, in die Stadt versetzt zu werden und den Rektorposten an einer dortigen Schule zu übernehmen, weil er sich hätte dann auch in der Partei mehr einsetzen müssen. Er war immer human, immer gerecht zu den Schülern gewesen, er hatte keine Ausnahmen gemacht. Den faulen und frechen Sohn des Ortsgruppenleiters der Partei hatte er ebenso unnachsichtig in die Schranken gewiesen, wie er den lernwilligen und anständigen Jungen eines eingesperrten Kommunisten schulisch gefördert und menschlich gestärkt und unterstützt hatte. Er konnte sich selbst noch erinnern, dass der ältere Junge öfter bei ihnen zu Hause zum Essen eingeladen war, und er sah noch heute vor sich, wie der Tischgast zuerst die Kartoffeln, dann das Gemüse gegessen hatte, und an das Fleisch hatte er sich immer erst gewagt, nachdem Mutter und Vater ihn immer wieder dazu aufgefordert hatten ... Vom Rektor war der Vater zur Rede gestellt worden, dass er den Sohn eines Kommunisten »bevorzuge«, der Vater aber hatte entgegnet, ein Kind dürfe nicht unter der Gesinnung seines Vaters leiden, der Junge sei sein Schüler und bedürfe seiner menschlichen Hilfe mehr als alle anderen Schüler, und er hatte ihn weiter zum Essen eingeladen und ihm Bücher geliehen und Hefte geschenkt ... Als Schulungsleiter der Partei hatte der Vater sich geweigert, das Thema Rassenfragen und Judentum zu behandeln. Als Kind hatte er in seiner Heimatstadt eine hochgebildete jüdische Familie gekannt, die ärmere Leute unterstützte und viel für die Schule und die Stadt und das Allgemeinwohl der Bürger getan hatte, und er wusste vieles über die Geschichte des jüdischen Volkes und kannte Bücher jüdischer Schriftsteller, er konnte und wollte nicht glauben, dass ein ganzes Volk, eine ganze Rasse schlecht und minderwertig sein könne und darum als Ganzes bekämpft und unterdrückt werden müsse. Nachdem der Rektor und der Ortsgruppenleiter ihm auf seine Bedenken hin geantwortet hatten, der »Führer« wisse, was für das deutsche Volk gut sei und was schädlich und was bekämpft werden müsse, und die vorgegebenen Themen müssten in den Schulungsabenden behandelt werden, hatte der Vater die Judenfrage einfach ausgelassen und war mit einer strengen Rüge bestraft worden ... Obwohl der Vater kein eifriger und regelmäßiger Kirchgänger war und sich seinen eigenen Glauben gebildet hatte, hatte er sich nicht von der Partei zwingen lassen, aus der Kirche auszutreten, als das von allen in der Partei organisierten Lehrern verlangt worden war. Er wollte austreten, wenn er die Zeit für gekommen hielte. Welchem Glauben er anhinge, war seine eigene Angelegenheit. Von dieser Meinung konnten ihn auch der Rektor und der Schulrat nicht abbringen, die ihn aus diesem Grund zu sich bestellten. Man drohte ihm, die Weigerung werde Folgen haben, doch man schien es zu vergessen, dass der Vater Mitglied der Kirche geblieben war. Gegen Ende des Krieges besann man sich darauf. Der Ortspolizist und ein Gestapo-Beamter suchten ihn auf, um ihn dafür zu gewinnen, jeden Sonntag den Gottesdienst zu besuchen und den Pfarrer zu bespitzeln, der in den Verdacht gekommen war, in seinen Predigten defätistische Bemerkungen zu machen. Der Vater hatte die beiden empört hinausgewiesen. Er konnte sich noch besinnen, er hatte den Vater noch nie so erregt, so aufgebracht gesehen ... So war der Vater bei der Partei, der er angehörte, immer mehr in Ungnade gefallen, bis er am Ende in offenen Widerspruch zu ihr geriet, als man ihn, seinen Jungen, für die Hitlerschule vorgesehen hatte. Erst nach dem Krieg erfuhr er selbst durch die Mutter, dass der Vater zum Kreisschulrat und Kreisleiter der Partei und schließlich zur Gestapo bestellt worden war, nachdem er sich geweigert hatte, sein Einverständnis zu geben. Ihm war angedroht worden, an die Front, in ein Strafbataillon, in ein »Himmelfahrtskommando«, abkommandiert zu werden, wenn er, als Parteigenosse, als Lehrer, als Erzieher, nicht imstande sei, die Auszeichnung, die Ehre zu begreifen, die darin liege, dass sein Sohn für diese würdige Laufbahn auserwählt worden sei. Der Vater aber hatte sich nicht einschüchtern lassen und auf seinem Recht als Vater bestanden, über die Zukunft seines Kindes zu entscheiden. In seiner Empörung und Verzweiflung hatte der Vater mit ihm in den Forst gehen wollen, um sich dort vor Polizei und Gestapo und Militär zu verstecken, bis der Krieg und die Herrschaft der Nazis aus wäre ... Doch bevor es zu dem gefahrvollen Unternehmen gekommen war, waren fliehende deutsche Soldaten in abgerissenen Uniformen von der Landstraße draußen quer über die Felder herein ins Dorf gekommen, hatten um Zivilkleidung gebeten und von den nachrückenden Russen erzählt und waren weiter Richtung Westen geflohen. Bald darauf waren auch die Panzer mit dem roten Sowjetstern und ein Zug von Panjewagen gefolgt, und der Krieg war zu Ende gewesen und der Vater und er vor dem Zugriff der Nazis gerettet. Dafür kam die neue Angst, der Vater werde wegen seiner Zugehörigkeit zur Nazipartei von den Siegern zur Rechenschaft gezogen und bestraft. Nun erst kam ans Tageslicht, welche grauenhaften Verbrechen das Hitlerregime im Namen des deutschen Volkes begangen hatte ... Er würde nie vergessen, wie betroffen der Vater gewesen war, als er aus den Berichten über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse von dem Ausmaß der Gräueltaten erfuhr, die auch in seinem Namen verübt worden waren, von einer Partei, von einem Führer, von Menschen, an deren guten Willen er einmal geglaubt hatte. Tagelang hatte der Vater nichts gegessen, kein Wort gesprochen. Er war aus dem Haus, hinaus ins Feld gegangen, weit draußen im Wald hatten die Mutter und er ihn gefunden, ihn an die Hand genommen und nach Hause gebracht ... Wie alle Lehrer, die der Nazipartei angehört hatten, war der Vater aus dem Schuldienst entlassen worden. Er war nicht zu bewegen, er weigerte sich geradezu, sich um eine Wiedereinstellung zu bemühen. Selbst als der Kommunist, dessen Sohn der Vater in der schweren Zeit unterstützt hatte und der nun aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt war, dem Vater Hilfe und Unterstützung anbot, ihn geradezu darum bat, das von ihm aufgesetzte Gesuch um seine Wiedereinsetzung als Lehrer gutzuheißen und mit zu unterschreiben, lehnte der Vater dankend und um Verständnis bittend ab. Er war einmal einer falschen Politik zum Opfer gefallen. Und er hatte sich, wenn auch unwissentlich und unwillentlich, schuldig gemacht, indem er Mitglied dieser Partei und Lehrer und Erzieher gewesen war. Er sei nicht dazu geschaffen, junge Menschen zu erziehen, er habe sich selbst zu sehr geirrt. Er sei politisch zu unwissend, zu ungebildet, um sich in solch einer Zeit zurechtfinden zu können und um in ihr Lehrer sein zu können. Er fühlte sich schuldig, dass viele seiner ehemaligen Schüler nicht mehr lebten. Er habe als ihr Lehrer versagt. Er hätte das Regime durchschauen, die unheilvollen Folgen der Politik voraussehen müssen. Er hätte seine Schüler vor alldem warnen, sie davor behüten müssen. Er begreife die Vergangenheit wie die Gegenwart selbst zu wenig, um den Heranwachsenden Lehrer sein zu können, um ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen zu können ... Er müsse selbst erst einmal lernen, sich zurechtzufinden ... So hatte er angefangen, Spiel- und Weihnachtssachen zu entwerfen und zu basteln. Er hatte schon immer gern gezeichnet und gebastelt, als Lehrer hatte er nie rechte Zeit dazu gefunden. Doch als Kunstgewerbetreibender verdiente er nicht genug Geld, um die Familie ernähren zu können. Er ging als Waldarbeiter in den Forst. Die ungewohnte schwere Arbeit machte ihn müde, er war manchmal dem Zusammenbruch nahe, kam erschöpft nach Hause, schlief am Abendbrottisch ein. Doch nach und nach gewöhnte er sich an diesen Beruf, und er übte ihn gern aus, war gern im Wald, in der freien Natur, mit einfachen Menschen zusammen. In der Försterei wurde er bald zu Schreibarbeiten herangezogen, und er gewann interessante Einblicke in diesen Beruf. Die körperliche Arbeit, der Aufenthalt an der frischen Luft und in der freien Natur, der Umgang mit den natürlichen, kameradschaftlichen Kollegen taten ihm gut. Er atmete seine Lunge und sein Hirn vom Kreide- und Bücherstaub frei, wie er selbst sagte. Und er schaffte etwas, das nützlich war, unmittelbar, das Ergebnis seiner täglichen Arbeit war zu sehen, zu greifen, niemand konnte es ihm zunichtemachen. Holz wurde immer gebraucht von den Menschen, gleich, welche Politik herrschte. Und sein Kopf war frei, er konnte in Ruhe nachdenken. Und er konnte sich das Jahr über mehr der Familie widmen. Als Lehrer hatte er kaum Zeit gehabt, sich um ihn und den Kleinen zu kümmern, er hatte im Krieg noch die kleine Schule des Nachbarortes betreuen müssen, war kaum aus den Klassen- und Lehrerzimmern herausgekommen, hatte Sitzungen und Verpflichtungen gehabt, war an den vorgeschriebenen Lehrstoff und an die schulischen und politischen Richtlinien gebunden gewesen. Und wenn er am Abend nach Hause gekommen war, hatte er sich an die Unterrichtsvorbereitungen für den folgenden Tag gesetzt, hatte Hefte korrigiert, hatte sich Gedanken über die Schüler gemacht. Ihm war kaum Zeit und Kraft geblieben, sich über das Geschehen in der Welt zu informieren, sich ein eigenes Bild vom Leben der anderen Menschen zu machen, sich seiner selbst bewusst zu werden und die eigenen Kinder zu erziehen ... Gerade darum hatte er dem Einfluss des Vaters entgleiten können, hatte er so weit kommen können, dass er sich gewünscht hatte, auf diese Hitlerschule zu kommen, dass er sich gewünscht hatte, der Vater würde zur Wehrmacht eingezogen, er wäre Bauer oder Handwerker oder Strumpfwirker ... Darum hatte es so weit kommen können, dass er den Vater verachtet und gehasst, dass er sich seiner geschämt hatte ...

Doch das alles war nun längst vorbei, war überstanden. Er brauchte keine Angst mehr zu haben, dass er von den anderen Jungen im Dorf verachtet und gemieden würde. Er war kein Schulmeistersöhnchen mehr. Er hatte es längst bewiesen, dass er genauso laufen und springen und Fußball spielen konnte wie die anderen. Er war beim Räuber-und-Gendarm-Spiel ein begehrter Kamerad geworden, er übertraf die anderen, was Findigkeit und Gewandtheit im Gelände anbetraf, und er nahm es im Ringkampf mit jedem Gleichaltrigen auf, er kletterte auf die höchsten Bäume, er war ein Junge wie alle anderen im Dorf, wenn es darauf ankam, wenn er mit den anderen zusammen war ...

Doch jetzt war er mit dem Vater zusammen. Jetzt wanderte er mit dem Vater durchs Dorf. Und auch, wenn ihm Spott- und Schimpfworte hinterhergerufen worden wären, weil er, als Junge in seinem Alter, mit seinem »Papa« spazieren ging, es hätte ihm gar nichts mehr ausgemacht. Er war stolz auf seinen Vater. Er war dankbar dafür, dass er ihn hatte, dass er an seiner Seite gehen konnte. Der Vater wurde geachtet im Dorf. Als ehemaliger »Schulmeister« und als jetziger Forstarbeiter. Die Leute achteten die gerade und bescheidene Haltung des Vaters, und sie hatten sich längst daran gewöhnt, dass er am ersten schönen Sonntag im Frühling mit seinem Jungen durchs Niederdorf wanderte. Das war so eine Art Brauch geworden, der Vater und er gehörten für die Leute zum Frühling wie das Ergrünen der Wiese und das Singen der Vögel. Sie grüßten aus ihren Gärten herüber, nickten ihnen freundlich zu, manche sagten es ihnen, dass nun der Frühling endgültig angebrochen sei, da der Herr Schullehrer mit seinem Sohn auf Wanderung gehe.

Und er selbst beneidete längst keinen der anderen Jungen mehr. Mit keinem von ihnen hätte er mehr tauschen mögen. Er hatte sie kennengelernt, wusste, wie es bei ihnen zu Hause war. Keiner hatte einen Vater wie er, der sich um seinen Jungen bemühte, der sich die Zeit nahm, mit ihm zu wandern, zu basteln, Schach zu spielen, der alles dafür tat, dass er eine frohe und glückliche Kindheit verlebte ... Und einige seiner Kameraden hatten gar keinen Vater mehr, hatten ihn im Krieg verloren ... Ihn schwindelte es bei dem Gedanken, er hätte den Vater nicht mehr. Er ginge nicht jetzt neben ihm durchs Dorf, dem Frühling entgegen ...

Zwar juckte und zuckte es ihm in den Beinen, wenn Kameraden, an denen sie vorbeikamen, Fußball spielten oder im Bach Schiffchen schwimmen ließen oder mit dem Katapult oder mit Pfeil und Bogen schossen und ihn zum Mitmachen einluden. Doch er besann sich. Es war noch genug Zeit, mit den Kameraden zusammen zu sein, an den Nachmittagen in den kommenden Wochen, der Frühling hatte gerade erst begonnen. Und der erste Frühjahrsausflug gehörte allein dem Vater und ihm. Er konnte sich gar nicht mehr vorstellen, dass er einmal nicht gern mit dem Vater gegangen sein sollte ... Dass es Jahre gegeben hatte, da er sich wünschte, einer der anderen Jungen zu sein, die links und rechts am Weg zurückblieben. Dass er sich wünschte, der Vater wäre im Krieg. Dass er den Vater verwünschte ... Und eigentlich war ihm noch nie so zu Bewusstsein gekommen, wie sehr er den Vater achtete und liebte, wie an diesem Frühlingstag. Noch nie war er so frank und frei, so froh und glücklich mit dem Vater auf Wanderung gegangen.

Um so mehr wunderte er sich, als er feststellte, dass eine gewisse Verwandlung mit ihm vor sich ging, wenn er mit dem Vater an Mädchen vorüberkam, die in seinem Alter waren oder auch älter als er. Unversehens geriet sein Schritt ins Stocken, wurde sein Körper sonderbar steif und ungelenk, er kam sich dürr und plump zugleich vor, unansehnlich, lächerlich. Es war, als könne er den Vater und sich selbst so ankommen sehen, in der armseligen Kleidung: der Vater in seinem einfachen, ziemlich abgeschabten Lodenmantel und dem schäbigen alten Hut, er in der Joppe, deren Ärmel die Mutter zwar verlängert hatte, die ihm jedoch plötzlich zu kurz vorkamen, in den mehrfach ausgebesserten kurzen Hosen, in den handgestrickten langen Strümpfen, durch die womöglich die lange Unterhose hindurchschimmerte ... Je mehr er sich den Mädchen näherte, um so unsicherer, verlegener wurde er. In ihrem Geflüstere und Getuschele glaubte er seinen Namen zu vernehmen, er glaubte, sie redeten abfällig über ihn, machten sich über den Vater und ihn lustig, hielten sich über ihrer beider Aufzug auf. Zum Schritt kamen ihm Atem und Herzschlag ins Stocken. Er wagte nicht aufzuschauen, seine eigenen Arme und Beine waren ihm mit einem Mal im Weg. Und je mehr er sich anstrengte, ordentlich geradeaus zu gehen, um so mehr kam er ins Stocken und Stolpern. Das kannte er gar nicht, und er konnte sich nicht erklären, warum ihm das nun so erging. Er hatte sich doch nie etwas aus den Mädchen gemacht, sie gingen ihn nichts an, sie waren ihm doch ganz gleichgültig. War er glücklich - oder vielmehr unglücklich an ihnen vorbei, besann er sich alsbald. Er sagte sich, dass es ihm völlig gleichgültig war, was diese Mädchen über ihn denken oder tuscheln mochten. Er dachte an all das, was sein Leben eigentlich ausmachte, und da spielte es doch gar keine Rolle, was diese Mädchen von ihm hielten, die ihn nur dem Äußeren, der Kleidung, dem Aussehen nach kannten, die ihn nur nach der Oberfläche beurteilen konnten und nichts von alldem wussten, was sein und seines Vaters Leben ausmachte, was es reich machte und es von dem engen, niedrigen Denken und Leben der Mädchen, die nur die Kleidung und solche Äußerlichkeiten im Kopf hatten, die nur strickten und häkelten und sich herausputzten und nichts davon kannten, wie das Leben eigentlich war, unterschied ... Ja, was wussten die davon, was in solchen Büchern wie den »Abenteurern des Schienenstrangs« stand, was wussten die von solchen Schriftstellern und Abenteurern wie Jack London. Und er bildete sich ein, er gehe hier als weit gereister Tramp mit einem anderen, seinem besten Kameraden und Freund, er gehe durch dieses abgelegene Dorf, an diesen unwissenden, nichts ahnenden Mädchen vorbei, die eingehakt umherstolzierten oder -standen und die sich gescheit vorkamen mit ihrer Tuschelei und Kicherei ... Und später einmal, wenn er durch seine Abenteuer in aller Welt berühmt geworden wäre und seine Bücher überall gelesen würden, dann würden sie staunen, und dann würden sie es bereuen, dass sie so kindisch über ihn gekichert und getuschelt hatten ... War er dann endgültig an ihnen vorbei, hörte und sah er nichts mehr von ihnen, wunderte er sich darüber, wie er sich hatte von diesen Mädchen auch nur im geringsten irritieren lassen können. Er begriff nicht, wie er sich hatte derart aus der Ruhe bringen lassen können, und er schämte sich insgeheim vor dem Vater und sich selber, dass er sich ihres Äußeren wegen hatte schämen können ... Doch dann wandte er sich dem Vater und mit dem Vater all dem Schönen rings um sie her wieder zu, und er hatte den kleinen Zwischenfall vergessen ...

Nicht so erging es ihm, als er an zwei Mädchen vorbeikam, die ebenfalls in seinem Alter waren, ja die mit ihm in eine Schulklasse gingen. Beide stolzierten weder mit anderen eingehakt die Straße entlang, noch saßen sie tuschelnd und kichernd auf der Hof- und Gartenbank. Kriemhild schritt, halb verborgen von den Rotbuchen und Kastanien, den Haselbüschen und Rhododendronsträuchern, hinter dem angerosteten, verschnörkelten Eisenzaun, der den parkähnlichen Garten und die Villa ihrer Eltern von der Straße abgrenzte, auf dem verschlungenen Kiesweg auf und ab. Sie war mit sich beschäftigt, hing irgendwelchen Gedanken nach, die er vielleicht nie in seinem Leben kennenlernen würde. Sie führte ihren Langhaardackel an der Leine, und auf der weiß gestrichenen Bank in der Ecke des Gartens lag ein aufgeschlagenes Buch. Er bewunderte die Ruhe und Gelassenheit, mit der sie hier ging, mit der sie sich selbst genug zu sein schien. Sie war in der Klasse geachtet, doch sie ließ sich mit niemandem näher ein, hatte keine besondere Freundin unter den Mädchen. Ab und zu bekam sie eine Verwandte zu Besuch, mit der sie dann hinter der Villa Tennis spielte oder auch im Dorf einkaufen ging. Sie war die Tochter des Möbel- und Spielzeugfabrikanten, der ebenfalls sehr zurückgezogen lebte. Ihre Mutter galt im Dorf als eingebildet, als »großmogelig«. Doch der Vater war bei den Arbeitern beliebt, und er hatte seinem Vater öfter Sperrholzreste zum Basteln gegeben, die in seiner Fabrik übriggeblieben waren. Im Dorf jedoch sah man ihn kaum einmal. Auch die Frau Fabrikantin kam kaum aus der Villa und dem Garten heraus, eine ältere Frau aus der Nachbarschaft erledigte die nötigen Wege für sie. Die Fabrikantenvilla und der Garten waren wie eine andere Welt, eine Art Insel im Dorf, auf der ein anderes, geheimnisvolles Leben herrschte, ein Leben, wie man es als gewöhnlicher Mensch höchstens aus Büchern, aus Romanen kannte. Kriemhild erschien selbst wie aus einem Roman. Sie trug ein helles, langes Kleid, das durch das Gitterwerk der Zweige hindurchschimmerte, Seidenstrümpfe und einen strohfarbenen Hut. Sie schien auf dem Kiesweg, der sich zwischen den hohen Bäumen und den fremdartigen Rhododendronsträuchern hindurchschlängelte, dahinzuschweben, den Kopf leicht gesenkt, mit versonnenem Blick, während der leichte Wind mit den Blättern des dicken Buches auf der Bank spielte.