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Volker Gerling

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Beschreibung

Er tötet aus Hass – und er macht keinen Fehler Im Hamburger Stadtpark wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie wurde mit vierzig Messerstichen getötet, und in ihre Haut ist die Ziffer 1 eingebrannt. LKA-Kommissarin Laura Graf und der Fallanalytiker Daniel Krampe ermitteln, ohne jegliche Spur des Täters am Opfer und am Tatort. Eine Woche später wird eine Tote mit der Ziffer 2 auf dem Rücken gefunden, weitere sieben Tage später eine dritte. Jeder Mord wirkt bis zur Perfektion durchdacht. Selbst als auf den Handys der Opfer Selfies mit ein und demselben Mann entdeckt werden, können Laura und Daniel ihm nichts nachweisen. Der Serienmörder treibt ein perfides Spiel ...

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Seitenzahl: 307

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Volker Gerling

Der Perfektionist

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

Er tötet aus Hass – und er macht keinen Fehler.

Im Hamburger Stadtpark wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie wurde mit vierzig Messerstichen getötet, und auf ihrem Rücken ist die Ziffer 1 eingebrannt. LKA-Kommissarin Laura Graf und der Psychologe und Fallanalytiker Daniel Krampe ermitteln, es fehlen jedoch jegliche Spuren am Opfer und am Tatort, die auf den Täter hinweisen könnten. Eine Woche später wird eine Tote mit der Ziffer 2 auf dem Rücken gefunden, weitere sieben Tage später eine dritte. Der Täter hat alles bis zur Perfektion durchdacht. Selbst als auf den Handys der Opfer Selfies mit ein und demselben Mann entdeckt werden, kann ihm nichts nachgewiesen werden. Der Serienmörder treibt ein perfides Spiel mit den Ermittlern …

Vita

Volker Gerling, geboren in Buchholz in der Nordheide, hat mehr als zwanzig Jahre im Vertrieb gearbeitet und ist dabei durch Europa und den Nahen Osten gereist. Seine ersten zehn Bücher schrieb er abends und nachts. Bis ihm klar wurde, dass er eigentlich nur Autor sein möchte. 2019 hängte er den Vertriebsjob an den Nagel, um sich ganz auf sein Schreiben zu konzentrieren. Inspiriert haben ihn die Romane von Nelson DeMille, John Connolly und Don Winslow. Gerling lebt mit seiner Frau und seiner Tochter in Braunschweig.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Martha Wilhelm

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung bürosüd, München

Coverabbildung Kenny Williamson/Getty Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01585-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Prolog

Im Darknet war es möglich, einen Auftragsmörder schon für fünftausend Euro zu engagieren. Natürlich verbarg sich hinter einer Offerte dieser Kategorie kein Profi, und die Wahrscheinlichkeit, dass die Aktion komplett in die Hose ging, war mehr als hoch. Es gab in der Tat sehr viele, die im verborgenen Teil des Internets ihre Dienste anboten, um unliebsame Mitmenschen aus dem Weg zu schaffen. Die wenigsten von ihnen wussten wirklich, was sie taten. Sie wurden über kurz oder lang aus dem Verkehr gezogen. Nemesis gehörte einem anderen Kaliber an. Unter einhunderttausend Euro lief nichts. Dafür aber war ein sauberer Job garantiert. Nemesis› Spezialität waren Morde, die so aussahen wie Unfälle.

Etwa siebzig Prozent des Jobs bestanden aus Warten. Der Rest war Vorbereitung und Ausführung. Alles, was Nemesis tat, geschah leidenschaftslos. Sogar Essen oder Sex. Nemesis kannte kein anderes Leben. Wusste nicht, wie es war, sich überschwänglich zu freuen oder gar zu leiden. Nach über zehn Jahren im Geschäft genoss Nemesis einen ausgezeichneten Ruf. Vor allem deshalb, weil noch niemals ein Auftrag gescheitert war.

Das hatte einen Hauptgrund: Nemesis war nicht gierig. Maximal sechs Aufträge pro Jahr waren die Grenze. Alles andere wäre aus unterschiedlichen Gründen zu gefährlich. Zu wenig Zeit zur Vorbereitung. Eine zu starke Reisetätigkeit, die möglicherweise jemandem auffiel. Zu viel Geld, das versteckt werden müsste. Durchschnittlich verdiente Nemesis achthunderttausend Euro jährlich. Netto. Das reichte vollkommen. Die Kontakte liefen ausschließlich über das Darknet. Wer Nemesis beauftragte, musste fünfzigtausend Euro vorab in Bitcoin bezahlen. Diese Vorgehensweise hatte gleich zwei Vorteile: Erstens zeigte der Kunde so, dass er durchaus in der Lage war, das Honorar zu bezahlen. Und zweitens diente es der Absicherung: Eine Strafermittlungsbehörde würde niemals einen so hohen Betrag an einen Auftragskiller zahlen. Auch weil das von einem geschickten Anwalt als Aufforderung zu einer Straftat ausgelegt werden konnte. Kein Staatsanwalt würde sich an einen solchen Fall herantrauen.

Der aktuelle Auftrag war etwas Besonderes. Noch niemals zuvor hatte Nemesis mit einem Auto getötet. Das war fester Bestandteil des Deals; es sollte aussehen wie ein Unfall mit Fahrerflucht. Ein tödlicher Unfall. Die zweite Besonderheit war, dass die Zielpersonen eine Mutter und ihr Kind waren. Aus welchem Grund die beiden sterben mussten, war für Nemesis nicht von Interesse. Nach dem Warum wurde in dieser Branche niemals gefragt. Hier ging es nur um das Wieviel, Wann und Wie. Nemesis hatte unter Zuhilfenahme einer falschen Identität einen SUV gemietet und ordnungsgemäß in einer Haltebucht in der Nähe eines Parks in Hamburg geparkt. Es war wichtig, die Verkehrsvorschriften einzuhalten, um nicht unnötig die Aufmerksamkeit der Polizei zu erregen.

Die Zielperson näherte sich mit einem Kinderwagen dem Zebrastreifen. Nemesis legte die Fahrstufe ein und wartete. In gemächlichem Schritttempo erreichte die Frau die Straße. Dann blieb sie stehen, blickte nach links und nach rechts und betrat den Zebrastreifen. Der Vorteil eines E-Autos war die Geräuschlosigkeit. Als Nemesis aus der Parkbucht schoss und immer weiter beschleunigte, verursachte der vierhundert PS starke Motor keinerlei Lärm. Als die Frau den Wagen sah, war es schon zu spät. Er erwischte sie und den Kinderwagen genau in der richtigen Position. Der Kopf der Zielperson prallte mit genickbrechender Wucht auf die Motorhaube, bevor ihr Körper über das Dach des Wagens hinweg fortgeschleudert wurde. Der Kinderwagen flog in hohem Bogen davon und schlug etwa zehn Meter entfernt auf den Asphalt auf. Nemesis gab Gas, überrollte den Kinderwagen und verschwand.

ERSTER TEIL

1

Zwei Jahre später

Nur noch wenige Minuten, dann würde er sein erstes Opfer töten. Lief alles nach Plan, würden noch mindestens zwei weitere folgen. Ein ganzes Jahr hatte er für seine Vorbereitungen benötigt.

Zwölf Monate.

Dreihundertfünfundsechzig Tage.

Achttausendsiebenhundertsechzig Stunden.

Und nun waren es nur noch ein paar Minuten. Seine innere Erregung war mit Worten nicht zu beschreiben. In den zwölf Monaten zuvor hatte er sein Vorhaben geplant, während er seinem normalen Leben nachgegangen war. Tag für Tag Sitzungen mit Menschen, die ihn überhaupt nicht interessierten und die ihren Schrott bei ihm abluden, in der Hoffnung, dass es ihnen danach besser ging. Dabei war es ihm vollkommen gleichgültig, was sie ihm erzählten. Sie waren ihm gleichgültig. Hätten sie gewusst, woran er dachte, während sie ihm ihr Herz ausschütteten, wären sie wohl panisch davongelaufen. Bei diesem Gedanken musste er lächeln. Die lange Vorbereitungszeit war nötig gewesen, da er einen komplizierten Plan verfolgte. Und dieser ließ keine Fehler zu.

Er wusste aus einschlägigen Fachmagazinen, dass die meisten Mörder aus zwei Gründen gefasst wurden. Zum einen war da das Motiv. Ein Großteil der Tötungsdelikte wurde aus persönlichen Gründen wie Neid, Hass oder auch Liebe begangen. Damit wurde es den zuständigen Ermittlern recht leicht gemacht. Fast immer waren es die Lebenspartner der Opfer, die zuerst überprüft wurden. Sehr oft fanden die Ermittler hier auch ihren Täter. Für die Beamten, die später an seinem Fall arbeiten würden, wäre es unmöglich, für die Taten ein Motiv zu finden, das sie zu ihm führen würde.

Dann waren da aber auch noch die technischen Möglichkeiten der Ermittlungsbehörden im Bereich der Forensik. Sie waren heute so weit fortgeschritten, dass es fast nicht möglich war, ungeschoren davonzukommen. Als Teil seiner Vorbereitung hatte er sich daher umfangreiches Wissen zu Rechtsmedizin und Tatortanalyse angeeignet. Er kannte die Locard’sche Regel, wonach zwischen zwei Objekten kein Kontakt hergestellt werden konnte, ohne dass diese wechselseitig Spuren hinterließen. Er war sich sicher, eine Lösung für dieses Problem gefunden zu haben. Ein entscheidender Faktor war, dass bei seinen Vorhaben Tat- und Ablageort nicht identisch wären. Ein weiterer wichtiger Punkt war seine Kleidung. Während er sich um seine Opfer «kümmerte», würde er genau die Anzüge tragen, die auch Rechtsmediziner trugen, wenn sie ihre Arbeit verrichteten. Weiße Plastikanzüge, Überschuhe, spezielle Gesichtsmaske und Kopfbedeckung. Nur seine Handschuhe waren von anderer Qualität.

Ein weiterer wesentlicher Faktor, der vielen Tätern das Genick brach, war die Methode, wie sie die Opfer in ihre Gewalt brachten. Gerade hier gingen viele Kriminelle ein sehr hohes Risiko ein. Er aber musste ihnen nicht nachts auflauern, um sie dann zu überwältigen und zu entführen. Er musste auch nicht bei ihnen zu Hause einbrechen, um ihrer habhaft zu werden.

Nein, die Opfer kamen zu ihm. Freiwillig. Und das, ohne jemandem davon zu erzählen. Weil sie sich schämten, jemanden wie ihn in Anspruch nehmen zu müssen.

Bis zu diesem Punkt würde alles wunderbar einfach verlaufen. Der einzige Risikofaktor bei seinem Vorhaben war der spätere Transport der Opfer vom Tatort zur Ablagestelle. Diese Fahrt würde spätnachts erfolgen, wenn wenig Verkehr herrschte. Aber es gab die, wenn auch sehr geringe, Möglichkeit einer Verkehrskontrolle. Würde es dazu kommen, stünden seine Chancen schlecht. Aber er glaubte, auch für dieses Problem eine Lösung gefunden zu haben. Die Stellen, an denen er die Frauen ablegen wollte, waren gut gewählt. Keine Überwachungskameras in unmittelbarer Nähe, keine Passanten, denen man zufällig über den Weg laufen könnte. Und dennoch so gut frequentiert, dass es nicht lange dauern würde, bis man die Opfer fand.

Dies alles musste sich freilich noch in der Praxis bewähren. Aber er war zuversichtlich. Und überhaupt: Wo bliebe denn der Spaß, wäre man sich von vornherein sicher, nichts vergessen zu haben?

Natürlich war der Spaßfaktor nicht der Antrieb bei seinen Vorhaben.

Der ging sehr viel tiefer. War viel persönlicher. Auch für den Fall, dass er vor Abschluss seines Projekts geschnappt würde, hatte er vorgesorgt.

Von alldem ahnte die Frau natürlich nichts, die ihn jetzt aus vor Panik weit aufgerissenen Augen ansah. Sie lag nackt, an Hand- und Fußgelenken fixiert, auf einem Metalltisch. Auf einen Knebel konnte er verzichten, da niemand ihre Schreie hören würde. Er ging um den Tisch herum, um seine Arbeit zu begutachten. Ihre Augen fielen fast aus den Höhlen in dem Versuch, jedem seiner Schritte zu folgen. Vor einem Metalltisch auf Rollen blieb er stehen. Darauf lagen, fein säuberlich in Reih und Glied, Messer mit unterschiedlicher Klingenlänge sowie zwei Skalpelle. Behutsam nahm er eines der Messer in die Hand und betrachtete die achtzehn Zentimeter lange Klinge fast schon andächtig.

«Dies ist ein Messer von Nesmuk Soul. Eigentlich ist es zum Kochen gedacht. Es verfügt über die schärfste Klinge, die es gibt.»

Er hielt das Messer jetzt so, dass die Frau es sehen konnte.

«Wie nur unschwer zu erkennen ist, läuft es nicht so spitz zu, wie man es von herkömmlichen Messern gewohnt ist. Aber ich versichere dir, es geht durch Muskel, Gewebe und Knochen, als wären sie aus Butter.»

Die junge Frau keuchte und sah ihn flehend an. «Bitte, ich mache alles, was Sie wollen. Aber tun Sie mir nicht weh.»

Der Mann sah sie mit kaltem Blick an. «Ich möchte eines klarstellen: Ich bin kein Perverser, der Lust an dem verspürt, was er tut. Ich höre auch keine Stimmen, die mir befehlen, solche Dinge zu machen. Ich verfolge ein glasklares Ziel, und du bist nur Mittel zum Zweck.»

Ohne auf eine Reaktion zu warten, nahm sich der Mann einen Edding und ging zum Fußende des Tisches. Er beugte sich hinunter zum rechten Fuß der Frau und blickte ihn konzentriert an. Schließlich nahm er den Stift und zeichnete im oberen Drittel der Unterseite des Fußes mittig einen etwa einen Zentimeter langen Strich.

Er ging wieder zum Metalltisch, legte den Edding zurück und wandte sich an die Frau.

Beinahe zärtlich strich er ihr durchs Haar. «Du hast sehr schöne Füße», sagte er leise. «Es ist fast schon eine Sünde, sie zu zerstören.»

Die Frau hob ihren Kopf und schrie aus Leibeskräften.

Sie versuchte, ihre Arme und Beine zu bewegen, aber die Fixierung war zu fest. Sie rührten sich keinen Millimeter. Der Mann ging zurück zum Fußende, setzte das Messer an der gekennzeichneten Stelle an und durchbohrte den Fuß zwischen dem äußeren Keilbein und dem Kahnbein. Ohne Mühe glitt die Klinge hindurch und kam am anderen Ende wieder heraus. Die Frau verdrehte ihre Augen und verlor das Bewusstsein. Er warf ihr einen kurzen Blick zu und machte dann mit unbewegter Miene weiter.

2

Die zweiunddreißigjährige Oberkommissarin Laura Graf fühlte sich, als wäre sie vor ein Tribunal geladen worden. Sie saß in einem erst kürzlich renovierten Besprechungsraum der Hamburger Staatsanwaltschaft. Es roch nach frischer Farbe, was bei ihr leichte Kopfschmerzen verursachte. Vor ihr saßen Staatsanwalt Bernd Köster, Staatsrat Meinert aus der Behörde für Inneres, dem die Abteilung für interne Ermittlungen unterstand, und ihr direkter Vorgesetzter, Kriminalrat Steffens. Die drei Männer sahen sie mit ernstem Ausdruck an.

Staatsanwalt Köster seufzte vernehmlich und schloss den Schnellhefter, der vor ihm lag. Laura vermutete, dass es ihre Personalakte war.

«Frau Oberkommissarin, ich muss zugeben, dass es mir schwerfällt, Sie mit den Anschuldigungen, die gegen Sie erhoben wurden, in Verbindung zu bringen. Immerhin wurden dem Mann, der Anzeige gegen Sie erstattet hat, Nase und Schulter gebrochen. Die Fraktur im Schultergelenk ist übrigens so massiv, dass er seinen rechten Arm wohl niemals wieder zu einhundert Prozent wird benutzen können.»

Da Köster keine Frage gestellt hatte, schwieg Laura.

Er sah sie kurz an und fuhr dann fort. «Aus der Strafakte des Mannes konnten wir entnehmen, dass Jürgen Urban mehrfach wegen Körperverletzung, Einbruch und Diebstahl vorbestraft ist. Er ist eins neunzig groß und wiegt knapp neunzig Kilo. Sie hingegen sind eins siebzig und wiegen neunundfünfzig Kilo. Wie um alles in der Welt konnten Sie Urban derart überwältigen?»

«Wahrscheinlich hat sich Urban nur auf die Äußerlichkeiten fokussiert und mich schlicht unterschätzt.»

«Es war also nur das Überraschungsmoment?»

Laura zuckte mit den Schultern.

Staatsanwalt Köster und Staatsrat Meinert wechselten einen kurzen Blick.

Köster ergriff wieder das Wort. «Wir müssen natürlich berücksichtigen, dass Jürgen Urban zwei Polizisten getötet hat und bei seiner Flucht das Feuer auf Sie und Ihre Kollegen eröffnete. Laut Bericht hat Urban Sie in der Brust getroffen. Sie haben das nur überlebt, weil Sie eine Weste aus Kevlar getragen haben. In dem Bericht heißt es ferner, er hätte sich gegen die Verhaftung gewehrt, woraufhin Sie, Frau Oberkommissarin, in Notwehr gehandelt und ihn unschädlich gemacht hätten. Er jedoch behauptet, dass Sie ihn ohne Grund angegriffen und verletzt hätten. Im Vernehmungsprotokoll steht, dass Sie ‹Du hast auf mich geschossen, du Arschloch› geschrien haben, bevor Sie auf ihn losgingen und ihm die Nase brachen. Dann erfolgte der brutale Überwurf, bei dem seine Schulter sowohl ausgekugelt als auch gebrochen wurde. Trifft das so weit zu?»

«Das mit der Notwehr? Absolut. Hab ich ihn angeschrien? Ich weiß es nicht mehr. Er hatte mir gerade in die Weste geschossen, und ich war vollgepumpt mit Adrenalin. Gut möglich, dass ich geschrien habe. Aber ich habe ihn ganz gewiss nicht ohne Grund zu Boden geschlagen.»

Köster nickte. «Ihre Kollegen bestätigen Ihre Schilderung der Ereignisse, wonach Urban, nachdem er überwältigt worden war, handgreiflich wurde und Sie sich lediglich zur Wehr gesetzt haben.»

«Gut. Und warum sitze ich dann hier?»

Köster sah sie prüfend an. «Frau Graf, wir wissen, dass Polizisten extrem reagieren können, wenn Kollegen ums Leben gekommen sind. Und alle Indizien sprechen dafür, dass Sie in Notwehr gehandelt haben. Allerdings gibt es ein Problem: Sie sind zuvor schon ein paarmal auffällig geworden.»

Jetzt schaltete sich Staatsrat Meinert ein. «Sie sind eine sehr gute Polizistin, Frau Graf. Aber Sie haben auch Probleme, Ihre Impulse zu kontrollieren. Das könnte Ihnen einmal zum Verhängnis werden. Und nach dem heutigen Tag könnte es auch Staatsanwalt Köster, Kriminalrat Steffens und mich in Erklärungsnot bringen.»

Erneut schwieg Laura. Vor allem deshalb, weil das, was er sagte, zutraf. Sie hatte ein Problem.

Schon als Kind war sie durch aggressives Verhalten aufgefallen. Nicht, dass sie grundlos andere verprügelt hätte. Aber wann immer sie sich bedroht gefühlt hatte oder mitansehen musste, wie Kleinere und Schwächere angegriffen wurden, waren bei ihr schnell die Sicherungen durchgebrannt. Da war es auch gleichgültig gewesen, ob sie Jungs attackierte, die viel größer waren. Sie sah rot und schaltete in den Angriffsmodus.

Lauras Eltern verurteilten sie niemals deswegen. Im Gegenteil, sie ließen sie spüren, dass sie stolz darauf waren, eine Tochter zu haben, die Schwächeren zu Hilfe kam. Die Lehrer ihrer Schule sahen das natürlich anders. Und die Eltern der Kinder, die von Laura zur Rechenschaft gezogen worden waren, erst recht. Allerdings zeigte ihr Handeln Wirkung: Alle Schüler, die als ihre Freunde galten, wurden schon bald in Ruhe gelassen. Und da sie sehr viele Freunde hatte, ließ die Gewalt an der Schule merklich nach. Das wiederum entging dem Schulleiter nicht, der daraus die richtigen Schlüsse zog und dafür sorgte, dass Laura Schulsprecherin wurde.

Als Laura älter wurde, ließen ihre aggressiven Schübe nach. Mit achtzehn verprügelte sie einen Mann, der sie belästigt hatte. Da er keine Anzeige erstattete, wurde dies auch nicht aktenkundig. Der Vorfall fand nur in ihrem Gedächtnis einen Eintrag. Schließlich wurde sie Polizistin und war fortan fast tagtäglich mit unterschiedlichsten Formen der Gewalt konfrontiert. Ihre Toleranzschwelle hatte sich zwar erhöht, aber ihre Bereitschaft zurückzuschlagen war noch immer ein fester Bestandteil ihrer Persönlichkeit. Es war einfach so, dass sie, wenn sie angegriffen wurde, heftig reagierte. Manchmal zu heftig. Es genügte ihr dann nicht, den Angreifer einfach auszuschalten. Sie wollte ihm auch wehtun. Erst als sie Mutter wurde, ließ der Impuls, anderen wehzutun, merklich nach, bis er ganz verschwand. Ihre inzwischen dreijährige Tochter hatte aus ihr einen besseren Menschen gemacht. Was nicht hieß, dass sie zögern würde, sich zur Wehr zu setzen.

Laura spürte, dass weder Köster noch Meinert wussten, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Aber allein die Tatsache, dass sie mit ihr redeten und ihr deutlich machten, dass sie auf ihrer Seite waren, ließ in ihr die Hoffnung aufkeimen, mit heiler Haut aus dieser Sache herauszukommen. Diese Hoffnung sollte sich bewahrheiten.

«Wir werden das Verfahren gegen Sie einstellen», verkündete Köster.

«Danke.»

«Danken Sie uns nicht zu früh. Um weiteren Fällen wie diesem präventiv zu begegnen, wird Kriminalrat Steffens mit Ihnen gewisse … Maßnahmen besprechen. Ich rate Ihnen, sich daran zu halten.»

Mit diesen Worten und einem freundlichen Nicken erhoben sich Köster und Meinert und verließen das Zimmer.

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, wandte sich Laura an ihren Chef. «Wo lernt man, so zu reden?»

«Wieso fragst du? Willst du das auch lernen?»

«Um Gottes willen, nein.»

Beide grinsten sich an. Laura arbeitete nun seit zwei Jahren unter seiner Leitung im Fachkommissariat 41 des LKA Hamburg, zuständig für Tötungsdelikte. In dieser Zeit hatte sie eine Vielzahl an Fällen aufgeklärt. Natürlich nicht allein, aber sie war immer die treibende Kraft gewesen, die dem Ermittlungsteam neue Impulse gab. Was sie erstaunte, war die Tatsache, dass selbst ältere und erfahrenere Beamten ihr bereitwillig zugehört hatten und gefolgt waren. Wie sie aus diversen Gesprächen mit Kolleginnen wusste, kam das eher selten vor. Laura wusste, dass sie eine steile Karriere vor sich hatte. Wenn es ihr gelang, sich zusammenzureißen.

«Dieser Urban wird nie wieder mit der rechten Hand eine Waffe abfeuern», begann Steffens das Gespräch und schenkte beiden aus einer Kanne Kaffee ein.

«Das sind gute Nachrichten.»

«Ja. Aber es gibt auch Gerüchte …»

«Oha.»

«Gerüchte, du hättest diese schwere Verletzung absichtlich herbeigeführt.»

«Geht das überhaupt?»

«Sag du es mir.»

Laura schüttelte den Kopf. «Gäbe es diese Gerüchte auch, wenn ich ein Mann wäre?»

«Das will ich doch schwer hoffen.»

«Wer verbreitet überhaupt diesen Quatsch?»

«Da wäre zum einen ein überaus erfahrener Chirurg. Und du weißt ja, wie das mit Ärzten so ist.»

«Halbgötter in Weiß.»

Steffens nickte. «Richtig.»

«Unfehlbar.»

«So sieht das aus.»

«Und dieser unfehlbare Halbgott, der angezogen ist wie ein Eisverkäufer, behauptet, ich hätte den Scheißkerl absichtlich zum Krüppel gemacht?», wollte sie wissen und nippte vorsichtig an ihrem Kaffee. Er war heiß.

«So direkt hat er das natürlich nicht formuliert. Aber er äußerte Bedenken bezüglich der Schulterverletzung.» Steffens beugte sich vor und warf einen Blick in seine Notizen. «Es geht hier um einen Nerv … Warte mal … Hier steht’s: Der Nerv heißt Nervus musculocutaneus, und der ist wegen der ausgekugelten Schulter kaputt. Und Nerven wachsen nicht nach. Also bleibt das so. Der Arzt meinte, man müsse schon ein ausgewiesener Fachmann im Nahkampf sein, um das hinzukriegen. Und wir beide wissen, dass du das bist.»

«Schuldig im Sinne der Anklage.»

«Staatsanwalt Köster meint …»

«Jetzt wird es interessant …»

«Moment mal, du hast doch wohl bemerkt, dass er und Staatsrat Meinert auf deiner Seite sind, oder?»

Laura nickte schuldbewusst. «Ja, das habe ich.»

«Na Gott sei Dank. Denn beide wissen, dass du Krav Maga kannst. Und keiner der beiden hat das dem Chirurgen gegenüber erwähnt, obwohl der explizit nachgefragt hat.»

«Aber?»

«Aber beide möchten, dass sich so was in absehbarer Zeit nicht wiederholt. Die zwei wissen natürlich, dass es in der Vergangenheit immer wieder zu … Auseinandersetzungen zwischen dir und Straftätern gekommen ist. Die alle schlecht für die Bösen ausgegangen sind. Sie glauben, hier ein Muster zu erkennen. Und Muster in dieser speziellen Angelegenheit beunruhigen die Leute.» Er machte eine kleine Pause und fügte dann hinzu: «Mich beunruhigen sie auch.»

«Wenn ich angegriffen werde, verteidige ich mich.»

«Was dein gutes Recht ist. Aber viele deiner Kollegen erleben Ähnliches. Nur dass der Ausgang ein anderer ist. Im Klartext: Deren Angreifer landen nicht alle im Krankenhaus.»

Laura hob eine Augenbraue. «Ich soll also in Zukunft netter zu Arschlöchern sein.»

«Ich weiß nicht, ob du das kannst.»

«Und ich weiß nicht, ob ich das will.»

Er nickte, als würde er dem zustimmen. «Und deshalb halte ich es für eine gute Idee, dir jemanden zur Seite zu stellen, der sich mit so was auskennt.»

Lauras Augen verengten sich zu Schlitzen. «Der sich mit was auskennt?»

«Na, mit den emotionalen … mit den …» Erneut studierte er seine Notizen. «Mit deinen Defiziten im Bereich Impulskontrolle.»

Laura grinste schwach. «So formuliert klingt das richtig unanständig.»

Steffens furchte die Stirn. «Das ist kein Spaß, Laura. Du stehst ab sofort unter Beobachtung.»

«Von demjenigen, den du mir an die Seite stellst?»

«Nein. Von den Typen im Rathaus.»

«Dann willst du, dass ich kürzertrete?»

Er lachte bitter auf. «Kürzertreten? Der Staatsschutz läuft Amok, seit diese Hamburger Bundestagsabgeordnete verschwunden ist. Das halbe Präsidium sucht nach ihr. Da kann ich es mir überhaupt nicht leisten, dich in eine Kammer zu sperren. Ganz abgesehen davon, dass ich das gar nicht will. Deshalb werde ich dir ja jemanden zur Seite stellen.»

Sie holte tief Luft, um etwas zu sagen, da klingelte das Handy von Steffens.

Kurz darauf erhielt auch sie einen Anruf. Um Steffens nicht bei seinem Telefonat zu stören, stand Laura auf und verließ den Besprechungsraum. Erst dann nahm sie das Gespräch an. Sie lauschte dem Anrufer, beendete das Gespräch und ging zurück zu Steffens. Der sah sie mit ernstem Blick an. «Hatte dein Anruf auch was mit dem Stadtpark zu tun?»

«Ja. Eine weibliche Leiche.»

«Fahr hin. Wir reden später weiter.»

3

Fünfundzwanzig Minuten später parkte Laura ihren Dienstwagen unweit der Rosengärten und ging die restliche Strecke bis zum Fundort der Leiche zu Fuß. Dieser befand sich auf einer kleinen Lichtung, zwischen Ententeich und einem Kinderspielplatz. Es war Anfang Juni und schon angenehm warm. Wobei der vergangene Winter alles andere als kalt gewesen und unmittelbar in einen Frühling übergegangen war, der ebenfalls recht mild ausfiel.

Als Laura am Tatort ankam, nahm sie befriedigt zur Kenntnis, dass die komplette Lichtung mit gelbem Flatterband abgeriegelt worden war. Ihr Partner Martin hatte einen Termin beim Zahnarzt und würde später zu ihr stoßen. Vereinzelt sah sie neugierige Spaziergänger, die nur zu gern gewusst hätten, was vor sich ging. Sie zeigte einem uniformierten Streifenpolizisten ihren Dienstausweis, woraufhin er galant das Absperrband anhob, um sie durchzulassen. Bevor Laura die Lichtung betrat, stülpte sie sich Überzieher über ihre Schuhe, die der Beamte in weiser Voraussicht bereitgehalten hatte. Jetzt würde sie keinen Schuhabdruck im weichen Boden hinterlassen, der, wenn er gefunden würde, überprüft werden musste. Dadurch sparten sie wertvolle Zeit.

Die Lichtung hatte die Form eines Dreieckes, wobei die Schenkel etwa zwanzig Meter maßen. In der Mitte des Dreieckes war ein Zelt aufgebaut worden. Diese Maßnahme verhinderte, dass Schaulustige mehr sahen, als sie sollten. Auch hielt es die Leute davon ab, Fotos zu machen.

Sie ging näher und sah schließlich drei Personen, die in weißen Plastikanzügen im Zelt umherwuselten. Etwa vier Meter von den drei Mitarbeitern der Kriminaltechnik entfernt blieb sie stehen, drehte sich langsam um die eigene Achse und nahm alles in sich auf. Es war seltsam still hier. Die Bäume rundherum, überwiegend Ahorn, Buchen, Eichen und Linden, waren jetzt im Juni sattgrün und hatten ein dichtes Laubdach. Der Straßenlärm vom stark befahrenen Ring zwei wurde von ihnen fast zur Gänze verschluckt. Der breite Fußweg in nördlicher Richtung genau vor ihr war nur zu erahnen. Sehen konnte sie ihn nicht. Überwachungskameras gab es hier ganz sicher nicht.

Langsam ging sie auf die drei Mitarbeiter der KTU zu.

«Hallo.»

Die drei wandten sich um und sahen sie an. Laura erkannte Wilfried Schuster, den Leiter der Abteilung Kriminaltechnik. Er erhob sich und kam auf sie zu. «Laura, schlimme Sache, das hier.»

Sie gaben sich die Hand.

«Erzähl», forderte sie ihn auf.

«Das Opfer heißt Sonja Gauglitz, zweiundzwanzig Jahre alt, Studentin. Wohnt in Eimsbüttel.» Er drehte sich zum Fundort herum und deutete auf die Leiche. «Sie starb vor schätzungsweise zwölf Stunden. Plus/minus zwei, drei Stunden. Gefunden wurde sie um kurz nach acht von zwei Joggern. Todesursache Blutverlust oder multiples Organversagen. Genaueres wissen wir erst, wenn sie auf dem Tisch des Rechtsmediziners liegt. Wir haben bislang vierzig Messerstiche entdeckt. Zwei sogar in den Füßen. Bis auf die sind alle mehr oder weniger gleich tief. Aber es waren unterschiedliche Messer. Mindestens drei. Keine der Stichwunden war für sich tödlich. Aber es ist wie im richtigen Leben: Die Menge macht’s. Keine offensichtlichen Spuren einer Vergewaltigung.»

«Setzt die Positionierung der Verletzungen anatomische Kenntnisse voraus?»

«Ausschließen kann ich das nicht. Aber mal im Ernst, wenn du ein paar Fachbücher studierst, dann hast du nach einiger Zeit auch die Kenntnisse, um so etwas anzurichten. Aber ja, mein erster Eindruck ist, dass der Kerl wusste, was er tat.»

Laura nickte langsam. «Das mit den Fachbüchern stimmt wohl. Sonst noch etwas, das ich wissen müsste?»

Schuster nickte. «Ja. Wenn sie hier stundenlang gelegen hätte, hätten wir mehr Blut im Erdreich finden müssen. Da ist aber nichts.»

«Das heißt, sie wurde woanders umgebracht?»

«Ja.»

«Scheiße.»

«Das macht es komplizierter, ich weiß.»

«Irgendwelche Spuren am Ablageort?»

Er schüttelte den Kopf. «Nein. Keine brauchbaren Fußabdrücke, keine Fasern. Nichts. Handtasche und Handy waren noch vorhanden. In der Handtasche fanden wir ihr Portemonnaie und ihren Ausweis.»

Laura ging auf den am Boden liegenden Körper zu. Vor der vollständig entkleideten Leiche machte sie halt, ging in die Hocke und betrachtete das Gesicht der Toten. Sie war hübsch, stellte Laura fest. Ihr Gesicht wirkte seltsam friedlich. So als würde sie nur schlafen. Nichts deutete darauf hin, dass sie regelrecht abgeschlachtet worden war. Laura empfand eine tiefe Traurigkeit. Die Tote hatte ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt. Jetzt würde sie niemals heiraten und Kinder bekommen. Eine Windböe erfasste sie beide und wehte eine Haarsträhne in das Gesicht der toten Frau. Sanft strich Laura ihr die Strähne zur Seite.

Sie erhob sich und erkannte, dass Wilfried Schuster sie beobachtet hatte. «Es ist eine Tragödie, oder?», meinte er leise.

«Ja. Das ist es immer.»

«Achte darauf, dass dir niemals egal wird, dass jemand brutal aus dem Leben gerissen wurde.»

«Das werde ich. Versprochen. Wo sind ihre persönlichen Sachen?»

«Im Wagen. Ich gebe sie dir gleich. Aber da wäre noch etwas …»

«Erzähl.»

«Derjenige, der das getan hat, wird es aller Voraussicht nach wieder tun.»

Laura hob die Augenbrauen. «Und wie kommst du darauf?»

«Dreht sie vorsichtig um», forderte er seine beiden Mitarbeiter auf.

Die kamen der Aufforderung umgehend nach. Behutsam, als wollten sie vermeiden, ihr wehzutun, drehten sie die Leiche auf den Bauch. Als Laura den Rücken sah, sog sie scharf den Atem ein.

Schuster nickte. «Jetzt verstehst du, warum ich glaube, dass er weitermachen wird.»

«Ja», sagte Laura und starrte auf die in die Haut eingeritzte römische Ziffer Eins.

4

In Kriminalrat Steffens› Büro roch es wie immer leicht nach Pfeifentabak. Es wurde gemunkelt, er rauche heimlich am offenen Fenster. Gesehen hatte das aber noch niemand. Steffens war Ende fünfzig, groß mit leichtem Bauchansatz und mittlerweile fast vollständig ergraut. Seine blauen Augen sahen sie aufmerksam an, als sie ihm von dem neuen Fall berichtete. Laura endete mit den Worten: «Der Fundort war nicht der Tatort.»

«Verdammt», sagte Steffens leise.

«Ja. Und da wäre noch etwas: Der Täter hat ihr die römische Ziffer Eins in den Rücken geschnitten.»

«Das kann etwas bedeuten, muss es aber nicht», sagte Steffens zurückhaltend.

«Ich gebe dir recht. Allerdings lässt alles am Tatort darauf schließen, dass wir es mit jemandem zu tun haben, der ganz genau weiß, was er tut. Schuster und sein Team haben an der Ablagestelle keinerlei Spuren finden können. Nicht einmal Fußabdrücke. Die Auswertung der Aufnahmen von Überwachungskameras in der Nähe des Fundortes läuft noch. Aber viel verspreche ich mir davon nicht.»

«Verstehe. Wie sehen deine nächsten Schritte aus?»

«Ich werde als Erstes die Angehörigen informieren. Danach fahre ich in die Wohnung des Opfers. Dann klappere ich Freunde und Bekannte des Opfers ab. In der Hoffnung, von denen Infos zu bekommen, die vielleicht auf den Täter schließen lassen.»

«Hatte sie einen Freund? Oder, besser noch, einen Ex-Freund?»

«Wir haben ihr Handy. Ich habe schon Dirk darauf angesetzt. Er wird die Handydaten auswerten.»

«Wer soll in die Mordkommission?»

«Wer soll sie leiten?», stellte Laura eine Gegenfrage. Da sie eben erst haarscharf an einer internen Ermittlung vorbeigeschrammt war, wollte sie keine Ansprüche erheben, sondern Kriminalrat Steffens diese Entscheidung überlassen.

Er sah sie an und runzelte die Stirn, dadurch bildeten seine buschigen Augenbrauen eine Einheit. «In Anbetracht der Umstände werde ich die Leitung übernehmen, du als meine Stellvertreterin wirst jedoch die Ermittlungen steuern.»

Laura verkniff es sich zu fragen, welche Umstände er meinte. Sie ging davon aus, dass Steffens es für richtig hielt, sie nicht aus der Schusslinie zu nehmen, sondern mittendrin zu platzieren. Sollte es ihr gelingen, diesen Fall schnell aufzuklären, würde niemand mehr ein Wort über die andere Sache verlieren.

«Okay, danke», sagte sie. «Fürs Erste möchte ich Dirk, Martin und Michael drin haben. Ich wäre dir dankbar, wenn du mir die Auswahl der anderen abnehmen könntest. Von unterwegs werde ich das nicht schaffen.»

«Mache ich.»

Dirk Heldt war der forensische IT-Experte, Martin Arend ein Oberkommissar aus Lauras Abteilung, und ihr Partner, Michael Rensing, würde als Pressesprecher fungieren. Laura war davon überzeugt, dass die Medien schon recht schnell Wind von der Sache bekommen würden. Daher wäre es sinnvoll, so schnell wie möglich eine erste Pressemitteilung parat zu haben.

«Das mit der eingeritzten Ziffer auf dem Rücken möchte ich erst mal nicht bekannt geben», sagte Laura zum Abschluss der Besprechung. Dies war eine normale Vorgehensweise der Behörden. So konnte man mögliche Trittbrettfahrer von vornherein ausschließen.

«Einverstanden», sagte Steffens. «Also mit allem. Den Mitgliedern der MoKo und dem Verschweigen der Ziffer. Aber mach dir bitte nicht allzu große Hoffnungen auf ein großes Team. Kann sein, dass die bald Leute von uns abziehen.»

«Wegen der verschwundenen Abgeordneten, richtig?»

«Ja, genau. Ich werde natürlich trotzdem versuchen, eine schlagkräftige Mannschaft für dich zusammenzustellen.» Steffens stutzte und schüttelte dann den Kopf. «Wusstest du, dass nach einer erst kürzlich erfolgten Umfrage über achtzig Prozent der Befragten glauben, dass eine Mordkommission eine tatsächlich existierende Abteilung innerhalb der Kripo ist?»

«Das liegt an diesen unrealistischen Krimiserien. Ich hab mal einen Tatort geschaut, da hat sich ein Beamter als Hauptkommissar Schröder von der Mordkommission Essen vorgestellt. Hab ich gelacht.»

«Tja, wäre schön, wenn wir diesen Fall auch in neunzig Minuten aufklären könnten.»

«Viel mehr Sorge bereitet mir die Tatsache, dass die wegen so was ’ne Umfrage starten. Haben die nichts Besseres zu tun?»

«Gute Frage … Dabei geht es wohl ein Stück weit auch um Existenzberechtigung.»

«Super, ich fühle mich in meiner Existenz schon sehr bestätigt. Dann werd ich mich mal auf den Weg machen.»

«Viel Erfolg.»

«Danke.»

Laura wandte sich zum Gehen. Innerlich jubelte sie, weil Steffens offenbar vergessen hatte, dass er ihr jemanden an die Seite stellen wollte.

«Äh, Laura …?»

Langsam drehte sie sich zu ihm herum. «Ja …»

«Ich habe eine Telefonnummer für dich. Ich möchte, dass du da anrufst und einen Termin vereinbarst.»

Er reichte ihr einen Zettel. Laura warf einen Blick darauf. Nur eine Handynummer. Kein Name.

«Geht’s noch geheimnisvoller?»

«Ich habe meine Gründe, verlass dich drauf. Ruf da an. Und zwar innerhalb der nächsten zwei Stunden. Das ist übrigens keine Bitte, sondern eine dienstliche Anweisung.»

«Verstanden», sagte Laura und verließ sein Büro.

Draußen überlegte sie kurz, ob sie den Besitzer der Handynummer überprüfen sollte, entschied sich jedoch aus Zeitgründen dagegen. Der Fall war wichtiger.

5

Es gab Aufgaben, die man am liebsten delegieren würde. Dazu gehörte es, Eltern zu erklären, dass eines ihrer Kinder getötet worden war. Laura dachte an ihre eigene Tochter Anabel. Allein die Vorstellung, ihren kleinen Engel zu verlieren, raubte ihr den Atem. Die Eltern von Sonja Gauglitz lebten in einer Reihenhaussiedlung aus den Sechzigerjahren im Hamburger Stadtteil Rahlstedt. Da beide berufstätig waren, hatte eine Kollegin sie angerufen und gebeten, nach Hause zu fahren. Gespräche dieser Art wurden mit den Betroffenen nicht getrennt und schon gar nicht an ihrem Arbeitsplatz geführt. Als Laura mit ihrem Kollegen Martin Arend das Haus der Gauglitzer erreichte, hatte sie ein flaues Gefühl im Magen. Wie um ihr schlechtes Gefühl zu unterstreichen, baute sich im Süden eine bedrohliche dunkelgraue Wolkenmasse auf. Aus der Ferne hörte sie das dumpfe Grollen eines sich nähernden Gewitters.

Sie atmete einmal tief durch und klingelte an der Haustür. Als hätte die Hausherrin innen schon gewartet, wurde die Tür sofort geöffnet. Renate Gauglitz war Ende vierzig, von kleiner Statur mit halblangen grauen Haaren und wachen blauen Augen. Sie trug ein helles Kostüm und flache Schuhe. Ohne Umschweife bat sie Laura und Martin hinein. Bevor sie das Wohnzimmer erreichten, tauchte der Vater von Sonja auf. Er war recht groß mit leichtem Bauchansatz und schütterem Haar. Harald Gauglitz trug Freizeitkleidung. Laura und Martin wussten, dass er ein eigenes Unternehmen im Bereich Sanitär besaß.

«Was ist denn passiert?», wollte er sofort wissen.

«Bitte, gehen wir doch ins Wohnzimmer und setzen uns», sagte Renate Gauglitz. «Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?»

Obwohl Laura eine Portion Koffein hätte vertragen können, lehnte sie dankend ab. Ihr Magen war durch die bevorstehende Aufgabe schon strapaziert genug. Auch Martin sagte Nein.

Laura sah sich rasch um. Sie saßen in einem Wohn- und Esszimmer. Dunkle Schrankwand, dazu passende Möbel. An den Wänden viele Bilder der Familie, aber keine Gemälde. Die Sitzecke war in einem helleren Farbton gehalten. Die Fensterfront zur Rechten bot Blick auf die Terrasse und den Garten – alles in allem das Zuhause einer normalen Familie aus der Mittelschicht.

Sobald alle Platz genommen hatten, beugte sich Harald Gauglitz vor. «Also: Was ist los?»

Martin hatte zugestimmt, dass Laura die Nachricht überbringen sollte.

«Frau Gauglitz, Herr Gauglitz, ich habe traurige Nachrichten für Sie. Ihre Tochter Sonja ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Sie ist …»

«Nein!», sagte Renate Gauglitz, die erstarrt war. «Nein, nein, nein.»

Ihr Mann schüttelte den Kopf. «Das muss ein Irrtum sein. Sonja geht es gut …»

«Wir haben Ihre Tochter heute früh im Stadtpark gefunden. Sie …»

Renate Gauglitz schüttelte vehement den Kopf. «Unmöglich, nein.»

«Warten Sie einen Augenblick», sagte der Vater, wühlte sein Handy aus der Hosentasche, stand auf und wählte. «Ich rufe sie kurz an.»

Harald Gauglitz starrte konzentriert die Wand an, während er darauf wartete, dass seine Tochter das Gespräch annahm. Als er zusammenzuckte, wusste Laura, dass Dirk im Präsidium ans Telefon gegangen war. Es schnürte ihr die Kehle zu.

«Hallo, Sonja? Bist du da?»

Laura konnte sehen, wie sich seine Augen weiteten.

«Wer sind Sie?», wollte Harald Gauglitz leise wissen.

«Das ist Dirk Heldt, der IT-Spezialist des LKA Hamburg», antwortete Laura leise. «Er hat das Handy Ihrer Tochter, um es auszuwerten.»

Langsam ließ Harald Gauglitz seine Hand sinken.

Dann fiel das Handy zu Boden.

Renate Gauglitz begann zu weinen.

Laura wartete darauf, dass Harald Gauglitz sich endlich zu seiner Frau setzte, um sie in den Arm zu nehmen. Aber er blieb einfach wie angewachsen stehen.

Schließlich tat sie es selbst. Sie setzte sich neben die trauernde Mutter und nahm ihre Hand. «Es tut mir unendlich leid», sagte Laura und kämpfte erfolgreich gegen ihre eigenen Tränen an. Der Blick, den die Mutter von Sonja ihr zuwarf, drückte eine Mischung aus Verzweiflung und Dankbarkeit aus.

«Hat … hat mein kleiner Schatz leiden müssen?», wollte sie mit erstickter Stimme wissen.

«Nein», log Laura. «Es ging sehr schnell. Sie hat es wahrscheinlich gar nicht gemerkt.»

Laura hoffte inständig, dass nicht irgendwann in den nächsten Tagen Details der Tat an die Öffentlichkeit kamen. Aber zumindest hatte sie der Mutter jetzt und hier ein klein wenig Trost gespendet. Und das war auch schon etwas wert.

«Hatte Ihre Tochter einen Freund?», wollte Laura wissen, nachdem sich Sonjas Eltern halbwegs beruhigt hatten.

«Nein», antwortete Harald Gauglitz. «Soweit wir wissen, hatte sie keinen Freund. Sie hat alles an Zeit und Energie in ihr Studium gesteckt.»

Laura ging nicht darauf ein. Aber sie wusste, dass das, was Eltern über ihre Kinder dachten, nicht immer dem entsprach, was in Wahrheit ablief. Ihrer Erfahrung nach hatte jeder Mensch Geheimnisse. Vielleicht brauchte man die sogar fürs Überleben.

«Hatte sie möglicherweise einen Ex-Freund, mit dem wir reden sollten?», fragte Martin.

Vater und Mutter wechselten einen Blick.

«Ich glaube, ihre letzte Beziehung ist schon ein paar Monate her», sagte Renate Gauglitz.

«Und wie ist sie zu Ende gegangen?», hakte Martin nach.

«Sie wollen wissen, ob die Trennung von Sonja ausging, nicht wahr? Weil solche … Taten oft vom Lebensgefährten verübt werden», mutmaßte Harald Gauglitz.