Der pelzige Pälzer - Volker Michel - E-Book

Der pelzige Pälzer E-Book

Volker Michel

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Beschreibung

Der Arzt Moritz Wolf kommt gerade aus dem Fritz-Walter-Stadion, als er auf einen Bewusstlosen mit einem Messer in der Brust trifft. Nachdem er ihm Erste Hilfe geleistet hat, steigt er versehentlich in den falschen, noch dazu letzten, Park-and-Ride-Bus. Gestrandet an der Kaiserslauterer Uni macht er sich zu Fuß auf dem Weg zu seinem Auto. Unterwegs begegnet ihm die junge Deutsch-Amerikanerin Emily Jones. Sie hat eine Autopanne und steht zitternd vor ihm. Wolfs amateurhafte Pannenhilfe wirkt nur kurzfristig. Nach längerem Zureden bringt er die völlig aufgelöste Frau dazu, ihm zu verraten, was sie verbirgt. Was sie Moritz Wolf zeigt, als sie ihren Kofferraum öffnet, verändert sein Leben und die ganze Welt …

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Das Buch

„Was wäre, wenn?“, ist die Frage, die sich hinter dem pfälzischen SciFi-Krimi „Der Pelzige Pälzer“ verbirgt. Moritz Wolf und seine Freunde schlittern in eine spannende und auch amüsante Geschichte von putzigen, nerdigen, guten und bösen Zeitgenossen hinein. Was wie ein skurriles und aufregendes Abenteuer beginnt, droht immer mehr, zu bitterem und bedrohlichem Ernst zu werden. Zugleich stimmt das Buch nachdenklich: Könnte etwas in dieser Art wirklich passieren?

Der Autor

Volker Michel ist in Ludwigshafen am Rhein geboren und wuchs in der Vorderpfalz auf. Nach Abitur und Zivildienst führte ihn sein Studium nach Kaiserslautern, wo er noch längere Zeit danach lebte und forschte. Nach kurzen Episoden in Cambridge, England, zog ihn sein Beruf schließlich 2008 nach Südwestfalen, wo er als Professor am Department Mathematik der Universität Siegen tätig ist.

In seiner Freizeit begeistert er sich für Science-Fiction, Krimis und andere spannende Filme und Romane. Sein Talent für das Ausdenken von Geschichten entdeckte er, als er Ende der 1990er Drehbücher schrieb und diese mit Freunden verfilmte. Zu seinen weiteren Hobbys, die an meist zu knapp vorhandener Zeit leiden, gehören der Tanzsport, das Quizzen und die Kommunalpolitik. Ferner ist er leidenschaftlicher, pardon, leidender Anhänger des 1. FCK und erinnert sich immer noch gerne an den 4:0-Sieg gegen Bayern München, den er im Stadion bejubelte – damals, als bekanntlich noch alles besser war.

Volker Michel ist mit seiner einstigen Regie-Assistentin, der Pfälzerin Bärbel Michel, verheiratet, die zugleich seine wichtigste Literaturkritikerin ist.

Die fiktive Handlung und die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden. Jegliche Übereinstimmung mit lebenden, realen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2022 Lauinger Verlag, Karlsruhe

Projektmanagement, Lektorat: Miriam Bengert

Projektassistenz: Anna-Linda Hahn

Umschlaggestaltung, Bildbearbeitung, Satz & Layout: Sonia Lauinger

Covermotiv: Clemens Bader [Titel des Bildes],

Korrektorat: Julia Marcie Bach, Kira Casa Donner

Titelfoto: © Clemens Bader - cb_arts_ka, »In weite Ferne schweifen«

Collage Tschubo: Sonia Lauinger aus pixabay

Druck: Bookpress, Olsztyn, Polen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.

ISBN: 978-3-7650-9164-3

Dieser Titel erscheint auch als E-Book: ISBN: 978-3-7650-9165-0

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INHALT

Das Buch

Der Autor

VORWORT

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

KAPITEL 46

KAPITEL 47

KAPITEL 48

KAPITEL 49

KAPITEL 50

KAPITEL 51

QUELLENNACHWEIS

ENDNOTENVERZEICHNIS

DANKSAGUNG

»Die Welt wird nicht bedroht

von den Menschen, die böse sind, sondern von denen,

die das Böse zulassen.«

Albert Einstein

VORWORT

Dieser Roman beschreibt Ereignisse, die im Frühjahr 2025 beginnen. Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, feststellen, dass sie nicht mit realen Ereignissen zur gleichen Zeit übereinstimmen, dann gibt es hierfür mehrere mögliche Erklärungen:

1. Die Ereignisse finden in einem Paralleluniversum statt.

2. Der Autor hat sich mit der Zeitangabe vertan.

3. Die Ereignisse wurden vor der Öffentlichkeit versteckt gehalten, durch eine geheime Weltregierung oder eine andere Entität, die Sie nach Ihren bevorzugten Verschwörungstheorien frei auswählen und an dieser Stelle einsetzen dürfen: _____________________________________.

4. Dies ist ein Roman. Die Geschichte ist fiktiv.

Erklärungen 1 und 4 wären aus unserer Sicht wünschenswert, wobei »wir« sich in diesem Sinne und im Falle von Erklärung 1 auf die Bewohner des Universums bezieht, in dem dieses Buch erscheint. Andererseits schließen Erklärung 1 und 4 nicht aus, dass das, was hier beschrieben wird, doch noch genauso oder in ähnlicher Form zu einem späteren Zeitpunkt passieren kann. Insofern bringt uns keine der Erklärungen die Gewissheit, dass wir – und »wir« bedeutet nun »wir Menschen« – nicht doch noch Zeugen, Opfer oder Täter derartiger Geschehnisse werden. Es bleibt zu hoffen, dass dies nie passieren wird. Korrektur: Es gilt zu verhindern, dass dies je passieren wird. Zweite Korrektur: Es gilt zu verhindern, dass irgendetwas dieser Art in der Zukunft passiert. Die Vergangenheit kann jedoch leider nicht neu geschrieben werden.

Anmerkung: Ähnlichkeiten bis hin zu Übereinstimmungen bei Namen von Personen oder Organisationen lassen sich nie ganz ausschließen beziehungsweise vermeiden. Dennoch ist keinerlei Bezug zu realen Personen oder Organisationen beabsichtigt. Alle handlungsrelevanten Personen und Organisationen sind frei erfunden. Insbesondere bezüglich der Organisationen, die im Laufe der Geschichte gegründet werden, liegt es dem Autor fern, eventuell gleichnamige Vereinigungen hiermit zu symbolisieren.

Letzte Anmerkung: Nicht alle Personen in diesem Roman sprechen Hochdeutsch. Um hierdurch Leserinnen und Lesern, die beispielweise des Pfälzischen oder Englischen nicht mächtig sind, keine Verständnisprobleme zu bereiten, sind solche Texte stets mit Fußnoten versehen, die auf Übersetzungen ins Hochdeutsche verweisen.

Allerletzte Anmerkung: Die Fußnoten haben wir als Endnoten gebündelt im Endnotenverzeichnis, Seite 337 stehen.

1

»He, du Dummbeidel, schpinnscht du? Des war doch en astreine Elfer!1«, schrie Moritz Wolf den Schiedsrichter von der Osttribüne des Fritz-Walter-Stadions aus an. Der FCK-Fan war der Meinung, dass der Unparteiische gerade einen Strafstoß für den 1. FC Kaiserslautern hätte geben müssen. Stattdessen entschied dieser auf einen Abstoß vom Tor des FC Bayern München. Die Worte von Moritz Wolf konnte der Schiedsrichter natürlich nicht hören, aber die Emotionen im Stadion kochten hoch. Schließlich handelte es sich um ein DFB-Pokal-Viertelfinalspiel, bei dem der sonst von wenig Erfolg gekrönte pfälzische Traditionsverein nach längerer Zeit wieder auf seinen Erzrivalen aus der 1. Liga traf. »Der is doch bestoche!2«, schimpfte Wolf weiter. »Annerscht gewinne die Bayern ihr Schpiele jo sunscht ah net!3«

Wolf erntete böse Blicke von einigen Männern um ihn herum. Er hatte die Eintrittskarte für viel Geld auf dem Schwarzmarkt gekauft und leider erst zu spät gemerkt, dass das Ticket ihn in einen der Blöcke für die Auswärtsmannschaft geführt hatte. Den Pfälzer kümmerte das nicht. Er war immer noch wütend darüber, dass seinem Verein die Chance auf einen Strafstoß verwehrt wurde, und das auch noch in der 71. Minute bei einem Stand von 0:0.

Es dauerte etwas, bis sich die Stimmung auf den Zuschauerrängen wieder beruhigte, als in der 78. Minute einem Abwehrspieler der Bayern ein geradezu amateurhafter Fehlpass passierte. Ein Mittelfeldspieler der Roten Teufel schnappte sich die Kugel und spielte sie in den Lauf eines gerade in diesem Moment nach vorne gesprinteten Mannschaftskameraden. Der Pass kam an, zwei Bayern monierten zu Unrecht eine Abseitsposition. Der Kaiserslauterer Stürmer rannte allein auf den Torhüter der Bayern zu und versenkte den Ball im Tor.

Unbeschreiblicher Jubel brach im Stadion aus. Wolf sprang als Einziger in seinem Block auf und schrie »Tor« aus voller Kehle. Dann stimmte er sogleich das Lied Zieht den Bayern die Lederhosen aus mit den zigtausend anderen FCK-Fans im Stadion an. Noch gut 10 Minuten und die reguläre Spielzeit wäre zu Ende. Die Chancen auf eine Sensation standen also sehr gut.

»Jawoll, zeigt’s denne Bayern4«, rief der einsame Fan der Roten Teufel im Block der Auswärtsmannschaft.

»Jetzt reicht’s aber!«, brüllte einer der Bayern-Fans in seiner Nähe, krempelte die Ärmel hoch und schob die anderen Fans um ihn herum zur Seite.

»Komm, lass ihn«, versuchte einer zu beschwichtigen.

»Halts Maul!«, konterte der erboste Anhänger des Rekordmeisters. Zwei weitere Fans versuchten, ihn festzuhalten. Doch er schubste sie mit Wucht weg, so dass sie taumelten und von den anderen gestützt werden mussten.

Wolf sah den Mann nun auch auf sich zukommen. »Komm, is gut«, sagte er mit ruhiger Stimme.

»Nix is gut«, widersprach dieser und holte zu einem Faustschlag aus.

Der Pfälzer machte eine ruckartige Bewegung zur Seite und konnte dem Angriff gerade noch ausweichen. Dann packte er den Bayern-Fan an dessen Trikot, zog ihn erst zu sich und nutzte dessen Wanken aus, um ihn schließlich mit dem Rücken nach unten auf den Boden zu befördern. Dort fixierte er ihn mit einigen geschickten Griffen. »Schun mol was vun de Schifferstädter Ringer g’heert, du Seppel?5«, belehrte er ihn.

»Was is’n do los?6«, rief ein Ordner.

»Nix«, antwortete Wolf und zog seinen Kontrahenten wieder nach oben. Er legte seinen Arm um die Schulter des verwirrt blickenden Bayern-Fans und meinte noch: »Mir ham uns nur so gefreet, dass des Schpiel so schpannend is. Alles gut!7«

»Sicher?«, wollte der Ordner mit ernstem Blick wissen.

»Ja, alles gut«, knurrte der unterlegene Mann aus Süddeutschland.

»Alla gut8«, meinte schließlich der Ordner und drehte sich wieder weg.

Inzwischen war das Spiel in der 86. Minute angekommen. Die Spannung war kaum mehr auszuhalten. Der FC Bayern warf alles nach vorne. Die Abwehr des FCK musste Schwerstarbeit leisten. Auch der Torhüter bekam einiges zu tun. Doch schließlich war die Sensation perfekt: Der 1. FC Kaiserslautern hatte den FC Bayern München aus dem DFB-Pokal geworfen. Ohrenbetäubender Lärm herrschte im Stadion. Der Balsam für die schwer gebeutelte Seele des Traditionsvereins tat allen Pfälzer Fans gut. Die Bayern-Anhänger senkten ihre Häupter und machten sich auf den Heimweg, wodurch es langsam leerer um Wolf herum wurde.

Es dauerte nicht lange, bis einer der Ordner ihn aufforderte, das Stadion zu verlassen. »Wieso?«, wollte er empört wissen. Die Stimmung war noch so großartig, dass er nicht gehen wollte.

»Wir räumen die Bayern-Blöcke und führen die Fans weg«, erklärte der Ordner ruhig, »damit es keine Konflikte gibt.«

»Schön«, bemerkte Wolf, »aber ich bin FCK-Fan.«

Der Ordner stockte. »Ich hab‘ Anweisung, den Block zu räumen. Sorry«, sagte er schließlich.

Wolf wollte keinen Ärger provozieren, das war es ihm nicht wert. Er seufzte und machte sich auf den Weg in Richtung Ausgang.

Dort drängten sich die Massen wieder. Über Lautsprecher wurde angesagt, wohin jene gehen sollten, die mit Fanbussen hergekommen waren, und welcher der Sammelpunkt für die Shuttles zu den Park-and-Ride-Plätzen war. Wolf versuchte, sich einen Weg zu Letzterem zu verschaffen, aber er kam nur mühsam voran. Plötzlich wurde es laut und einige Personen vor ihm beugten sich nach unten.

»Was ist da los?«, rief ein Ordner.

»Sani, schnell!«, rief irgendwer.

Offenbar lag jemand auf dem Boden. Wolf schob die Fans vor sich zur Seite. »Losst misch mol dursch, isch bin Arzt!9«, rief er. Die Menschen in seiner Nähe sahen sich um.

»Was hoata g’sogt?10«, wollte einer der Bayern-Anhänger wissen.

»A Arzt, verstehst?11«, rief ein anderer.

Schließlich ließ man Wolf zu dem Verletzten. Auf dem Boden lag ein Mann, etwa 20 Jahre alt, in einer Blutlache. In seiner linken Rippengegend steckte ein Messer. Wolf blickte die Personen an, die einen engen Kreis um den Mann auf dem Boden bildeten. Einige der Männer waren kreidebleich im Gesicht. »So, jeder zwei Schritte zurück!«, rief er. Keiner reagierte. »Aber dalli, jetzt!«, schrie er schließlich. Alle machten allein schon vor Schreck einen Satz nach hinten.

»Ist ja gut«, brummelte einer.

»Können Sie mich hören?«, fragte Wolf den Mann auf dem Boden. Dieser antwortete nicht. Dann überstreckte der Arzt leicht den Kopf des Verletzten und überprüfte dessen Atmung. »O.K., schnaufen kann er noch«, murmelte er. Auch der Puls schien in Ordnung zu sein. Also war es Zeit, sich um die Wunde zu kümmern. Normalerweise ist es sinnvoll, den Fremdkörper zu stabilisieren, weil er wie ein Korken erstmal schlimmere Blutungen verhindert. Aber die Blutlache, die den Bewusstlosen umgab, war in dieser Beziehung nicht beruhigend. Was sollte der Arzt tun? Ihm fehlte das notwendige Werkzeug. »Hat jemand einen Rettungswagen gerufen?«, rief er in die Menge.

»Ja, ist unterwegs«, antwortete jemand.

Bei solchen Fußballspielen müssen grundsätzlich Rettungskräfte vor Ort sein. Es dauerte auch in der Tat nicht lange, bis ein Mann und eine Frau vom Roten Kreuz dem Arzt zur Seite standen. Wolf blickte in den Koffer, den sie dabeihatten. Dann holte er eine Schere und Verbandsmaterial heraus. Während einer der Sanis den Kopf des Patienten weiter überstreckte, damit dieser atmen konnte, half der andere dem Arzt, die Kleidung um die Wunde wegzuschneiden, um die Einstichstelle freizulegen. Sie fixierten das Messer schließlich mit Verbandsmaterial und dichteten die Wunde rundum möglichst gut ab, so dass kein Blut mehr daraus floss.

Schließlich tauchten auch zwei Polizisten am Tatort auf. »Hat jemand was gesehen?«, wollte einer von ihnen wissen.

»Ja, der do war’s12«, hörte Wolf eine ältere Frauenstimme, während er mit seinem Patienten beschäftigt war. »Isch hab’s ganz genau g’sehe13«, fügte sie hinzu.

»Reden Sie doch keinen Unsinn«, mahnte eine Männerstimme, »das ist doch der Arzt, der ihm gerade das Leben rettet.« Wolf stockte kurz und machte dann weiter.

Schließlich verschaffte sich ein Notarztwagen einen Weg zu dem Ort des Geschehens. Wolf erklärte seinem Kollegen kurz, was geschehen war, und übergab ihm danach den Patienten. Im Hintergrund hatte er noch gehört, wie die Polizei die Personalien der älteren Frau aufnahm. Sie hieß Martha Koch. Wolf überlegte gerade, dass es, wenn er wirklich der Täter gewesen wäre, nicht so geschickt war, ihn den Namen der einzigen vermeintlichen Augenzeugin mithören zu lassen.

Als er gerade gehen wollte, sprachen ihn noch die beiden Polizisten an. Er versicherte ihnen, dass er nichts von der Tat mitbekommen hatte, und dass er vor allem nicht der Täter sei. Die beiden winkten ab. Dann baten sie ihn noch um seine Personalien und erklärten ihm, dass er eventuell noch um seine Fingerabdrücke in den nächsten Tagen gebeten werden würde, weil er auch die Waffe angefasst haben dürfte. Wolf nickte und verabschiedete sich.

Dann atmete er erst einmal tief aus, um sich von dem Schreck zu erholen. Er versuchte, sich das Spiel in Erinnerung zu rufen, um wieder auf schönere Gedanken zu kommen. Schließlich setzte er sich in den nächsten Shuttle-Bus, auf dem »Park-and-Ride« zu lesen war.

Der Bus war nur noch halb voll. Inzwischen war doch mehr Zeit vergangen als Wolf gedacht hatte. Er war froh, dass er sich für den nächsten Tag Urlaub genommen hatte. Er hatte sich überlegt, dass eine Verlängerung und ein Elfmeterschießen möglich gewesen wären. Er wäre dann erst weit nach Mitternacht zu Hause in Maikammer angekommen. Da er morgens eine längere Fahrt zu der Klinik in der Vorderpfalz hatte, in der er leitender Oberarzt der Chirurgie war, wäre seine Nacht zu kurz gewesen. Das wollte er sich nicht zumuten, vor allem aber auch nicht den Patienten, die er übernächtigt operiert hätte.

Wolf, der 43 Jahre alt, nur 1,67 Meter groß war und durch sein Hobby als Ringer ein breites Kreuz hatte, blickte aus dem Fenster des Shuttles. Doch was er sah, gefiel ihm nicht. Hatte er darauf geachtet, zu welchem Park-and-Ride-Parkplatz der Bus fuhr? Er konnte sich nicht erinnern. Der Bus stoppte schließlich bei der Universität, also im Südwesten von Kaiserslautern. Wolfs Auto stand auf einem Parkplatz im Nordosten der Stadt, in der Nähe des PRE-Parks. Der Arzt ging zum Busfahrer und bat ihn, ihn wieder zum Stadion zurück mitzunehmen, damit Wolf einen anderen Bus besteigen könnte. »Tut mir leid, letzte Fahrt«, bemerkte dieser nur schulterzuckend.

Wolf seufzte. Er verließ den Bus und holte sein Smartphone heraus, dessen Akku sich als leer herausstellte. Er seufzte noch einmal. Er kannte sich ein wenig, aber nicht wirklich gut in Kaiserslautern aus und machte sich daher auf den Weg entlang der breiten, an diesem späten Abend nur wenig befahrenen Trippstadter Straße. Er hoffte, auf jemanden zu treffen, der ihm helfen konnte, einen Taxifahrer zum Beispiel.

Tatsächlich stieß er nach einer Weile auf einen Kleinwagen, der an der Straßenseite mit geöffneter Motorhaube parkte. Eine Frau, etwa um die 30 Jahre alt, schlank und mit hellbrauner Hautfarbe, beugte sich mit verzweifeltem Blick über den Motor. Wolf ging auf sie zu. Doch als sie ihn entdeckte, fummelte sie hektisch in einer Tasche ihrer Jeansjacke und holte eine kleine Spraydose heraus, vermutlich ein Pfefferspray. Sichtlich nervös hielt sie ihm die Dose entgegen. »Kommen Sie nicht näher!«, forderte sie ihn ängstlich auf.

Wolf hob die Hände nach oben. »Keine Angst«, versuchte er, sie zu beruhigen.

Sie hielt die Spraydose weiter hoch. »Können Sie ein Auto reparieren?«, wollte sie mit zitternder Stimme wissen.

Der Arzt zögerte. »Also«, sagte er schließlich, »ich kann ja mal schauen. Mein Vater war Automechaniker. Ich habe ihm als Kind öfter über die Schulter gesehen. Aber eigentlich bin ich Arzt.«

Sie überlegte kurz. Dann machte sie einen Schritt zur Seite und deutete auf den Motor: »Bitte«.

»Was ist denn passiert?«, wollte er wissen.

»Er ging einfach aus. Ich bin nur noch mit dem letzten Schwung auf die Seite gerollt.«

Wolf begutachtete den Motor. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Aber ein funktionierendes Auto würde ihm ein paar Kilometer Fußweg ersparen. Er überlegte sich etwas. »Haben Sie einen Lappen oder sowas?« Sie ging zum Rücksitz und holte ein Putztuch, das neben einem Eiskratzer lag. Wolf schraubte die Zündkerzen heraus, rieb sie mit dem Lappen ab und setzte sie wieder ein. »Ich schiebe Sie jetzt mal an. Machen Sie währenddessen den Gang in den Leerlauf und probieren Sie, den Motor zu starten, wenn der Wagen rollt. Einen Versuch ist es wert. Vielleicht schaffen Sie es wenigstens bis zu einer Werkstatt.«

»O.K.«

Wolf überlegte kurz.

»Noch etwas?«, wollte sie wissen.

»Ich bin hier eigentlich gestrandet. Ich will zum PRE-Park, wo mein Auto steht. Wäre es möglich, dass Sie mich mitnehmen?«

»Eigentlich nicht«, antwortete sie barsch. Er konnte wieder die Angst in ihren Augen sehen. Dann dachte er nach.

»Haben Sie ein Handy?«

»Ja, warum?«

»Zum einen könnten Sie den ADAC rufen …«

»Nein, auf keinen Fall!«

Wolf stockte kurz. »Ich weiß, die hatten ein paar negative Schlagzeilen in der Vergangenheit, ist schon länger her. Aber Autos reparieren können die trotzdem.« Sie reagierte nicht. Also fuhr er fort: »Ich könnte Ihnen meinen Ausweis zeigen. Sie rufen eine Freundin an, schildern die Situation und geben ihr meine Daten. Dann wissen Sie, dass ich Ihnen nichts tun werde. O.K.?«

Sie dachte nach, sehr lange. »Geben Sie mir Ihren Ausweis«, sagte sie dann nur. Wolf tat, was sie verlangte. Dann zückte sie ihr Smartphone und tippte darauf herum. »SMS reicht auch«, sagte sie knapp und gab ihm den Ausweis wieder zurück. »Probieren wir’s«, schlug sie schließlich vor.

Zu Wolfs völliger Überraschung sprang der Wagen wirklich an. Der Trick, den sein Vater öfter angewandt hatte, funktionierte tatsächlich. Allerdings hörte sich der Motor gar nicht gut an. Die Frau bremste das Auto wieder ab und ließ den Arzt auf der Beifahrerseite einsteigen.

»Klingt nicht so gut, der Motor«, sagte er.

»Ja«, antwortete sie nur mit sorgenvoller Stimme.

Er konnte wieder die Angst in ihren Augen erkennen. »Hoffe, Sie haben es nicht mehr so weit«, ergänzte er. Sie blieb stumm. »Ich kann Sie auch mitnehmen, das heißt, wenn wir es bis zu meinem Auto schaffen.« Sie sagte wieder nichts. Er versuchte weiter ein wenig Smalltalk: »Ich komme gerade vom Betze. Wir haben Bayern geschlagen. Das Spiel war der Wahnsinn. Ich hatte nur leider eine Karte im Bayern-Block erwischt.« Sie reagierte nicht. Also monologisierte er weiter: »Sie müssen sich das vorstellen, nur Bayern-Fans um mich rum, und ich schreie als Einziger ›Tor‹. Einer von denen wollte mich dann angreifen. Aber er war zum Glück zu besoffen.« Ein kleines Lächeln war in ihrem Gesicht zu sehen. Wenigstens etwas!

Kurz vor dem Ziel ging der Motor wieder aus. Langsam rollte der Kleinwagen auf den Parkplatz. »Ich komme noch mal auf mein Angebot zurück. Dann kann ich mich dafür revanchieren, dass Sie mir geholfen haben«, schlug er vor. Sie sagte nichts. Aber sie zitterte. »Darf ich fragen, was mit Ihnen ist? Sie wirken sehr nervös«, sagte er mitfühlend.

Sie sah ihn an. »Können wir es noch mal mit dem Anschieben probieren?«

»Wenn Sie wollen.«

Doch dieses Mal blieben alle Versuche, die sie unternahmen, vergebens. Sie setzte sich schließlich auf den Fahrersitz und lehnte ihren Kopf auf das Lenkrad. Dann fing sie an zu weinen und zu schluchzen. Er setzte sich wieder neben sie auf den Beifahrersitz. »Kann ich Ihnen nicht doch irgendwie helfen?«

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie sich wieder fing. »Kann ich Ihnen vertrauen?«, wollte sie von ihm wissen, mit großer Verzweiflung in ihrem Blick.

»Jetzt schießen Sie schon los!«, ermutigte er sie.

»Machen Sie die Tür zu!«, forderte sie ihn mit ernster Stimme auf. Er erfüllte den Wunsch. Sie schloss ihrerseits die Fahrertür.

Sie stieß einen großen Seufzer aus und legte dann los: »Ich arbeite für die US-Streitkräfte in Ramstein. Ich habe einen Gefangenen entführt, der sich dort befand. Er ist betäubt und im Kofferraum.« Wolf erschrak. Er war gerade dabei, in kriminelle oder gar terroristische Machenschaften gezogen zu werden. Sie bemerkte seine Reaktion. »Nein«, beschwichtigte sie, »es ist nicht so, wie Sie denken. Da hinten ist kein Terrorist oder Spion oder was auch immer Sie jetzt denken. Es ist … Es ist ein Außerirdischer. Sie wollten ihn umbringen und sezieren. Ich habe ihn gerettet. Bitte helfen Sie mir. Die haben wahrscheinlich inzwischen gemerkt, dass er nicht mehr dort ist.«

Der Arzt überlegte, ob es ihn wirklich beruhigen sollte, dass kein von der Polizei oder der Armee Gesuchter im Kofferraum des Wagens lag, sondern dass er sich gerade zusammen mit einer geistig Verwirrten im Auto befand. Was sollte er nun tun? Es war sicherlich besser, sie nicht zu provozieren. Er hatte zwar im Studium auch Vorlesungen über Psychiatrie gehört, das war aber nun schon sehr lange her und als Chirurg hatte er es ja zumeist mit Patienten in Narkose zu tun. Da spielte die Psyche der Person eine zweitrangige Rolle.

Er überlegte, ob die Frau wirklich etwas im Kofferraum beförderte. Vielleicht ein Kuscheltier, das für sie den Alien symbolisierte? Möglicherweise war auch gar nichts im Kofferraum. Da kam ihm ein erschreckender Gedanke. Was wäre, wenn die Frau einen ganz normalen Menschen in ihrem Wahn für einen Außerirdischen gehalten, ihn betäubt und in den Kofferraum gesperrt hatte? Dann benötigte diese Person womöglich dringend medizinische Hilfe. Das konnte er nicht in Kauf nehmen, indem er einfach wegrannte. »Wollen Sie mir den Außerirdischen mal zeigen?«, fragte er sie. Sie blickte ängstlich um sich. »Hier steht nur noch mein Auto«, wandte Wolf ein, »und es ist 1 Uhr nachts. Hier wird niemand mehr sein.«

Sie nickte. »Kommen Sie mit«, sagte sie und stieg aus dem Auto. Er folgte ihr. Vor dem Kofferraum stehend blickte sie noch einmal nach rechts und links. »Aber leise, erschrecken Sie ihn nicht«, flüsterte sie.

»Alles klar«, erwiderte er, ebenfalls leise.

Sie öffnete vorsichtig den Deckel des Kofferraums. Darin lag ein etwa 1 Meter großer Teddybär mit Glupschaugen. Der Teddybär trug ein T-Shirt und eine kurze Hose, jeweils in Kindergröße. Also die Kuscheltier-Version, dachte Wolf. Es machte die Frau irgendwie dann doch sympathisch. Sie tat ihm auf jeden Fall leid. Er wollte ihr helfen. Aber wie konnte er das? Vielleicht konnte er sich ruhig mit ihr unterhalten und ihr zeigen, dass der Teddybär eben nur ein Teddybär war. Vielleicht ließe sie sich dann überreden, zu einer Therapie zu gehen.

Er überlegte noch, wie er dies anstellen konnte, als der Teddybär plötzlich blinzelte. Hatte er wirklich geblinzelt? Vielleicht bildete Wolf sich das auch nur ein. Es war schon sehr spät und der Tag war sehr anstrengend gewesen. Er musste sich das eingebildet haben. Da blinzelte der Bär wieder. Wolf fing an, an sich selbst zu zweifeln. Schließlich richtete das pelzige Wesen seinen Oberkörper auf. Dem Arzt wurde schwindlig.

»Oh, du bist aufgewacht«, stellte die Frau fest, »geht es dir gut?«

»Ja«, sagte der angebliche Außerirdische.

Die Frau wandte sich Wolf zu. »Ich bin ja so froh, dass Sie mir geglaubt haben und mich nicht für verrückt erklärt haben.«

Der Arzt überlegte, ob es sich um einen Roboter handelte, aber der vermeintliche Teddybär bewegte sich überhaupt nicht roboterhaft. Konnte sie die Wahrheit gesagt haben? Würde er so etwas den Amerikanern zutrauen? Die Antwort, die er sich selbst auf diese Frage gab, machte ihm Angst.

»Sie haben ihm Spitznamen gegeben, wie E.T. oder Alf. Ich habe ihm ein wenig unsere Sprache beigebracht. Er heißt Tschubo, also eigentlich Tschubodak, aber ich darf ihn Tschubo nennen«, erklärte sie. »Tschubo«, fuhr sie fort, »ich habe dich vor denen gerettet. Dieser Mann hat mir geholfen. Er, äh, wie heißen Sie nochmal?« »Moritz Wolf«, stellte sich der Arzt vor. Sein Herz raste.

Tschubo richtete sich weiter auf. Dann hob er seine rechte Hand. Der Arzt bemerkte, dass der Außerirdische auch 5 Finger an jeder Hand hatte. Tschubo spreizte seinen Ringfinger und seinen kleinen Finger von den anderen ab, so dass seine Hand eine Art »V« bildete. Dann sagte er: »Leben Sie lange und in Frieden.« Wolf fiel in Ohnmacht.

2

Gegen 10 Uhr wachte Wolf im Schlafzimmer seines Hauses nach der vergangenen langen Nacht auf. Er schüttelte den Kopf. »So einen Blödsinn habe ich noch nie geträumt«, murmelte er. Ein Außerirdischer in der Pfalz! Die Geschichte taugte als Anfang für einen Roman, den er mal schreiben könnte, dachte er. Er zog einen Rollladen hoch. Draußen schien die Sonne über dem Weinberg in der Nähe seines Hauses. Es war der ideale Urlaubstag, um einen schönen Spaziergang oder eine Radtour entlang der Weinstraße zu machen. Also wollte er nicht noch mehr Zeit verplempern und trieb sich selbst an.

Er zog seinen Schlafanzug aus und warf ihn auf sein Bett. Dann holte er sich ein Handtuch und machte sich auf den Weg ins Badezimmer in der Hoffnung, durch die Dusche endgültig wach zu werden. Doch in der Dusche stand eine nackte Frau, eine noch dazu sehr attraktive. Sie hatte schwarze, lockige Haare und eine hellbraune Hautfarbe. Es war die Frau aus der Nacht zuvor, die mit dem Außerirdischen. Hatte er die Geschichte doch nicht geträumt? Er musste sicherlich mehrere Sekunden mit weit aufgerissenen Augen auf die Frau in der Dusche gestarrt haben, bis diese ihn entdeckte, einen spitzen Schrei ausstieß und sich schnell das Handtuch über dem oberen Rand der Duschwand schnappte, um sich ein wenig zu bedecken.

»Oh, äh, tut mir leid«, stammelte er und wandte seinen Blick schnell ab. »Es ist nur so, ich dachte, also, ich hatte geglaubt, ich hätte geträumt. Also ich war noch nicht ganz wach. Äh, ähm, ich bin Arzt, äh, und ich habe nur, also, nein, nicht dass Sie jetzt denken, …«

»Na, was ich jetzt denke, können Sie sich ja wohl denken, und was Sie gerade gedacht haben, habe ich auch gerade gesehen.«

»Nein, nein!«, dementierte er heftig. »Ich habe nur vergessen, dass ich ja Besuch habe. Ich dachte, ich hätte das geträumt. Ich, also, ich richte mal Frühstück.« Er verließ das Badezimmer wieder und zog sich an, ohne sich zu duschen. Dann ging er in sein Wohn-Esszimmer.

Auf der Couch saß gerade Tschubo vor dem Fernseher und spielte mit Wolfs Spielekonsole. »Guten Morgen«, sagte der Außerirdische und lächelte freundlich.

Wolf zuckte zunächst. Dann atmete er tief aus und erwiderte: »Guten Morgen.«

Der Hausherr richtete das Frühstück für drei Personen. Er überlegte, was Außerirdische so essen. Schließlich beschloss er, ihn zu fragen: »Tschubodak, was möchten Sie zum Frühstück essen?« Er kam sich etwas komisch dabei vor, einen Alien nach seinen Essgewohnheiten zu fragen.

»Schokolade«, antwortete der Besucher, »und du kannst gerne Tschubo sagen.« Der Arzt konnte sich nicht entscheiden, ob er sich über die ausgewählte Speise wundern sollte. Er richtete an, was er an Schokolade und Müsli hatte. Viel Auswahl hatte er nicht, er musste mal wieder einkaufen.

Inzwischen erinnerte er sich an immer mehr. Er musste kurz in Ohnmacht gefallen sein. Nachdem er bald darauf wieder zu sich gekommen war, hatten sie Tschubo in den Kofferraum seines Wagens geschafft. Auf der Fahrt zu Wolfs Haus hatte die Frau sich als Emily Jones vorgestellt. Ihr Vater war US-Soldat in Baumholder, ihre Mutter war Deutsche. So war sie zweisprachig aufgewachsen. Sie hatte eine Ausbildung als Dolmetscherin absolviert und wurde schließlich von der US-Armee angestellt.

Vor etwa zwei Wochen hatte man ihr den Außerirdischen gezeigt und ihr den Auftrag gegeben, mit ihm eine Kommunikation aufzubauen. Sie hatte aber immer mehr den Eindruck gewonnen, dass die Amerikaner nur daran interessiert waren, herauszufinden, ob er die Vorhut einer Invasionsarmee war. Als er sich als vermutlich harmlos herausstellte, wollten sie ihn sezieren. Sie hatten ihm etwas verabreichen wollen. Jones hatte das mitbekommen und heimlich einen Teil des Getränks durch Wasser ausgetauscht. Dann war sie mit ihm in der Nacht aus der Airbase geflohen.

»Möchten Sie Kaffee oder Tee?«, fragte er die Deutschamerikanerin.

»Kaffee, bitte«, antwortete sie. Er schenkte ihr aus der Kanne auf dem Tisch ein. »Danke«, sagte sie. »Wollen wir uns nicht duzen? Ich meine, jetzt wo wir uns schon nackt gesehen haben.«

Er wurde wieder rot. »Also, das tut mir wirklich leid. Ich hatte nicht …« Sie schmunzelte.

»Ja, also«, fuhr er fort, »wir können uns duzen.« Sie gaben sich gegenseitig die Hand.

»Moritz.«

»Emily.«

»Menschen sind witzig«, kommentierte Tschubo das Geschehen und setzte sich zu den beiden.

»Ich habe ein paar Fragen«, sagte der Arzt und biss in eines seiner aufgetauten Brötchen.

»Das kann ich mir denken«, meinte sie. »Schieß los.«

»Frage 1: Warum benutzt er den Vulkaniergruß aus Star Trek?«

»Oh«, sie lachte, »ich hatte nicht immer Zeit für ihn. Also habe ich ihm ein paar Filme gegeben, wenn ich weg war, damit er weiter unsere Sprache lernen konnte. Er fand offenbar Gefallen an der Serie.«

Wolf fuhr fort: »Und du hast ihm Deutsch beigebracht?«

»Anfangs nur Englisch. Aber als ich zunehmend misstrauisch wurde, habe ich mit Deutsch angefangen. So konnte ich mich mit ihm unterhalten, ohne dass alle gleich verstanden haben, was wir sagten. Perfekt war das natürlich nicht. In der Airbase können auch einige Deutsch, aber nicht so viele.«

»Und wie ist Tschubo hierhergekommen? Ich meine, Tschubo, wie sind Sie hierhergekommen? Verstehen Sie mich?«

»Er ist Wissenschaftler.«

Tschubo nickte: »Ja, ich komme in friedlicher Absicht. Unser Volk hat euren Planeten entdeckt. Ich bin Forscher.«

»Und wie kommen Sie auf die Airbase?«

»Du darfst auch ›du‹ sagen; mache ich doch auch«, bemerkte Tschubo. Wolf gab ihm die Hand.

»Moritz.«

»Tschubo.«

»Sie haben sein Raumschiff abgefangen, als er notlanden musste«, erklärte Emily. »Dann haben sie ihn vom amerikanischen Kontinent nach Ramstein geschafft. Sie fanden es zu gefährlich, ihn in den USA aufzubewahren. Es hätte ja was passieren können.«

»Ach, und das passiert dann lieber in Deutschland, oder was?«

»Hast du vom US-Militär was anderes erwartet? Jedenfalls ist das größtenteils die Geschichte.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Hast du noch mehr Schokolade?«, fragte Tschubo.

Der Arzt stand auf, um in seinem Vorratsschrank zu kramen. Er hatte nur noch eine Tafel. »Wir müssen dringend einkaufen gehen«, stellte er fest.

»Da hält ein Polizeiauto vor dem Haus«, schrie Emily plötzlich auf, als sie aus dem Fenster blickte.

»Was?«, erschrak Moritz. Da fiel ihm wieder die Sache mit dem Mann mit der Stichverletzung ein. »Keine Sorge«, beruhigte er sie.

»Die kommen aus einem anderen Grund, hoffe ich zumindest. Aber schafft euch erst mal hier weg.«

Emily und Tschubo verzogen sich schnell in eine hintere Ecke des Hauses. Wolf ging zur Eingangstür. Als er sie öffnete, erblickte er zwei Polizisten in Uniform, ein grauhaariger, bierbäuchiger Mann, vermutlich Anfang 60, und ein deutlich jüngerer Kollege, etwa 20 Jahre alt, groß, sportlich, mit blonder Kurzhaarfrisur. Beide holten ihre Dienstausweise heraus und zeigten sie dem Chirurgen.

Der Korpulente ergriff zunächst das Wort. »Entschuldischen Sie die Störung. Mir sind von der Polizei und hätten ein paar Fragen. Mir suchen einen Wolf Moritz14«, sagte er im wenig erfolgreichen Versuch, Hochdeutsch zu sprechen.

»Ja, ich bin einer«, antwortete Wolf, »also ein Moritz Wolf, das heißt ich bin Moritz Wolf.«

Der korpulente Polizist fuhr fort: »Gut, dann stelle isch misch aach einmal vor: Kriminalhauptmeister Kraushaar. Des ist mein Kollege, Herr Klein.15« Er fing an zu lachen und der andere Polizist rollte mit den Augen. »Nee«, fuhr er, immer noch lachend, fort, »is nur ’n Witz. Versteh’n se, wegem Derrick. Mein Kollege heeßt Groß.16« Er lachte noch einmal. Wolf versuchte selbst zu lachen, hatte aber den Eindruck, dass dies sehr gequält wirkte.

Groß selbst nutzte die Gelegenheit, um das Wort zu ergreifen. »Also, Kriminalmeister Groß. Können wir für ein paar Minuten reinkommen?«

»Klar«, antwortete Wolf, woraufhin die beiden uniformierten Herren das Haus betraten.

»Es dauert auch nicht lange«, fuhr Groß fort.

»Wonn mir zu lange bleiben, denken die Nachbarn schunscht, dass Sie was ausgefresse hen17«, ergänzte Kraushaar. »Mir hatten mal einen Fall, wo mir nur einen Zeugen wie Sie befragt hen. Dann hat dem seine Frau uns net geglaubt, dass der nix ang’stellt hot. Stellen Sie sisch des mol vor!18« Er lachte wieder.

»Keine Sorge, das Problem besteht bei mir nicht«, meinte dann Wolf, »ich bin schon geschieden.«

»Ah«, gab sich Groß verwundert, »Sie haben aber hier für drei Personen gedeckt.«

Der Arzt blickte auf den Frühstückstisch. »Ja, das, äh«, versuchte er, eine Erklärung zu finden, »ist so, äh, ich war gestern bei dem Spiel und, äh, habe eine Bekanntschaft gemacht.« War das eine gute Antwort? Auf jeden Fall waren zu viele »Äh« darunter. Hoffentlich fragten sie nicht noch weiter!

Die zwei Polizisten blickten auf die drei Teller und Tassen und dann auf den Chirurgen. »Sie meenen zwei Bekanntschaften19«, stellte Kraushaar fest.

Wolf spürte Schweiß auf seiner Stirn. Er musste cool bleiben. Nicht zu viel reden, keine »Ähs« mehr. »Ja«, sagte er nur.

Die zwei anderen zögerten. Dann lachte der Korpulente. »Reschpekt, Mann!20«, rief er schließlich aus und klopfte Wolf kräftig auf die Schulter.

»Kommen wir lieber mal zum Thema«, schlug Groß vor.

Wolf räumte schnell das Geschirr auf die Seite und bat die beiden, sich an den Esstisch zu setzen. »Kommen Sie wegen des Vorfalls gestern Abend nach dem Spiel?«, versuchte er dann die Richtung des Gesprächs vorzugeben.

»Ja, genau«, bestätigte Kraushaar, »mir21 brauchen noch Ihre Fingerabdrücke.« Groß holte ein kleines Laptop und ein elektronisches Fingerabdrucklesegerät aus seiner Aktentasche hervor. Die Sache war in weniger als fünf Minuten erledigt.

»Wissen Sie eigentlich, wie es dem Patienten geht?«, wollte der Arzt noch wissen.

Kraushaar atmete aus: »Oh, do sin mir überfragt. Die Lauterer Kollege ham uns nur beauftragt, zu Ihne zu gehe wegen der Fingerabdrücke. Mir haben mit dem Fall nix zu tun.22«

Groß ergänzte: »Wir sollten Sie noch fragen, ob Ihnen noch im Nachhinein etwas eingefallen ist. War zum Beispiel etwas ungewöhnlich? Haben Sie etwas von der Tat beobachtet?«

Wolf dachte nach. »Nein, beim besten Willen nicht. Ich bin erst auf den Mann aufmerksam geworden, als er auf dem Boden lag. Ich bin Arzt und habe mich um ihn gekümmert.«

»Waren Sie als Notarzt vor Ort?«, wollte Groß wissen.

»Nein, reiner Zufall, ich war im Stadion.«

»Escht?«, rief Kraushaar aus, »des muss jo Wahnsinn gewese sein. Super Spiel!23«

»Ja, allerdings vor allem, wenn man in einem Bayern-Block als FCK-Fan steht.«

Beide Polizisten rissen die Augen auf. »Wie ist es denn dazu gekommen?«, interessierte sich der junge Polizist.

Wolf wurde gerade klar, dass er schon wieder besser seine Klappe gehalten hätte. Er suchte noch nach einer passenden Antwort, als Kraushaar ihm zuvorkam: »Schwarzmarkt, häh?« Er lachte wieder über sich selbst.

»Ähm«, artikulierte Wolf.

»Näh, schun klar24«, fuhr der korpulente Ordnungshüter fort, »mir sin all nur Mensche.25« Wolf war erleichtert. »Awer jetzt erzählen Se mol26«, forderte der ältere Polizist auf.

Die drei unterhielten sich noch eine gefühlte halbe Stunde über das Spiel, bis die Polizisten sich schließlich wieder verabschiedeten. Als Wolf die Haustür von innen schloss, atmete er tief aus. Seine zwei Gäste gingen sogleich zu ihm.

»Und?«, wollte Emily wissen.

»Alles klar«, beruhigte der Arzt. »Ich habe gestern jemandem geholfen, der ein Messer in der Brust hatte. Die wollten nur noch meine Fingerabdrücke, weil ich die Waffe auch angefasst habe.«

»Ach du Scheiße!«, entfuhr es der Frau.

»Ja, schlimme Sache«, meinte Wolf, »aber wir sollten uns lieber wieder um unsere eigenen Probleme kümmern.«

»Das meine ich«, sagte sie. »Man wird mein Auto finden. Da sind deine Fingerabdrücke drin. Sie wissen jetzt, wo sie Tschubo und mich finden können.«

3

»Haben wir eigentlich heute schon Nachrichten gehört oder gesehen?«, fiel Jones ein. Wolf schaltete seinen Fernseher ein. Er schaute in verschiedene Videotexte. Auf dem des SWR schien der Sieg des FCK das Hauptthema zu sein. Dann schaltete er einen Nachrichtensender ein. Dort wurde gerade über die Insolvenz eines großen deutschen Industriekonzerns gesprochen. Was hatte eigentlich Jones erwartet, was in den Nachrichten zu sehen sein würde? Die US-Armee würde ja wohl kaum in der Öffentlichkeit nach einem entflohenen Außerirdischen suchen, dachte er.

Er wandte sich wieder ab, als plötzlich Jones erschrak und auf den Bildschirm blickte. Dort war ein Foto von ihr zu sehen. Der Nachrichtensprecher berichtete, dass sie eine gesuchte Terroristin sei. Die USA hätten Deutschland darüber informiert, dass sie eine Islamistin sei und einen Anschlag plane. Nun werde international nach ihr gefahndet und die Bevölkerung um Hinweise gebeten. Schließlich nannte der Moderator eine Telefonnummer, an die man sich anonym wenden könne.

Jones sah Wolf an. Sie hatte Schweiß auf der Stirn und atmete schwer. Zudem rannte sie aufgeregt hin und her. »Was mache ich denn jetzt?«, rief sie aus.

Ihr Gegenüber überlegte. »Flucht nach vorne«, schlug er vor.

»Und das heißt?«

»Stelle dich und kläre alles auf. Sie können keine Beweise gegen dich haben. Und die Sache lässt die US-Armee ja eigentlich schlecht aussehen und nicht dich.«

»Mir wird keiner glauben!«

»Aber du hast einen Beweis, den Außerirdischen.«

»Den werden sie einkassieren und man wird nie wieder was von mir oder ihm hören.« Sie rannte erneut auf und ab. »Ich muss hier weg«, beschloss sie schließlich und sammelte mehr chaotisch als zielführend ihre Sachen zusammen.

»Wo willst du hin?«, wollte Wolf wissen.

Tschubo kam dazu. »Oh, verreisen wir?«, fragte er.

Jones wandte sich dem Außerirdischen zu: »Man sucht nach mir.

Sie sagen, ich wäre eine islamistische Terroristin.«

Tschubo runzelte die Stirn. »Warum?«

»Weil dann jeder, der mich sieht, sofort die Polizei informiert. Und die Polizei im Zweifelsfall keine Hemmungen haben muss, mich zu erschießen.«

Wolf versuchte, sie zu beruhigen: »Jetzt setze dich erst mal. Wir brauchen einen Plan.«

Sie widersprach energisch: »Nein, nicht wir. Ich habe dich genug in Schwierigkeiten gebracht. Wenn ich jetzt verschwinde, kannst du dich rausreden, du hast nicht gewusst, wer ich bin. Wenn du bei mir bleibst, bist du genauso dran.«

Wolf dachte nach. An sich hatte sie Recht. Eine Stimme in ihm sagte, er solle sie doch einfach ziehen lassen. Er hatte Wichtigeres zu tun. Er musste am nächsten Tag wieder zur Arbeit und es war alles nicht sein Problem. Doch eine andere Stimme meldete sich. Er kannte diese Stimme, es war die seiner Großmutter Liese. Er liebte sie, eigentlich sogar mehr als seine Eltern. Sie war immer ein Vorbild, eine moralische Instanz für ihn. »Das Schlimmste in der Welt ist Ungerechtigkeit«, hatte sie immer zu ihm gesagt, schon als er noch klein war. »Wenn jemandem, der nichts oder nur Gutes getan hat oder tun will, Böses zugefügt werden soll, dann musst du ihm helfen.« War das nicht genau eine solche Situation? Wolf wurde klar, dass es in der Tat Wichtigeres für ihn zu tun gab. Er musste Emily Jones und Tschubo helfen.

»Du gehst nirgendwohin ohne mich. Tut mir leid, du hast mich jetzt am Hals. Ich lasse euch nicht allein«, sagte er und versuchte dabei ein wenig zu schmunzeln, auch wenn die Lage dafür eigentlich zu ernst war.

»Nein«, widersprach sie erneut.

»Was willst du denn ohne mich machen?«, fragte er. »Du hast doch nicht mal mehr ein Auto. Willst du dich in den nächsten Bus oder Zug setzen? Am besten neben einen, der sich gerade auf seinem Smartphone dein Fahndungsfoto ansieht?«

Sie blieb zum ersten Mal seit ein paar Minuten wieder stehen. Dann setzte sie sich und atmete aus. Schließlich fing sie an zu schluchzen. Wolf wollte gerade zu ihr gehen, als Tschubo sie schon in den Arm nahm. Sie umarmte den Außerirdischen ebenso. »Schokolade hilft«, sagte dieser und streckte ihr den letzten Rest hin, den er offenbar im Haus gefunden hatte.

Es klingelte an der Tür. Wolf und Jones erschraken. Wer konnte das sein? Vielleicht nur ein harmloser Besuch? Oder hatte man Emily schon in ihrem Versteck gefunden? Wolf ging in Richtung Hauseingang, während die anderen in die entgegengesetzte Richtung liefen. Durch ein Fenster lugte er zum Podest vor seiner Haustür. Dann seufzte er.

»Der hat mir noch gefehlt«, entfuhr es ihm.

»Wer ist es?«, flüsterte Jones aus der Entfernung.

»Ein Nachbar«, klärte der Chirurg sie auf.

Er überlegte, ob er so tun sollte, als sei er nicht da. Aber sein Auto stand vor dem Haus und die Rollläden waren hochgezogen. Es klingelte erneut. »Hallo, Herr Wolf«, hörte er von der Tür. Also gab er auf. Er ging zum Eingang seines Hauses und öffnete die Tür nur halb. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, dass er seinen Nachbarn hereinbitten würde.

»Hallo, Herr Lehmann«, begrüßte er ihn mit einem leicht genervten Unterton, der durchaus einkalkuliert war.

»Guten Tag, Herr Dr. Wolf«, erwiderte sein Gegenüber.

Der Arzt entdeckte einen kleinen Plastikkanister in der Hand des Rentners. Er konnte sich schon denken, was mal wieder dessen Anliegen war. »Hören Sie, ich habe eigentlich keine Zeit«, versuchte er, den älteren Herren loszuwerden.

Doch dieser ließ sich nicht abwimmeln. »Ich habe noch von meinem Unkrautvernichter etwas übrig. Ich kann Ihnen den Rest gerne überlassen.« Wolf wusste, wie dieser Satz zu übersetzen war: »Tun Sie endlich was gegen das Unkraut in Ihrem Garten.«

Der Chirurg holte kurz Luft und atmete tief aus: »Danke, nein.« Vielleicht würde es mit einer kurzen Antwort klappen, dachte er. Doch er irrte sich.

»Sie haben da in Ihrem Rasen – so nenne ich ihn mal – solche roten und blauen Blüten, die inzwischen auch bei mir aufgehen.« Da Wolf wusste, wie das Gespräch weitergehen würde, unterbrach er ihn. »Oh, wie schön. Nein, keine Sorge, es macht mir nichts aus. Danke, war’s das?«

Er wollte schon die Tür wieder schließen, als Lehmann noch einmal ausholte: »Also, Sie sollten dringend etwas gegen Ihr Unkraut tun. Das ist eine Bedrohung für die ganze Gegend.«

Trotz aller Bemühungen platzte schließlich Wolf doch der Kragen. »Herr Lehmann«, brüllte er seinen Nachbarn an, der daraufhin einen kleinen Satz nach hinten machte, »ich habe Ihnen schon hundertmal erklärt, dass ich ökologisches Gärtnern bevorzuge. Es hat mich viel Mühe gekostet, in meinem Garten einigermaßen ein ökologisches Gleichgewicht herzustellen. Im Gegensatz zu Ihrer grünen Einöde fühlen sich bei mir Bienen und Schmetterlinge wohl.« Lehmann hatte schon seinen Mund, offenbar für eine Erwiderung, geöffnet, als Wolf noch einmal nachsetzte: »Und Sie sollten sich überlegen, was Sie sagen, wenn Sie solche Worte wie ›Bedrohung‹ in den Mund nehmen. Ich habe die Freiheit, meinen Garten zu gestalten, wie ich will. Eine Bedrohung sind der weltweite Terrorismus, der Klimawandel, das Aussterben der Bienen, der wachsende politische Extremismus, die Zunahme von multiresistenten Keimen und die Tatsache, dass es Länder gibt, in denen lebende Fledermäuse auf Lebensmittelmärkten verkauft werden. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss Menschenleben retten.« Der Arzt knallte seine eigene Haustür vor dem verdutzten Nachbarn zu. »So«, sagte Wolf zu sich, »das hat gut getan. Wo waren wir stehengeblieben?« Er bewegte sich auf Jones zu, die ihm entgegenkam.

»Wir müssen verschwinden«, sagte er zu ihr.

»Aber wie?«, wollte sie wissen. »Wohl kaum mit deinem Auto.«

Der Arzt überlegte. Dann schlug er vor: »Solange ich nicht gesucht werde, kann ich in einen Drogeriemarkt fahren und Haarfarbe kaufen.«

Jones sah ihn ungläubig an: »Ist das dein Ernst?«

»Wieso?«

»Wie viele Afroamerikanerinnen mit blonden Haaren kennst du? Oder willst du gleich noch weißes Make-up für mich kaufen?« Wolf bemerkte gerade die Idiotie hinter seinem Vorschlag.

»Nachbar ist immer noch da«, unterbrach Tschubo die Unterhaltung. Er stand hinter einem Vorhang an einem Fenster.

»Geh da weg«, riefen die anderen beiden unisono.

»Ich glaube, jetzt geht er«, ergänzte der Außerirdische.

Wolf und Jones setzten sich an den Tisch, an dem sie schon gefrühstückt hatten. Tschubo gesellte sich zu ihnen. Jones setzte ihren rechten Ellbogen auf den Tisch und stützte ihren Kopf mit ihrer Hand. Die Verzweiflung war ihr ins Gesicht geschrieben. »Ich weiß zwar noch nicht, wie wir dorthin kommen, aber ich denke, meine Oma würde uns verstecken, wie ich sie kenne«, sagte Moritz.

»Wo wohnt sie?«, wollte Jones wissen.

»Im Elsass.« Sie rollte mit den Augen. »Ja, super, ist ja gerade um die Ecke. Hat jemand hier auch eine vernünftige Idee?«

»Schau mich nicht an«, erwiderte der Außerirdische.

Der Arzt griff zu seinem schnurlosen Telefon. »Ich sorge erstmal dafür, dass es nicht auffällt, dass ich für ein paar Tage verschwinde.« Er rief in der Klinik an und bat darum, sich kurzfristig ein paar Tage seines noch reichlich vorhandenen Resturlaubs nehmen zu können, weil es einen »familiären Notfall« gäbe. Sein Chef war alles andere als begeistert, willigte aber schließlich ein, weil Wolf in der Vergangenheit schon oft, ohne zu murren, eingesprungen war, wenn Not am Mann war.

»Wir brauchen ein anderes Fahrzeug«, stellte Jones fest.

»Leichter gesagt als getan«, erwiderte Wolf. »Für ein Mietauto muss einer von uns seine Personalien angeben. Und spätestens dann, wenn auch nach mir gefahndet wird, weiß man dann doch, welches Auto man suchen muss. Hat man sich schon gut überlegt, damit echte Ganoven nicht einfach so durch die Gegend fahren können, wenn man sie sucht.«

Erneut schreckten alle auf, als es klingelte. Sie wiederholten ihr Prozedere: Wolf ging zu einem Fenster, während die anderen Abstand hielten. »Oh nein«, seufzte er, »es geht noch schlimmer als vorhin. Meine Ex-Frau!« Dann flüsterte er noch zu den anderen: »Ich bin nicht da.«

Fast zeitgleich waren Rufe aus Richtung Tür zu hören: »Moritz, isch weeß, dass du do bischt. Doi Nochbar hot‘s mer g’sagt!27« Der Arzt blickte verzweifelt zum Himmel.

»Was kann sie wollen?«, fragte Jones leise.

»Sie ist krank«, erklärte Wolf. Die junge Frau erschrak. »Psychisch krank«, ergänzte er. »Sie stalkt mich. Sie war krankhaft eifersüchtig. Das ging so weit, dass sie glaubte, ich hätte eine andere und mich aus vermeintlicher Rache betrog. Das war dann der Punkt, am dem ich mich scheiden ließ. Sie lässt mich aber nicht in Ruhe. Es gibt sogar einen Gerichtsbeschluss, dass sie sich mir nicht mehr als 100 Meter nähern darf, was sie regelmäßig ignoriert.«

Da war seine Ex-Frau wieder zu hören: »Moritz, isch mach‘ jetzt ä Therapie.28«

Wolf wandte sich wieder zu Jones und flüsterte weiter: »Das glaube ich ihr nicht. Sie hat sich sogar einen SUV mit stark getönten Scheiben gekauft und damit immer wieder vor meinem Haus geparkt. Jede Wette, sie sitzt darin mit einem Fernglas oder einer Kamera und wartet darauf, dass meine vermeintliche Geliebte erscheint. Diese Frau ist sowas von krank!«

»Moritz!«, war wieder von draußen zu hören.

Jones sah Wolf mit großen Augen an.

»Was?«, verstand dieser ihren Blick nicht.

»Ein Auto mit stark getönten Scheiben«, flüsterte sie. Der Arzt wusste immer noch nicht, was sie damit sagen wollte.

»Hat sie den Wagen dabei?«, ergänzte Tschubo leise.

Da begriff der Chirurg schließlich. Er senkte seine Schultern nach unten. »Nein«, jammerte er, »auf gar keinen Fall.«

»Es ist der Ort auf der Welt, an dem man dich am allerwenigsten vermuten wird«, flüsterte sie.

»Ja«, erwiderte er energisch, »aus gutem Grund!«

»Moritz«, war wieder durch die Tür zu hören, »mir geht‘s jetzt besser. Isch wollt‘ dir des nur sage. Isch loss disch jetzt in Ruh‘. O.K.? Hoscht g‘heert?29« Es herrschte kurze Stille. Dann ergänzte sie: »Alla, isch geh‘ dann. O.K.? Isch loss disch dann in Ruh‘.30«

Jones und Tschubo sahen Wolf an. Dieser schloss die Augen, legte seinen Kopf in den Nacken und mimte ein Heulen nach. »Wart‘«, rief er dann laut in Richtung Tür, »kumm roi!31«

Moritz hatte seiner Ex-Frau Anna die Tür geöffnet und die verwirrt blickende Frau hereingebeten. Er blieb aber knapp hinter der Eingangstür im Flur stehen. Geheuer war ihm die Situation nicht. »Isch, äh, misst mol korz mit der redde32«, setzte er zögerlich an.

Sie studierte sein Gesicht angestrengt. »Is was bassiert?33«, wollte sie wissen. »Is was mit doiner Mudder? Odder die Oma?34«

Er schloss die Tür und ging zwei Schritte auf sie zu. Seine Ex-Frau hatte brünette, schulterlange Haare und trug einen dünnen Strickpulli sowie Bluejeans. Sie war zwei Jahre jünger als er und hatte immer noch die sportliche Figur wie damals, als sie sich kennengelernt hatten. Besser gesagt, hatte sie wieder diese Figur. Möglicherweise hatte sie ihr früheres Hobby, den Jazztanz, wieder aufgenommen.

»Isch bräucht doi Hilf35«, fuhr er fort. Er wusste noch nicht, wie er ihr die Situation erklären sollte. Er überlegte auch, welcher Fakt weniger schockierend für seine Ex-Frau sein dürfte, so dass er damit anfangen konnte: dass eine andere Frau in seinem Haus war oder die Sache mit dem Außerirdischen. Er entschied sich schließlich für den Außerirdischen. »Isch hab‘ geschdern e Bekanntschaft gemacht.36« Er ließ den Satz erst mal wirken.

»Is gut, isch mach doch jetzt ä Therapie. Zeig se mer37«, erwiderte sie.

»Es is net des, wonach es aussieht.38« Hatte er diesen Satz gerade wirklich gesagt? Moritz war sich inzwischen sicher, dass die nächsten Minuten in einer Katastrophe enden würden. »Bass emol uff39«, nahm er noch einmal Anlauf, »es is kompliziert. Isch stell dir mol die Person vor. Awer er kann kä Pälzisch, nemm isch zumindeschtens å. – Tschubo, kommst du bitte mal.40«

»Tschubo, iss des en Russ?41«, murmelte Anna Wolf.

Der Außerirdische kam um die Ecke und ging freudig auf die Frau zu: »Guten Tag, ich bin Tschubo.«

Sie sah ihn an und musterte ihn von oben bis unten. »Iss schunn Fasching, äh, ist denn schon Fasching?«

»Was ist Fasching?«, fragte Tschubo.

»So eine Art Kostümfest«, erklärte der Arzt und wandte sich dann zu seiner Ex-Frau, um ihr betont langsam die Wahrheit beizubringen: »Das ist keine Verkleidung. Tschubo sieht so aus. Er ist ein Außerirdischer.«

Stille kehrte ein. Dann zog sie eine Augenbraue hoch. »Jo, beschtimmt.42« Ihr geschiedener Gatte blickte ernst, presste die Lippen zusammen und nickte. Sie neigte den Kopf nach unten und sah ihn an. »Komm jetzt, des is doch …43« Sie musterte erneut Tschubo.

»Ich bin Forscher. Ich komme von einem Planeten, der über 1000 Lichtjahre von der Erde entfernt ist«, erklärte dieser. »Als ich auf der Erde gelandet bin, haben Amerikaner mich entführt. Emily und Moritz haben mich gerettet.«

»Emily?«, fragte Anna verwirrt.

Die angesprochene Frau kam ebenfalls um die Ecke. »Hallo«, stellte sie sich zögerlich vor. Anna Wolf sah die Personen um sie herum lange an.

»Das ist jetzt wirklich nicht euer Ernst, oder?« Alle drei nickten. Sie ging ein paar Schritte zurück, um sich auf einen Stuhl zu setzen. Dann atmete sie tief aus. »Ach du Scheiße!«, entfuhr es ihr. Dann sah sie noch einmal die Drei an, bis schließlich ihr Blick auf Emily hängenblieb. Anna starrte die Deutschamerikanerin länger an. »Sind Sie nicht die Terroristin?«

»Wie du vielleicht selbst vermuten wirst«, fing Moritz an zu erklären, »ist das nur von der US-Armee erfunden worden, um eine Fahndung nach ihr zu rechtfertigen.«

»Macht Sinn.«

»Jetzt kommst du ins Spiel. Wir brauchen deine Hilfe. Ich habe Emily geholfen, weil sie eine Autopanne hatte. Man wird irgendwann durch die Spuren, die ich an ihrem Auto hinterlassen habe, auf mich kommen. Also kommt mein Auto nicht in Frage. Wir dachten, keiner wird erwarten, dass wir mit dir zusammen fliehen. Wir bräuchten dein Auto. Du kannst uns auch einfach nur dein Auto …«

»Kommt nicht in Frage, da mache ich mit.«

»O.K.«

»Danke«, sagte Emily erleichtert.

Tschubo umarmte die verdutzte Anna und sagte: »Ich mag dich, Anna.«

4

Moritz erklärte seiner Ex-Frau die genaueren Umstände. »Einen wirklichen Plan haben wir noch nicht«, erläuterte er weiter. »Mein Vorschlag wäre, dass wir zu meiner Oma ins Elsass fahren.«

»Na, die macht jo alles fer disch«, entfuhr es seiner früheren Gemahlin spontan. Dann betrachtete sie Emily und Tschubo und übersetzte: »Sie macht ja alles für ihn.«

»Aber der Weg ins Elsass ist halt weit. Es ist riskant, weil wir entdeckt werden könnten«, wandte Moritz ein.

Anna sah zu dem außerirdischen Besucher: »Habt ihr keine Tarnvorrichtung oder sowas?«

Tschubo lachte. »Nein, das gibt es nicht.« Nach kurzem Zögern ergänzte er noch: »Es gibt auch all die Humanoiden nicht, die in euren Filmen vorkommen.«

»Wahrscheinlich sind wir Menschen die einzigen Idioten in dieser Galaxie, die sich gegenseitig oder andere umbringen«, vermutete der Arzt.

Tschubo schien verwundert von dieser Bemerkung. »Warum glaubst du das?«, wollte er wissen.

Moritz dachte nach. Er konnte es nicht wirklich begründen. »Na ja, ich dachte nur, weil es nicht wirklich Sinn macht, sich gegenseitig nach dem Leben zu trachten. Man hat doch mehr davon, wenn man zusammenarbeitet.«

»Das stimmt«, bestätigte das pelzige Wesen, »aber es gibt viele verschiedene Welten und noch mehr Kulturen im Universum. Unsere eigenen Vorfahren bekämpften sich auch gegenseitig. Es geht manchmal einfach um Rohstoffmangel. Wenn ein Volk hungert, sieht es oft keinen anderen Ausweg, als die anzugreifen, die mehr haben oder ihnen vielleicht sogar das Wasser abgegraben haben. Es hat lange gedauert, bis bei uns die Vernunft eingekehrt ist und wir zusammengearbeitet haben. Wir haben eine gemeinsame Regierung für unseren Planeten geschaffen. Aber dann hatten wir auch Regierungen – vom Volk gewählte Regierungen – die erobern wollten. Wir haben andere Welten angegriffen, weil wir geglaubt haben, dass sie uns bedrohen könnten oder weil wir einfach noch reicher werden wollten. Aber auch das ist lange vorbei.« Er überlegte kurz. »Es sind etwa 500 Erdenjahre, seitdem wir zum letzten Mal Krieg geführt haben. Aber es gibt andere Welten, auf denen noch Kriege herrschen und die Kriege gegeneinander führen.«

Die anderen schwiegen und mussten die Worte erst einmal verdauen.

»Wo ist der Elsass?«, lenkte Tschubo wieder zum ursprünglichen Thema über.

»DAS Elsass«, korrigierte Jones, »liegt in Frankreich, an der Grenze zu Deutschland, südlich von hier.« Dann drehte sie sich zu Moritz: »Wo genau im Elsass wohnt sie?«

»In der Nähe von Colmar«, antwortete er, »etwa zwei Stunden Autofahrt von hier, das ist nicht so viel.«

»Wenn ihr beiden auf dem Rücksitz bleibt, dann haben wir gute Chancen, dass euch keiner entdeckt«, ergänzte seine Ex-Frau.

»Aber wenn die Polizei auf Moritz stößt und nach ihm sucht, dann werden sie vielleicht auch seine Verwandten abklappern. Deswegen hatten wir doch die Idee, dass sie bei seiner Ex-Frau nicht suchen würden. Sie werden doch sicherlich bei deiner Großmutter suchen«, sorgte sich Emily.

Der Chirurg überlegte. »Ich meine, dass es in Frankreich keine Meldepflicht gibt. Ich glaube, dass Oma mal gesagt hat, dass sie noch in Freinsheim gemeldet ist. Da hat sie noch ein altes Haus, das leer steht. Zumindest findet man sie vielleicht nicht so schnell. Also, was sollen wir machen?«

»Haben wir eine andere Wahl?«, warf Tschubo in die Runde. Schweigen trat ein.

»Wohl nicht«, antwortete Anna. Die anderen nickten.

Die Vier setzten sich an den Esstisch und besprachen kurz das weitere Vorgehen. Sie müssten noch tanken, was sie unterwegs erledigen könnten. Proviant brauchten sie nicht. So weit war die Reise nicht. Etwas zum Trinken konnte nicht schaden. Sie packten ein paar Flaschen Wasser ein. Emily schlug vor, noch ein paar Zeitungen mitzunehmen, damit sie, Moritz und Tschubo sich auf den Rücksitzen dahinter verstecken konnten. Der Hausherr richtete daraufhin einen Stapel Gazetten.

Anna fuhr ihren SUV in den Hof des Wohnhauses ihres Ex-Manns. Dort erhofften sie sich, das Auto unbemerkt beladen zu können. Als alles Benötigte im Wagen war, nahm Tschubo hinter dem Fahrersitz Platz, in der Mitte Moritz und rechts von ihm Emily. Anna nahm hinter dem Steuer Platz, startete den Motor wieder, setzte zurück auf die Straße, schloss das Hoftor, stellte ihr Navi auf die Adresse von Moritz Wolfs Großmutter ein und fuhr los. Nach den ersten beiden Kreuzungen rief sie plötzlich: »Ach, du Scheiße!«

»Was ist los?«, wollte ihr Ex-Gatte wissen.

»Musst du auf die Toilette?«, fragte Tschubo.

»Meine Tabletten!«

»Was ist damit?«, fragte Jones.

»Ich habe nur noch welche bis Montag. Ich weiß ja nicht, wie lange wir uns verstecken müssen.«

»Was sind das für Tabletten?«, fragte Moritz.

»Fluvoxamin.«

»Du machst wirklich eine Therapie?«, wunderte er sich, was auch am Ton deutlich erkennbar war.

Anna holte Luft und atmete tief aus. Sie wiederholte dies noch mehrfach. Es wirkte wie eine antrainierte Atemübung. »Des is mol widder tippisch fer disch44«, platzte es dann doch aus ihr heraus, »immer unnerschtelscht du mir Beeses. Dodebei hab‘ isch dir nie …45«

»Also, soll isch mol uffzähle …46«, unterbrach er sie.

»Wenn ich das zankende Ehepaar, sorry, Ex-Ehepaar mal unterbrechen darf«, warf Emily ein, »erstens haben wir jetzt keine Zeit für Ehestreit und zweitens komme ich nicht mehr mit.«

Der Arzt drehte sich zu ihr. »Fluvoxamin ist ein Psychopharmakon.« »Oh, verstehe. Wäre es denn so schlimm, wenn du – ist es O.K., wenn ich ›du‹ sage, Anna? – die Tabletten mal ein paar Tage nicht nimmst?«

»Ja und ja«, antwortete die Angesprochene nur sehr knapp, als sie gleichzeitig mit dem Auffahren auf die gerade stark befahrene A65 in Richtung Süden beschäftigt war.

»Ich bin kein Psychiater«, meldete sich der Chirurg zu Wort, »aber wenn mich mein Grundwissen aus dem Studium nicht im Stich lässt, dann müssen einige Psychopharmaka ausgeschlichen werden.«

»Was heißt das?«, fragte Jones nach.

»Man kann sie nicht einfach absetzen. Man müsste die Dosis nach einem bestimmten Schema langsam reduzieren. Das dauert wahrscheinlich ein paar Wochen. Andernfalls drohen unangenehme Nebenwirkungen.« Er zückte sein Smartphone, tippte darauf herum und scrollte über eine Seite. Dann murmelte er »Parästhesien, orthostatische Störungen, Brain Zaps, Tinnitus, Übelkeit, Schwindel, Schlafstörungen, Ängste, motorische Störungen, Dyspepsie« und ergänzte dann laut in Richtung Anna: »Das kann ich dir nicht zumuten.«

»Das ist ja ein Horrorkabinett, was du da vorgelesen hast«, stellte sie fest.

»Bist du auch Ärztin?«, wollte Emily wissen.

»Krankenschwester«, antwortete Anna.

»Kannst du dir noch schnell ein Rezept bei deinem behandelnden Arzt besorgen?«, schlug Moritz vor.

»Meine Psychiaterin ist im Urlaub. Ich wollte am Montag zu ihr. Ich hatte verpeilt, mir vor ihrem Urlaub noch eine neue Packung verschreiben zu lassen.«

»Und dein Hausarzt?«

»Hat mir die Tabletten noch nicht verschrieben. Ich könnte es versuchen.« Sie rief über die Freisprecheinrichtung dessen Praxis an.

Die Arzthelferin, die das Gespräch entgegennahm, sagte, sie müsse erst mit ihrem Chef sprechen. Nach ein paar Minuten war die Stimme des Hausarztes zu hören. »Frau Wolf, ich kann Ihnen das nicht einfach so verschreiben. Wieso brauchen Sie denn Fluvoxamin?«

»Ich bin in psychiatrischer Behandlung bei Dr. Müller.«

»Und weshalb?«

»Sie sagt, ich habe eine Zwangsneurose in Kombination mit Depressionen. Ich habe meinem Mann – Ex-Mann – nachgestellt, aus krankhafter Eifersucht. Ich bekomme begleitend noch eine Psychotherapie bei einer Therapeutin. Ich bin deswegen auch krankgeschrieben.«

»Verstehe. Das Problem ist, dass ich keinen Arztbrief von der Kollegin habe. Ich verschreibe nur sehr ungern Psychopharmaka, ohne eine klare Diagnose zu haben – schon gar nicht per Ferndiagnose am Telefon. Warum kann die Kollegin Ihnen das denn nicht einfach verschreiben?«

»Sie ist im Urlaub.«

»Wie lange denn?«

»Bis Montag.«

»Und Ihre Tabletten reichen nicht bis dahin?«

»Ja, genau.«

»Wie lange reichen Sie denn noch?«

»Bis, äh, Montag, äh, ja, Montag.«

Jones senkte ihren Kopf. Moritz fasste sich an die Stirn. Seine Ex-Frau hätte doch gerade einfach mal lügen können. Ihrem Gesicht war anzumerken, dass sie das wohl auch gerade dachte.

»Aber, was ist denn dann das Problem?«, wunderte sich der Hausarzt.

Anna seufzte. Dann sagte sie: »Ich fahre gerade in den Urlaub.« Emily nickte. Offenbar begrüßte sie die Lüge, während Moritz wenig Hoffnung auf einen guten Ausgang hatte.

Über den Lautsprecher der Freisprecheinrichtung war nun auch ein Seufzen zu hören. Dann herrschte Stille, bis der Hausarzt antwortete: »Sagten Sie nicht, Sie seien krankgeschrieben? Frau Wolf, es tut mir leid, dann dürfen Sie auch nicht in Urlaub fahren.«

»Hm, ja, verstehe. Ja, war nur so ein spontaner Entschluss. Dann warte ich doch bis Montag.«

»Ich denke, das ist besser. Sie können die Kollegin Müller dann auch fragen, ob sie eine Urlaubsreise aus therapeutischen Gründen als sinnvoll bescheinigen kann. Dann ist das auch in Ordnung. Noch mal: Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann. Vielleicht bitten Sie sie auch, mir mal einen Brief zu schreiben, für meine Akten.«